30 Jahre Grundgesetz: Vorträge und Diskussionsbeiträge der 47. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1979 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428445219, 9783428045211


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German Pages 171 Year 1979

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30 Jahre Grundgesetz: Vorträge und Diskussionsbeiträge der 47. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1979 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428445219, 9783428045211

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 78

30 Jahre Grundgesetz Vorträge und Diskussionsbeiträge der 47. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1979 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Detlef Merten und Rudolf Morsey

Duncker & Humblot · Berlin

30 J A H R E

GRUNDGESETZ

S c h r i f t e n r e i h e der H o c h s c h u l e Speyer Band 78

30 Jahre Grundgesetz

Vortrage und Diekueeionebeiträge der 47. Staatswieeenschaftlicheii Fortbildungetagung 1979 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

herausgegeben von

Detlef Merten und Rudolf Morsey

DUNCKER

& HÜMBLOT

/

BERLIN

Alle Redite vorbehalten © 1979 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1979 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04521 1

Vorwort

Aus Anlaß des Jubiläums der Verfassung hat die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer ihre 47. Staats wissenschaftliche Fortbildungstagung dem Thema „30 Jahre Grundgesetz" gewidmet. Z u dieser Veranstaltung, die vom 28. bis 30 März 1979 stattfand, kamen rund 200 Teilnehmer zur Hochschule. Rundfunk, Tages- und Fachpresse* haben über den Verlauf und die Ergebnisse der Tagung berichtet. Die — teilweise leicht überarbeiteten — Referate und die Zusammenfassungen der Aussprachen werden m i t diesem Band vorgelegt. Detlef Merten

Rudolf Morsey

Vgl. Klaus Frey, DVB1. 1979, S. 394 ff.; Helga Stern, D Ö V 1979, S. 507 ff.

Inhalt

Begrüßungsansprache des Rektors, Professor Dr. Dr. Detlef Merten

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Eröffnungsansprache des Ministerpräsidenten des Landes RheinlandPfalz, Dr. Bernhard Vogel, Mainz

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Probleme der Juridifizierung des Grundgesetzes Von Professor Dr. Hans Buchheim, Mainz

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Aussprache zu dem Referat von Professor Dr. Hans Buchheim Bericht von Dr. Karsten Ruppert

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Wandel des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland Von Kultusminister Professor Dr. Roman Herzog, Stuttgart

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Zum Föderalismus in der Republik Österreich Von Professor Dr. Herbert Schambeck, Stellvertretender Vorsitzender des Bundesrates, Wien

55

Aussprache zu den Referenten von Kultusminister Professor Dr. Roman Herzog und Professor Dr. Herbert Schambeck Bericht von Assessor Josef S ehr av en

80

Landesverfassungen und Grundgesetz Von Kultusminister a. D. Professor Dr. Theodor Maunz, München

87

Verfassungskontrolle durch Verfassungsgerichtsbarkeit Von Professor Dr. Ernst Benda , Präsident des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe 103 Aussprache zu den Referaten von Kultusminister a. D. Professor Dr. Theodor Maunz und Präsident Professor Dr. Ernst Benda Bericht von Assessorin Margarete Mühl, LL.M. (Harvard)

118

8

Inhalt

Alternativen des Sozialstaats Von Professor Dr. Karl Doehring, Heidelberg

125

Zum Verfassungsverständnis der Bundesrepublik Deutschland in historisch-politischer Sicht Von Professor Dr. Dr. h. c. Karl Dietrich Bracher, Bonn

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Aussprache zu den Heferaten von Professor Dr. Karl Doehring und Professor Dr. Dr. h. c. Karl Dietrich Bracher Bericht von Assessor Klaus Frey Schlußwort von Professor Dr. Rudolf Morsey, Speyer

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Begrüßungsansprache des Rektors Professor Dr. Dr. Detlef Merten Die Hochschule für Verwaltungswissenschaften wäre nicht sie selbst, wenn sie das 30jährige Jubiläum des Grundgesetzes vorübergehen ließe, ohne seiner wissenschaftlich zu gedenken. Als wissenschaftliche Einrichtung aller Bundesländer und des Bundes, der sein Engagement jüngst durch die Beteiligung an dem bei der Hochschule errichteten Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung noch verstärkt hat, ist sie hierzu auch i n erster Linie legitimiert. Wenn die 47. der Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagungen, die seit 1947 durchgeführt werden und damit „vorkonstitutionellen" Charakter haben, den Problemen unserer Staatsverfassung gewidmet ist, werden damit auch Bekenntnisse abgegeben: zum einen ein Bekenntnis zur Verfassung als der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung; zum anderen die Dokumentation, daß diese Verfassung sich i m ganzen nicht nur i n der Vergangenheit bewährt hat, sondern auch Grundlage des staatlichen Lebens i n der Zukunft sein kann. Zu einem ähnlichen Ergebnis ist auch die Enquête-Kommission Verfassungsreform gekommen. Wer aus vordergründigen politischen Motiven — wie jüngst bei dem Vorschlag einer Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk — andere Auffassungen vertritt, sollte zunächst i n diesen Dokumenten staatsbürgerlichen Nachhilfeunterricht nehmen. Das Grundgesetz ist so modern, daß es — insbesondere durch seinen A r t i k e l 24 — ein vereinigtes Europa ermöglicht, ein Europa, das nach dem Kriege von so großen Staatsmännern wie Churchill, Schumann, Adenauer und de Gasperi gefordert wurde und dem w i r möglicherweise durch die unmittelbaren Wahlen zum Europaparlament politisch ein Stück näherkommen. Der europäische Bundesstaat muß Platz für alle europäischen Bürger haben. Er darf nicht von irgendwelchen Interessengruppen für sich reklamiert werden; Europa kann sich nicht auf ein Europa der Arbeitnehmer beschränken, wie auch die Bundesrepublik — i m Gegensatz zur DDR — nicht ein „Staat der Arbeiter und Bauern" ist, sondern alle Bürger integriert hat. Die unterschiedlichen Disziplinen, denen die Referenten angehören, und die Tatsache, daß diese Tagung von einem Historiker und einem Juristen gemeinschaftlich geleitet wird, zeigen die fächerübergreifende Arbeitsweise der Hochschule für Verwaltungswissenschaften. Wegen der

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Begrüßungsansprache des Rektors

zeitlichen Begrenzung der Tagung w a r es nicht möglich, alle interessanten Verfassungsprobleme i n das Programm aufzunehmen. So werden beispielsweise die Parteienproblematik oder das Demokratieprinzip nicht besonders behandelt. M i t dem Föderalismus, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Sozialstaatsklausel werden jedoch wichtige und nicht immer unumstrittene Fragen unseres Verfassungslebens erörtert. Zur Rolle des Bundesrates, die uns am zweiten Tag der Tagung beschäftigen wird, darf ich — nicht zuletzt i m Hinblick auf das törichte Wort vom Bundesrat als der „Nein-Sage-Maschine" — aus den jüngst erschienenen Reden des ersten und u m die Konsolidierung dieses Landes verdienstvollen Ministerpräsidenten Peter Altmeier zitieren. Er sagte i n seiner Rede anläßlich der Annahme des Grundgesetzes i m Landtag am 18. M a i 1949, daß der Bundesrat „kein Organ zur Vertretung von Länderinteressen sein soll, sondern ein ausgesprochenes Bundesorgan, das auf dem Gebiete der Bundesgesetzgebung und auch auf einzelnen Gebieten der Bundesverwaltung wichtige Bundesaufgaben gemeinsam m i t anderen Bundesorganen zu erfüllen hat. So kann man w o h l sagen, daß i n dem staatsrechtlichen Aufbau der neuen Bundesrepublik ein gesunder Ausgleich zwischen dem Ganzen und seinen Gliedern erreicht worden ist."* Ich freue mich, auch und gerade zu dieser Tagung so viele illustre Gäste aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Ausland begrüßen zu können. Außer dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Dr. Benda, darf ich weitere Mitglieder dieses höchsten Gerichts, Richter und Vorsitzende Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes sowie den Präsidenten des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Herrn Dr. Schmidt, und den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts von Rheinland-Pfalz, Herrn Dr. Bichel, w i l l kommen heißen. Mitglieder des Landtags von Rheinland-Pfalz, herausragende Vertreter der Exekutive aus allen Bereichen und eine Reihe von Staatsrechtslehrern erweisen uns die Ehre ihres Besuchs. E i n besonderer Gruß hat den Referenten dieser Tagung zu gelten, bei deren Auswahl nicht zuletzt das für die Arbeit der Hochschule charakteristische Prinzip der Verbindung von Theorie und Praxis maßgeblich war. Vorzüglichen Dank schulden w i r Ihnen, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, daß Sie nun schon zum zweiten M a l eine Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung eröffnen und damit zugleich die enge Verbundenheit des Landes, der Landesregierung, aber auch Ihrer Person m i t der Hochschule dokumentieren — eine Verbundenheit, für die vielleicht auch Ihre frühere Tätigkeit als Kultusminister dieses Landes und Ihre Eigenschaft als Bürger dieser Stadt ursächlich sind. * Peter Altmeier, a. R. 1979), S. 206.

Reden 1946 -1951, hrsg. von Graß und Heyen (Boppard

Eröffnungsansprache des Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, Dr. Bernhard Vogel

Ich freue mich, daß ich heute zur Eröffnung dieser Frühjahrstagung hier sein darf und die Aussicht habe, die Verbindung zwischen dem A m t des Ministerpräsidenten und dieser Hochschule i n den kommenden Jahren fortsetzen und vertiefen zu dürfen. Dreißig Jahre Grundgesetz, das bedeutet dreißig Jahre freiheitlich demokratischer, sozialer und föderativer Rechtsstaatlichkeit i n Deutschland. 25 der 61 Millionen Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind i n diesen dreißig Jahren geboren worden, sind i n diese Staatsform hineingeboren, und für sie ist diese Staatsform wie für uns inzwischen selbstverständlich geworden. Manchmal, so glaube ich, fast ein wenig zu selbstverständlich. Das Bewußtsein des Wertes unserer Verfassungsordnung ist aus diesem Grund eine fortwährende Aufgabe, nicht nur wie ja selbstverständlich, der Politiker, sondern auch der Wissenschaftler. Die 47. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung m i t ihrem breit angelegten Themenspektrum scheint m i r ganz besonders geeignet, diesem Ziel zu dienen, wobei das Bewußtmachen des Wertes nicht gleichbedeutend ist m i t der Aufforderung zur Kritiklosigkeit. Fortschritt und Verbesserung bedürfen stets der konstruktiven K r i t i k , und ich erbitte aus Ihren Reihen als Ergebnis der Fortbildungstagung kritische Anregungen zur Fortentwicklung, vielleicht auch zur Änderung einzelner Verfassungsbestimmungen. Ich möchte m i t meinen einleitenden Bemerkungen einen kleinen Beitrag dazu leisten. Was die Bewertung der Grundstrukturen unserer Verfassung anbelangt, so kann man eine klare, durch 30 Jahre Verfassungspraxis fundierte Aussage wohl machen: Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland hat sich i n den 30 Jahren seiner Geltung insgesamt hervorragend bewährt. Noch nie hat es i n Deutschland einen Staat gegeben, der seinen Bürgern mehr demokratische Freiheit, mehr soziale Sicherheit gegeben hätte, als die Bundesrepublik auf der Grundlage dieses Grundgesetzes, von dem hier die Rede ist. Seine Regelungen sollten ursprünglich dem staatlichen Leben nur für eine kurze Übergangszeit eine neue Ordnung geben. Die Basis für den dauerhaftesten demokratischen Staat, den es je auf deutschem Boden gab, ist aber schließlich daraus geworden. Dennoch

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Eröffnungsansprache

bleibt dieses Grundgesetz, wie ja schon sein Name sagt, seiner Idee nach eine Ubergangsverfassung. A m Thema dieser Fortbildungstagung erscheint m i r die Betonung der historischen Bezüge besonders wesentlich zu sein. Daß sein Rahmen größer ist als 30 Jahre, dokumentiert beispielsweise auch der heutige Tag: Heute vor 130 Jahren am 28. März 1849 ist die Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung beurkundet worden. Sie war nicht erfolgreich, weil der Volkssouverän nicht die Macht hatte, seinen Willen durchzusetzen, und gleichwohl würde ich zaudern, diese Frankfurter Nationalversammlung als gescheitert zu bezeichnen. Sie hat über die 130 Jahre ohne Frage wesentlichen Einfluß ausgeübt. Die oktroyierten Länderverfassungen wie die Verfassung des Zweiten Deutschen Reiches entstanden nicht aus der Souveränität des Volkes. Erst die Weimarer Verfassung von 1919 war eine demokratische Verfassung; zwischen der zerbrochenen Monarchie und der drohenden Rätediktatur zeichnete sie den Weg für einen demokratischen Rechtsstaat vor mit einem hohen Maß an Freiheitsrechten und Mitwirkungsbefugnissen der Bürger. Aber auch diese Weimarer Verfassung war schließlich nicht erfolgreich. Sie ist zwar nie formell außer K r a f t gesetzt, aber durch das Ermächtigungsgesetz praktisch unwirksam geworden. Der tiefere Grund ihres Scheiterns lag nur zu einem geringen Teil i n den w i r t schaftlichen und außenpolitischen Schwierigkeiten der damaligen Zeit. Ausschlaggebend war der mangelnde Wille jener Bürger, den demokratischen Staat gegen seine Feinde zu verteidigen, und es drängt mich und beunruhigt mich immer wieder darauf hinzuweisen, welche Lehre man aus der Erfahrung der Weimarer Republik für heute ziehen könnte und m. E. ziehen muß. Die Väter des Grundgesetzes haben diese Lehre gezogen. Sie haben zentrale Bestimmungen für unabänderlich erklärt, sie haben Grundrechten und Grundwerten eine betonte Vorrangstellung eingeräumt. Man w i r d sagen können, daß Wertbindung und Wehrhaftigkeit bestimmende Elemente des Demokratiebegriffes des Grundgesetzes geworden sind. Die Stabilität unserer politischen Ordnung baut ganz wesentlich bis zum heutigen Tag auf diesen Elementen auf. Gerade hierin sehe ich den entscheidenden Fortschritt unserer heutigen Verfassungsordnung, den es zu verteidigen und den es zu bewahren gilt. Ich spreche diese Frage bewußt an, denn die vielfältigen Versuche, die Wertgebundenheit und die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zu diskreditieren, sind nichts anderes als Angriffe auf die Grundlagen unserer Verfassungsordnung. Sie scheinen m i r um so gefährlicher zu sein, wenn sie m i t den Argumenten von Demokratie und Liberalität vorgetragen werden. Ich möchte klar und deutlich sagen: Wer die Bindung an die freiheitlichen Werte der Verfassung und an die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie i n Frage stellt, begibt sich vom Boden des Grundgesetzes weg — mag er sich selbst auch noch so laut als Demokrat bezeichnen.

Eröffnungsansprache Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches mußte sich der Aufbau einer demokratischen Ordnung und eines demokratischen öffentlichen Lebens zunächst i n den einzelnen Ländern vollziehen. Die Länderverfassungen sind als Ergebnis der konkreten politischen Situation nach 1945 und zugleich als Ausdruck der geistigen Haltung dieser Jahre zu w ü r d i gen. Der Verfassunggeber beispielsweise von Rheinland-Pfalz, dessen Landesverfassung schon am 28. M a i 1947 entstand, also schon vor zwei Jahren 30 Jahre alt geworden ist, hatte bereits schon einen Gesamtstaat vor Augen. Auch wenn dessen Organisation i m einzelnen damals noch nicht absehbar war, so verstand sich Rheinland-Pfalz nach dem Vorspruch seiner Verfassung von vornherein als Förderer eines neuen demokratischen Deutschlands und nach Art. 74 unserer Landesverfassung als demokratischer und sozialer Gliedstaat Deutschlands. I n A r t . 141 wurde einer späteren deutschen Verfassung Vorrang vor der Landesverfassung eingeräumt. Damals und auch noch 1949 schien die Wiedervereinigung nicht fern zu sein, der Wiederaufbau eines geeinten Gesamtdeutschlands war für die damaligen Verfassunggeber eine beherrschende Vorstellung. Seitdem sind 30 Jahre und i m Bezug auf das Land mehr als 30 Jahre vergangen, ohne daß sich der i n der Präambel des Grundgesetzes formulierte Auftrag hätte erfüllen lassen, i n freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Dieses Ziel — ich unterstreiche es noch einmal — ist auch heute unverändert verbindlich. Alle Verfassungsorgane sind gehalten, i n ihrem Wirken hierauf zu achten. Sie haben den Wiedervereinigungsanspruch i m Inneren wachzuhalten und nach außen zu vertreten. So unbestritten dieses Postulat i n seiner grundsätzlichen Aussage ist, so schwierig war es, i h m i n der Verfassungswirklichkeit ungeschmälert Geltung zu verschaffen. Es ist daher gut, daß das Bundesverfassungsgericht i n seinem Urteil zum Grundvertrag Pflöcke eingeschlagen und eindeutig den Weg gewiesen hat. Auch 30 Jahre Trennung und 30 Jahre unterschiedliche Verfassungsordnung ändern nichts an diesem Bekenntnis zu Deutschland. 30 Jahre ist für den, der sie durchlebt, zwar sehr viel, für den, der sie geschichtlich rückschauend betrachtet, aber i m Vergleich zu anderen erlebten Wiedervereinigungen anderer Länder eine verhältnismäßig kurze Zeit. Das Verhältnis des Gesamtstaates zu seinen Gliedstaaten ist seit 1949 ein vorrangiges Thema der Verfassungsdiskussion geblieben. Die vorhin schon zitierte Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages hat Ende 1976 nach rund sechsjähriger Tätigkeit ihren Schlußbericht vorgelegt, der sich besonders intensiv m i t den Fragen unserer föderativen Staatsordnung und m i t Problemen des Bund-Länder-Verhältnisses befaßt. Der Schlußbericht behandelt immerhin i n sieben von 16 Kapiteln fast ausschließlich Themen des Föderalismus, und

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Eröffnungsansprache

auch i n den meisten anderen Kapiteln werden bundesstaatliche Gesichtspunkte angesprochen. Diese Schwerpunktsetzung ist kein Zufall; das föderalistische Prinzip ist i n besonderer Weise geeignet, die anderen elementaren Verfassungsprinzipien i n ihrer Wirksamkeit zu verstärken. A u f diese Weise schützt es den freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat vor Gefahren und verfestigt i h n zweifellos i m Bewußtsein seiner Bürger. Durch bessere Transparenz, durch größere Ortsnähe begünstigt und vedeutlicht es die Rationalität von Entscheidungen und erhöht die demokratische Legitimation der Entscheidungen i m Bewußtsein der Betroffenen. Der Föderalismus verstärkt, so meine ich, die Chance des einzelnen, am staatlichen Leben unseres Gemeinwesens teilzuhaben und es mitzugestalten. Als zusätzliche, moderne Form vertikaler Gewaltenteilung trägt es zur Machtbegrenzung und zur Machtkontrolle bei, die j a einem freiheitlichen Rechtsstaat immanent sein müssen. Fehlentwicklungen können leichter revidiert werden, negative Auswirkungen von Fehlentwicklungen bleiben begrenzter. Die Vorteile des Föderalismus werden i m übrigen ja auch immer deutlicher der Bevölkerung bewußt. Ich erinnere da an die jährlichen Fragen des Deutschen Bundesrates über demoskopische Institute nach der Einstellung zum Föderalismus, die ja das erstaunliche Ergebnis haben, daß einstmals 63 Prozent föderale Organe wie den Bundesrat für überflüssig erachteten, und daß es heute noch 9 Prozent sind, die meinen, man käme ohne ihn aus. Wegen dieser Vorzüge des föderalistischen Systems fehlt es an einer fortschreitenden und schon längere Zeit zu beobachtenden, völlig i m Widerspruch zur praktischen Erfahrung der Bevölkerung stehenden Notwendigkeit zu zentralistischen Einheitslösungen. Auch die Enquête-Kommission hat erkannt, daß die Grenze, die zum Schutz der Länder und ihrer Staatlichkeit unverrückbar i m A r t . 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gezogen ist, erreicht sein dürfte. Wie richtig dies ist, zeigen beispielhaft die bis 1978 vorgenommenen Grundgesetzänderungen. Bei den 34 Änderungen wurde i n mehr als 20 Fällen insbesondere seit 1967 die Gesetzgebungskompetenz teils unmittelbar, teils mittelbar zu Gunsten des Bundes und zu Lasten der Länder verlagert. Ferner scheint es m i r bedenklich, daß der Bund den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung fast völlig ausgeschöpft hat. Dabei wurde die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung nicht i n jedem Fall streng geprüft. Unter föderativen Gesichtspunkten sind auch die Mischverwaltung und die Mischfinanzierung i n ihrer derzeit bestehenden Form nicht unbedenklich. Vermischte Aufgabenwahrnehmung kann leicht zu politisch verantwortungsfreien Räumen führen. Gemeinsame Planung und gemeinsamer Mitteleinsatz verschaffen leicht dem wirtschaftlich stärkeren Partner ein Ubergewicht. Damit Sie mich bitte nicht mißverstehen: Es gibt Sachgebiete gemeinsamer Verantwortung zwischen Bund und Ländern. Aus diesem Grund

Eröffnungsansprache heißen sie ja auch gemeinsame Planung und Finanzierung i n manchen Bereichen für unverzichtbar. W i r sind nicht der Meinung, daß man sie völlig i n Frage stellen könnte. Sie müssen aber nach Umfang und Ausmaß klar abgegrenzt sein und den Ländern einen ausreichenden Entscheidungsspielraum belassen, und man sollte davon ausgehen, daß nach einer gewissen Zeit überprüft werden muß, ob die einmal geschaffenen gemeinsamen Notwendigkeiten noch notwendig sind oder ob sie inzwischen nicht aufgegeben werden könnten. Die fortschreitende europäische Integration, die w i r begrüßen und fördern, darf nicht zu einem weiteren Selbstverlust, zu einem weiteren Verlust an Kompetenz der Länder führen, und sie muß es m. E. auch nicht, weil ich i m Gegenteil der Überzeugung bin, daß gerade föderale Strukturen die Voraussetzung der Schaffung europäischer Institutionen darstellen. I n immer größerem Umfang werden vom EG-Recht Bereiche umfaßt, die der Regelungskompetenz der Länder unterliegen, ohne daß die Länder nach der gegenwärtigen Rechtslage ausreichend Gelegenheit hätten, auf die Gemeinschaftsregelung Einfluß zu nehmen. Die Regierungschefs der Länder haben schon 1976 den Entwurf einer Vereinbarung m i t dem Bund i n Aussicht genommen, u m die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern beim Erlaß von Vorschriften der EG i n Bereichen zu regeln, die zur Gesetzgebungskompetenz der Länder gehören oder deren wesentliche Interessen berühren. Die Länder erwarten, daß der Bund den Grundgedanken des föderativen Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland Rechnung trägt und den Ländern einen entscheidenden Einfluß auf die Maßnahmen einräumt, die innerstaatlich zu ihrem Kompetenzbereich gehören. Die Tendenz zu zentralistischen Lösungen w i r d oft durch die Behauptung gestützt, die Länder seien nicht imstande, i n wichtigen Lebensbereichen Bedingungen zu schaffen, die den Leistungserwartungen der Bürger entsprechen. Darüber hinaus w i r d reklamiert, daß regionale Regelungen und Verwaltungsgrenzen die Mobilität des Bürgers erschweren. Solche Fälle gibt es natürlich, und es wäre unrealistisch, über sie hinwegzusehen. A u f der anderen Seite verträgt aber eine pluralistische Gesellschaft keinen uniformen Staatsapparat. Die Vielschichtigkeit i m Angebot der öffentlichen Hand ist ja auch eine Chance für jeden Bürger. Darüber hinaus treffen die Probleme auf einen Lösungswettstreit, der durch seine Konkurrenzchance meist bessere Ergebnisse hervorbringt, als die einseitige und einheitlich dekretierte Regelung dies könnte. U m regionale Differenzierungen zu vermeiden, die schädlich und unerwünscht sind, haben die Länder bestimmte Formen der Zusammenarbeit unter sich und zum Bund entwickelt. Es ist zwar unbestreitbar, daß die M i n i sterpräsidenten- und die Fachministerkonferenzen, u m zwei dieser Gremien zu nennen, keine leichtfüßigen Einrichtungen sind. Ihre Arbeitsgeschwindigkeit w i r d dadurch gemindert, daß die gewünschte Einheit-

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Eröffnungsansprache

lichkeit nur durch übereinstimmende Beschlüsse erzielt werden kann. Sie bieten aber, und das scheint mir entscheidend zu sein, außer der Möglichkeit des Informationsaustausches eine Plattform für gemeinsame Lösungen, ohne daß sich dabei ein Land, das etwa besondere Verhältnisse aufzuweisen hat, Gewalt antun lassen müßte. Das bisher gehandhabte Einstimmigkeitsprinzip entspricht eben der Eigenstaatlichkeit und der staatsrechtlichen Gleichrangigkeit der Länder i n besonderem Maße. Z u Recht hat deshalb die Enquête-Kommission eine verfassungsrechtliche Institutionalisierung der sog. dritten Ebene mit Mehrheitsentscheidungen abgelehnt. Der auch ohne verfassungsrechtliche Verankerungen bisher praktizierte sog. kooperative Föderalismus hat sich bewährt. Bedenken gegen diese Form der partnerschaftlichen Zusammenarbeit wären erst dann angebracht, wenn die wesentlichen politischen Sachfragen horizontal zwischen den Ländern oder vertikal zwischen dem Bund und den Ländern auf genau gleicher Linie gelöst würden. Aus dem kooperativen Föderalismus wäre es dann eine Fessel für die politische Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Den Weg dahin sollten w i r nicht gehen. Von Seiten der Länderparlamente w i r d oft beklagt, daß sie durch Absprachen solcher Gremien praktisch gebunden würden, daß sie i n einen politischen Zwang versetzt würden, beispielsweise ein Ratifizierungsgesetz zu einem von den Ministerpräsidenten ausgehandelten Staatsvertrag nur noch beschließen zu können. Diese Zwangssituation besteht m. E. nicht. Sie besteht beispielsweise bei uns i n Rheinland-Pfalz deswegen nicht, weil sich die Landesregierung gegenüber dem Landtag bereiterklärt hat, i n dem jeweils zuständigen Ausschuß rechtzeitig vor dem Abschluß von Staatsverträgen und sonstigen Abkommen m i t erheblicher politischer oder finanzieller Bedeutung über deren Gegenstand und den wesentlichen Gang der Beratungen zu berichten. Damit ist ein frühzeitiger Dialog zwischen Regierung und Parlament i n solchen Fragen gewährleistet. Es scheint m i r erfreulich, daß sich m i t den Empfehlungen der EnquêteKommission i n verstärktem Maße jetzt auch die Länderparlamente befassen. So hat beispielsweise der rheinland-pfälzische Landtag bereits Vorschläge zu einer Verfassungsreform beraten, die unter anderem die verstärkte Beteiligung der Landesparlamente am Gesetzgebungsverfahren des Bundes ermöglichen sollen. Er hat i n seiner letzten Sitzung i m Februar d. J. die Landesregierung aufgefordert, über den Bundesrat eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes anzustreben. Sie, meine Damen und Herren, werden sich i n den kommenden zwei Tagen nicht nur m i t dieser Frage des Föderalismus beschäftigen, sondern auch andere Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit und des Sozialstaates stehen auf Ihrem Programm. Vielleicht führt Sie die Diskussion auch zu dem besonders aktuellen Thema des Abbaus perfektionistischer

Eröffnungsansprache Regelungen, den jeder fordert, den aber kaum jemand zustande bringt. Es ist nicht ganz untypisch für uns, daß w i r jahrelang überall darüber reden, daß etwas geändert werden müßte, daß es aber sehr schwer fällt, jemandem konkret vorzuschlagen, was er ändern solle. Ich glaube jedenfalls, daß das ebenfalls ein Aspekt unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, daß der Staat seine Bürger nicht unnötig durch Vorschriften festlegen darf. Auch das demokratische Gemeinwesen läuft Gefahr, bürgerfremd zu werden, wenn es immer perfektionistischer wird. Das ist nicht nur eine Gefahr autoritärer Systeme, sondern das ist nach meiner Überzeugung eine Gef ahr jedes Systems, zu perf ektionistisch und damit nicht bürgerfreundlich, sondern bürgerfeindlich zu werden. I m Gegensatz allerdings zu manchen Kassandra-Rufen glaube ich aber, kann man feststellen: zur Staatsverdrossenheit besteht i n der Bundesrepublik Deutschland 30 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes kein Anlaß. Unser 30 Jahre altes, oder 30 Jahre junges Grundgesetz und unsere 30 Jahre alte Staatsordnung bieten fraglos jedem ein hohes Maß an Chance und Möglichkeit zu Freiheit und Selbstverwirklichung. Eine andere Frage ist, i n welchem Umfang sie erkannt und i n welchem Umfang sie genutzt werden. Ich wünsche jedenfalls dieser 47. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften i n Speyer ein gutes Gelingen und viel Erfolg. Mögen Ihre Referate und Diskussionen und Gespräche über diese Staatsordnung für diese Staatsordnung fruchtbar und nützlich sein. W i r haben die einmalige Chance, zum ersten Male i n Deutschland 30 Jahre freiheitliche Ordnung überdenken zu können. W i r sollten diese Chance nützen und diese Ordnung für die Zukunft ausbauen und stärken. Ich bedanke mich, daß Sie aus diesem Grund hier zusammengekommen sind.

Probleme der Juridifizierung der Verfassung Von Hans Buchheim

Unter „Juridifizierung der Verfassung" verstehe ich, daß erstens politische Begriffe und Grundsatzbestimmungen der Verfassungsurkunde als Rechtsbegriffe oder Normen aufgefaßt und entsprechend verwendet, daß zweitens politische Angelegenheiten des Verfassungslebens statt unter Orientierung an politischen Prinzipien unter Anwendung von Rechtssätzen behandelt werden. Man faßt das Grundgesetz einseitig als oberste Rechtsnorm auf und beachtet nur wenig seine Bedeutung als politisches Konzept des Staates. Man t r i f f t i n dem Bereich der Politik, i n dem die Verfassung letztlich von der Mentalität oder Meinung bzw. vom Willen der Bevölkerung getragen wird, Entscheidungen nach rechtlichen, statt, wie es nötig wäre, nach politischen Kriterien. Verfassungsfragen werden fast ausschließlich als verfassungsrechtliche Fragen behandelt und gerichtlicher anstatt politischer Kontrolle unterworfen. Der sorgfältigen Pflege eines differenziert ausgestalteten Verfassungsrechts stehen bei uns nur geringe Aufmerksamkeit, ζ. T. auch Gedankenlosigkeit i m Umgang m i t der Verfassung als Grundorientierung des politischen Lebens und der politischen Tätigkeit des Staates gegenüber. Deshalb gilt die K r i t i k an der Juridifizierung der Verfassung nicht i n erster Linie den Juristen, die dies sozusagen i n der Unschuld einer gewissenhaften Ausübung ihres Handwerks fördern, sondern den Politikern und politisch interessierten Bürgern, die dem nicht die erforderliche politische Pflege der Verfassung entgegensetzen. Die Juridifizierung der Verfassung hat zwei Hauptursachen, von denen die eine offen zutage liegt, während die andere den meisten Beobachtern nicht bewußt ist. Die erste besteht darin, daß bei uns die Autorität der Politik gegenüber der des Rechts unverhältnismäßig gering ist. W i r haben ganz allgemein wenig Vertrauen i n die Qualität politischer Entscheidungen und überschätzen die Leistungsfähigkeit des positiven Rechts für die Bewältigung der Aufgaben und Probleme des öffentlichen Lebens. Zweite Hauptursache ist die verbreitete Unkenntnis des Unterschieds zwischen Prinzip und Norm. Abgesehen von den Unklarheiten über das Verhältnis von Politik und Recht, w i r d die Juridifizierung der Verfassung nämlich i n erheblichem Maße dadurch bewirkt, daß ihre 2·

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Hans Buchheim

Prinzipien wie Normen behandelt und ihre prinzipiellen Momente normiert werden. Prinzipien sind Grundsätze und allgemeine Werte, an denen w i r uns bei der Führung unseres Lebens und der Gestaltung der sozialen W i r k lichkeit orientieren. Die Prinzipien werden nicht als solche realisiert; w i r verwirklichen nicht die Wahrheit oder die Freiheit, sondern w i r führen unser persönliches wie das öffentliche Leben so, daß Wahrheit und Freiheit möglichst stark zur Geltung kommen. Prinzipien enthalten auch keine Handlungsanweisungen, sondern wie w i r uns i m Einzelfall zu verhalten und was w i r zu t u n haben, damit Wahrheit oder Freiheit zur Geltung kommen, ist Sache des rationalen Kalküls der jeweils gegebenen Umstände. Dazu gehört die Berücksichtigung auch der Grundgegebenheiten unseres Lebens: Bei der Orientierung an der Wahrheit z. B. muß die Perspektivität der menschlichen Existenz i n Rechnung gestellt werden, bei der Orientierung an der Freiheit 'die Tatsache, daß sich die Person nur i m Zusammenleben m i t anderen Personen ausbilden kann. Die Norm ist ein Hilfsmittel menschlicher Lebensführung und eine Methode der Gestaltung sozialer Wirklichkeit. Ihr wesentliches Moment ist die Regelmäßigkeit eines i m voraus festgelegten Verhaltens oder Entscheidens für eine bestimmte Klasse von möglicherweise eintretenden Fällen. Eine einfache Form der Norm ist das Backmodel. Wie das einzelne aus dem Teig ausgestochene Plätzchen aussieht, w i r d nicht von Fall zu Fall neu und ad hoc entschieden, sondern ist für alle Fälle bereits vorentschieden. Wenn man eine soziale Norm befolgt, wozu grundsätzlich auch die Anwendung von Rechtsnormen gehört, so muß man nicht selbst und ad hoc entscheiden, was man tut, sondern greift auf eine bereits vorhandene Handlungsanweisung zurück. Der betreffende Fall gehört zu einer Klasse, für die es eine Regel, eine Gepflogenheit, ein Verhaltensmuster, ein Gesetz gibt. Selbstverständlich muß die Besonderheit berücksichtigt werden, durch die sich der konkrete Fall von den anderen Fällen seiner Klasse unterscheidet, aber i m Gegensatz zur Orientierung am Prinzip geht es dabei nicht um die Frage, was man überhaupt t u n soll, sondern wie das, was zu tun ist, modifiziert werden muß. — Die Rechtsprechung hat übrigens beide Möglichkeiten, entweder unter Orientierung an Prinzipien oder durch Anwendung von Normen zu entscheiden. Das Prinzip gilt wegen seines Inhalts, die soziale Norm wegen der m i t ihr vereinbarten Regelmäßigkeit eines bestimmten Verhaltens oder Entscheidens. Das Prinzip ist unveränderlich, es bleibt unabhängig von den verschiedenen Umständen, unter denen es von Fall zu Fall zur Geltung gebracht wird, immer das Gleiche. Die Norm ist veränderbar und muß verändert werden, wenn neue Verhältnisse andere regelmäßige Entschei-

Probleme der Juridifzierug der Verfassung

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düngen erforderlich machen als bisher. Das Prinzip gibt keine Handlungsanweisung, sondern bietet eine Orientierung, von der Gebrauch zu machen sich nicht erzwingen läßt. Die Norm enthält eine Handlungsanweisung, deren Befolgung erzwingbar ist. Das Prinzip soll bis i n die Einzelheiten der Lebensführung gelten, während w i r unser Leben nicht mehr normiert wissen wollen, als unbedingt nötig. — Auch die Orientierung an einem Prinzip kann man für eine bestimmte Klasse von Fällen normieren und sie auf diese Weise für die Lebenspraxis erleichtern. Z u m inhaltlichen Geltungsgrund des Prinzips kommt insoweit der formale Geltungsgrund der Norm hinzu, der i n deren vereinbarter Regelmäßigkeit besteht. Und obgleich dann i n der Norm ein Prinzip enthalten ist, ist doch der normative Geltungsgrund der zunächst maßgebende, denn es hätte andernfalls keinen Sinn gehabt, die Norm zur Erleichterung der Orientierung am Prinzip auszubilden. I n allen den Fällen aber, i n denen man an die Grenzen der Leistungsfähigkeit einer Norm stößt, muß man auf das Prinzip selbst rekurrieren, dem sie dient. Die Unterscheidung von Prinzip und Norm ist i n der rechtswissenschaftlichen Diskussion nicht unbekannt, wenn sie auch meist unter einer anderen Terminologie vorgenommen wird. Erinnert sei ζ. B. an Josef Esser, der i n seiner bekannten Arbeit über „Grundsatz und Norm i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" 1 feststellt, daß es allgemeine Rechtsgedanken gibt, die als Prinzipien unabhängig vom Gesetz wirksam sind. Hans J. Wolff bezeichnet i n seinem Beitrag „Rechtsgrundsätze und verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen" 2 die verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen als Grundsätze, aus denen Rechtssätze erst gewonnen werden müssen; sie drücken nicht zunächst rechtliche, sondern politische Grundwertungen aus. Für das Verfassungsleben und den Umgang mit der Verfassungsurkunde ist die Unterscheidung von Prinzip und Norm von fundamentaler Bedeutung. Das Grundgesetz enthält nicht nur verfassungsrechtliche Normen, sondern auch Prinzipien, an denen sich das öffentliche Leben und die Gestaltung des Staates sowie dessen Tätigkeit unmittelbar orientieren. Es handelt sich zum Teil u m allgemeine Prinzipien, die auch, jedoch keineswegs nur für die Politik gelten wie ζ. B. Freiheit und Gleichheit; z. T. sind sie spezifisch politisch, wie das rechtsstaatliche, das demokratische, das föderale und das soziale Prinzip. Alle i n der Verfassung enthaltenen Prinzipien stehen i n einem inneren Zusammenhang, der durch das Konzept der Verfassung begründet wird. I m Falle des Grundgesetzes sind es, genau genommen, zwei Konzepte, nämlich das allgemeine des neuzeitlichen Verfassungsstaates und ein spezielles, nach 1

Tübingen «1964. * In: Gedächtnisschrift für W. Jellinek, München 1955, S. 33 ff. (hier S. 48).

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dem dieser aufgrund der deutschen Erfahrungen der Jahre 1930 bis 1945 vom Parlamentarischen Rat variiert worden ist. Wann immer ein Prinzip der Verfassung oder ein Moment ihres Konzepts normiert oder wie eine Norm verwendet wird, bedeutet das einen Schritt zu ihrer Juridifizierung, auch wenn damit nicht unmittelbar eine Vertauschung von politischen durch rechtliche Kriterien verbunden ist. Denn einerseits werden damit die Möglichkeiten einer am Konzept bzw. an den Prinzipien der Verfassung sich orientierenden Politik beschränkt, andererseits sind i m Bereich der Verfassung alle Normierungen i m Ergebnis rechtliche Normierungen. M i t jedem Schritt der Juridifizierung w i r d erstens die Verfassungsurkunde mehr zu einem Grundgesetz i m engeren Sinne dieses Wortes, und nimmt zweitens i m Verfassungsleben die Befolgung von Normen gegenüber der an Prinzipien orientierten politischen Gestaltung zu. Das betrifft nicht bloß die allgemein k r i t i sierte „Verrechtlichung" der Politik, wie des Lebens überhaupt, die von Staats wegen erfolgt, sondern es w i r d auch die Neigung der Bürger verstärkt, fälschlicherweise Normen anzuwenden i n Fällen, i n denen die Orientierung an Prinzipien geboten wäre. E i n charakteristisches Beispiel dafür findet sich i n der Auseinandersetzung über die Frage, ob m i t unserer Verfassung eine andere W i r t schaftsordnung als die soziale Marktwirtschaft vereinbar sei. Wenn das Bundesverfassungsgericht i n einem verfassungsrechtlichen Streit zu entscheiden hat, dann muß es das Grundgesetz als oberste Rechtsnorm anwenden und zu dem bekannten Schluß des Investitionshilfeurteils 3 kommen: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem GG mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche." Der Verfassungsgeber habe sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden. Das Gericht kann nicht anders, als das Grundgesetz als Norm anwenden. Übernimmt man aber seine normative Entscheidung i n den Bereich der politischen Gestaltung, dann t r i f f t auch i n diesem Fall zu, was für den Umgang m i t Normen generell gilt: Da sie jeweils eine Entscheidung für eine bestimmte Klasse von Fällen treffen, sind sie für diese, aber auch nur für diese bindend. A u f Fälle, für die die Norm nicht gemacht ist, die nicht durch eine Norm ausdrücklich geregelt werden, braucht man sie auch nicht anzuwenden. Man muß bei der Befolgung von Normen nur das tun, was ausdrücklich geboten ist, während i m übrigen der Grundsatz gilt: „Was nicht verboten ist, das ist erlaubt." Faßt man demnach die Gestaltung der Wirtschaftsordnung als eine A n gelegenheit auf, für die der Verfassungsgeber evtl. eine Norm gesetzt hat, die zu befolgen ist, dann kann man aus der Entscheidung des Bun8

BVerfGE v. 27. 7.1954.

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desVerfassungsgerichts, daß der Verfassungsgeber hier keine Vorschrift gemacht hat, die Konsequenz ziehen: „was nicht verboten ist, das ist erlaubt" und sich ermächtigt fühlen, i m Bereich der Wirtschaft die Freiheit so weit abzubauen, als es der durch eine Reihe von Verfassungsnormen wie z. B. durch die A r t i k e l 2, 11, 12, 14 eindeutig abgesteckte Rahmen gerade noch zuläßt. Versteht man dagegen die Freiheit als Verfassungsprinzip, an dem man sich bei der Gestaltung des gesamten öffentlichen Lebens orientiert und das i n allen Lebensbereichen so stark wie möglich zur Geltung gebracht werden soll, dann erweist sich die soziale Marktwirtschaft als diejenige Wirtschaftsordnung, die dem Konzept der Verfassung am besten entspricht. Das Grundgesetz zwingt uns nicht als Norm, die Wirtschaft sozial-marktwirtschaftlich zu ordnen, doch müssen w i r das tun, wenn w i r sein Prinzip der Freiheit auch i n der Wirtschaft zur Geltung bringen wollen. Es ist ζ. T. der gleiche Personenkreis, der i m Falle der Wirtschaftsordnung die Freiheit wie eine Norm behandelt, dagegen ein anderes Prinzip des Grundgesetzes, nämlich das demokratische, als solches verwendet wissen w i l l und daher fordert, daß man sich daran bei der Gestaltung aller Lebensbereiche orientiere. Auch hier könnte man sich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorstellen etwa i n dem Sinne, daß das Grundgesetz für den Bereich der Wirtschaft einen bestimmten Modus der Entscheidungsfindung nicht vorschreibe — i m Gegensatz zur inneren Organisation der Parteien, die nach A r t i k e l 21 I I demokratischen Grundsätzen entsprechen muß. Hier jedoch denkt man nicht normativ und zieht nicht den Schluß, daß es einer Demokratisierung der Wirtschaft, da sie nicht vom Grundgesetz vorgeschrieben sei, auch nicht bedürfe; vielmehr gilt es als selbstverständlich, daß Demokratie eine „Lebensform" ist, und daß es der Sinn des Grundgesetzes erfordere, sich i n allen Lebensbereichen am demokratischen Prinzip zu orientieren. — Dabei w i r d allerdings nicht beachtet, daß Freiheit ein allgemeines Prinzip ist, welches über die Polit i k hinaus für die Gestaltung aller Lebensbereiche gilt, während es sich bei der Demokratie u m ein nur politisches Prinzip handelt. Es ist für das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutschland charakteristisch und von erheblicher Bedeutung, daß die Verfassungsurkunde die einzige allgemein anerkannte Konkretion des Konzepts und der Prinzipien unserer Verfassung darstellt. Neben dem Grundgesetz haben w i r weder eine Tradition verfassungsrelevanter allgemeiner Uberzeugungen und selbstverständlicher Gewohnheiten, noch besitzen w i r sonstige Texte m i t verfassungspolitischer Autorität; es fehlen auch das Bewußtsein, daß es ungeschriebene Verfassungsgrundsätze und ungeschriebenes Verfassungsrecht gibt, sowie das nötige Verständnis für deren Bedeutung. Infolgedessen hängt bei der Gestaltung unseres Verfassungslebens alles davon ab, nach welchen Methoden das Grundgesetz

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interpretiert w i r d und i n welchem Sinn man die Interpretationsspielräume ausfüllt. Als spezielles Problem kommt hinzu, daß es i m Grundgesetz häufig die gleichen Begriffe und Sätze sind, i n denen einerseits das Konzept und die Prinzipien der politischen Ordnung ihren Niederschlag gefunden haben und die andererseits als oberste Rechtsnormen die gesamte Rechtsetzung und Rechtsanwendung leiten. Auch diese beiden verschiedenartigen Funktionen einunddesselben Textes fördern die Juridifizierung der Verfassung. Denn für die Rechtspraxis werden i m Laufe der Jahre die Begriffe und Bestimmungen juristisch definiert und immer fester i m Gesamtsystem des positiven Rechts verortet. A u f diese Weise w i r d es aber immer schwerer, wenn nicht nahezu unmöglich, den politischen Sinn zur Geltung zu bringen, den die Begriffe und Bestimmungen ebenfalls haben, und deren Bedeutimg so weit und offen zu halten, wie es nötig ist, wenn man sich an ihrem prinzipiellen Gehalt soll orientieren können. So wichtig und eine große Errungenschaft es ist, daß bei uns die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht sind, so führt das doch dazu, daß sie wie Rechtssätze normativ fixiert werden, also die i n ihnen enthaltene Verbindlichkeit des Prinzips von der andersgearteten Verbindlichkeit der Norm überlagert wird. Ihre immer weiter vorangetriebene und immer mehr differenzierte juristische Interpretation erschwert den Rekurs auf den offenen Sinn der i n ihnen enthaltenen Prinzipien. Die große Autorität der Rechtsprechung und die große praktische Bedeutung normativ-rechtlicher Fixierungen fördern die Neigung, auch für die politische Gestaltung die Grundrechte eher als imperative bzw. begrenzende Normen denn als orientierende Prinzipien heranzuziehen. E i n lediglich normatives Verständnis der Grundrechte und die entsprechende Tendenz zur Juridifizierung der Verfassung findet sich auch i n einer Ausarbeitung, die die Grundwerte-Kommission beim SPD-Parteivorstand am 15. Januar 1979 unter dem Titel „Grundwerte und Grundrechte" veröffentlicht hat. Dieser Text geht richtig von der Unterscheidung von Prinzipien und Normen aus. Er weist jedoch die Prinzipien ( = Grundwerte), an denen sich die politische Gestaltung orientiert, allein dem Kompetenzbereich der Parteien zu, während er die Grundrechte der Verfassung auf ihre normative Funktion beschränkt; sie sind nur noch „verfassungsrechtliche Wertvorgaben für die politische Gestaltung von Staat und Gesellschaft" 4 . Das Grundgesetz steckt bloß den Rahmen ab, innerhalb dessen sich jede Partei an ihren eigenen Grundwerten orientiert: „Die Grundwerte der Parteien sind Maßstäbe für individuelles Handeln, für die Bewertung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und für das politische Wollen, das diese Wirklichkeit verändernd gestaltet 5 ." I m 4 5

a.a.O., S. 3. a.a.O., S. 3 f.

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Falle der SPD handelt es sich u m die Grundwerte des demokratischen Sozialismus. Sie „sind nicht m i t den Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes identisch und gehen auch nicht i n ihnen auf . . . Vielmehr steckt die Verfassung lediglich den Rahmen ab, innerhalb dessen sich jede Politik halten muß, der jedoch i n unterschiedlicher Weise gefüllt werden kann 6 ." Daher sind ζ. B. für die politische Entscheidung über das Ausmaß der Mitbestimmung nicht die (nicht mehr als orientierende Prinzipien, sondern nur noch als begrenzende Normen verstandenen) Grundrechte maßgebend, sondern die Grundwerte des demokratischen Sozialismus 7 . Es ist richtig, daß sich für die politische Gestaltung jede Partei auch an einem eigenen Konzept orientieren muß, und daß erst dadurch „Demokratie sich entfalten kann" 8 . Wenn man aber die Orientierung an politischen Prinzipien zur Sache ausschließlich der Parteien macht und damit dem Grundgesetz den Rang eines für alle verbindlichen Konzepts praktisch nimmt, w i r d die Orientierung der politischen Gestaltung dem von allen Bürgern getragenen Verfassungsleben ganz entzogen und völlig i n den Bereich parteipolitischer Auseinandersetzung verlagert. Die Verfassung gilt nicht mehr als Konzept, sondern nur noch als Norm, die alles zuläßt, was sie nicht ausdrücklich verbietet, und alles erlaubt, was die Interpretation ihrer Bestimmungen hergibt. Gefördert w i r d die Juridifizierung des Verfassungslebens auch dadurch, daß man bei der Auslegung des Grundgesetzes der objektiven Interpretation vor der subjektiven den Vorzug gibt. Die dafür übliche Begründimg lautet, die subjektive Interpretation binde an den auf eine bestimmte historische Situation fixierten Willen des Gesetzgebers, während die objektive Interpretation den bleibenden Sinn der Norm herausarbeite. Abgesehen davon, daß zwar Prinzipien einen bleibenden Sinn haben, nicht jedoch Normen, t r i f f t diese Begründung nicht das eigentliche Problem bzw. die zwei Probleme, u m die es eigentlich geht. Bei dem einen Problem handelt es sich u m eine allgemeine und grundlegende Frage der Hermeneutik überhaupt, nämlich u m das Verhältnis zwischen einem gemeinten Sinn und der Sprache, durch die er artikuliert wird. Wer spricht (oder schreibt), der vertraut das, was er meint, bereits gegebenen Worten und Redewendungen an, die je einen mehr oder weniger großen eigenen Spielraum möglicher Bedeutungen haben. Für den Angesprochenen bleibt innerhalb dieses Spielraumes i m Prinzip offen, was der Sprechende eigentlich meint, während dieser i m Prinzip für alle i m Interpretationsspielraum möglichen Bedeutungen einstehen muß. β 7 8

a.a.O., S. 12. a.a.O., S. 14. a.a.O., S. 13.

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Denn es steht dem Angesprochenen i m Grunde frei, diejenige Bedeutung aufzugreifen, die seinen eigenen Intentionen am nächsten kommt. I n Anbetracht dieser Gegebenheiten ist die Auslegung, die i n der j u r i stischen Methodenlehre als „subjektiv" bezeichnet wird, darauf gerichtet, innerhalb des Bedeutungsspielraums der Hede dem Sinn möglichst nahe zu kommen, den der Sprechende wirklich meint, während die „objektiv" genannte Auslegung dem Angesprochenen die Möglichkeit eröffnet, der Rede innerhalb ihres Bedeutungsspielraumes den Sinn zu entnehmen, der i h m am besten paßt. Deshalb pflegen w i r die gutgemeinte, aber ungeschickte Bemerkung eines Menschen, dem w i r wohlwollen, subjektiv zu interpretieren, während die objektive Interpretation eine nützliche Waffe i m politischen Kampf ist. Dasselbe gilt auch für den Umgang m i t der Verfassung: wer ihr Konzept bejaht, w i r d sie subjektiv interpretieren, um sie möglichst so aufzufassen, wie sie gemeint ist; wer ihr Konzept ablehnt, w i r d versuchen, ihr m i t den M i t t e l n der objektiven Interpretation einen Sinn zu unterstellen, der seinen eigenen Intentionen entspricht. Die letzte Feststellung betrifft bereits das andere Problem. Die subjektive Interpretation eines Gesetzes erschließt mit dem Rekurs auf den W i l len des Gesetzgebers dessen Intention und eröffnet damit die Möglichkeit, das Gesetz i n seinem spezifischen Sinn anzuwenden. Dagegen schaltet die objektive Interpretation den intendierten Sinn i m Prinzip aus und hebt auf die sprachlich möglichen Bedeutungen der Worte und Sinnvarianten des Textes ab, bzw. fügt sie das einzelne Gesetz passend i n das Gesamtsystem des positiven Rechts ein. Es muß hier nicht entschieden werden, welche der beiden Auslegungen sich für die Anwendung einfacher Gesetze mehr empfiehlt. Sicher scheint m i r jedoch zu sein, daß für die Auslegung der Verfassung die subjektive Interpretation die richtige ist. Denn hier kommt es entscheidend darauf an, dem Konzept zu entsprechen und sich an den Prinzipien zu orientieren, die sich teils aus dem Konzept ergeben, teils durch dieses einen speziellen Sinn gewinnen. Man kann, u m m i t H. J. Wolff zu sprechen, die verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen nicht konkretisieren, wenn man eine rein objektive Methode anwendet; vielmehr muß man „auf die klare Übereinstimmung m i t dem subjektiven vom Gesetzgeber gewollten Sinn achten" 9 . Von der Wahl der Interpretationsmethode hängt u. a. auch die A n t w o r t auf die Frage ab, wann jemand auf dem vielzitierten „Boden der Verfassung" steht. Nach den Kriterien der subjektiven Interpretation muß er sich an deren Konzept orientieren; bei objektiver Interpretation kann er einem ganz anderen Konzept folgen, wenn i h m nur keine Verletzung einer Norm der Verfassung oder eines lediglich als Norm aufgefaßten 9

a.a.O., S. 51.

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Verfassungsprinzips nachzuweisen ist. W i r d m i t der Autorität der Gerichte nach dem zweiten Verfahren entschieden, so fördert das die Juridifizierung des Verfassungslebens. Denn es ist dann i n der politischen Auseinandersetzung erheblich erschwert, sich gegen offenkundige Verstöße gegen das Konzept der Verfassung zur Wehr zu setzen, wenn sie nur i n einer juristisch nicht anfechtbaren Weise erfolgen. Es nützt i n solchen Fällen wenig, sich auf das Grundgesetz zu berufen, da i h m auch i n der öffentlichen Meinung hauptsächlich eine rechtlich-normative und kaum eine politisch-konzeptionelle Geltung beigemessen wird, die A l l gemeinheit sich also zufrieden gibt, wenn keine Rechtsnorm verletzt ist. Die durch die Verfassungsurkunde teils repräsentierte, teils bestimmte Verfassungsordnung trägt sich nicht selbst, sondern w i r d letztlich von der Mentalität und vom politischen Willen der Bevölkerung getragen. Die wesentlichste Voraussetzung ihrer normativen K r a f t ist, wie Konrad Hesse treffend sagt, daß sie vom allgemeinen Bewußtsein bejaht w i r d : „Die Intensität der normativen K r a f t der Verfassung ist damit i n erster Linie eine Frage des Willens zur Norm, des Willens zur Verfassung 10 ." Dieser Wille aber ist politischer Wille bzw. die gemeinsame Meinung, diese und keine andere Republik zu wollen. Dabei soll der Begriff „Meinung" besagen, daß es sich nicht um einen gewissermaßen ruhenden, sondern um einen Willenskonsens handelt, eine Ubereinstimmung nicht nur der Auffassung, sondern auch des Bestrebens. Der allen am Verfassungsleben Beteiligten gemeinsame Gestaltungswille richtet nicht unmittelbar eine Rechtsordnung ein, sondern führt als politischer Wille zunächst zu politischen Entscheidungen. Es gäbe keinen Rechtsstaat, kein so und nicht anders ausgestaltetes Arbeitsrecht, keine Prozeßordnung etc., wenn das alles nicht zuerst einmal bzw. letztlich politisch gewollt würde. Das schließt nicht aus, daß es Recht und Gerechtigkeit an sich gibt, es degradiert diese nicht zu bloßen Produkten zufälligen menschlichen Wollens; wohl aber müssen Recht und Gerechtigkeit, wie auch Freiheit, Wahrheit, Gleichheit etc. von Menschen gewollt werden, damit sie i n der sozialen Praxis, also auch i m Staatsleben Geltung erlangen. Insofern ist die Verfassungsordnung wie alles positive Recht Produkt der Politik — und soll es nach unserer Uberzeugung auch sein. W i r würden andernfalls von unseren Parlamentariern nicht fordern, daß sie die Gesetzgebung als eine Aufgabe politischer Führung verstehen und erfüllen. Der Staat ist letztlich nicht auf Normen errichtet, sondern seine normative Verfassungs- und Rechtsordnung ruht auf einem Fundament, das aus politischer Meinung und rationaler Machtdisposition besteht. Diese 10 Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen 1959, jetzt in: Manfred Friedrich (Hrsg.), Verfassung, Darmstadt, S. 91 (vgl. S. 87).

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ist nicht „blind", sondern an den Prinzipien orientiert, die für das Zusammenleben i m gesamtsozialen Bereich nach dem Willen der Beteiligten Geltung haben sollen 11 . Das Gefüge der Verfassung und des positiven Rechts hält nur, wenn die politische Meinimg, der Wille zur Verfassung virulent bleibt und die sich täglich neu stellenden Probleme der Machtdisposition i m Sinne bzw. zugunsten der Verfassung bewältigt werden. Der Versuch, i n diesem, die Verfassung tragenden Bereich der Politik Sicherheit durch normative Fixierungen zu gewinnen, ist trügerisch und schädlich. Trügerisch, w e i l er i n Wirklichkeit keine Sicherheit bieten kann, trotzdem aber eine Illusion von Sicherheit schafft. Schädlich, weil jede Normierung i n diesem Bereich die eigentlich tragenden Kräfte der Politik beschränkt und teilweise lähmt. Denn wo immer eine normative Regelung Platz greift, verlieren Machtkalkül und politisches Handeln notwendigerweise i h r Recht — wenn auch i n dem Bereich, i n dem sie originäre Zuständigkeit besitzen, nur scheinbar. Ein Musterbeispiel für die Juridifizierung des Verfassungslebens, des Bereichs also, i n dem die Verfassung durch politische Meinung getragen w i r d und nur durch am Konzept der Verfassung orientierte politische Entscheidungen gesichert werden kann, erleben w i r beim „Fernhalten von Verfassungsfeinden vom öffentlichen Dienst". Schon dieses Stichwort lenkt die Aufmerksamkeit i n eine falsche Richtung. Denn i m Sinne von A r t i k e l 33 I V GG sowie der §§ 4 und 35 BRRG geht es nicht u m eine Abwehr von Extremisten, sondern — positiv — u m eine besonders hohe Anforderung, die an jeden Bewerber zu stellen ist: wer ins BeamtenVerhältnis berufen werden w i l l , muß die Gewähr bieten, daß er jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung eintritt. Das ausschlaggebende K r i t e r i u m ist nicht, daß jemand der Verfassung feindlich gegenübersteht und deshalb nicht zugelassen wird, sondern daß nur zugelassen werden soll, wer eine überdurchschnittliche Bedingung erfüllt, die man nicht von jedem Staatsbürger fordert: er soll sich „durch sein gesamtes Verhalten" zur freiheitlich demokratischen Grundordnung „bekennen", sich also an deren Konzept und Prinzipien orientieren. Daraus folgt auch, daß jemand, der dieser erhöhten Anforderung nicht genügt und deshalb abgelehnt wird, damit nicht das Stigma eines Verfassungsfeindes trägt, wie das bei der heutigen verkehrten Praxis der Fall ist, sondern als durchschnittlich loyaler Staatsbürger v o l l anerkannt bleibt. 11 Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Vortrage das Speziflkum und die fundamentale Bedeutung der Macht zu erörtern. Das meiste, was darüber geredet und geschrieben wird, erfaßt nur deren Mißbrauch, nimmt diesen jedoch für das ganze Phänomen. U m solche Mißverständnisse auszuschließen, sei nur vermerkt, daß unter „Macht" hier das Potential verstanden wird, was eine Person nicht durch sich selbst hat, sondern was ihr aus ihrer Interaktion mit anderen von diesen zuwächst — folglich auch von diesen abhängig ist. Über die Bedeutung der Macht als Element des Rechts vgl. auch H. J. Wolff, a.a.O.

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Die Entscheidung, die i m konkreten einzelnen Fall getroffen werden muß, um die Bestimmungen der §§ 4 und 35 BRRG zu erfüllen, betrifft die politische Einstellung des Bewerbers und kann damit aus zwei Gründen nicht Sache eines Gerichts sein. Erstens beruht die Beurteilung der Einstellung und gar der i n Zukunft zu erwartenden Einstellung eines Menschen i m wesentlichen nicht auf Fakten, die Gegenstand einer gerichtlichen Beweiswürdigung sein könnten, sondern sie besteht i n einer Einschätzung seiner Persönlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat das i n seinem Urteil vom 22. M a i 1975 unmißverständlich und ausführlich dargelegt. Danach handelt es sich „ u m ein prognostisches Urteil über die Persönlichkeit des Bewerbers", das „nicht selten vom persönlichen Eindruck (des für die Zulassimg Zuständigen) abhängen kann". Das Gericht erwähnt als Parallelbeispiele u. a., daß jemand, obgleich er fachlich qualifiziert ist, doch abgelehnt werden muß, weil er „uneinsichtig rechthaberisch" ist oder w e i l er „der Erfordernis der Praxis, Entscheidungen zeitgerecht zu treffen, nicht genügt, sondern sie unschlüssig vor sich herschiebt". Zweitens muß derjenige, der die Entscheidung trifft, politische Kriterien anwenden, m i t h i n über politisches Urteil verfügen und politisch zur Verantwortung gezogen werden können. Diese Besonderheiten bleiben bei der derzeitigen Handhabung der Bestimmungen der §§ 4 und 35 BRRG weitgehend unbeachtet und sind überdies der Unterstellung ausgesetzt, rechtsstaatliche Grundsätze zu verletzen. Statt dessen behandelt man i n kritischen Fällen die Bewerbung quasi als Rechtsfrage, bei der m i t „gerichtsfesten" Tatsachen dem Bewerber nachgewiesen werden muß, daß er aktiv die Verfassung bekämpft. Abgesehen von den Mißverständnissen, m i t denen diese Praxis belastet ist, trägt sie insofern zur Juridifizierung des Verfassungslebens bei, als sie an die Stelle der notwendigen politischen Entscheidung, die sich am Konzept und an den Prinzipien der Verfassung zu orientieren hätte, eine normativ-rechtlich begründete Entscheidung setzt. Diese aber ist nicht nur an sich unangemessen, sondern erschwert es zudem, das zu tun, was unter dem Gesichtspunkt politischer Verantwortlichkeit i n dem Bereich, der die Verfassung trägt, gefordert ist. Vergleichbare Auswirkungen auf das Verfassungsleben hat das Verfahren, das nach den Bestimmungen von A r t i k e l 21 I I GG beim Verbot verfassungswidriger Parteien anzuwenden ist; nur daß i n diesem Fall die Tendenz zur Juridifizierung von der Verfassung selbst ausgeht. Ob eine verfassungswidrige Partei verboten werden soll, ist i n die politische Entscheidung der politisch verantwortlichen Regierung gestellt. Ob aber die betreffende Partei verfassungswidrig ist, das darf allein das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Damit w i r d eine Frage, die unter Orientierung am Konzept und an den Prinzipien der Verfas-

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sung entschieden werden müßte, einem Verfahren unterworfen, das nach normativen Kriterien geführt wird. Das heißt auch, daß eine Methode der Beweisaufnahme vorgeschrieben ist, der sich der Tatbestand eines politischen Angriffs auf die Verfassung i m Prinzip entzieht. Denn eine Partei kann offenkundig verfassungswidrige Ziele verfolgen, ohne daß es gerichtlich nachweisbar ist. Sie braucht nicht einen einzigen Satz des Grundgesetzes zu verleugnen, wenn sie i h m nur ein anderes Konzept unterlegt und sich an Prinzipien orientiert, die denen der Verfassung widersprechen. Das kann auf einer so abstrakt-theoretischen Ebene der Argumentation geschehen und so m i t mehrdeutigen Formulierungen propagiert werden, daß sich nach den Kriterien und Regeln richterlicher Beweiswürdigung die Verfassungswidrigkeit nicht nachweisen läßt. Auch gibt es viele Möglichkeiten, die Regeln der tagespolitischen Auseinandersetzung und die M i t t e l der Agitation zum Kampf gegen die Verfassung zu mißbrauchen, ohne daß dies so eindeutig beweisbar wäre, wie es eine Verurteilung voraussetzt — und um eine solche geht es praktisch, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Partei höchstrichterlich festgestellt wird. Die Bestimmungen des Artikels 21 I I GG erklären sich aus widersprüchlichen Intentionen des Verfassungsgebers. Einerseits wollte er den demokratischen Staat i n die Lage versetzen, sich gegen seine Feinde zu verteidigen, andererseits mißtraute er jedoch auch dessen Freunden und Verteidigern. Aus Sorge, eine Regierung könne einmal die Möglichkeit des Parteiverbotes mißbrauchen und die demokratische Öffentlichkeit würde das hinnehmen, wollte der Parlamentarische Rat ganz sicher gehen und baute von vornherein für alle einschlägigen Fälle die normative Sicherung ein. Jedoch ist das nach zwei Seiten h i n problematisch. Einerseits dürfte der kritische Fall, solange der „Wille zur Verfassung" lebendig ist, kaum eintreten, weil zumindest die öffentliche Meinung den Mißbrauch nicht dulden würde; wenn dagegen der „Wille zur Verfassung" nicht mehr bestünde, besäße das Verf assungsgericht auch nicht mehr die nötige Autorität, verfassungswidrige Praxis zu verhindern. Andererseits bewirkt die Vorsorge für den kritischen Fall, der i n der Form, auf die die Bestimmung des Artikels 21 I I GG gemünzt ist, kaum eintreten kann, eine permanente Tendenz zur Juridifizierung des Verfassungslebens, indem sie die Möglichkeiten politisch verantwortlichen und zu verantwortenden Handelns einschränkt. Denn dadurch, daß die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei gerichtlicher Erkenntnis vorbehalten ist, w i r d die dafür an sich kompetente Instanz, nämlich die politischer Verantwortung unterworfene Regierung für inkompetent erklärt und u. U. zur Untätigkeit verurteilt. Die Waffe des Verbots verfassungswidriger Parteien, die der Verfassungsgeber dem demokratischen Staat zugesteht, ist nur dann brauchbar, wenn eine

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Partei ihre verfassungswidrigen Bestrebungen so naiv praktiziert, daß sie gerichtlich überführt werden kann. Für jeden anderen Fall ist sie stumpf, denn das Gericht kann die Waffe nicht so führen, wie sie geführt werden muß, und die Regierung darf sie nicht allein verwenden. Die Bestimmungen über das Verbot verfassungswidriger Parteien sind nicht das einzige Beispiel dafür, daß das Grundgesetz selbst die Juridifizierung der Verfassung fördert. Andere Beispiele sind die Bestandsgarantie des Artikels 79 I I I , die Wesensgehaltsgarantie des Artikels 19 I I sowie die zahlreichen Fälle kasuistisch ausgebauter Bestimmungen. Das Grundgesetz ist insgesamt durch die Tendenz gekennzeichnet, sich auf die tragende politische Meinung, auf den „Willen zur Verfassung" nicht zu verlassen, sondern i n deren Sphäre normative Sicherungen anzubringen. Diese Tendenz ist neben der starken föderalen Komponente eines der beiden Merkmale des „zweiten Konzepts" unserer Verfassung, also der Abwandlung des neuzeitlichen Verfassungsstaates aufgrund der i n den Jahren 1930 bis 1945 gemachten Erfahrungen. Während aber die Privilegierung des föderalen Prinzips zu einem nicht geringen Teil auf die äußeren Umstände der Entstehungszeit des Grundgesetzes zurückzuführen ist und mehr einen Zusatz zum traditionellen Konzept darstellt als dessen Veränderung, bedeutet der Versuch, das politische Fundament durch Rechtsnormen zu sichern, einen vom Verfassungsgeber ausdrücklich gewollten substantiellen Eingriff i n das Konzept. Denn dieses setzt den „ W i l l e n zur Verfassung" voraus. Die Bezeichnung „verfassungswidrig" bietet übrigens ein charakteristisches Beispiel für eine besondere Variante der Juridifizierung des Verfassungslebens: für die Juridifizierung politischer Begriffe. Da die Entscheidung, ob eine Partei verfassungswidrig ist, ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht zusteht, darf man i m Falle von Parteien Verfassungswidrigkeit nur noch dann zu behaupten wagen, wenn ein entsprechendes höchstrichterliches Urteil vorliegt. Das eigene Urteilsvermögen und politische Argumente reichen nicht mehr aus, denn man kann sich u. U. gezwungen sehen, seine Behauptung nach den Kriterien richterlicher Tatsachenerhebung und Beweiswürdigung zu belegen, i n deren Filter viele politisch plausible Gründe hängenbleiben würden. So ist der Begriff „verfassungswidrig" praktisch zum Rechtsbegriff geworden, als solcher monopolisiert und damit der freien politischen Auseinandersetzung entzogen. Das hat dazu geführt, daß öffentliche Diskussionen (wie übrigens auch staatliche Behörden) auf den Begriff „verfassungsfeindlich" ausweichen. Damit geht aber i m Raum der geistig-politischen Auseinandersetzung eine wesentliche Möglichkeit der Differenzierung verloren. Denn Verfassungsfeindlichkeit setzt wie Rechts- und Ordnungsfeindlichkeit Vor-

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satz und aktive Gegnerschaft voraus, während Verfassungswidrigkeit, Rechstwidrigkeit und Ordnungswidrigkeit harmloser sind und vielleicht sogar auf ungewolltem Widerspruch beruhen, den man zurücknimmt, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird. Die begriffliche Ungenauigkeit ist allerdings schon i m A r t i k e l 21 I I selbst enthalten, denn nach den dort genannten Tatbeständen wäre eine Partei richtiger als „verfassungsfeindlich" zu bezeichnen 12 . Wenn sich die Aufmerksamkeit der verantwortlichen Politiker wie der öffentlichen Meinung vorwiegend auf die normativ-rechtliche Seite der Verfassung richtet, diese als Konzept des Staates dagegen wenig beachtet, besteht die Gefahr, daß Verstöße gegen das Konzept, sofern sie nur keine bestimmte Norm ersichtlich verletzen, unbemerkt bleiben. Dann kann es geschehen, daß sich i n der politischen Praxis Veränderungen vollziehen, die m i t der Verfassung unvereinbar sind, jedoch trotzdem nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn zurückgewiesen werden. Ein Beispiel dafür betrifft das Verhältnis von Öffentlichkeit und Gesellschaft. Der neuzeitliche Verfassungsstaat kennt zwei A r t e n von Öffentlichkeit. Die eine ist die des Staates, i n der alles, was getan und gesprochen wird, als für alle Bürger repräsentativ gelten, m i t h i n i m Prinzip allgemein und jedermann zumutbar sein muß. Die andere Öffentlichkeit entsteht aus dem Freiraum, den der Staat als Bereich der freien Entfaltung der Persönlichkeit offenhält und garantiert. Sie ist der „zur Öffentlichkeit ausgeweitete private Innenraum" 1 3 , „die öffentlich relevant gewordene Privatsphäre der Gesellschaft" 14 . Ihre Gestaltung resultiert aus dem, was die persönlichen Initiativen der vielen einzelnen i n sie einbringen. Während der Gegensatz zur staatlichen Öffentlichkeit zutreffend als „privat" gekennzeichnet wird, kann dieser Begriff als Gegenbegriff zu der zweiten A r t von Öffentlichkeit sinnvollerweise nicht verwendet werden, w e i l diese selbst eine Variante des Privatbereichs ist. Da es einen passenden Gegenbegriff nicht gibt, muß man sich, wenn man genau sprechen w i l l , m i t der Bezeichnimg „nicht-öffentlich" behelfen. Gegenwärtig findet nun aber die Vorstellung zunehmend Verbreitung, daß die Gestaltung der zweiten A r t von Öffentlichkeit, da sie für die Gesellschaft relevant sei, nicht „privater" Beliebigkeit überlassen werden 12 Daß das Problem der Juridifizierung sich nicht auf verfassungsrelevante Begriffe beschränkt, haben die Auseinandersetzungen gezeigt, ob man eine Terroristenbande ohne entsprechendes Gerichtsurteil als „Bande" bezeichnen dürfe. 15 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 21969, S. 41. 14 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, S. 33.

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und nicht „privatem" Interesse ausgeliefert bleiben dürfe, sondern der Gesellschaft vorbehalten sein müsse. Hier w i r d die Gesellschaft zum Subjekt erklärt und usurpiert als solches die Zuständigkeit für die Sphäre der „zum Publikum versammelten Privatleute" 1 5 . Dagegen w i r d deren legitimes Subjekt, nämlich der einzelne zum illegitimen Konkurrenten der Gesellschaft gestempelt, der seine Interessen angeblich auf Kosten der Allgemeinheit durchzusetzen versucht. Da die Gesellschaft i n Wirklichkeit nicht Subjekt sein kann, schreiben sich die verschiedensten Gruppen und Instanzen aus eigener Machtvollkommenheit die Legitimation zu, i h r A n w a l t für die Gestaltung der Öffentlichkeit zu sein. Diese Usurpation der nicht-staatlichen Öffentlichkeit i m Namen der Gesellschaft bzw. die damit verbundene Verdrängung der einzelnen aus diesem der Entfaltung der Persönlichkeit spezifisch zugeordneten Bereich widerspricht offenkundig dem Konzept der Verfassung. Trotzdem w i r d die Entwicklung unter der Vorherrschaft eines einseitig normativ-rechtlichen Verfassungsverständnisses nur dann bemerkt und punktuell aufgehalten, wenn sie i m Einzelfall dazu führt, daß bestimmte Grundrechte einzelner Personen, Gruppen oder Einrichtungen verletzt werden. E i n anderes Beispiel unbemerkter Abweichung des Verfassungslebens vom Verfassungskonzept ist i m Zusammenhang m i t der Kriegsdienstverweigerung zu beobachten. A r t i k e l 4 I I I GG privilegiert eine ganz bestimmte Gewissensentscheidung, nämlich die gegen den Kriegsdienst m i t der Waffe. Davon geht das Bundesverfassungsgericht auch i n seiner Entscheidung vom 13. A p r i l 1978 zur Wehrdienstnovelle aus, i n der es feststellt: „Der Kerngehalt des Grundrechts aus A r t i k e l 4 Abs. 3 GG besteht darin, den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang zu bewahren, i n einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen..." (4. Leitsatz). Das ist sachlich zu Recht auch als eine Entscheidung gegen den Krieg auszulegen. Jedoch bleibt das Verständnis der Kriegsdienstverweigerung i n weiten Kreisen der Verweigerer selbst wie auch bei zahlreichen Teilnehmern an der öffentlichen Diskussion dabei nicht stehen. Vielmehr geht man von einem das Töten verbietenden und den Krieg ablehnenden Gewissen über zu einem Gewissen, das einen aktiven Einsatz für den Frieden und als Methode für die Erreichung dieses Zieles die Kriegsdienstverweigerung gebietet. Damit aber unterstellt man dem durch A r t i k e l 4 I I I GG gewährleisteten Grundrecht eine qualitativ andere Legitimation, als es eigentlich hat. A n die Stelle der i m Gewissen begründeten Weigerung, eine allgemeine Rechtspflicht zu erfüllen, t r i t t eine auf das Gewissen sich berufende Entscheidung für den „Friedensdienst" als politische Alternative zum Wehrdienst. A n die Stelle der Radikalität einer persön15

Habermas, a.a.O., S. 74.

3 Speyer 78

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lichen sittlichen Entscheidung t r i t t die Radikalität einer bestimmten politischen Zielsetzung und einer bestimmten Handlungsweise zur Erreichung des Zieles. Den einzelnen an dieser Veränderung seiner Motive zu hindern, ist weder möglich, noch erlaubt. Der Staat jedoch kann sie als Gewissensgrund für die Inanspruchnahme des Rechts aus A r t i k e l 4 I I I GG nicht akzeptieren, ohne zu seinem Konzept als neuzeitlicher Verfassungsstaat i n Widerspruch zu geraten. Denn es gehört seit den konfessionellen B ü r gerkriegen zu den festen Bestandteilen dieses Konzepts, daß der innere Frieden einer Gesellschaft i n Freiheit nur möglich ist, wenn keiner politischen Überzeugung und Bestrebung der Rang und die Unverletzlichkeit zugebilligt werden, auf die persönliche Gewissensentscheidungen einen Anspruch haben. „Friedensdienst" ist aber eine alternative politische Zielsetzung. Jedermann kann sich für i h n einsetzen und versuchen, i h m i m Wege demokratischer Willensbildung allgemeine Anerkennung zu verschaffen. Solange das aber nicht der Fall ist, darf der Staat nicht dulden, daß sie unter dem Privileg des Artikels 4 I I I GG praktiziert wird. Faktisch tut er das jedoch und läßt damit eine verfassungswidrige politische Praxis zu, wenn er die Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern nur nach normativ-rechtlichen Kriterien behandelte, unter deren Aspekt die sich hier vollziehende Verfälschung des Verfassungsverständnisses gar nicht wahrzunehmen ist.

Aussprache zum Referat von Hans Buchheim Bericht von Karsten Huppert

Prof. Dr. Helmut Quaritsch, Speyer, eröffnete die von Prof. Dr. Rudolf Morsey, Speyer, geleitete Diskussion m i t kritischen Entgegnungen aus der Sicht des Juristen. Er sah den Gegensatz von Norm und Prinzip i n der aufgezeigten Schärfe als unhaltbar für die juristische Praxis an, da es einem Richter durchaus möglich sei, i n einem von i h m zu entscheidenden Einzelfall ein Prinzip einer bestimmten Rechtsordnung anzuwenden, ohne daß dies unbedingt i n eine Norm gegossen vorliegen müsse. Z u m Problem der Juridifizierung kommend, bestritt Prof. Quaritsch, daß die vom Grundgesetz intendierte politische Ordnimg nicht juristisch zu verteidigen sei, wie vom Referenten vor allem am Problem des Parteienverbots aufgezeigt worden war. Gerade die i n der Ausbildung besonders geschulte Fähigkeit, Sachverhalte festzustellen, und die Freiheit von politischen Interessen befähigen den Juristen besonders, die Verfassungsgemäßheit zu erkennen und frei von Opportunität zu urteilen; dies rechtfertige die Übertragung weitreichender Entscheidungen an die Gerichte, besonders das Bundesverfassungsgericht. Das Vertrauen, das i n dieser Hinsicht i n das Verfassungsgericht gesetzt worden sei, habe sich einmal bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von SRP und K P D und zum anderen dadurch gerechtfertigt, daß sich die höchstrichterlichen Entscheidungen, wenn sie gegen die Absichten der beteiligten politischen Instanzen ausgefallen waren, als richtig erwiesen haben. Z u m Schluß warnte der Redner davor, durch eine Politisierung des Grundgesetzes die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu beschneiden; dadurch würde das komplizierte Machtgleichgewicht unserer Verfassung gestört, und es würden Entscheidungen einer Instanz entzogen, die durch Sachverstand, politische Unabhängigkeit und die Prozeduren ihrer Entscheidungsfindung die größte Gewähr für sachgerechte Entscheidungen bietet. Prof. Dr. Hans Buchheim, Mainz, stimmte den überleitenden Worten von Prof. Morsey zu, daß seine K r i t i k sich nicht gegen die Tätigkeit der Juristen gerichtet habe, sondern dagegen, daß diese Tätigkeit i n der politischen Auseinandersetzung falsch eingesetzt werde, weil die Normen ·

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Aussprache

der Verfassung als Ersatzorientierungen mißverstanden würden. Das sei eine Tendenz, die i m Grundgesetz selbst angelegt sei, die deshalb nicht weiter verstärkt werden dürfe. I m übrigen hielt Prof. Buchheim daran fest, daß ein Verbot von Parteien wegen einer erschwerten Beweislage heute nicht mehr möglich sei und daß die scharfe Trennung von Norm und Prinzip i n der gegenwärtigen normentheoretischen Diskussion ihre Rechtf ertigung finde. Regierungsvizepräsident Alfred Gaertner, Düsseldorf, sah einige Tatbestände vom Referenten nicht richtig dargestellt. Das Problem der Radikalen i m öffentlichen Dienst habe sich nicht auf die Frage eines Rechtsfalles reduziert, sondern sei ein rechtspolitisches Problem geworden, da immer mehr die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte über die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte konterkariert werde; die Weiterbildung i n Nordrhein-Westfalen sei gerade dadurch aufgeblüht, daß die gesellschaftliche Öffentlichkeit diesen Bereich usurpiert habe; aus seiner fünfjährigen Erfahrung als stellvertretender Bundesbeauftragter für den Zivildienst glaubte Gaertner die Behauptung, daß das individuelle Recht der Kriegsdienstverweigerung kollektiviert werde, als unzulässige Verallgemeinerung zurückweisen zu können; schließlich sei das Grundwertepapier der Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand noch nicht beschlossen, und i m übrigen müsse es jeder gesellschaftlichen Gruppe zugestanden werden, ihre Wertvorstellungen zu entwickeln und i n der politischen Auseinandersetzung mehrheitsfähig zu machen. Prof. Dr. h. c. Ernst Benda, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hielt die Ansicht von Prof. Buchheim, daß heute kein Parteienverbot nach A r t . 21 GG mehr möglich sei, für falsch. Als Bundesinnenminister habe er vor zehn Jahren Material vorlegen können, das vom Kabinett als ausreichend angesehen wurde, um m i t Aussicht auf Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen K P D und NPD zu eröffnen. Dafür, daß ein solches Verfahren nicht eingeleitet worden sei, seien Erwägungen politischer Opportunität i m Kabinett der Großen Koalition verantwortlich gewesen und nicht zu erwartende juristische Schwierigkeiten irgendwelcher A r t . Prof. Dr. Carl Hermann Ule, Heidelberg, sah das Verhältnis von Prinzip und Norm i n der juristischen Praxis nicht so unproblematisch wie Prof. Quaritsch. Denn entweder würden aus Verfassungsprinzipien voreilig normative Folgerungen gezogen, oder aber die Prinzipien ließen sich i n der Rechtspraxis nur m i t Hilfe vermittelnder Konstruktionen anwenden. Bezüglich der Möglichkeit eines Parteienverbots teilte er die Ansicht der Vorredner. Prof. Buchheim führte die Einwände von Herrn Gaertner auf Verständigungsschwierigkeiten zurück, die bei politikwissenschaftlicher und juristischer Betrachtung ein und desselben Gegenstands entstehen. Für

Aussprache den Politologen sei das Problem der Radikalen i m öffentlichen Dienst eben überhaupt kein Rechtsproblem, und gerade die angeführte widersprüchliche Rechtsprechung von Verwaltungs- und Arbeitsgerichten zeige, daß dem Problem normativ nicht beizukommen sei. Das Recht des Staates, bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu regeln, werde m i t dem Hinweis auf die Usurpationen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit nicht bestritten; es gehe vielmehr darum, daß immer mehr Betätigungsfelder durch Berufung auf das problematische Subjekt „Gesellschaft" zur Sache der Gesellschaft erklärt würden, die nicht Privaten überlassen werden dürfen. Eine nur normativ denkende Öffentlichkeit sieht nicht, daß Gruppen, die m i t Berufung auf das Gewissen den Friedensdienst zu einer politischen Forderung erheben, gegen die Tradition des modernen Verfassungsstaats verstoßen, die als Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege es nicht zuläßt, daß eine politische Forderung zu einer Gewissensfrage gemacht wird. Die Verfassung ist für den Politologen kein Geflecht von Ge- und Verboten, sondern ein Konzept, das sich Tag für Tag i n ganz konkreten Erscheinungen ausprägen muß. Von daher ist es auch unerheblich, ob das Grundwertepapier der SPD schon verbindlich sei; wichtig ist dabei allein, ob sich i n i h m nicht Tendenzen zeigen, die einmal zu einer gänzlich anderen Sicht des Verfassungskonzepts führen können. Trotz der Entgegnungen der Diskussionsteilnehmer sah der Referent seine Bedenken, daß die Verfassungswidrigkeit von Parteien heute nachweisbar sei, nicht ausgeräumt, da die Offenheit der Verfassungsprinzipien einen weiten Interpretationsspielraum gewähre und da die Verfassungsfeinde gelernt hätten, m i t einem ambivalenten Vokabular zu operieren. A n die angesprochene unterschiedliche Betrachtungsweise von Juristen und Politologen anknüpfend, betonte Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Speyer, daß verfassungsrechtlich die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nur einen Rahmen setzen, doch sei es sicherlich für den Politologen die interessantere Frage, wie der Bundeskanzler gegenüber dem Fachminister i n der Praxis seine Richtlinienkompetenz durchsetzt. I m Rahmen der Verfassung sei es den Parteien freigestellt, zu welchen Grundwerten sie sich bekennen und wie sie sie auslegen, wenn auch zuzugeben sei, daß es eine gewisse Schwierigkeit bereite, eine sich hinter programmatischen Begriffen versteckende Verfassungswidrigkeit festzustellen. Prof. Quantsch unterstrich, daß auch von Juristen die Ansicht geteilt werde, daß Verfassungsnormen nur dann überleben könnten, wenn der politische Wille vorhanden ist, sie durchzusetzen und sie zu verteidigen. Dennoch treffe die von Prof. Buchheim vorgetragene These, daß durch Juridifizierung der politische Wille, die Verfassung durchzusetzen, geschwächt werde, für die spezielle deutsche Situation nicht zu. Die Juri-

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difizierung unseres Grundgesetzes nämlich, die besonders i n einer u m fangreichen Uberwachimg und Kontrolle der Staatsorgane durch Verfassungs- und Verwaltungsgerichte und i n der Möglichkeit, durch A n drohung von Sanktionen verfassungskonformes Verhalten zu erzwingen, deutlich werde, sei eine Garantie dafür, daß die Verfassung realisiert werde. Denn die Verfassungsväter konnten 1949 sicherlich nicht davon ausgehen, daß die Deutschen an eine liberale und rechtsstaatliche Demokratie gewohnt waren, und solange die Normen dieses Systems noch nicht internalisiert waren, war es klug, Vorkehrungen zu treffen, um die Verfassungsordnung allmählich zum Bestandteil des Lebens aller einzelnen zu machen. Dr. Norbert Niehues, Richter am Bundesverwaltungsgericht i n Berlin, sah das Problem der Normengebung darin, eine zu umfangreiche und freiheitsbeschränkende Gesetzgebung zu vermeiden und dennoch für möglichst viele Konfliktfälle den Gerichten Normen zur Regelung an die Hand zu geben. A u f eine überleitende Frage des Diskussionsleiters Prof. Morsey eingehend, führte Prof. Buchheim abschließend aus, daß die verfassungstragenden Prinzipien nicht mehrheitsfähig zu machen seien; sie müßten Bestandteil der Mentalität der Bevölkerung sein, bei der auch die Bereitschaft vorhanden sein müsse, sie zu aktualisieren. Es sei sicherlich richtig, daß die Verfassungsväter aus einer gewissen Angst heraus Sicherungen i n die Verfassung eingebaut haben. Die Gefahr liege aber heute einmal darin, daß diese Sicherung sich allmählich zu einer Bindung auswachse, die es erschwere, die Verfassungsordnung politisch zu verteidigen; zum anderen sei zu fürchten, daß die politische Öffentlichkeit sich immer mehr an dem i m juristischen Bereich berechtigten normativen Umgang mit der Verfassung orientiere und sie dann solche Phänomene wie die K o l lektivierung von Grundrechten und die Unterbindung von Privatinitiativen i m Namen der Gesellschaft nicht erkennne. A n dem Beitrag von Prof. Merten zeige sich ein deutlicher Gegensatz von juristischer und politiktheoretischer Betrachtungsweise. Vom politologischen Standpunkt aus sei die Richtlinienkompetenz des Kanzlers als Aufgabe zu sehen, das Kabinett auf ein politisches Konzept hin zu integrieren. I n seinem Schlußwort strich der Referent heraus, daß die Gestaltung des Verfassungslebens sich am Konzept des neuzeitlichen Verfassungsstaates, wie es aus der europäischen Tradition entwickelt worden sei, orientieren müsse. Es könne auf die Formel gebracht werden, daß Friede i n Freiheit ermöglicht werden müsse, und zwar unter der Bedingung, daß alle gleichermaßen die Chance der Freiheit haben. Das Konzept habe sich früher m i t dem demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzip verwirklichen lassen, i m Zeitalter der Industrialisierung habe das Sozial-

Aussprache staatsprinzip hinzukommen müssen, und dieses sei — wie alle anderen verfassungstragenden Prinzipien — vom Grundgedanken der europäischen Verfassungstradition her zu deuten. Prof. Morsey dankte Prof. Buchheim für sein subtiles und anregendes Einleitungsreferat, das Chancen und Schwierigkeiten des interdisziplinären Gesprächs, dem sich die Hochschule besonders verpflichtet fühle, aufgezeigt habe.

Wandel des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland Von Roman Herzog

Der Unterschied zwischen dem, der jetzt hauptberuflich wieder i n der Wissenschaft tätig ist, und dem, der augenblicklich hauptberuflich i n der Politik tätig ist, besteht zum guten Teil i n der Deutlichkeit der Sprache. Wenn Herr Quaritsch sagt, ich würde jetzt ein Thema traktieren, so muß ich i h n berichtigen, ich behandle dieses Thema, traktiert werden damit die Zuhörer. Vor 30 Jahren hat Hans Nawiasky dem Sinn nach gesagt, die Bonner L u f t hätte dem Herrenchiemseer Entwurf nicht gut getan 1 . Wenn Hans Nawiasky wüßte, was i n den 30 Jahren seither mit dem Föderalismus i n der Bundesrepublik passiert ist, dann hätte er sich damals noch nicht so erregt, sondern sich die Erregung für eine spätere Zeit aufgehoben, denn die Luft, die später auf den deutschen Föderalismus zugeflossen ist, hat i h m noch schlechter getan. Ich möchte das, obw o h l es nur der eine Teil meiner Thesen ist, i n den nächsten 45 Minuten i n insgesamt sieben Abschnitten belegen. Sie mögen daraus ersehen, daß es sehr kurze Abschnitte sein werden, und ich bitte um Verständnis, daß diejenigen Abschnitte, von denen ich voraussetze, daß sie Ihnen ohnehin wohl bekannt sind, verhältnismäßig kurz behandelt werden. I· Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern Dies gilt insbesondere für den ersten Abschnitt, für das Kapitel Kompetenzverschiebungen seit 1949. Ich möchte hier nur längst Gesagtes und längst Geschriebenes wiederholen und dabei vier Punkte i n I h r Gedächtnis zurückrufen. Erstens die zahlreichen Kompetenzänderungen des Grundgesetzes. Das Grundgesetz ist i n Dutzenden von Fällen geändert worden. I m allgemeinen waren es Kompetenzverschiebungen, und zwar immer Kompetenzverschiebungen von den Ländern zum Bund, damit verbunden eine Aufwertung des Bundesrates und damit ohne Zweifel verbunden eine Aufwertung der Landesregierung gegenüber den Landesparlamenten. 1 Hans Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart, Köln 1950, S. 12.

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Zweitens ist zu erwähnen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu A r t . 72 Abs. 2 und zu Art. 75 des Grundgesetzes, die ich hier der Kürze halber als lasterhaft bezeichnen möchte. Ich darf Sie an die Entstehungsgeschichte dieser Rechtsprechung noch einmal erinnern. A r t . 72 Abs. 2, der die Ausübung der konkurrierenden Bundeskompetenz von einem bestimmten Bedürfnis abhängig macht, ist auf Betreiben der A l l i ierten i n das Grundgesetz hineingekommen — eigentlich die einzige föderalistische Vorschrift, von der man wirklich behaupten kann, sie sei gegen deutschen Willen i n das Grundgesetz geraten. Daraufhin sind die Deutschen sofort nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes i n einem der bekannten Weinheimer Gespräche zusammengetreten (um nicht zu sagen, sie haben sich zusammengerottet) und haben dort vereinbart, daß der A r t . 72 Abs. 2 nicht gelten solle. Widerspruch kam nur von dem Bayerischen Ministerialdirektor Ringelmann. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorstellung alsbald i n seine Rechtsprechung übernommen m i t der These, die Frage, ob die Voraussetzungen des A r t . 72 Abs. 2 zugunsten des Bundesgesetzgebers vorlägen, sei i m Prinzip eine Ermessensfrage 2 . Es hat i m 13. Band dann andeutungsweise es für möglich gehalten, die Dinge etwas anders zu sehen3, ist dann aber zu seiner bisherigen Rechtsprechung zurückgekehrt und hat sie letzten Endes beibehalten 4 , entgegen allen anderen Justitiabilitätsentwicklungen, die das Grundgesetz unter seiner sorgsamen Hand ansonsten erfahren hat. Bei A r t . 75 war es nicht anders. I m 4. Band der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 5 ist letzten Endes gesagt worden, der Bundesgesetzgeber könne unter der Überschrift Rahmengesetz eigentlich alles regeln. Es ist zwar behauptet worden und gelegentlich auch später wiederholt worden, daß i m Bereich der Rahmengesetzgebung den Landesgesetzgebern ein beträchlicher Spielraum eigener Entscheidungen verbleiben muß 6 , richtig ist aber jedenfalls, daß das Bundesverfassungsgericht weder i m Bereich der Rahmengesetzgebung unmittelbar für und gegen den Bürger geltendes Recht ausgeschlossen hat 7 , noch daß es erk l ä r t hat, es müßte jede denkbare Vorschrift eines Rahmengesetzes auch tatsächlich Rahmencharakter besitzen 8 . Wenn man sich etwa das Beamtenrechtsrahmengesetz des Bundes ansieht, hat man eine Vorstellung, was die Einschränkung „Rahmengesetzgebung" praktisch noch bedeutet. Meine These ist: praktisch so gut wie nichts. 2 8 4 5 6 7 8

BVerfGE 2, 213 (224 f.). BVerfGE 13, 230 (233 ff.). Vgl. ζ. B. BVerfGE 33, 224 (229). BVerfGE 4,115 (127 ff.). Vgl. BVerfGE 4, 127 f.; 8, 186 (193); 25, 142 (151 f.); 38, 1 (10). BVerfGE 4, 130. Vgl. BVerfGE 43, 291 (343) m. w. Nachw.

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Es ist drittens hinzugekommen der, wie ich glaube, gescheiterte Versuch, diejenigen Phänomene verfassungsrechtlich zu regeln und zu l i m i tieren, die man einmal unter dem Begriff der Fondsverwaltung und heute unter dem Begriff der Mischfinanzierung zusammenfaßt. Ich erinnere an die A r t . 91a und 91b, die i n den Zeiten der Großen Koalition i n das Grundgesetz aufgenommen worden sind. Uber die politische Würdigung der Mischfinanzierung werde ich nachher noch einiges sagen. Was seltener beachtet wird, ist der vierte Gesichtspunkt, den ich hier deswegen wenigstens noch anfügen möchte. Ich meine, daß eine Kompetenzverschiebung, wenn man diesen Vorgang nicht rein vom Verfassungsrechtlichen her sieht, sondern von der Gesetzgebungspraxis, auch i n dem Reglementierungsfuror, dem furor legislativus der Bundesgesetzgebungsorgane i n den letzten 30 Jahren zu Tage tritt. Es gibt praktisch — m i t einer oder zwei Ausnahmen — keine i m Grundgesetz zugelassene Bundeskompetenz, die nicht ausgeübt worden wäre, und es gibt vor allen Dingen keine Bundeskompetenz, die nicht gleich i n Hunderten von Paragraphen — ich übertreibe gelegentlich etwas, aber i m K e r n w i r d es richt i g sein — ausgeübt worden wäre, d. h. bei der nicht die Ausübung der Bundeskompetenz bis an die, ja gelegentlich schon etwas über die Grenzen, die man verfassungsrechtlich gerade noch für möglich halten möchte, gestoßen wäre. Der Grad der Ausübung der Bundeskompetenz bestimmt die heutige Kompetenzverteilung i m Bundesstaat i n der praktischen W i r kung mindestens genauso wie die Verschiebung der Bundeskompetenzen. I I . Eigengewicht der Länder Damit möchte ich zum zweiten Abschnitt kommen und Ihnen wenigstens einige Entwicklungen und einige Gedanken vortragen zu der Frage, was für die Länder an Eigengewicht überhaupt noch bleibt. Wenn w i r unsere verfassungsrechtliche Literatur lesen, dann w i r d i m allgemeinen gesagt, den Ländern verbleibt i m wesentlichen das Polizeirecht, das Kommunalrecht und das Bildungsrecht — auch dieses seit einigen Jahren m i t einigen bundesrechtlichen Einbrüchen. Sieht man sich demgegenüber die Praxis an, dann ist i m Kommunalrecht i m allgemeinen noch die Kommunalverfassung von Land zu Land verschieden, ein für den Bürger unmittelbar nun nicht gerade besonders bedeutsamer Aspekt. Viel wichtiger als die Kommunal Verfassung ist für i h n ja die Kommunalpolitik. I m Polizeirecht gibt es von den bayerischen Besonderheiten abgesehen praktisch heute ein völlig angepaßtes bundeseinheitliches Polizeirecht; n u r die Paragraphenzahlen und einige Formulierungen pflegen sich zu unterscheiden. Ganz anders liegen die Dinge i m Recht der Bildung, i n dem die Einheitlichkeit etwa u m die Mitte der 60er Jahre einmal i n einer

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für deutsche Verhältnisse ganz außerordentlichen Weise erreicht war; durch das Auseinandertreten schwarzer und roter Positionen, aber auch durch das stürmische Vordringen der jeweiligen Bildungsreformen, die immer nur sich selber gekannt haben, ist auch innerhalb der schwarzen und wie der roten Länder ein Chaos sui generis entstanden. Gleichwohl sollte man m i t diesem eher geringschätzigen Urteil über das verbleibende Eigengewicht der Länder vorsichtig sein, denn das Leben der Bürger und das Leben auch der Länder spielt sich nicht nur und zunehmend weniger i m Bereich der Gesetzgebung ab. Die Tatsache, daß ein Land heute weniger Gesetzgebungsbefugnisse besitzt, muß noch nicht bedeuten, daß es nicht über bedeutendes politisches Gewicht und über bedeutende, politisch relevante, d. h. für seine Bürger relevante Kompetenzen verfügt. Ich nenne nur drei Punkte, u m meine These zu untermauern, daß die Themen, die heute dem Bürger unter die Haut zu gehen beginnen, sich zu einem guten Teil, wenn auch nicht vollständig i m Bereich der Länderkompetenzen bewegen. Ich beginne m i t dem schon angesprochenen Thema Schule, Schulpolitik. I n der Schulpolitik bewegen sich, wenn ich es recht sehe, die politisch erörterten Themen und damit die Bedürfnisse der Bürger und damit auch die Möglichkeit politischen Wirkens aus dem Bereich weg, der gerade noch durch Gesetze geregelt werden kann. Durch ein Gesetz kann man regeln, ob man eine Gesamtschule w i l l oder nicht, ob man eine kooperative Schule w i l l oder nicht oder was dergleichen wichtige Fragen sind. Aber die Bürger fragen uns oder sie fragen mich jedenfalls i m Augenblick viel mehr nach ganz anderen Themen, wie ich es denn mit der Stofffülle i n den Lehrplänen, m i t der Schaffung größerer oder kleinerer Schulen, m i t der Erhaltung von kleinen Schulen i m ländlichen Bereich, m i t der Ausstattung meiner Berufsschulen, m i t dem Umgangston der Lehrer und Eltern, der Lehrer und Schüler untereinander hielte und dergleichen mehr. Alles, was Humanisierung der Schule so ungenau heißt, sind Dinge, die man durch Gesetze nicht regeln kann. Ein Gesetz, dessen einziger Paragraph lauten würde, es findet wieder Erziehung i n den Schulen statt, wäre genauso sinnlos, wie ein Gesetz, i n dem es hieße, der nächste Krieg w i r d gewonnen. Ich sage das bewußt so, denn es tut sich hier i m politischen Bereich ein Betätigungsfeld auf, das vom Gesetzgeber nicht erreicht werden kann, vielmehr nur durch sehr sorgfältige administrative Maßnahmen derart zubereitet werden kann, daß diejenigen Lehrer, die das Thema überhaupt noch verstehen, nicht daran gehindert werden können, sich danach zu richten, und daß diejenigen, die das Thema nicht verstehen, auf die Dauer nach dem Motto: „Bist D u nicht willig, so brauch' ich Gewalt" i n diese Richtung wieder gedrängt werden können. Es handelt sich u m organisatorische Maßnahmen, u m Maßnahmen der Personalführung, u m Maßnahmen des Knetens, des Massierens,

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des Werbens, also u m Dinge, die sich gerade nicht i m Bereich der Gesetzgebimg abspielen. Ein ähnliches Thema, das nach wie vor trotz massiver Übergriffsversuche des Bundes i n der Kompetenz der Länder liegt, ist die Strukturpolitik. Die Probleme, deren Lösung die Strukturpolitik anstrebt, gehen den Bürgern mindestens genauso unter die Haut wie die der Schulpolitik. Denken Sie etwa an die Frage der Lebenschancen i n ländlichen Räumen oder der Entflechtung i n den Ballungsräumen und dergleichen. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit, ich habe keinen anderen Bereich gefunden, i n dem ich es unterbringen könnte, die m i r wichtig erscheinende Bemerkung machen, daß sich i m Bereich der Strukturpolitik etwas abspielt, was man dem Föderalismus ansonsten abspricht. I m allgemeinen behauptet man, daß die bundesstaatliche Organisation eines Staates zu einer gewissen Durchbrechung des Gleichheitssatzes führe. Dies ist vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erklärt worden 9 und i m übrigen selbstverständlich, denn wenn ich Kompetenzen dezentralisiere, muß ich damit rechnen, daß sie i n unterschiedlicher Weise ausgeübt werden. Wenn sie i n unterschiedlicher Weise ausgeübt werden, leidet das Gut der Gleichheit, was immer man von i h m halten mag. Aber ich setze aus eigenen, jetzt sechsjährigen Erfahrungen dagegen, daß es eine Gleichbehandlung zwischen den kritischen und den weniger kritischen Räumen des Bundesgebietes, etwa den Zonenrandgebieten und vergleichbaren Krisenräumen oder den agrarischen Gebieten und den städtischen Ballungsräumen i n viel geringerem Maße gäbe, wenn es nicht die bundesstaatliche, die föderalistische Struktur der Bundesrepublik Deutschland gäbe. Ich komme nachher bei den Finanzverhandlungen, bei der Frage der Finanzverfassung, auf einige Beispiele zu sprechen. Meine These ist, daß das Selbstbewußtsein und auch das Gewicht der Bundesratsstimmen, das etwa Länder wie Bayern, Saarland, Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen, egal von wem sie gerade regiert werden, i m Bund i n die Waagschale zu werfen haben, sich durchaus i. S. einer größeren Gleichheit und nicht i. S. einer größeren Ungleichheit auswirkt. Dieses nicht zu unterschätzende Eigengewicht zeigt sich ζ. B. deutlich i n der Bedeutung der Landtagswahlen, auf die auch die Bundeszentrale der jeweils i m Bund regierenden Partei Rücksicht nehmen muß. Ich nenne ein letztes Problem, von dem w i r i m Augenblick zunehmend empfinden, daß es den Bürgern unter die Haut geht, so sehr w i r auch wissen, wie schwierig es ist, hier etwas Vernünftiges zu tun. Ich meine das Problem der Bürokratie oder all das, was m i t dem Thema Entbürokratisierung verbunden ist. Auch hier liegt das Hauptgewicht ganz zwangsläufig auf den Ländern. Es ist keine eigene Kompetenz, von der 9

Vgl. BVerfGE 33, 303 (352 f.).

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man hier reden kann, sondern eher, jedenfalls politisch gesehen, eine Annexkompetenz. I n dem Moment, i n dem unsere Bürger das Gefühl haben, daß sie einer völlig engstirnigen Bürokratie gegenüberstehen, und unsere Beamten das Gefühl haben, daß sie von einem irrsinnig gewordenen Gesetzgeber gezwungen werden, diesen Eindruck den Bürgern, d. h. ihren Kunden gegenüber zu erwecken, steht Sturm ins Haus. Ich b i n absolut überzeugt, daß dies ein großes Thema der Zukunft sein wird. Auch dies ist ein Problem, das nicht vom Bund, sondern von den Ländern her über den Bundesrat gelöst werden muß. Gerade i n der Bundesgesetzgebung und i n der Verordnungspraxis wie i n der Praxis des Bundes hinsichtlich allgemeiner Verwaltungsvorschriften zeigt sich eine der negativsten Erscheinungen unserer bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, nämlich die Tatsache, daß die Bonner Ministerien i m allgemeinen Gesetzgebungs- bzw. Verordnungsministerien sind und die Personalpolitik die Rekrutierung an diesem Leitbild ausrichtet. Der Beamte, der zunächst an der Front Verwaltung vor Ort gelernt hat und weiß, wie es ist, wenn man m i t Menschen umgehen muß, ist dort jedenfalls nicht der vorherrschende Typ. Deshalb meine These: Die Länderkompetenzen werden i n Zukunft zwar nicht an Umfang zunehmen, obwohl ich die ersten Fühler spüre, auch wieder kleinere, unangenehm gewordene Kompetenzen auf die Länder zurück zu übertragen, wohl aber an politischem Gewicht. Sie werden wieder mehr i n das Zentrum dessen, was die Bürger interessiert und wo infolgedessen sich auch die politischen Auseinandersetzungen abspielen, hineinrücken.

I I I . Die Entwicklung des Bundesrates Wenn ich mich nun der Entwicklung des Bundesrates zuwende, greife ich auch hier wieder auf längst Bekanntes und hundert Mal Beschriebenes zurück, denn die Entwicklung des Anteils der Zustimmungsgesetze hat hier i m Vordergrund zu stehen. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß man bei Inkrafttreten des Grundgesetzes etwa mit 10 Prozent Zustimmungsgesetzen gerechnet hat. So ähnlich glaube ich dies auch noch bei meinem Lehrer Theodor Maunz an der Münchner Universität gehört zu haben. Heute ist der Prozentsatz etwa bei 55 bis 60 Prozent. Die Gründe sind bekannt. Es sind i m wesentlichen der A r t . 84 Abs. 1 und der m i t i h m vergleichbare A r t . 85 Abs. 1 GG. Wenn eben i m BGB m i t seinen 2 385 Paragraphen irgendwo i m Vereinsrecht eine Verfahrensvorschrift enthalten ist, w i r d das ganze BGB damit zum Zustimmungsgesetz. Jedenfalls würde es dazu, wenn es heute erlassen würde. Die Frage ist i n den letzten Jahren etwas i n den Vordergrund gespielt worden durch die Auseinandersetzungen, die sich an die parteipolitisch unterschiedliche Färbung der Bundestags- und Bundesratsmehrheiten

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knüpften, und durch einige forsche Äußerungen des Bundeskanzlers Schmidt sowie einiger ebenso forschen Äußerungen von Leuten aus meiner Partei. Ich habe mich eigentlich an die Meinung von Schmidt gehalten. Ich halte die große Zahl der Zustimmungsgesetze für eine vom Verfassungsgesetzgeber nicht gewünschte oder jedenfalls nicht bewußt herbeigeführte Folge aus der organisations- und verfahrensrechtlichen Raserei, die sich am grünen Tisch der Bundesministerien und noch mehr ζ. T. am grünen Tisch der Parlamentsausschüsse des Bundestages i n den letzten 20 oder 30 Jahren ausgebreitet hat. Wenn man sieht, welch törichte und höchst unnötige Verfahrens-, Organisations- und Zuständigkeitsregelungen sonst i m übrigen ganz wohl geglückte Bundesgesetze enthalten, und wenn man sich überlegt, daß von hier aus dann die Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes entsteht, dann muß man sich wirklich fragen, ob das nötig ist. I m K e r n teile ich hier also die Position des Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Ich bin nur seinen Androhungen, das würde möglicherweise i n der jetzt laufenden Wahlperiode anders werden, deswegen etwas skeptisch gegenübergestanden, weil ich m i r nicht vorstellen kann, wie ein Mann, der die Weltwirtschaft i n Ordnung bringen muß — ich sage das etwas ironisch, sie werden m i r das hoffentlich nachsehen —, wie so ein Mann auch noch die jeweiligen Paragraphen 274 Abs. 2 S. 2 aus dem 27. Änderungsgesetz zum Lastenausgleichsgesetz selber herausstreichen w i l l , und -die tatsächliche Praxis bestätigt meine Skepsis. Die Aufmerksamkeit, die der Bundesrat seit 1969 wegen der unterschiedlichen Mehrheiten i n den beiden Häusern öffentlich erregt, lasse ich bewußt beiseite. Darüber ist i n diesem Zusammenhang nicht viel zu sagen. Z u erwähnen ist jedoch, daß das Selbstverständnis des Bundesrates heute über das politische Selbstverständnis hinaus eine Profilierung angenommen hat, die 1949 i m Grundgesetz zwar angelegt worden ist, aber so nicht absehbar war. Ausgehend von der großen Rolle, die die Ausschüsse i m Bundesrat, viel größer als noch i m Bundestag spielen, und ausgehend von dem A r t . 52 Abs. 4 GG, der die Rolle der höheren Beamten i n diesen Bundesratsausschüssen zwar nicht festschreibt, wohl aber ermöglicht, hat sich heute i n unserem Bundesrat etwas entwickelt, worum uns eigentlich sämtliche Völker der Welt beneiden müßten. Die Klage ist ja allgemein, daß die Parlamente dem Ubergewicht der Bürokratie der jeweiligen Regierung nicht mehr standhalten. I m Bundesrat dagegen hetzen w i r — und zwar häufig i n voller Übereinstimmung zwischen den Ländern verschiedenster Couleur — den gesamten geballten Sachverstand unserer Beamten auf den geballten Sachverstand der Bundesbeamten. Mag auch das Wort Konrad Adenauers, der den Bundesrat deswegen ein Parlament der Oberregierungsräte nannte, heute längst überholt sein 10 . I m K e r n besteht diese Arbeit tatsächlich i n

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der Kontrolle — ich sage es jetzt einmal unhöflich — der Bundesbürokraten durch die Landesbürokraten, und ich halte das für eine glänzende Legitimation der Tätigkeit des Bundesrates. Und diese Kontrollfunktion bestimmt auch die Tätigkeit dieses Organs, denn von den 60 oder 70 Tagesordnungspunkten, die jeden dritten oder vierten Freitag behandelt werden, erlangen allenfalls zwei oder drei wirklich politisches Interesse. Alle anderen werden i n Wirklichkeit i n den Landesministerien auf A b teilungsleiterebene vorbehandelt und letzten Endes auch dort entschieden. I V . Die Entwicklung der Finanzverfassung A m Anfang der verfassungsrechtlichen Literatur zum Grundgesetz und i m übrigen auch schon i m Streit um die Entstehung des Grundgesetzes stand der Streit u m die Finanzverwaltung. Die Frage, ob es eine Bundesfinanzverwaltung oder Länderverwaltung geben sollte, hat die Diskussion bis weit i n die 50er Jahre hinein i n diesem Feld beherrscht. Es sind die alten Fragen umgegangen, ob der Bund Kostgänger der Länder oder die Länder Kostgänger des Bundes sein sollten, als ob·dies davon abhinge, wem die Kasse gehört, i n der das Geld zusammenfließt. Der Streit ist an der falschen Stelle geführt worden. Er entscheidet sich jedenfalls nach unserem heutigen Einhebungssystem nicht beim Streit u m die Verwaltungskompetenz, sondern beim Streit um die Ertragshoheit. Und die Ertragshoheit hat sich i n zwei oder drei Anläufen seit 1949 dahin entwickelt — ich nenne den jetzigen Rechtszustand —, daß alle Steuern i m Bund und i n den Ländern jeweils der einen oder der anderen Seite lückenlos zugewiesen werden. Das gilt i m Grunde auch für die Einkommen· und Körperschaftssteuer, die heute nach einem festen Prozentsatz verteilt wird. Der Puffer ist heute die Umsatzsteuer, die alle zwei Jahre, so hat sich die Praxis herausgestellt, neu zwischen Bund und Ländern verteilt werden muß. Natürlich w i r d nicht allein sie verteilt, sondern i n der Sache das gesamte Finanzaufkommen, denn kein Landespolitiker w i r d nur m i t der Umsatzsteuer rechnen, wenn er i n die Verhandlungen m i t dem Bundesfinanzminister geht. Es gibt i m Grundgesetz wunderschöne Grundsätze darüber, nach welchen Grundsätzen die Verteilung vorzunehmen ist. Sie spielen keine Rolle und sie können auch gar keine Rolle spielen, w e i l sie i m Endeffekt nicht justitiabel sein dürften. Das einzig Entscheidende ist, daß dieses Gesetz, das die Umsatzsteuer und damit das gesamte Steueraufkommen letzten Endes verteilt, der Zustimmimg des Bundesrates bedarf. M i t anderen Worten: Es ist — nicht 10 Es ist nämlich heute ein Parlament der Ministerialräte und der Ministerialdirigenten, was nicht mit einer unterschiedlichen Einschätzung der Bundesratsarbeit zusammenhängt, sondern nur mit der Veränderung des Besoldungsgefüges.

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rechtlich, sondern politisch gesehen — eine Ubereinkunft zwischen Bund und Ländern möglich, wobei zum Ja auf der Länderseite allerdings die einfache Mehrheit i m Bundesrat, d. h. die bekannten 21 Stimmen gehören. Aber so einfach und so schön sind die Dinge auch wiederum nicht. Das ergibt sich bereits aus der üblichen Zusammensetzung der Verhandlungskommissionen. A u f der einen Seite gehen selbstverständlich der Bundesfinanzminister, meistens sogar unter Vorgang des jeweiligen Bundeskanzlers, auf der anderen Seite i m allgemeinen vier Ministerpräsidenten ins Getümmel, schön sortiert, zwei von der SPD, zwei von der CDU/CSU, und auch die i n sich wieder schön sortiert, jeweils einer von einem armen und einem reichen Land. Und damit haben Sie das Thema. Ich w i l l es nur kurz ansprechen. Machen Sie einmal den Versuch und lesen Sie die Gesetze, die sich über die Umsatzsteuerverteilung verbreiten. Da gibt es ja nicht nur die prozentuale Verteilung, sondern auch das Phänomen der Sonderzuweisung. N u n schreiben Sie neben jedes Land, das nach diesen Gesetzen eine Sonderzuweisung bekommt, die Stimmenzahl dieses Landes i m Bundesrat hinzu, ziehen Sie unten einen Strich, es kommt — ο Wunder — immer die magische Zahl 21 heraus. So ist es auch, so läuft es i n der Praxis. Das habe ich oft genug miterlebt. Zunächst sind sie alle hart, sowohl die, die der Bundesregierung parteimäßig entsprechen, wie die anderen, und dann werden zunächst die einen, die der Bundesregierung entsprechen, etwas weicher, der stärkere, der reichere natürlich eher als der ärmere, und genauso ist es auf der jeweils oppositionellen Seite. A m Ende, wenn die 21 Stimmen beieinander sind, weiß jeder, jetzt ist es soweit, jetzt w i r d „zugeschlagen". Es ist dann meistens j a auch ein praktischer, ein brauchbarer und ein guter Kompromiß, das w i l l ich ohne Ironie hinzufügen. Die Vorgänge von vor zwei Jahren, als gleichzeitig eine Steuererhöhung i n Frage stand und jeder wußte, daß der Bundeskanzler damit keine Mehrheit i m Bundesrat bekommen könnte, so daß w i r auf unserer Seite die Schraube bei der U m satzsteuerverteilung ansetzen und zum ersten Mal eine Erhöhung dieses Anteils erreichen konnten, dürften einmalig sein. Sie werden sich so schnell nicht wiederholen. Aber bitte, sehen Sie diesen politischen Zusammenhang zwischen den Sonderzuweisungen nach A r t . 106 und den Bundesratsstimmen. Ich möchte noch ein paar Bemerkungen über die Mischfinanzierung machen. Bekanntlich hat j a die Finanzreform der Großen Koalition versucht, die Mischfinanzierung insbesondere m i t den Instrumenten des A r t . 91 a und des A r t . 104 a Abs. 4 verfassungsgerichtlich einzufangen. Dieser Versuch ist, wenn ich das recht sehe, heute —, ich w i l l nicht sagen, gescheitert, aber genützt hat er nichts, obwohl der Freistaat Bayern ja versucht hat und vom Bundesverfassungsgericht 11 hierin i n völlig richti11

Vgl. BVerfGE 41, 291 ff.

4 Speyer 78

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ger Verf assungsauslegung unterstützt worden ist, durchzusetzen, daß der Bund bei der Hingabe von Subventionen an die Länder keine politischen Bedingungen oder jedenfalls i n nur beschränktem Maße politische Bedingungen knüpfen kann. Ich komme aus dem Wechselbad zwischen der Landesregierung eines armen CDU-Landes, der ich fünf Jahre angehört habe, und der Landesregierung eines unerhört reichen Bundeslandes, der ich jetzt seit einem Jahr angehöre, und weiß, wovon ich rede. Es ist trotz allem schon auch i n der Regierung eines reichen Bundeslandes kaum möglich, sich einem Finanzierungs- oder Mitfinanzierungsangebot des Bundes zu entziehen, u m so weniger i n der Landesregierung eines armen Landes. Man fragt dann nicht mehr oder kaum mehr, ob der sachliche Einfluß, den der Bund hier nimmt, unangemessen ist oder angemessen, und es gilt dann der Grundsatz, wo kein Kläger, da kein Richter. Man arrangiert sich. Der Versuch, auf dem Wege über Art. 104 a oder A r t . 91 a dieses Problem wirklich verfassungsrechtlich sauber zu regeln, war deshalb m i t Sicherheit nicht von Erfolg gekrönt. Der Streit geht i m allgemeinen nur noch darum, so könnte man ironisch sagen, ob die jeweilige Landesregierung den jeweils örtlichen Abgeordneten ihrer Partei den Erfolg eher mitteilen darf als die Bundesregierung den Abgeordneten ihrer Partei. V. Die Entwicklung der „dritten Ebene" im Bundesstaat Ich nenne den fünften Abschnitt: es ist die Entwicklung dessen, was w i r relativ ungenau die dritte Ebene oder den kooperativen Bundesstaat nennen, und zwar i n den beiden Formen der Abkommen zwischen dem Bund und den Ländern bzw. zwischen den Ländern oder einzelnen Ländern und i n der anderen Form gemeinsamer Organisationen. Diese Dinge sind sehr kompliziert. Sie bewähren sich i m allgemeinen gut. Ich w i l l daran erinnern, daß der Kollege Hans Schneider 12 schon i m Jahre 1960 eine Liste von 339 Abkommen der Art, von denen ich hier spreche, zusammengetragen hat. Der Versuch ist seither, weil auch damals schon als gescheitert angesehen, nicht mehr wiederholt worden. Hans Schneider hat damals mit Sicherheit nur einen Bruchteil der schriftlich vorliegenden Abmachungen erfassen können. Von den mündlichen Abmachungen und den Freundschaften zwischen den jeweils zuständigen Referenten und Abteilungsleitern, die ζ. T. sehr viel wichtiger i n der Alltagspraxis sind, ganz zu schweigen. W i r sehen zunehmend i n dieser Praxis, und zwar je näher die Dinge i n das politisch relevante Feld geraten, desto deutlicher, das Problem der Einhaltung. Abkommen zwischen den Ländern und zwischen Ländern und dem Bund werden, obwohl sie gelegentlich mit völkerrechtlichen Ver12 Hans Schneider, Verträge W D S t R L Heft 19 (1961), S. 36 ff.

zwischen

Gliedstaaten

im

Bundesstaat,

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trägen verglichen werden, keineswegs m i t der gleichen Pünktlichkeit eingehalten, wie das i m Völkerrecht üblich zu sein pflegt. Es w i r d der Bruch auch kaum sanktioniert, und es kommen zunehmend mehr Formelkompromisse heraus. Wobei ich allerdings jetzt vor allem über die A b kommen spreche, die auf meinem eigenen Tätigkeitsfeld i n der Kultusministerkonferenz Zustandekommen. Ich habe kürzlich öffentlich erklärt und werde das auch weiter t u n und werde mich auch danach richten, ich unterschreibe keine Abkommen mehr, die i n wesentlichen Fragen Formelkompromisse enthalten, w e i l ich die Möglichkeit, sowohl i n der K u l tusministerkonferenz als auch i n den Bund-Länder-Kommissionen nach A r t . 91 a GG zu einhelligen Lösungen zu kommen, für richtig halte, weil ich es aber für einen Mummenschanz und für einen Mißbrauch verfassungsrechtlicher Formen halte, sich dort nicht einigen zu können und dann so zu tun, als ob man sich geeinigt hätte. Dann soll man lieber feststellen, daß man sich nicht geeinigt hat, und auseinandergehen und jeder das nach seiner Uberzeugung Beste tun.

V I . Finanzwirksamkeit heutiger Länderpolitik Ich möchte i n einem sechsten Abschnitt Augenmerke auf die Frage richten, welche Teile der Politik bei uns eigentlich Geld kosten. Es ist also die Kombination zwischen den bereits behandelten Abschnitten „Kompetenzverschiebungen" und „FinanzVerfassung". Was auf der Länderseite heute politisch interessant ist, kostet nur noch ζ. T. sehr viel Geld. Das ist eine Entwicklung, die neu ist und m i t dem veränderten Interesse der Bürger zusammenhängt. I n der Strukturpolitik werden w i r nichts t u n können ohne Geld, das versteht sich von selbst. Aber die großen Themen der Bildungspolitik, die ich vorher genannt habe, werden kaum Geld kosten. Das ist etwas ganz Überraschendes, aber i n der Schulpolitik ist es eindeutig: die Zeiten des stürmischen Ausbaus sowohl i m Bereich der Schulhäuser wie i m Bereich der Lehrerstellen sind vorbei. W i r werden jährlich natürlich i m Realschul-, Berufsschul- und i m Gymnasialbereich neue Lehrerstellen brauchen. Aber wer als Kultusminister m i t jährlich 50 000 weniger Schulkindern i n den Grund- und Hauptschulen um neue Grund- und Hauptschullehrerstellen antreten und kämpfen wollte, der würde sich dem öffentlichen Gelächter und zumindest dem Gelächter seines Kollegen des Finanzministers aussetzen. Ich kann dort von Jahr zu Jahr wesentliche Verbesserungen m i t den Kapazitäten bewirken, die durch den Rückgang der Schülerzahlen frei werden. Neue Stellen w i r d es i n diesem Bereich nicht geben, sondern nur i m Bereich der Berufs-, Realschulen und der Gymnasien, wo die Schülerzahlen immer noch wachsen. I n den Berufsschulen werden sie sogar bis weit i n die 80er Jahre hinein wachsen, w e i l es eine starke Bewegung 4·

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von den Gymnasien zurück i n die berufliche Bildung gibt. Die Zahl der Abiturienten, die jährlich ein akademisches Studium anstreben, geht seit einer ganzen Reihe von Jahren kontinuierlich um jeweils 2 Prozent jährlich zurück. Sie kommen dann alle noch zusätzlich ins berufliche Schulwesen. Aber das, w o r u m es heute geht, ist die Frage nach den Inhalten dessen, was gelernt wird, die Frage etwa, ob die Lehrer, nur damit sie unter der Uberschrift etwas tun, was wissenschaftliches A 13 rechtfertigt, deswegen auch die Kinder wissenschaftlich behandeln müssen, ob der Unterricht i n den Formen der Wissenschaft und etwa i n der gymnasialen Oberstufe i n den Formen eines Universitätsseminars abgehalten werden muß, zumeist sowieso nur m i t den scheinbaren Ansprüchen eines Universitätsseminars und dann meistens noch m i t Vorstellungen eines Universitätsseminars, wie sie vor 40 oder 50 Jahren gewesen sind. Ob man die Lehrpläne danach konzipiert, was die Kinder am Ende behalten sollen oder ob man sie lieber danach konzipiert, was eine hochgestochene Lehrplankommission alles für möglich hält, damit das Ganze wissenschaftlich aussieht, diese Fragen sind keine finanziell relevanten Fragen mehr, und ich finde, w i r haben Glück, daß i n einer Zeit enger werdender finanzieller Verhältnisse die Bürger uns Aufgaben stellen, die kein oder fast kein Geld kosten. Bei der Reduzierung und Durchforstung des Bürokratismus, von dem ich noch einmal sage, daß er i m allgemeinen gar nicht aus der Bürokratie kommt, sondern vom Gesetzgeber, verhält es sich ähnlich.

V I I . Auswirkungen bürokratischer und politischer Einflüsse im bundesdeutschen Föderalismus Lassen Sie mich zum Schluß noch ein paar Bemerkungen zur Frage des Einflusses von Beamten und Politikern i n unserem föderalistischen System machen. Es ist dies das unerforschteste Gebiet i n unserem Föderalismus, obwohl ich glaube, daß sich von hier aus unsere bundesstaatliche Ordnung sehr stark von anderen Ordnungen unterscheiden läßt. Wenn ich m i t österreichischen Kollegen darüber rede, und es w i r d vielleicht i n dem Referat von Herbert Schambeck dann deutlich werden, sieht man hier wahrscheinlich den größten Unterschied. Die Problemfelder sind klar: auf der einen Seite, schon angesprochen, der Bundesrat, auf der anderen Seite die großen Fachministerkonferenzen, an ihrer Spitze die Ministerpräsidentenkonferenzen. Ich habe i n meinem Beitrag zur Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates dieses Thema bereits kurz angestoßen und darauf hingewiesen, daß es auf der Seite der Politiker eine A r t Aufmerksamkeitsschwelle für föderalistische Fragen gibt. Ich möchte dies einmal am Ablauf einer Bundesratssitzung demonstrieren. Die Ausschüsse bereiten vor, und dann t r i t t i n jeder

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Landesregierung, mal unter dem Vorsitz des Staatskanzlisten, mal unter dem Vorsitz des Landesbevollmächtigten, mal unter dem Vorsitz eines politischen Abteilungsleiters, meistens am Tag vor der entscheidenden Landeskabinettssitzung ein Gremium von Bundesratsreferenten der einzelnen Ministerien zusammen und verfaßt eine Stimmliste. Nehmen Sie eine Tagesordnung des Bundesrates von 60 Punkten und nehmen Sie an, daß i m Durchschnitt zu jedem Tagesordnungspunkt nur 10 Einzelabstimmungen stattfinden, dann sind Sie bereits bei 600 Punkten, über die sich eine Landesregierung für eine einzige Bundesratsplenarsitzung klarwerden muß. Praktisch läuft dies so, daß die Stimmliste vorbereitet w i r d und i n das Kabinett selbst zur Entscheidimg nur ein paar politisch hochbrisante Punkte kommen, möglicherweise noch ein paar Punkte, die nicht politisch hochbrisant sind, über die sich aber ζ. B. das Ernährungsministerium und das Sozialministerium nicht einigen konnten. N u r diese wenigen, vielleicht acht oder zehn Punkte werden i m Kabinett relativ schnell entschieden und dann geht man i n den Bundesrat. Das ganze glückt eigentlich nur deswegen, weil i m Grundgesetz kurze Fristen für die Äußerungen des Bundesrates vorgegeben werden. Die Aufmerksamkeitsschwelle der Politiker i n der Bundesratsarbeit liegt also verhältnismäßig hoch. Es muß schon eine ganze Menge passieren, daß eine Landesregierung sich ernsthaft m i t ihrer Abstimmung i m Bundesrat beschäftigt. Während meiner Tätigkeit als Landesbevollmächtigter ist es m i r nicht nur einmal passiert, daß ein Kollege mich fragte, warum hat denn nun Rheinland-Pfalz hier mit Nein gestimmt, obwohl unser Antrag so schön war, und ich mußte i h m wahrheitsgemäß sagen: W i r haben deswegen m i t Nein gestimmt, w e i l hier auf unserer Stimmliste Nein steht, ich weiß gar nicht, worum es geht, und ich weiß noch weniger, warum w i r hier m i t Nein stimmen. Das gilt natürlich nicht nur für das gesegnete Land Rheinland-Pfalz. Bitte sehen Sie, daß es diese Zwänge bei den Ministerpräsidenten- und Fachministerkonferenzen nicht gibt. Und es ist deswegen — ich sage es i n diesem Rahmen und ich sage es zum ersten Mal, ich habe es m i r lange überlegt, ob ich es sagen soll —, es ist deswegen so, daß diese Konferenzen eigentlich immer alberner werden. Wenn das deutsche Volk wüßte, welche Punkte ζ. T. auf Ministerkonferenzen i n welchem Geiste erörtert werden, also Dinge, die jeder normale Mensch Amtsräten überlassen würde, würde es sich sehr wundern und nicht so aufmerksam i m Fernsehen zusehen, wenn wieder von einer Ministerpräsidentenkonferenz gesprochen wird. Daß das bei der Kultusminister- und bei der Innenministerkonferenz — ich kenne diese Konferenzen mehr oder weniger von innen — ähnlich ist, w i l l ich hinzufügen. Es ist etwas ungerecht, was ich hier sage, w e i l es verkürzt ist, aber es ist tatsächlich so, weil dieser Zwang zur Mehrheitsentscheidung und die Notwendigkeit, sich rasch

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zu entscheiden, nicht besteht. Wenn ich m i r vorstelle, daß etwa die Frage, ob i m Finanzplanungsrat ein Vertreter der Innenminister sitzen kann, damit auch ein Kommunalminister vertreten ist, zwei oder drei Mal zwischen der Innenminister-, der Finanzminister- und der Ministerpräsidentenkonfenrenz hin- und hergeschoben worden ist, bis endlich ein Ministerpräsident ein erlösendes Machtwort sprach, dann sehen Sie ungefähr, was ich meine. Erlauben Sie m i r eine Schlußbemerkung zu der Frage, welcher Einfluß moderiert eigentlich das Verhalten von Bund und Ländern i m gegenseitigen Verhältnis eher. Ist es der Einfluß der Politiker oder ist es der Einfluß der hohen Beamten? Dies scheint m i r eine Frage, die etwas undifferenziert gestellt ist und die ich auch nicht beantworten kann, die zu stellen sich aber lohnt. Ich habe vorher davon gesprochen, daß es zwischen den zuständigen Referenten der Bundes- und der Landesministerien i m allgemeinen einen sehr engen und vertrauensvollen Kontakt gibt und hier vieles aufgefangen w i r d und vieles auch ausgeschlossen wird, was unsereiner als Minister oder auch als Staatssekretär lieber kaputtschlagen würde. Trotzdem ist es nicht nur so, daß Politiker polarisieren. Ich könnte Beispiele nennen, i n denen sich gerade jüngere Beamte als die Einpeitscher, zum Teil auch als Aufpasser ihrer Minister betätigen. Es gibt Beispiele, wo w i r Minister die Beamten aus unseren Beratungen heraussperren, u m uns i n Ruhe auch einmal so unterhalten zu können, wie es der Parteilinie nicht entspricht. Es gibt entgegengesetzte Beispiele. Ich erinnere mich an einen Fall, i n dem eine klare Kabinettsentscheidung des Landes Rheinland-Pfalz vorlag, w i r aber genau wußten, der Referent, der uns i n dieser Sitzung vertritt, ist völlig anderer Meinung und wird, w e i l er m i t seinen elf Kollegen völlig unter einer Decke steckt, nicht so abstimmen, vielmehr irgendeinen Vorwand finden. Deshalb b i n ich als Statssekretär und Bevollmächtigter des Landes mitgegangen, weil er dann i n der Bundesratssitzung die Stimme nicht führen konnte. Gleichwohl weiß ich natürlich, daß die Stimmabgabe, die ich machte, nichts wert war, weil der Referent längst vorher, wenn es überhaupt nötig gewesen sein sollte, seinen Kollegen mitgeteilt hatte, daß die wirkliche Meinung des Landes natürlich ganz anders ist. Ich nenne diese Beispiele nur, damit Sie sehen, wie differenziert die Dinge sind. Ich wiederhole die These: die sachliche Zusammenarbeit zwischen unseren Beamten, vor allen Dingen auf der Abteilungsleiterebene, moderiert die Dirge eher, als daß sie sie dramatisiert, aber es gibt Beispiele nach beiden Richtungen, wo es genau umgekehrt ist. Es wäre ein wirklich hochinteressantes Thema zwischen der Politologie und den Verwaltungswissenschaften, das einmal zu untersuchen.

Der Föderalismus der Republik Österreich Von Herbert Schambeck

Vom Föderalismus 1 eines Staates zu sprechen, verlangt die Konfrontation der Idee einer Verbindung selbständiger Glieder zu einer größeren Gemeinschaft, welche eine staatsrechtliche Einheit i n territorialer Gliederung zu einem politischen Gemeinwesen bilden. Die Voraussetzungen für die staatsrechtliche Form des Föderalismus sind jeweils verschieden und die Bundesstaatlichkeit eines Gemeinwesens jeweils von eigener Prägung. Realsysteme lassen sich dabei vergleichen, aber kein Idealbild zeichnen, das von Allgemeingültigkeit wäre. Territoriale und personelle Gegebenheiten, geschichtliche Entwicklungen und politische Tendenzen beeinflussen i n gleichem Maße die jeweilige Bundesstaatlichkeit; soll i m folgenden der Föderalismus der Republik Österreich 2 behandelt werden, dann lassen Sie mich 1. die historischen Bedingtheiten des Werdens zum österreichischen Bundesstaat aufdecken, 2. das Verfassungsrechtssystem Österreichs i m Hinblick auf seinen föderalistischen Gehalt darstellen, 3. die Verfassungswirklichkeit Österreichs i m politischen Leben aus der Sicht des Föderalismus veranschaulichen, u m abschließend eine Beurteilung der Bedeutung des Föderalismus für den österreichischen Staat und seine Bürger zu geben.

1 Beachte u. a. Martin Usteri, Theorie des Bundesstaates, ein Beitrag zur Allgemeinen Staatslehre, ausgearbeitet am Beispiel der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1954, und Ernst Deuerlein, Föderalismus, die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips, Bonn 1972. 2 Siehe bes. Adolf Merkl, Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung, in: Republik Österreich, Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, Wien 1968, S. 101 ff.; Felix Ermacora, Österreich als kooperativer Bundesstaat, in: Die Republik Österreich, S. 219 ff.; Ludwig Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechtes, 6. Aufl., W i e n - N e w York 1971, S. 83 ff.; Robert Walter, österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien 1972, S. 107 ff. und 189 ff., und Robert Walter / Heinz Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechtes, 2. Aufl., Wien 1978, S. 45 f. und S. 70 ff.

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Österreichs Föderalismus eignet eine Geschichte3, die älter ist als die i h n umgebende Staatsform der Republik; sie reicht nämlich i n die Zeit der Monarchie vor 1918, und die heutigen österreichischen Bundesländer lassen sich i n ihrer Entstehung auf die Kronländer des Hauses Habsburg, welche durch die Person des Monarchen verbunden waren, zurückführen 4 . Beispielsweise seien die Erzherzogtümer ob und unter der Enns, das Herzogtum Kärnten und die gefürstete Grafschaft Tirol genannt. I n dem Bemühen u m die Entstehung des Verfassungsstaates nach der Märzrevolution 1848 wechselten unitaristische und föderalistische Stadien 5 ; so waren der Kremsierer Entwurf 1848/49® sowie das Oktoberdiplom I860 7 deutlich föderalistisch geprägt, das Februarpatent 1861® hingegen weist nur Ansätze dazu auf. Als 1867 unter Kaiser Franz Josef die sogenannte Dezemberverfassung i n fünf Staatsgrundgesetzen für die österreichische Reichshälfte 9 beschlossen wurde, nahm diese österreichische Reichshälfte der Doppelmonarchie die Form eines dezentralisierten Einheitsstaates an. Welche Vielfalt das sogenannte alte Österreich kennzeichnete, drückt dessen staatsrechtliche Bezeichnung aus; Österreich hieß nämlich vor 1918 „die i m Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder", ein Staat, i n dem die Kronländer zwar ausgeprägte historische, ethnische und geopolitische Individualitäten waren, aber keine Möglichkeit der M i t w i r k u n g an der Gesetzgebung des Gesamtstaates besaßen; ein quasiföderalistisches Moment war i n diesem Verfassungssystem i n dem bis 1873 bestandenen Recht der Landtage gegeben, die Abgeordneten i n den Reichsrat zu entsenden 10 . I n bezug auf die Gesetzgebung bestand 3 Dazu Ernst Hellbling, österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl., Wien 1974, sowie Felix Ermacora, Österreichischer Föderalismus vom patrimonialen zum kooperativen Bundes Staat, Wien 1976. 4 Nämlich die Erzherzogtümer Österreich ob und unter der Enns, die Herzogtümer Steiermark, Kärnten und Salzburg sowie die gefürstete Grafschaft Tirol. Das heutige Bundesland Vorarlberg wurde aus einer Reihe früherer Herrschaften gebildet, deren Herr der Kaiser von Österreich war. Wien gehörte zum Kronland Niederösterreich. Das heutige Bundesland Burgenland bildete zur Zeit der Monarchie einen Teil Westungarns. 5 Dazu Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, ein Grundriß entwicklungsgeschichtlich dargestellt, Tübingen 1923, S. 1 ff.; Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935, S. 140 ff.; Hellbling, S. 345 ff. und Ermacora, S. 27 ff. β Edmund Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl., Wien 1911, S. 123 ff. 7 Bernatzik, S. 223 ff. 8 Bernatzik, S. 255 ff. 9 Bernatzik, S. 366 ff., bes. S. 3Θ0 ff.; dazu Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und die Dezemberverfassung 1867, in: Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, Festschrift Hermann Eichler zum 70. Geburtstag, Wien - New York 1977, S. 549 ff. 10 Bernatzik, S. 743 ff.

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eine taxative Aufzählung der i n die Kompetenz des Reichsrates fallenden Angelegenheiten und eine Generalklausel zugunsten der Gesetzgebungskompetenz der Landtage 11 . I m Bereich der Verwaltung war ein Dualismus zwischen staatlicher Verwaltung und der über keine wesentlichen Kompetenzen verfügenden autonomen Landesverwaltung gegeben 1 2 . Dieses Nebeneinander von zwei getrennten Verwaltungsapparaten i n den Landesinstanzen wurde als Doppelgleisigkeit der Landesverwaltung bezeichnet, deren Beseitigung zwar schon vielfach i n der Monarchie verlangt, aber erst i n der Zeit der Republik erreicht wurde, nämlich 1925 durch die Schaffung einheitlicher Ämter der Landesregierung 13 , die dem Landeshauptmann als Hilfsorgan bei der Führung der mittelbaren Bundesverwaltung, der Landesregierung als Hilfsorgan bei der Führung der Agenden des selbständigen Wirkungsbereiches des Landes zur Verfügung stehen. Schon i n der Spätzeit der Monarchie war die Idee der Bundesstaatlichkeit mit dem Anwachsen der Probleme und Schwierigkeiten der Donaumonarchie deutlich geworden. So hat der spätere Staatskanzler und Bundespräsident der Republik Österreich, Dr. K a r l Renner, noch als A b geordneter des Reichsrates die Umwandlung Österreichs i n einen Vielvölkerbundesstaat i n einer Mehrzahl von Veröffentlichungen verlangt 1 4 . Einen ähnlichen Gedanken hatte Kaiser Karl I. i n der letzten Stunde der Monarchie noch geäußert, als er i n seinem Kaiserlichen Manifest vom 16. Oktober 1918 die nationalen Fraktionen des Reichsrates aufforderte, Nationalräte zu bilden und einen Bundesstaat plante, „ i n dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet" 1 6 . Z u dieser Besinnung auf die Eigenständigkeit der Länder kam es nach der Ausrufung der Republik am 12. November 1918 deutlich, als sich die deutschsprachigen Länder i n sogenannten nicht immer gleichlautenden Beitrittserklärungen zur Republik Deutsch-Österreich, wie sich dieser Staat i n einem staatsrechtlich an die Weimarer Republik gerichteten Offert nannte, bekannten. 11

Bernatzik, S. 394 ff. Siehe Kelsen, S. 45. 13 B V G vom 30. 7.1925, BGBl. Nr. 289. 14 Vgl. insbesondere seine 1902 in 1. Aufl. unter dem Pseudonym Rudolf Springer unter dem Titel „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat" erschienene, Anfang 1918 unter seinem eigenen Namen und dem Titel „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich" herausgebrachte Schrift, die jedesmal W i e n - L e i p z i g erschien. Siehe dort in 2. Aufl. vor allem die Seiten 79 ff. und 145 ff. 15 Dazu Helmut Rumpier, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, letzter Versuch der Rettung des Habsburgerreiches, Wien 1966. 12

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Die neue Republik war zunächst ein Einheitsstaat, i n welchem Gesetzgebung und Vollziehung zentralen Organen vorbehalten waren 1 6 . Durch den Staatsvertrag von Saint Germain waren dem Neustaat 1919 der Name Österreich und seine Unabhängigkeit anschlußverbietend vorgeschrieben worden 1 7 . Die endgültige Ausarbeitung einer Verfassimg wurde einer eigenen — erst- und letztmalig i n der Geschichte der Republik Österreich gewählten — konstituierenden Nationalversammlung vorgeschrieben, die nach der von der Provisorischen Nationalversammlung, welche sich noch aus den deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrates der Monarchie zusammensetzte, beschlossenen Wahlordnung vom 18. Dezember 191818 von dem wahlberechtigten österreichischen Bundesvolk, darunter erstmals auch Frauen, gewählt worden war. I n dem Bemühen um eine neue Verfassung für die Republik Österreich, welche rechtlich mit der konstitutionellen Monarchie nicht ident war und als Neustaat zu bezeichnen ist, waren unterschiedliche Standpunkte der Länder und Parteien deutlich geworden 19 . Schon auf der Länderkonferenz vom 30. und 31. Jänner 1919 erhoben die Länder die Forderung nach einem bundesstaatlichen Aufbau, eine Forderung, der sich die Christlichsozialen anschlossen und die Sozialdemokraten dagegen waren. M i t der Ausarbeitung des Entwurfes des Textes der neuen Verfassung beauftragte der sozialdemokratische Staatskanzler Dr. K a r l Renner den Wiener Staats- und Verwaltungsrechtslehrer Hans Kelsen 201 als Schriftführer des Verfassungsausschusses fungierte der spätere Wiener Professor des öffentlichen Rechts Adolf Merkl 21, Beide hatten noch jahrzehntelang Gelegenheit, ihr späteres Verfassungswerk i n seiner Bedeutung und Entwicklung zu verfolgen, Kelsen starb nämlich 197322 und Merkl 197023. 16 Siehe StGB, für den Staat Deutschösterreich 1/1918 und 5/1918. Dazu Merkl, Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich, ein kritisch-systematischer Grundriß, Wien 1919, S. 35 ff. 17 Vgl. Art. 88 des Staatsvertrags von St. Germain, abgedruckt in StGBl. 303/1920. Dazu vgl. Stephan Verosta, Die dauernde Neutralität. Ein Grundriß, Wien 1967, I 5 („Die internationale Stellung der Republik Österreich seit 1918/ 19 ..."), S. 44 ff., bes. 54 ff. 18 StGBl. Nr. 115/1918, dazu Schambeck, Die Entwicklung des österreichischen Wahlrechtes, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N. F. Bd. 21, Tübingen 1972, S. 256 ff. 19 Siehe Ermacora, S. 40 ff., bes. S. 48 ff. 20 Beachte Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdroß, hrsg. von Hans Klecatsky, René Marcie, Herbert Schambeck, 2 Bände, Wien - Salzburg 1968, bes. 2. Bd., S. 2345 ff., und Rudolf Aladar Metall,, Hans Kelsen, Leben und Werk, Wien 1969. 21 Siehe Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 2. Bd., S. 2381 ff. 22 Dazu Hans Kelsen zum Gedenken, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Institutes, 1. Bd., Wien 1974. 23 Hiezu Schambeck, Adolf Julius Merkl t, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1971, S. 1 ff.

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A u f dem Weg zu dieser Verfassungswerdung möchte ich vor allem die beiden bedeutsamen Länderkonferenzen vom 15. bis 17. Feber 1920 i n Salzburg und 20. bis 23. A p r i l 1920 i n Linz nennen, auf welchen sich i n der Rechtsentwicklung das schon damals zeigte, was später für die Folge des Weges der österreichischen Verfassung kennzeichnend war, nämlich, daß das entscheidende Schwergewicht von den Ländern auf die Parteien überging. Das Ergebnis war das am 1. Oktober 1920 einstimmig beschlossene Bundes-Verfassungsgesetz 24 ; bei dessen Gesetzwerdung hatten sich die Christlichsozialen i n der Form und die Sozialdemokraten i n der Sache durchgesetzt. 1934 schrieb Adolf Merkl i n seiner Abhandlung über „Ursprung und Schicksal der Leitgedanken der Bundesverfassung": „Der Föderalismus war unter diesen Umständen der umstrittenste, ja geradezu einzig umstrittene Rechtsgedanke der Bundesverfassung. Bezeichnend ist hiefür, daß gerade dieser Rechtsgedanke bzw. seine Erfüllung der Verfassung ihren Namen Bundesverfassung gegeben hat 2 5 ." Π. Betrachtet man nun das System dieser Bundesverfassung der Republik Österreich 26 , so fällt auf, daß i m Bundes-Verfassungsgesetz 1920, der wichtigsten, weil den Staatsaufbau bestimmenden Quelle des österreichischen Verfassungssystems, nämlich i m A r t . 2 das Bekenntnis zur Bundesstaatlichkeit expressis verbis enthalten ist. I m Vergleich zu anderen Verfassungen, wie z.B. zum Bonner Grundgesetz von 23. Mai 194927 und zur neuen Spanischen Verfassung vom 31. Oktober 197828, w i r d man aber i m österreichischen Verfassungssystem die ausdrückliche Angabe von Verfassungsbegriffen von staatsfundamentalem Charakter vermissen. So t r i f f t man an keiner Stelle des österreichischen Verfassungsrechts den Begriff des Rechtsstaates29 oder des Grundrechtes 30 an; der Rechtsstaat ist aus dem gesamten Verfassungsystem erkennbar und die Grundrechte gehen unterschiedslos i n dem i m Art. 144 B.-VG. verwendeten Begriff des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf. Ebenso kennt das österreichische Verfassungsrecht keine Angaben über 25 Merkl, Ursprung und Schicksal der Leitgedanken der Bundesverfassung, Juristische Blätter 1934, S. 157 ff., zitiert nach Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 2. Bd., S. 1948. 26 BGBl. Nr. 1/1930. 27 z. B. Art. 20 (1) und Art. 28 (1) GG. 28 z. B. Art. 1 (2), 38. 29 Siehe Adamovich, S. 94 ff., Walter, S. 111 ff. und Walter / Mayer, S. 46 f. 30 Dazu Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, ein Kommentar zu den österreichischen Grundrechtsbestimmungen, Wien 1963 ; Schambeck, Die Menschenrechte und das österreichische Verfassungsrecht, Wissenschaft und Weltbild 1969, S. 91 ff., sowie Adamovich, S. 497 ff. und Walter / Mayer, S. 326 ff.

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die Staatszwecke 31 , sieht man von der i n einem eigenen Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 enthaltenen Erklärung der dauernden Neutralität Österreichs 32 und dem damit auch i n einem rechtlichen Zusammenhang stehenden Bekenntnis zur umfassenden Landesverteidigung i m A r t . 9a B.-VG. ab. Eine ausdrückliche Begriffsverwendung finden w i r i m österreichischen B.-VG. nur i n der Angabe der demokratischen Republik als Staatsform i m A r t . 1 und die Feststellung i m A r t . 2: Österreich ist ein Bundesstaat. Es kann nicht unbegründet angenommen werden, daß der Verfassungsgesetzgeber nur jene Begriffe ausdrücklich i m Verfassungstext hervorgehoben hat, die neu i n das österreichische Verfassungssystem aufgenommen worden waren, und das w a r die Staatsform der demokratischen Republik nach der der konstitutionellen Monarchie und i m Bereich des Staatsaufbaues nach dem dezentralisierten Einheitsstaat seit 1920 die Bundesstaatlichkeit Österreichs. Betrachtet man die Gliederimg des B.-VG., so drückt sich diese i n den Hauptstücküberschriften sehr deutlich aus. Nach allgemeinen Bestimmungen folgen die Gesetzgebung des Bundes 33 , die Vollziehung des Bundes 34 , die Gesetzgebung und Vollziehung der Länder 3 5 , welchen die Rechnungs- und Gebarungskontrolle 36 sowie Garantien der Verfassung und Verwaltung 3 7 nachgesetzt sind. Ob dieser formellen Bundesstaatlichkeit auch deren inhaltliche Durchführung entspricht, verlangt einen Blick i n das österreichische Verfassungsrechtssystem. Schon hinführend sei bemerkt, daß die wesentlichsten Kennzeichen der österreichischen Bundesstaatlichkeit i n der Kompetenzverteilung der Staastaufgaben zwischen Bund und Ländern, i n der M i t w i r k u n g der Länder an der Gesetzgebung des Bundes i n Form des Bundesrates, dem Finanzausgleich, weiters i n der Verfassungsautonomie der Bundesländer, der Doppelfunktion von Verfassungsorganen für Bund und Länder und seit neuestem auch i n Ansätzen zu einem kooperativen Föderalismus gelegen sind. Die Zuständigkeitsverteilung 38 in der Ausübung der Staatsfunktionen, Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung zwischen Bund und 81 Näher Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Die Republik Österreich, S. 245 ff. 82 BGBl. Nr. 211/1955, dazu Alfred Verdroß, Die immerwährende Neutralität Österreichs, Wien 1977. 88 Art. 24 - 59 B.-VG. 84 Art. 60 - 94 B.-VG. 85 Art. 61 - 120 B.-VG. 86 Art. 121 - 128 B.-VG. 87 Art. 129- 148 B.-VG. 88 Dazu Adamovich, S. 126 ff.; Walter, S. 189 ff.; Walter / Mayer, S. 70 ff. und Bernd-Christian Funk, Die grundlegenden Ordnungsprobleme im System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, Juristische Blätter 1976, S. 449 ff.

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Ländern stellt sicher einen wesentlichen K e r n der Bundesstaatlichkeit Österreichs dar; dazu muß bemerkt werden, daß nach A r t . 82 (1) B.-VG. alle Gerichtsbarkeit Bundessache, daher auch alle Gerichte Bundesgerichte sind, was auch m i t dem Umstand verbunden ist, daß alle österreichischen Höchstgerichte, also der Oberste Gerichtshof, der Verfassungsund Verwaltungsgerichtshof, ihren Sitz i n der Bundeshauptstadt Wien, dort sogar i n ein- und demselben Bezirk, nämlich dem ersten haben und dort der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof sogar i n ein- und demselben Gebäude untergebracht sind. Von der eigentlichen Kompetenzverteilung ausgenommen ist nach A r t . 17 B.-VG. auch die Privatwirtschaftsverwaltung des Staates, also die eigenunternehmerische Tätigkeit, weiters die Subventionsverwaltung und die Auftragsvergabe 39 ; auf diesem Gebiet gilt eine Chancengleichheit zwischen Bund und Ländern. Dazu muß aber bemerkt werden, daß ein starkes Ubergewicht des Bundes gegenüber den Ländern besteht und zwar besonders i n der eigenunternehmerischen Tätigkeit des Staates. Die Länder verfügen besonders i n der Energieerzeugung und zwar bei Strom und Gas über eigene Landesgesellschaften, aber diese spielen i n der österreichischen Wirtschaftsordnung nicht die Rolle wie die eigenunternehmerische Tätigkeit des Bundes, zumal 1946 und 1947 die Großindustrie und die Großbanken zu Gunsten des Bundes verstaatlicht wurden und diese wieder an einer Vielzahl von Klein- und Mittelbetrieben beteiligt sind oder die Großbanken zugunsten des Bundes verstaatlicht wurden. A u f diese Weise kann der Bund, dessen verstaatlichte Wirtschaft schon größenmäßig an die 60% der gesamten österreichischen Wirtschaft ausmacht, auch die Wirtschaft der Länder beeinflussen, ganz abgesehen davon, daß die verstaatlichte Wirtschaft sich mit ihren Betrieben i n Bundesländern, wie vor allem i n Ober- und Niederösterreich, Tirol und Steiermark befindet 40. Diese i m ständigen Wachsen befindliche Privatwirtschaftsverwaltung ist aber nicht nur i m Hinblick auf das Fehlen eines den gesamten Staat und seine Wirtschaftsordnung erfassenden Wirtschaftskonzeptes, welches etwa Standort und Aufgaben der verstaatlichen gegenüber der privaten Wirtschaft abgrenzen sollte, ordnungspolitisch problematisch, sondern ebenso von der Verfassung und ihrem Rechts- und Bundesstaatsgebot her 4 1 . 39 Hiezu grundsätzlich Hans Weiler, Demokratie, Bundesstaat und Subventionen, Wirtschaftspolitische Blätter 1959, S. 127 ff., Neudruck in: I m Dienste von Freiheit und Recht, Gedenkschrift für Hans Weiler 1920 - 1966, hrsg. von Hans Klecatsky und Friedrich Kohl, Berlin 1976, S. 58 ff. 40 Vgl. hier zur Übersicht die vom B K A der Republik Österreich 1969 hrsg. Broschüre „Österreichs Nationalindustrie — Leistung, Aufbau, Wirken", bes. S. 41. Vgl. weiters Wilhelm Weber (Hrsg.), Die Verstaatlichung in Österreich, Berlin 1964.

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Dieses i m A r t . 18 B.-VG. zum Ausdruck kommende Gebot der Rechtsstaatlichkeit verlangt eine Bindung der Hoheits- und Privatwirtschaftsverwaltung an die Gesetze, und zwar i m formellen und materiellen Sinn, eine genaue Zuständigkeitsregelung und ein Verfahrensrecht 42 ; das ist aber i n der Privatwirtschaftsverwaltung nicht gegeben, da i n einer Mehrzahl von Fällen, ζ. B. bei der Subventions- und Auftragsvergabe, die finanziellen Ansätze i m Bundesfinanzgesetz, dem Budget, die einzige Rechtsgrundlage bilden 4 3 . Die Verletzung des verfassungsrechtlich garantierten Gleichheitsgrundsatzes ist ein sich auf diesem Gebiet regelmäßig ereignendes Kavaliersdelikt. Während i n der BRD die Anordnung i n A r t . 1 Abs. 3 GG, daß die Grundrechte neben der Gesetzgebung und Rechtsprechung auch die vollziehende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht binden, dahingehend verstanden wird, daß die öffentliche Hand auch bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben i n Form des Privatrechts an die Grundrechte gebunden ist 4 4 , fehlt i n Österreich einerseits eine entsprechende Bestimmung i m B.-VG. und andererseits die Bereitschaft von Lehre und Judikatur, die Fiskalgeltung der Grundrechte anzuerkennen 45 . Was die föderalistische Problematik der Privatwirtschaftsverwaltung betrifft, möge man nicht übersehen, daß i m Hinblick auf das Fehlen einer Zuständigkeit der Kompetenzverteilung bei der wirtschaftlichen Tätigkeit des Staates der Bund als Träger von privaten Rechten überall dort auch — a l s o unternehmensführend, auftrags- und subventionsvergebend — tätig werden kann, wo die Kompetenz i n der Gesetzgebung und Hoheitsverwaltung den Ländern zusteht und — was weniger häufig vorkommt und nicht so gefährlich ist — umgekehrt die Länder i n Bereichen, die i n Gesetzgebung und Hoheitsverwaltung i n die Zuständigkeit des Bundes fallen. A u f diese Weise kann der Bund auf dem Wege der Privatwirtschaftverwaltung all das tun, was i h m auf Grund der Kom41 Siehe ζ. B. Schambeck, Österreichs Sportförderung im Lichte des Rechtsund Bundesstaates, österreichische Juristenzeitung 1968, S. 117 ff. 42 Dazu Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, W i e n Freiburg - Basel 1967, S. 71 ff., und Adamovich, S. 94 ff., bes. 101 ff.; beachte aber auch Johannes Hengstschläger, Das Budgetrecht des Bundes, Gegenwartsprobleme und Entwicklungstendenzen, Berlin 1977, S. 258 ff., bes. S. 259 f., Fn. 175. 43 Vgl. Hengstschläger, S. 258 ff. 44 Walter Leisner, Grundrechte und Privatrecht, München 1960 und Jürgen Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, München 1971. 45 Vgl. Franz Bydlinski, Bemerkungen über Grundrecht und Privatrecht, in: österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1962/63, S. 423 ff.; Erwin Melichar, Die Entwicklung der Grundrechte in Österreich, Wien 1964; Heinz Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich, Wien - New York 1971, S. 170 ff.; Berthold Moser, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das bürgerliche Recht, Zum Problem der Drittwirkung von Grundrechten, Wien 1972.

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petenzverteilung i n der Hoheitsverwaltung verwehrt ist und die Kompetenzverteilung aushöhlen 46 . Betrachtet man die nach Substraktion der Gerichtsbarkeit und Privatwirtschaftsverwaltung übrig gebliebenen Staatsfunktionen der Gesetzgebung und HoheitsVerwaltung, so werden diese i n den A r t . 10 ff. B.-VG. zwischen Bund und Ländern i n vier Zuständigkeitsformeln aufgeteilt 47 , wobei zwar i m A r t . 15 B.-VG. die Worte der Generalklausel „verbleibt den Ländern" die Ursprünglichkeit der Länderrechte ausdrücken sollen, trotzdem aber nicht die Tatsache übersehen lassen können, daß sich 1920 der Bund die wichtigsten Angelegenheiten vorbehalten hat und auch später entstandene neue Aufgaben des Staates, wie die Förderungsverwaltung, der Umweltschutz und die Planung, dieser sachgerechten Zu- und Einordnung bedürfen. I m besonderen gilt dies heute für die sogenannten Wirtschaftsgesetze, wie Landwirtschaftsgesetz 48 , Viehwirtschaftsgesetz 49 , Marktordnungsgesetz 50 , Preisgesetz 51 , Lebensmittelbewirtschaftungsgesetz 52 und Rohstofflenkungsgesetz 53 . Für sie ist i n der Kompetenzverteilung des B.-VG. keine dauernde Zuständigkeit des Bundes begründet. A r t . 10 Abs. 1 Zi. 15 B.-VG. sieht eine Bundeszuständigkeit nur für die „aus Anlaß eines Krieges oder i m Gefolge eines solchen zur Sicherung der einheitlichen Führung der Wirtschaft notwendig erscheinenden Maßnahmen, insbesondere auch hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung m i t Bedarfsgegenständen", als gegeben an. Der österreichische Verfassungsgerichtshof nimmt diese Notsituation mit dem Inkrafttreten des Staats Vertrages 1955 als weggefallen an 5 4 ; da sich die politischen Parteien i n Österreich nicht auf eine diesbezüglich dauernde Gesetzgebungskompetenz des Bundes einigen konnten, behelfen sie sich damit jeweils für zwei Jahre, und nun schon seit fast 25 Jahren, i n dem entsprechenden einfachen Bundesgesetz i n einer Verfassungsbestimmung die Zuständigkeit des Bundes zu begründen. Auf diese Weise verliert sich i n einem sehr wichtigen Gebiet das Verfassungsrecht ins Provisorische und Experimentelle 5 5 und läuft Gefahr an normativer K r a f t einzubüßen 56 . 48

So auch Weiler, a.a.O. Siehe Adamovich, S. 129 ff.; Walter, S. 196 ff. und Walter / Mayer, S. 74 ff. 48 Landwirtschaftsgesetz 1976, i. d. F. BGBl. Nr. 267/1978. 49 Viehwirtschaftsgesetz 1976, i. d. F. BGBl. Nr. 270/1978. 50 Marktordnungsgesetz 1967, i. d. F. BGBl. Nr. 269/1978. 51 Preisgesetz 1976, i. d. F. BGBl. Nr. 271/1978. 52 Lebensmittelbewirtschaftungsgesetz 1952, i. d. F. BGBl. Nr. 268/1978. 53 Rohstofflenkungsgesetz 1951, i. d. F. BGBl. Nr. 274/1978. 64 VerfGH. Erk. Slg. Nr. 4570/1963 und 4939/1965. 55 Beachte diesbezüglich Alfred Kobzina, Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit, Juristische Blätter 1966, S. 599. 56 Siehe auch Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen des modernen Verfassungsrechts, Zürich 1945, Neudruck Darmstadt 1971, S. 151. 47

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Betrachtet man die Zuständigkeitsregelung des B.-VG., so kann bemerkt werden, daß sich der Bund die wichtigsten Aufgaben des Staates sowohl i m Dienste des Rechts- und Machtzweckes als auch des K u l t u r und Wohlfahrtszweckes vorbehalten hat. I n dem Kompetenzbereich der Länder verbleiben ζ. B. Angelegenheiten wie das Baurecht, das Veranstaltungswesen, das Gemeinderecht, das Grundverkehrsrecht, das Jagdrecht, der Naturschutz, die örtliche Sicherheitspolizei und Sportangelegenheiten. I n den letzten Jahren sind eine Reihe von Neuerungen durch die B.-VG.-Novelle 197457 erfolgt. So wurden etwa den Bundesländern i n dieser Novelle Kompetenzen i n Dienstrechts- und Personalvertretungsangelegenheiten bezüglich der Bediensteten der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie hinsichtlich der Organisation der Verwaltung i n den Länern zugewiesen. Vollzugskompetenzen wurden den Ländern auch i n Angelegenheiten der Binnenschiffahrt sowie der Strom- und Schiffahrtspolizei neu übertragen. Kompetenzverschiebungen zugunsten der Bundesländer gab es weiters i m bäuerlichen Anerbenwesen sowie i m Verwaltungsverfahren der Länder. I n einzelnen Angelegenheiten brachte die Novelle klärende Abgrenzungen der einzelnen Kompetenzbereiche, so i n Fragen der Statistikkompetenz und der künstlerischen und wissenschaftlichen Sammlungen. Neu geregelt — und zwar ebenfalls länderfreundlich — wurde das Verhältnis zwischen Bundesgrundsatzgesetzgebungs- und Landesausführungskompetenzen. Z u erwähnen ist auch, daß nunmehr die Länder vor dem Abschluß von Staatsverträgen, die Durchführungsmaßnahmen i m selbständigen Wirkungsbereich der Länder erforderlich machen, ein Anhörungsrecht haben. Eine große Bedeutung für die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten der Beziehungen der Bundesländer untereinander sowie zwischen Bund und Ländern dürfte dem neugeschaffenen A r t i k e l 15 a B.-VG. 5 8 zukommen, der nicht nur klarere Regelungen über den 57 Dazu eingehend Ermacora, Bundes verfassungsgesetzno velie 1974, Juristische Blätter 1975, S. 22 ff. 58 Dazu Heinz Peter Rill, Gliedstaatsverträge, Wien 1972; ders., Abschluß, Transformation und Durchsetzung von Verträgen gem. Art. 15 a B.-VG. in: Heinz Mayer / Heinz Peter Rill / Bernd-Christian Funk und Robert Walter, Neuerungen im Verfassungsrecht — Bundesstaat und Rechtsstaat in den Verfassungsnovellen 1974 und 1975, Wien 1976, S. 27 ff.; sowie Theo öhlinger, Verträge im Bundesstaat, Wien 1978. Bisher sind eine Reihe solcher Verträge, vor allem in Angelegenheiten der Raumplanung sowie in kulturellen und sozialpolitischen Angelegenheiten abgeschlossen worden: Vereinbarung der Länder Kärnten, Salzburg und Steiermark über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Raumplanung im Lungau-Murau-Nockgebiet, Unterzeichnung 10.4.1978 in Predlitz-Turrach, Kdm in Krnt: LGB1 1978/52, Sbg: LGB1 1978/44, Stmk: LGB1 1978/30. Vereinbarung über die Errichtung einer Planungsgemeinschaft zwischen den Ländern Burgenland, Niederösterreich und Wien, Unterzeichnung 13.4.1978 in Laxenburg, K d m in Bgld: LGB1 1978/20.

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Abschluß von Verträgen der Länder untereinander enthält, sondern auch vorsieht, daß nunmehr selbst die Bundesländer m i t dem Bund Verträge abschließen können, eine Neuerung, die angesichts der komplexen Problemstellung der Umweltgestaltung, etwa der Verkehrsplanung, der Raumordnung, des Umweltschutzes und der umfassenden Landesverteidigung, noch von großer Wichtigkeit sein dürfte. I n diesem Zusammenhang sind auch die neugeschaffenen Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes zur Uberprüfung derartiger Verträge der Vollständigkeit halber zu erwähnen. Die Neufassung des A r t . 17 B.-VG. hat weiters die Gleichstellung zwischen Bund und Ländern als Träger von Privatrechten eindeutig geklärt. Eine sehr wichtige Neuerung ist schließlich noch i m Bereich der m i t telbaren Bundesverwaltung eingetreten, wo insbesondere die Frage des Instanzenzuges insofern i n einer die Bedeutung der Bundesländer stärkenden Weise gelöst wurde, als nunmehr der Instanzenzug i n der mittelbaren Bundesverwaltung grundsätzlich beim Landeshauptmann endet und nur dann, wenn dies durch Bundesgesetz ausdrücklich angeordnet wird, der Instanzenzug bis zum zuständigen Bundesminister geht. Bezüglich der Verwaltungsorganisation 59 i n Österreich muß nämlich darauf hingewiesen werden, daß diese i n Agenden der Bundes- und der Landesverwaltung aufgeteilt ist. Diese Aufteilung hat aber nicht zu einer Doppelgleisigkeit der Verwaltung geführt. Eine vollständige Trennung der Bundes- und Landesverwaltung ist nur i n den obersten Instanzen erfolgt. Als höchste Vollzugsorgane des Bundes sind eigene Bundesorgane, nämlich der Bundespräsident und die Bundesregierung tätig; als oberste Vollzugsorgane der Länder fungieren i n deren selbständigem Wirkungsbereich ausschließlich eigene Landesorgane, nämlich die Landesregierungen. Die Verwaltungsangelegenheiten des Bundes werden i n den Ländern vom Landeshauptmann und den i h m unterstehenden LanVereinbarung über die Krankenanstaltenfinanzierung und die Dotierung des Wasserwirtschaftsfonds zwischen Bund und allen Ländern, Unterzeichnung im Juni 1978, K d m in BGBl 1978/453, Bgld: LGB1 1978/35, Krnt: LGB1 1978/91, NÖ: LGB1 0801, OÖ: LGB1 1978/56, Sbg: LGB1 1978/75, Stark: LGB1 1978/41, Tir: LGB1 1978/45, Vbg: LGB1 1978/27, Wien: LGB1 1978/22. Vereinbarung über die Errichtung der Gemeinsamen Filmbewertungskommission der Länder durch alle Länder, Unterzeichnung 16.6.1978, K d m in Bgld: LGB11978/34, Krnt: LGB1 1978/90, OÖ: LGB1 1978/48, Gbg: LGB11978/74, Tir: LGB1 1978/44, Vbg: LGB1 1978/26. Vereinbarung der Länder Oberösterreich und Salzburg über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Raumordnung im gemeinsamen Grenzgebiet, Unterzeichnung 2.10.1978 in St. Lorenz, K d m in OÖ: LGB1 1978/59. Vereinbarung über Angelegenheiten der Behindertenhilfe zwischen Kärnten, Niederösterreich, Vorarlberg und Wien, Unterzeichnung im Juni 1978, Kdm in Wien : LGB11978/40. 59 Darüber Walter Antonioiii, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954, S. 162 ff. und Adamovich, S. 231 ff. 5 Speyer 78

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desbehörden i n mittelbarer Bundesverwaltung geführt. Eigene Bundesbehörden dürfen zur unmittelbaren Besorgung von Agenden des Bundes grundsätzlich nur für die i m A r t . 102 (2) B.-VG. taxativ aufgezählten Angelegenheiten errichtet werden, dazu zählen ζ. B. das Zoll-, Justiz-, Melde-, Patent-, Waffen-, Post-, Telegraphen-, Fernsprech- und Bergwesen. Hört man diese Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Bund und den Ländern, möge man nicht übersehen und vergessen, daß es für den Bundesstaat von entscheidender Bedeutung ist, wem die Kompetenzkompetenz 6 0 zusteht, und das ist der Bund; er hat das Recht, die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern aufzuteilen. Von diesem Recht hat der Bundesgesetzgeber ebenso reichlich Gebrauch gemacht wie von der Möglichkeit, Grundlage und Rahmen für die Gliedstaatsverfassungen zu geben. Der österreichische Bundesverfassungsgesetzgeber hat den Inhalt der Landesverfassungen 61 verhältnismäßig stark vorherbestimmt, was mit zu einer relativ großen Ähnlichkeit zwischen den Landesverfassungen geführt hat. Es sei allerdings bemerkt, diese Ähnlichkeit geht ein wenig auch darauf zurück, daß die Landesverfassungsgesetzgeber zu wenig von den ihnen i m österreichischen Bundesverfassungsrecht offengelassenen Möglichkeiten eigenständiger Regelungen i n Landesverfassungen Gebrauch gemacht haben. I n letzter Zeit haben sich die Bundesländer Kärnten 6 2 , Ober- 6 3 und Niederösterreich 64 sowie Vorarlberg 6 5 neue Landesverfassungen gegeben, weiters ist es erwähnenswert, daß auch auf der Ebene der Landesverfassungen ein deutliches Bemühen spürbar ist, Einrichtungen der direkten Demokratie auszubauen, etwa durch Einführung der Volksbefragung. Das B.-VG. 1920 regelt die grundsätzlichen Fragen der Bestellung der Landtage, das Verfahren der Landesgesetzgebung, die Organisation i m Bereich der Landesregierung 66 . Die Landesverfassung darf die Bundesverfassung nicht berühren; dabei sei beachtet, daß das B.-VG. von neun selbständigen Bundesländern spricht und die Landesverfassungen als Rechtsquellentypen vorsieht. Den österreichischen Bundesländern steht eine nur durch das Bundesverfassungsrecht selbst begrenzte Verfassungsautonomie zu. Die Länder sind nicht souveräne Staaten, sondern staatsähnliche Glieder des Bundesstaates, i n dem sie an der Ausübung der Staatsfunktionen mitwirken. 60

Hiezu Adamovich, S. 151 f. und Walter / Mayer, S. 70 f. Siehe Friedrich Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, Wien 1967. 62 Kärnten: LGB1 Nr. 190/1974, 38/1975, 48/1975 und 48/1979. 63 Oberösterreich: LGB1 Nr. 34/1971. 64 Niederösterreich: 205. Stück/1978, 0001. 65 Vorarlberg: LGB1 Nr. 1/1970. 66 Siehe Art. 95 - 120 B.-VG. 1920. 61

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Als besonderes Zeichen der M i t w i r k u n g der Bundesländer an der Ausübung der Staatsfunktionen w i r d i n einem Bundesstaat meist die Länderkammer der Bundesgesetzgebung angesehenn. Es ist dies i n Österreich der Bundesrat 67 . Seine Mitgliederzahl beträgt derzeit 58. I m Bundesrat sind die Länder i m Verhältnis zur Bürgerzahl i m Land gemäß den folgenden Bestimmungen vertreten. Das Land m i t der größten Bürgerzahl entsendet zwölf, jedes andere Land so viele Mitglieder, als dem Verhältnis seiner Bürgerzahl zur erstangeführten Bürgerzahl entspricht, wobei Reste über die Hälfte der Verhältniszahl als voll gelten. Jedem Land gebührt jedoch eine Vertretung von wenigstens drei Mitgliedern. Für jedes Mitglied w i r d ein Ersatzmann bestellt. Die Zahl der demnach von jedem Land zu entsendenden Mitglieder 6 8 w i r d vom Bundespräsidenten nach jeder allgemeinen Volkszählung festgesetzt. Die Mitglieder des Bundesrates und ihre Ersatzmänner werden von den Landtagen für die Dauer ihrer Gesetzgebungsperiode nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt, jedoch muß wenigstens ein Mandat der Partei zufallen, die die zweithöchste Anzahl von Sitzen i m Landtag oder, wenn mehrere Parteien die gleiche Anzahl von Sitzen haben, die zweithöchste Zahl von Wählerstimmen bei der letzten Landtagswahl aufweist. Bei gleichen Ansprüchen mehrerer Parteien entscheidet das Los. Die Mitglieder des Bundesrates müssen nicht dem Landtag angehören, der sie entsendet; sie müssen jedoch zu diesem Landtag wählbar sein. Den Vorsitz i m Bundesrat 69 führt der Erstgereihte des jeweiligen Bundeslandes, wobei die Länder i m Bundesratsvorsitz i n alphabetischer Reihenfolge halbjährlich wechseln. Die Kontinuität i m Bundesratspräsidium stellen die beiden stellvertretenden Vorsitzenden, welche zum Unterschied vom Vorsitzenden, der vom jeweiligen Landtag vorherbestimmt wird, zwar auch auf eine Zeit von 6 Monaten bestellt werden, aber auf dem Weg der Wahl 'durch den Bundesrat verlängert werden können, was zur Tradition des Bundesrates zählt, wobei die Fraktionsobmänner der beiden i m Bundesrat vertretenen Parteien die Stellvertreter i m Bundesratspräsidium stellen. Da die Länderrepräsentanz i m Bundesrat nach dem Parteienproporz i m Landtag 7 0 erfolgt, sitzen die Bundesratsmitglieder i m österreichischen Parlament nicht nach der Länder-, sondern nach der Parteienzugehörigkeit. Der Bundesrat ist daher ein deutliches Zeichen des Parteienstaates, 67 Dazu Art. 34 - 37 B.-VG. und Schambeck, Der Bundesrat der Republik Österreich, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N F Bd. 26, Tübingen 1977, S. 215 ff. 68 Art. 34 B.-VG. 69 Art. 36 B.-VG. 70 Art. 35 (1) B.-VG.

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wobei nach der Stärke der Parteien auf Bundes- und Landesebene i m Nationalrat ein anderes Kräftefeld zum Tragen kommen kann als i m Bundesrat. So verfügt derzeit die ÖVP als Partei der Christlichdemokraten i m Nationalrat über 77 der 183 Sitze, die SPÖ hingegen über 95 A b geordnete und die FPÖ über 11 Mandate. I m Hinblick auf die Tatsache, daß die ÖVP aber i n sechs der neun Bundesländer die Mehrheit hat, stellt sie die Hälfte, nämlich 29 der 58 Bundesratsmitglieder, deshalb nicht mehr, weil das größte Bundesland, Wien, eine überwältigende SPÖMehrheit besitzt. Dem Bundesrat eignet nur ein begrenztes Mitwirkungsrecht an der Staatswillensbildung 71 . So steht i h m ein aufschiebendes Veto gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates zu, ausgenommen Beschlüsse des Nationalrates über die Geschäftsordnung des Nationalrates, die Auflösung des Nationalrates, die Bewilligung des Bundesvoranschlages, die Genehmigung des Rechnungsabschlusses, die Aufnahme oder Konvertierung von Bundesanleihen oder die Verfügung über Bundesvermögen. Dieser Einspruch — gleichgültig ob gegen ein einfaches Gesetz oder Verfassungsgesetz — muß durch Vermittlung des Bundeskanzlers dem Nationalrat innerhalb von acht Wochen nach Einlangen des Gesetzesbeschlusses beim Bundesrat schriftlich mitgeteilt werden. Es bestehen daher i m Wege der Gesetzgebung drei Möglichkeiten: erstens, daß der Bundesrat innerhalb der achtwöchigen Frist den Beschluß faßt, keinen Einspruch zu erheben; i n diesem Fall w i r d dieser Beschluß vom Bundesratsvorsitzenden dem Bundeskanzler mitgeteilt und kann nunmehr der sofortigen Beurkundung, Gegenzeichnung und Kundmachung zugeführt werden. Zweitens besteht die Möglichkeit, daß der Bundesrat nach A r t . 42 (2) B.-VG. innerhalb der achtwöchigen Frist einen Einspruch erhebt, der schriftlich und m i t Gründen versehen sein muß. Durch den Einspruch des Bundesrates w i r d zunächst das Wirksamwerden des Gesetzesbeschlusses verhindert. Der Einspruch des Bundesrates stellt kein absolutes Veto dar, sondern hat nur eine aufschiebende Wirkung; sieht der Nationalrat von der weiteren Behandlung des beeinspruchten Gesetzes nicht ab, hat er über den Einspruch des Bundesrates zu verhandeln und hat das Recht, bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder den Gesetzesbeschluß i n seiner ursprünglichen Fassung zu wiederholen, wonach dieser zu beurkunden und kundzumachen ist. N i m m t der Nationalrat bei Behandlung der beeinspruchten Gesetzesmaterie aber eine Änderung i m Gesetz vor, so liegt kein „Beharrungsbeschluß" vor, und dieser neugefaßte Gesetzesbeschluß ist dem Bundesrat zur neuerlichen Befassung zuzufüh71

Ausführlich Schambeck, S. 225 ff.

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ren, gleichgültig, ob die Änderungen dem Einspruch des Bundesrates Rechnung tragen oder nicht. Seit dem Jahre 1945 hat der Bundesrat 49 Einsprüche erhoben, die i n neun Fällen zu Abänderungen und i n 35 Fällen zu Beharrungsbeschlüssen des Nationalrates führten; aufgrund von fünf Einsprüchen hat der Nationalrat von einer weiteren Behandlung der Vorlage überhaupt Abstand genommen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, daß der Bundesrat die achtwöchige Einspruchsfrist untätig verstreichen läßt, wodurch nach Ablauf der Frist der Gesetzesbeschluß zu beurkunden und kundzumachen ist. Neben dieser Form der M i t w i r k u n g an der Gesetzgebung steht dem Bundesrat auch das Gesetzesinitiativrecht 72 zu sowie weiters das Interpellations-, Resolutions- und Petitionsrecht 78 . Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß der Bundesrat das Recht zur M i t w i r k u n g an der Bestellung bestimmter Organe 74 hat, so unmittelbar durch die Wahl dreier Mitglieder bzw. Ersatzmitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und mittelbar durch Beschlußfassung von Dreiervorschlägen für die Ernennung von drei Mitgliedern und einem Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofes durch den Bundespräsidenten. I m Vergleich mit anderen Länderkammern kommt dem österreichischen Bundesrat nur eine beschränkte Bedeutung für den Föderalismus zu 7 6 . Seine Mitglieder haben zwar ein freies und kein gebundenes Mandat, üben dies aber zumeist nach parteipolitischen Gesichtspunkten aus, wobei ein so wichtiges Gesetz, wie das jährliche Budget des Bundes, welches auch für die Bundesländer von enormer wirtschaftlicher und politischer Bedeutung ist, nicht i n die Kompetenz des Bundesrates fällt; auch ist es bedauerlich, daß dem Bundesrat kein absolutes Veto gegen Gesetze, i n welchen Kompetenzverschiebungen zuungunsten der Länder vorgenommen werden oder Belastungen der Länder vorgesehen sind, und auch nicht beim Finanzverfassungsgesetz und Finanzausgleich zusteht. Der Finanzausgleich 76 ist ein besonderes Merkmal der Bundesstaatlichkeit; dabei muß bemerkt werden, daß zum Unterschied von der Bundesrepublik Deutschland die österreichische Finanzverfassung nicht i m 72

Art. 41 (1) B.-VG. Art. 52 B.-VG. und Art. 11 StGG vom 21.12.1867, RGBl Nr. 142. 74 Sten. Prot, des BR vom 7. 3.1956, S. 2678 - 2679 und vom 12. 7.1956, S. 2699 ; BGBl Nr. 121/1956, d. d. F. BGBl Nr. 213/1958 und BGBl Nr. 151/1963 sowie Art. 147 (2) B.-VG. 75 Vgl. Hans Albert Schwarz / Liebermann von Wahlendorf, Struktur und Funktion der sogenannten Zweiten Kammer, Tübingen 1958. 76 Dazu Franz Xaver Wissgott, Der Finanzausgleich im Österreich der Zweiten Republik, Wien 1973, und Arthur Seipelt, Der Finanzausgleich 1979, österreichische Gemeindezeitung 1979, 1 - 2/3 ff. 78

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B.-VG. selbst, sondern i n einem gesonderten Bundesverfassungsgesetz grundgelegt ist, auf das i m A r t . 13 B.-VG. verwiesen wird. Das dazu 1948 beschlossene B.VG. 7 7 ist bezeichnet als Gesetz über die Regelung der finanziellen Beziehungen zwischen dem Bund und den übrigen Gebietskörperschaften, wobei es bemerkenswert ist, daß die Länder als Gliedstaaten dabei gar nicht besonders genannt sind. Dieses Finanzverfassungsgesetz enthält aber bekanntlich nur die Grundzüge der Finanzverfassung, während die praktisch entscheidende Aufteilung der Kostentragung und der Erträge der Steuern jeweils i n einem Ausführungsgesetz, dem „Finanzausgleichsgesetz" erfolgt. Das Finanzverfassungsgesetz t r i f f t keine die einzelnen Steuern betreffende Kompetenzverteilung, es bestimmt vielmehr abstrakt auf Verfassungsrechtsebene die einzelnen Steuertypen, die Einordnung dieser einzelnen Steuern selbst erfolgt durch die einfache Bundesgesetzgebung, die also auf dem Abgabensektor über die Kompetenzkompetenz verfügt und sie i n zeitlichen Abständen i n der Form des Finanzausgleichsgesetzes ausübt. Das Finanzverfassungsgesetz kennt als solche Abgabetypen nach dem Kennzeichen der Ertragshoheit ausschließliche Bundes-, Landes- und Gemeindeabgaben sowie zwischen dem Bund und den Ländern oder zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden oder zwischen den Ländern und den Gemeinden geteilte Aufgaben. Betrachtet man die Stellung der Länder i m Abgabenwesen 78 , ist diese besonders schwach. Vor allem gilt zu betonen, daß zur Einreihung der Steuern i n die einzelnen Steuertypen und damit zur Entscheidung darüber, wer die Ertragshoheit an welchen Steuern hat, nur der einfache Bundesgesetzgeber zuständig ist. Die Länder haben keine eigene Finanzhoheit, sie sind nur Verteiler Organisationen und Kostgänger des Bundes. Es ist wohl erwähnenswert, daß 96 °/o der Steuereinnahmen der Länder aus Ertragsanteilen und nur 4 °/o aus eigenen Steuern stammen; es zählen auch alle Finanzausgleichsgesetze seit 1948 bekanntlich die ausschließlichen Bundesabgaben taxativ auf, während die Kataloge der Länderabgaben immer nur demonstrativen Charakter hatten. Der Bund hat beinahe alle Besteuerungsgegenstände erfaßt, so daß dem freien Steuererfindungsrecht der Länder kaum Raum bleibt. Daß auch der Bund ein durch ein Finanzausgleichsgesetz bestimmtes Beteiligungsverhältnis nachträglich durch Erschließung neuer ausschließlicher Bundesabgaben verändert, ruft die K r i t i k der Länder und Gemeinden hervor. Dabei bekommt der Bund m i t Hilfe seiner Finanzkraft zunehmend Einfluß auf 77

BGBl Nr. 45/1948. Hans Georg Ruppe, Finanzverfassung im Bundesstaat, Wien 1977, und Walter / Mayer, S. 77 ff. 78

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die Aufgabenerfüllung durch die Länder und Gemeinden. Umgekehrt fordert aber der Bund auch von den Ländern entsprechende finanzielle Beteiligungen an Vorfinanzierungen. Der Finanzausgleich drückt wohl am deutlichsten die Verzahnung von Bund und Ländern aus, denn der Bund kann nur über das Steueraufkommen verfügen, das i n seinen Ländern erwirtschaftet wurde, und umgekehrt brauchen die Länder den Bund, um auch finanziell ihre Aufgaben erfüllen zu können. Dabei ergibt sich i n der politischen Wirklichkeit die Gegenüberstellung 79 , wieviel an Steuern aus einem Bundesland an den Bund fließen und wieviel der Bund i m Rahmen des Finanzausgleichs, der j a auch — was nicht zu vergessen ist — finanzärmere Länder zu unterstützen hat, wieder dem betreffenden Land zukommen lassen kann, wobei i n letzter Zeit immer deutlicher wurde, daß die Länder von ihren Mitteln, die sie zur Erfüllung der ihnen selbst kompetenzmäßig zustehenden Aufgaben verwenden sollten, einen Großteil zur finanziellen Dekkung von Ausgaben, die nach der Kompetenzverteilung dem Bund zur Erfüllung obliegen, nützen. Wie der Finanzausgleich auf finanziellem Gebiet eine Verwobenheit von Bund und Ländern ausdrückt, sind es auf rechtsstaatlichem Gebiet jene Verfassungsorgane, welche i n Doppelfunktion für Bund und Länder gemeinsam tätig werden; als solche gilt es den Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof und Rechnungshof zu nennen. Der Verfassungsgerichtshof 80 geht auf die Dezemberverfassung 1867 Kaiser Franz Josefs I. zurück. Er wurde i m Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichtes vorgesehen und i n einem Ausführungsgesetz 1869 geschaffen 81 . Schon damals war das Reichsgericht neben der Entscheidung über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten Rechte u. a. auch für Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen einer Landesbehörde und den obersten Regierungsbehörden, weiters für Entscheidungen über Ansprüche der Länder an das Reich und umgekehrt über Ansprüche der Länder untereinander und über Ansprüche an die Länder oder das Reich, wenn diese Ansprüche zur Austragung i m ordentlichen Rechtsweg nicht geeignet waren, zuständig. Nach dem B.-VG. 1920 erfüllt der Verfassungsgerichtshof, u m m i t Ignaz Seipel, dem Berichterstatter des Verfassungsausschusses der Kon79 Siehe ζ. B. Vorarlberger Nachrichten vom 29.12.1978, S. 2 und vom 24.2. 1979, S. 3. 80 Siehe Art. 137 ff. B.-VG.; dazu Adamovich, S. 437 ff.; Walter, S. 708 ff. und Walter / Mayer, S. 266 ff. 81 RGBl Nr. 143/1867 und RGBl Nr. 144/1869; dazu beachte Kelsen, S, 65 f. und Hellbling, S. 393 f.

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stituierenden Nationalversammlung, zu sprechen, eine Klammerfunktion zwischen Bund und Länder 8 2 . So erkennt er nach A r t . 137 als Kausalgerichtshof über vermögensrechtliche Ansprüche an den Bund, die Länder, die Bezirke, die Gemeinden und Gemeindeverbände, die weder i m ordentlichen Rechtsweg auszutragen noch durch Bescheid einer Verwaltungsbehörde zu erledigen sind. I n Kompetenzkonflikten erkennt er nach A r t . 138 u. a. zwischen den Ländern untereinander sowie zwischen dem Land und dem Bund. Der Verfassungsgerichtshof stellt weiters auf A n trag der Bundesregierung oder einer Landesregierung fest, ob ein A k t der Gesetzgebung oder Vollziehung i n die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder fällt, weiters nach A r t . 138 a, ob eine Vereinbarung zwischen Bund und Land vorliegt und ob von einem Land oder dem Bund die aus einer solchen Vereinbarung folgenden Verpflichtungen, soweit es sich nicht um vermögensrechtliche Ansprüche handelt, erfüllt worden sind. Der Verfassungsgerichtshof ist i m Bereich der Verordnungsprüfung nach A r t . 139 auch zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen von Landesbehörden und nach A r t . 140 auch zur Prüfung der Verf assungsmäßigkeit von Landesgesetzen zuständig. Als föderalistisch bemerkenswert ist auch die Vorschrift, daß der Bundesrat für drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofes zur Erstattung eines Dreiervorschlages an den Bundespräsidenten zuständig ist und drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder ihren ständigen Wohnsitz außerhalb der Bundeshauptstadt Wien haben müssen. Ähnliches läßt sich für den österreichischen Verwaltungsgerichtshof 81 sagen, dessen Gründung auf das Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt 1867 und dessen Errichtung auf das Jahr 1875 zurückgeht 84 . Es ist u.a. i m A r t . 134 (3) B.-VG. vorgesehen, daß wenigstens der vierte Teil der Mitglieder aus Berufsstellungen i n den Ländern, womöglich aus dem Verwaltungsdienst der Länder, entnommen werden. Der Verwaltungsgerichtshof ist u.a. nach A r t . 130 B.-VG. auch zuständig, Bescheide von Verwaltungsbehörden auf ihre Übereinstimmung m i t Landesgesetzen zu überprüfen. 82 Siehe dazu Bericht des Verfassungsausschusses über den Entwurf eines Gesetzes, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz). 991 der Beilagen zum stenographischen Protokoll der konstituierenden Nationalversammlung, in: Hans Kelsen / Georg Fröhlich / Adolf Merkl, Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich, Wien - Leipzig 1922, 5. Teil, S. 518. 88 Siehe Art. 129 ff. B.-VG.; dazu Adamovich, S. 422 ff.; Walter, S. 661 ff. und Walter / Mayer, S. 248 ff. 84 RGBl Nr. 144/1867 und RGBl Nr. 36/1876; dazu siehe Hellbling, S. 394 ff.; Kelsen, S. 67 ff., und Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Festschrift zum 100jährigen Bestehen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, hrsg. von Friedrich Lehne, Edwin Loebenstein und Bruno Schimatschek, Wien - New York 1976.

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F ü r die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates ist die Rechnungs- und Gebarungskontrolle durch den 1761 schon unter Kaiserin Maria Theresia gegründeten Rechnungshof 85 kompetent, der nach dem B.-VG. 1920 ein monokratisch organisiertes Organ des Nationalrates ist; seine Aufgaben erfüllt der Rechnungshof nicht nur für den Bund, sondern als Organ der Landtage auch für die Länder. Er hat die i n den selbständigen Wirkungsbereich der Länder fallende Gebarung sowie die Gebarung von Stiftungen, Fonds und Anstalten zu überprüfen, die von Organen eines Landes oder von Personen verwaltet werden, die hierzu von Landesorganen bestellt sind. Er überprüft auch Unternehmungen, die ein Land allein betreibt oder an denen alle finanziellen Anteile einem Land zustehen. Es ließen sich noch viele Beispiele an funktioneller Verbundenheit von Bund und Ländern angeben, wenn man etwa die Funktionen des Bundespräsidenten 86 und des Bundeskanzlers 87 analysiert und beachtet, daß die Bundesregierung nach A r t . 98 (2) B.-VG. berechtigt ist, gegen jeden Gesetzesbeschluß eines Landtags binnen acht Wochen vom Tage des Einlangens des Gesetzesbeschlusses beim Bundeskanzleramt einen m i t Gründen versehenen Einspruch zur Wahrung von Bundesinteressen 88 zu erheben, gegen den der Landtag einen Beharrungsbeschluß fassen kann, welcher dann der Bundesregierung nicht mehr mitgeteilt zu werden braucht. M i t diesen Gedanken nähern w i r uns nach einer Skizzierung des föderalistischen Gehaltes des österreichischen Verfassungsrechtssystems dem dritten Teil meiner Ausführungen, nämlich der österreichischen Verfassungswirklichkeit aus der Sicht seiner Bundesstaatlichkeit.

m. Österreichs Verfassungswirklichkeit 89 w i r d durch zwei Kräfte bestimmt, welche i m B.-VG. 1920 ihrer Bedeutung i m politischen Leben entsprechend überhaupt nicht Erwähnung finden, nämlich die politischen Parteien und die Interessenverbände. Sie sind Repräsentanten organisierter Interessen des Einzelnen, mögen diese politisch oder beruflich bedingt sein. 85 Beachte Art. 121 ff. B.-VG.; dazu Adamovich, S, 407 ff.; Walter, S. 795 ff. und Walter / Mayer, S. 301 ff.; zu seiner Geschichte beachte Zweihundert Jahre Rechnungshof, Wien 1961. 86 Siehe Klaus Berchtold, Der Bundespräsident, Wien 1969. 87 Beachte Manfred Welan und Heinrich Neisser, Der Bundeskanzler i m österreichischen Verfassungsgefüge, Wien 1971. 88 Dazu Adamovich, S. 345 f.; Walter, S. 569 f. und Walter / Mayer, S. 214 f. 89 Hiezu besonders Christa Altenstetter, Der Föderalismus in Österreich, unter besonderer Berücksichtigung der politischen Verhältnisse von 1945 1966, Heidelberg 1969 und Hans Magenschab, Föderalismus und politische Parteien, in: Föderalismus heute, Wien o. J., S. 47 ff., sowie Karl Korinek, Der Föderalismus und die Verbände in Österreich, in: Föderalismus heute, S. 61 ff.

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Nach 1918 und nach 1945 waren es die politischen Parteien 90 , welche auf Bundes- und Landesebene Österreich aufgebaut und später wiedererrichtet haben. Trotzdem kennt das B.-VG. 1920 auch i n späteren Novellen keine eigenen Bestimmungen etwa über die Rechte, Pflichten und Finanzierungsmöglichkeiten politischer Parteien. Erst 1975 kam es m i t dem Bundesgesetz über die Aufgaben, Finanzierung und Wahlwerbung politischer Parteien zu dem ersten Parteiengesetz Österreichs 91 . Dieses einfache Bundesgesetz m i t einer Verfassungsbestimmung brachte eine Regelung des Parteienwesens i n Österreich, wobei es interessant ist, daß an keiner Stelle ein Hinweis auf das Erfordernis der Beachtung österreichischer Bundesstaatlichkeit gegeben ist; es w i r d bezüglich der Aufgaben der politischen Parteien i m § 1 (2) dieses Parteiengesetzes 1975 lediglich erwähnt, es gehöre „die M i t w i r k u n g an der politischen W i l lensbildung" dazu: auf welcher Ebene diese stattfinde, ob auf Bundesoder Landesebene, w i r d nicht festgestellt. I n Österreich sind derzeit drei politische Parteien i n den Gesetzgebungsorganen des Bundes und der Länder vertreten: die FPÖ, ÖVP und SPÖ. Für die Staatspolitik am ausschlaggebensten waren die ÖVP, die bis 1970 den Kanzler stellte, und die SPÖ, die es seither tut, wobei die ÖVP schon aufgrund ihrer christlichen Grundhaltung für den Föderalismus aufgeschlossen war; die Sozialisten standen der Bundesstaatlichkeit i n Theorie und Praxis lange ablehnend gegenüber und haben sich erst i n ihrem Parteiprogramm von 1958 ausdrücklich zum Föderalismus bekannt 9 2 . Verfolgt man das Zustandekommen der Parteibeschlüsse der ÖVP gegenüber der SPÖ, so spielen bei den Christlichdemokraten die Ländervertreter eine entscheidendere Rolle i m Willensbildungsprozeß aber auch i n der Ausübung der Staatsfunktionen, als dies bei den Sozialisten der Fall ist. Was die Interessenverbände i n Österreich betrifft, so finden diese entweder als juristische Personen des Privatrechts 9 3 ihre Verfassungsrechtsgrundlage i m Grundrecht der Vereinsfreiheit des A r t . 12 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867, das ist ζ. B. beim Gewerkschaftsbund, dem Bauernbund und der Industriellenvereinigung der Fall, oder aber, wenn sie Kammern, berufliche Selbst90

Siehe Adamovich, S. 106 ff. Bundesgesetz vom 2. Juli 1975 über die Aufgaben, Finanzierung und Wahlwerbung politischer Parteien, BGBl. Nr. 404/1975; kritisch hiezu Schambeck, Die Stellung der politischen Parteien nach österreichischem Verfassungsrecht, in: Form und Erfahrung, ein Leben für die Demokratie, zum 70. Geburtstag von Ferdinand A. Hermens, Berlin 1976, S. 61 ff. 92 Dazu Kurt Wedl, Der Gedanke des Föderalismus in Programmen politischer Parteien Deutschlands und Österreichs, München - Wien 1969. 93 Siehe Schambeck, Interessenvertretung und Vereinsfreiheit, in: Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift für René Marcie, 2. Band, S. 647 ff. 91

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Verwaltungskörper, also juristische Personen des öffentlichen Rechts 94 sind, i n den Kompetenztatbeständen des B.-VG.; einen eigenen Verfassungsabschnitt über die Interessenvertretungen kennt das B.-VG. auch nicht. Nach den Kompetenzbestimmungen des B.-VG. sind die Kammern der gewerblichen Wirtschaft sowie der Arbeiter und Angestellten durch Bundesgesetz zu regeln. Die Einrichtung der Landwirtschaftskammern und Landarbeiterkammern ist hingegen Landessache; dementsprechend sind diese Berufsstände i n Landeskammern auf landesgesetzlicher Grundlage vertreten, auf Landesebene haben auf bundesgesetzlicher Grundlage Landeskammern auch die gewerbliche Wirtschaft sowie die Arbeiterund Angestellten zu vertreten. A u f Bundesebene fungieren für sie die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und der österreichische Arbeiterkammertag, welche juristische Personen des öffentlichen Rechts sind; anders i m Bereich der Landwirtschaft, für welche auf Bundesebene die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern als Verein errichtet wurde. Stellt man diese wichtigsten Repräsentanten der Kammern auf Bundesebene nebeneinander, ist es bemerkenswert, daß die Präsidentschaft der Wiener Arbeiterkammer immer mit der Präsidentschaft des österreichischen Arbeiterkammertages verbunden ist, was ich vom Gleichheitssatz her für verfassungswidrig und vom Föderalismus her für verfassungspolitisch verfehlt halte, während der Präsident der Bundeswirtschaftskammer und der Vorsitzende der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern auch aus dem Bereich der übrigen Landeskammern kommen können. Die großen, freien, also vereinsmäßig organisierten Interessenverbände sind weitgehend zentralistisch organisiert. Das gilt insbesondere für den österreichischen Gewerkschaftsbund, der seiner Organisation nach eine stark zentralisierte Einheitsgewerkschaft ist. So kommt weder den Landesexekutiven noch den Fachgewerkschaften des ÖGB eigene Rechtspersönlichkeit zu; sie sind nur organisatorische Gliederungen des Vereines österreichischer Gewerkschaftsbund. Während also die Bundesstaatlichkeit für das Kammerwesen prägend ist, muß bemerkt werden, daß dies bei der Organisation der sogenannten freien Interessenverbände nicht der Fall ist, die hingegen stark zentralistisch sind 9 5 . Die Frage nach der mehr oder weniger föderalistischen Struktur der Interessenverbände ist keine bloß staatstheoretische, sondern eine des 94

Hiezu Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung, Wien - New York 1970. Vgl. hiezu u. a. G. und M. Welan, „Pluralismus und Föderalismus", in: Föderalismus in Österreich, hrsg. von Hellbling / Mayer-Maly / Marcie, Wien Frankfurt - Zürich 1970, S. 205 ff., bes. S. 235 ff.; auch M. Welan, Partei und Verbände in Österreich, Wien 1970. 95

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praktischen politischen Lebens, denn bei einer mehr föderalistischen Struktur können die Interessenvertreter der Länder entsprechend bei der Willensbildung des Verbandes mitwirken. Das kann von zweifacher Bedeutung sein. Erstens steht den Interessenverbänden ein Begutachtungsrecht gegenüber Regierungsvorlagen auf Grund eines Rundschreibens des BKA-Verfassungsdienstes vom 21. März 194996 zu, das für eine Gesetzeswerdung schon insofern von größter Bedeutung ist, als diese Interessenverbände m i t einer Gesetzesmaterie sich schon i n einem Stadium legistischer Vorbereitung beschäftigen können, i n dem weder der Nationalnoch der Bundesrat, die diese Stellungnahmen zur Information bekommen, bef aßt sind. Zweitens gilt es zu beachten, daß Österreichs politisches Leben und damit auch seine Verfassungswirklichkeit von der Sozialpartnerschaft 97 geprägt sind, i n der seit Beendigung des 2. Weltkrieges zur Beratung von Regierung und Parlament die vier Großverbände, nämlich die Bundeswirtschaftskammer, die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern, der österreichische Gewerkschaftsbund und der österreichische Arbeiterkammertag zusammenwirken. Dieses freiwillige, weder verfassungsgesetzlich noch einfachgesetzlich vorgeschriebene gemeinsame Ausüben der Rechte, welche diesen Großverbänden schon bisher i m Rahmen ihrer Interessenvertretung zugestanden sind, ist ein Faktor des politischen Lebens i n den letzten Jahrzehnten österreichischer Politik geworden, der i m österreichischen Verfassungsrecht m i t keinem einzigen Wort vorgesehen war. Es ist bemerkenswert, daß diese Sozialpartnerschaft ein integrierender Bestandteil des Verfassungslebens neben den politischen Parteien geworden ist. AdamovichSpanner haben schon i n der fünften Auflage des Handbuches des österreichischen Verfassungsrechtes zu den leitenden Grundsätzen der Verfassung Österreichs neben dem demokratischen, bundesstaatlichen und rechtsstaatlichen Prinzip auch die Entwicklung zum Parteien- und Kammerstaat betont und i n eigenen Abschnitten behandelt 98 . Es erhebt sich nun die Frage, i n welchem Verhältnis stehen diese Prinzipien geschriebenen Verfassungsrechts m i t diesen Formen des öffentlichen Lebens i n der Verfassungswirklichkeit. Betrachtet man den heutigen Staat, so zeigt sich, besonders wenn i h m eine demokratisch-republikanische Staatsform eignet, daß der Staatsauf96

Rundschreiben ZI. 26.391 —- 2 a/49. Beachte Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft, das österreichische Modell, Wien 1970 und Schambeck, Konflikt und Konsens — das Spanmingsverhältnis zwischen Bundesverfassung und Partnerschaft, Wirtschaftspolitische Blätter 1976, 23. Jg., Heft 4, S. 79 ff. 98 Ludwig Adamovich, Grundriß des österreichischen Verfassungsrechts, 5. Aufl., Wien 1957, S. 117 ff. 97

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bau, ob Einheits- oder Bundesstaat, einen Rahmen angibt, i n dem sich das öffentliche Leben ereignet. Da die modernen Demokratien durch pluralistische Prägung von politischen Parteien und Interessenverbänden gekennzeichnet sind, prägt Unitarismus oder Föderalismus auch die Polit i k des jeweiligen Staates. Diese allgemeine Feststellung gilt auch für Österreich, die politischen Kräfte des Landes entfalten sich auf Bundesund Landesebene. Da die politischen Parteien i n die Gesetzgebung des Bundes und der Länder gewählt werden, treten sie auch als Staatsrepräsentanten auf und profilierten Österreich als Parteienbundesstaat. I n Österreich haben die politischen Parteien die erste und die sogenannte zweite Republik nach den beiden Weltkriegen errichtet und wieder aufgebaut, was den Eindruck der nahezu ident erscheinenden Verbundenheit von Staat und Parteien erweckt; wohlgemerkt aber nicht immer dieselbe Partei oder dieselben Parteien! Die Interessenverbände hingegen haben sich gegenüber diesem Parteinstaat als Repräsentanten der beruflichen, also der wirtschaftlichen oder sozialen Interessen der Gesellschaft erwiesen. Da die Wirksamkeit der Interessenverbände auf Grund ihrer skizzierten Organisationsstruktur mehr zentralistisch unitaristisch spürbar ist und die politischen Parteien sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene tätig sind, zeichnet sich eine Form der Gewaltenteilung ab, die i n einer Zeit, i n welcher die klassische Gewaltenteilung i m Hinblick auf die politische Einheit von Parlamentsmehrheit und Regierung wirkungsarm geworden ist, eine neue Form der Balance der Kräfte darstellt. Betrachtet man diese politische Landschaft, dann zeichnet sich keine Bundesstaatlichkeit ab, die neben der Verbändestaatlichkeit gegeben ist, i m Gegenteil, sie sind untereinander verwoben. Das zeigt sich ζ. B. sehr deutlich bei der Gesetzesbegutachtung; sowohl die Länder als auch die Interessenvertretungen geben Stellungnahmen zu Regierungsvorlagen ab; während nun die Länder keine Möglichkeit haben, die betreffende Regierungsvorlage nach Abgabe ihrer Stellungnahme vor Einbringung i m Parlament und der dortigen Beschlußfassung zu sehen und zu beurteilen, ist dies bei den Interessenvertretungen dadurch gegeben, daß diese auf Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite laufend i n den parlamentarischen Klubs von den politischen Parteien und i n den Ausschüssen herangezogen werden, was bei den Ländervertretern selten, wenn überhaupt, vorkommt. Dieser Hinweis auf die Bedeutung der Parteien und Interessenverbände, die i m B.-VG. ihrer heutigen Bedeutung angepaßt gar nicht vorkommen, gegenüber den Bundesländern, welche als Aufbauprinzip des österreichischen Verfassungsrechts das B.-VG. prägen, sei zum Verständnis der österreichischen Verfassungswirklichkeit gemacht. Daneben ha-

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ben die österreichischen Bundesländer eigene Wege zur Vertretung ihrer Wünsche beschritten, i n denen die gemeinsamen, aufeinander abgestimmten Anliegen der Länder gegenüber dem Bund zum Tragen kommen. Diesen Aufgaben dient die seit 1951 auf freiwilliger Basis entstandene Verbindungsstelle der österreichischen Bundesländer, die regelmäßigen Konferenzen der Landeshauptleute, der Landtagspräsidenten, der Landesfinanzreferenten und der Landesamtsdirektoren. I n Österreich gibt es i m ganzen durchschnittlich vierhundert Länderexpertenbesprechungen jährlich. Ein wesentlicher Ausdruck dieser Länderbemühungen ist das jeweilige Forderungsprogramm i n den österreichischen Bundesländern, dessen letztes aus dem Jahre 1976 stammt und auf Grund dessen der Bundesrat m i t der ÖVP-Mehrheit i m Juni 1977 zu den wesentlichsten Punkten die Gesetzesinitiative ergriffen hat, was aber keine entsprechende Aufnahme durch die SPÖ-Mehrheit i m Nationalrat gefunden hat. Nach dieser skizzenhaften Darstellung des Föderalismus i n der Verfassungswirklichkeit erhebt sich die abschließende Frage nach der Bedeutung des Föderalismus i m österreichischen Staat. IV. Der Föderalismus Österreichs mit seinen neun Bundesländern als auch seine geopolitische Grundlage ist Ausdruck einer politischen Landschaft, die sich i m Heimatbewußtsein des Österreichers, als Viertel- oder Landesbewußtsein seiner Bürger ausdrückt. Es sei auch auf die Organisationsform seiner Länder, so auf das lange Bestehen der Landeshauptmannschaften auf Landesebene und der Bezirkshauptmannschaften auf Bezirksebene verwiesen. Da Österreich i n den Jahrhunderten seiner Staatswerdung das geschichtliche Ergebnis der meist klugen Politik einer Familie ist, die von jenem Mann, der als deutscher Kaiser Rudolf I. von Habsburg i m Dom zu Speyer seine letzte Ruhestätte gefunden hat, begründet wurde, hat diese Länderstruktur die Staats- und Rechtsgeschichte Österreichs auf dem Weg dieses Landes zum Verfassungsstaat und hernach von der konstitutionellen Monarchie zur demokratischen Republik begleitet. I m 20. Jahrhundert hat sich die Länderstruktur von einer Herrschaftsorganisation, die jeweils m i t der Person des Monarchen verbunden den Staat bildete, zu einem demokratischen Gemeinwesen entwickelt, i n dem das Wollen des Volkes auf Landes- und Bundesebene nebeneinander repräsentierend und kontrollierend w i r k k r ä f t i g ist. Es wäre dabei falsch, einen reinen von partei- oder sonstigen politischen Vorstellungen freien Länder- und Bundeswillen anzunehmen. A u f dem Wege politischer Willensbildung werden auf Landes- und Bundesebene Interessen geäußert und ausgeglichen, die dem Bund gegenüber zum Tragen kommen;

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dabei können unterschiedliche ideologische und weltanschauliche Standpunkte ebenso eine Rolle spielen, ζ. B. i n der K u l t u r - , Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie über diese hinaus oder daneben bloß regionalbedingte, von allen Parteien- und Interessenverbänden vertretene Anliegen für ein Bundesland, ζ. B. i m Straßenbau, der Fremdenverkehrsförderung oder dem Umweltschutz. Da das Wählerverhalten des Österreichers auf Bundes- und Landesebene verschieden ist, erweist sich der Föderalismus i n Österreich als eine neue Form der Machtverteilung 9 9 u. a. neben parlamentarischer und außerpalamentarischer Willensbildung sowie dem Nebeneinander von Parteien und Interessenverbänden. Sehr deutlich zeigt dies die Stärke der jeweiligen politischen Parteien i n den Landtagen und i m Bundesrat einerseits und dem Nationalrat andererseits. Der Föderalismus bietet so auch eine Möglichkeit der Kontrolle und eine zeitgemäße Form der Freiheitssicherung i m modernen Staat, der dem sozialethischen Prinzip der Subsidiarität 1 0 0 eine staatsrechtliche Prägung zu verschaffen und den Tendenzen der Zentralisierung und Kollektivierung Einhalt zu bieten vermag. Von dem Maße des Gelingens dieses Vorhabens durch den Föderalismus hängt heute wesentlich die Glaubwürdigkeit des Staates gegenüber dem Einzelnen mit ab; ein Anliegen, das i n einer Zeit, i n der Rechte und Pflichten des Einzelnen und des Staates i n gleicher Weise bedacht werden sollten, über die Staatsgrenzen hinaus von Bedeutung ist.

99 Näher Schambeck, Föderalismus und Gewaltenteilung, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 643 ff. 100 Dazu Schambeck, Österreichs Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip, in: Festschrift für Ernst Kolb zum sechszigsten Geburtstag, Innsbruck 1971, S. 309 ff.

Aussprache zu den Referaten von Roman Herzog und Herbert Schambeck Bericht von Josef Schraven

Der Präsident des Bundesrechnungshofs a.D. Dr. Schäfer konzentrierte seinen Diskussionsbeitrag zum Thema der Veranstaltung „30 Jahre Grundgesetz" an der Frage, ob sich diese Verfassung bewährt habe. Er bezog sich zunächst auf die von Ministerpräsident Dr. Vogel und Minister Prof. Herzog erwähnten 34 Grundgesetzänderungen, die den Schluß nahelegten, eine Verfassung, die i n 30 Jahren 34 M a l habe geändert werden müssen, könne gar nicht so gut gewesen sein, sondern müsse große Mängel gehabt haben. Die Zahlen allein würden jedoch zu einem Trugschluß führen; manche Grundgesetzänderungen, ζ. B. i m Jahre 1969 allein 8, seien kurz hintereinander erfolgt, hätten aber auch zusammengefaßt werden können, ohne daß der Umfang der Änderungen eine andere Bewertung erfahren würde. Bewährt habe sich besonders der Grundrechtsteil; kleinere Korrekturen neben der notwendigen Wehrergänzung hätten den großen Wurf des Parlamentarischen Rates nicht beeinträchtigt. Die föderative Ordnung des Grundgesetzes sei zwar großen Änderungen unterworfen worden, dennoch müsse man heute nach 30 Jahren sagen, sie erfülle ihre Funktion und sei eben nicht ein Föderalismus, wie Werner Weber damals gesagt habe, restaurativer, fiktiver und dazu oktroyierter A r t . Nawiasky habe aus einer ganz anderen Blickrichtung heraus das Grundgesetz beanstandet. Und der Freistaat Bayern habe ja schließlich das Grundgesetz abgelehnt, aber die Ablehnung sei w o h l schon i m Hinblick darauf erfolgt, daß i m übrigen die 2 /s-Mehrheit vorhanden gewesen sei. Er halte die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für das Bundesratsprinzip anstelle eines Senatsprinzips für richtig; für falsch halte er jedoch die geringe Stimmenstufung, die einem Land wie Bremen m i t etwa 700 000 Einwohnern i m Vergleich zu Nordrhein-Westfalen m i t 17 bis 18 M i l l . Einwohnern drei Stimmen, also nur zwei Stimmen weniger als Nordrhein-Westfalen zumesse. Bedenklich sei auch die Praxis des Art. 84 Abs. I GG, über den inzwischen mehr als die Hälfte aller Gesetze zustimmungsbedürftig geworden seien. Die Vorschrift des A r t . 29 GG über die Neugliederung des Bundesgebiets dagegen sei inzwischen gescheitert; nachdem vor noch nicht allzu langer Zeit zwei Gebiete von Landkreisgröße zur Neugliederung

Aussprache

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abgestimmt hätten, habe man am Schluß nichts besseres zu t u n gewußt, als den A r t . 29 GG i n eine Kannvorschrift umzuwandeln. Dabei hätte man durchaus durch Neugliederungsmaßnahmen den Gegensatz zwischen reichen und armen Ländern wenigstens lindern können. Zum österreichischen föderalen System merkte Dr. Schäfer an, daß er die Stimmenstuf ung von 3 bis 12 Stimmen für die einzelnen österreichischen Bundesländer für, verglichen m i t den deutschen Zahlen, sachgemäßer und vernünftiger halte. Was die Finanzkontrolle dagegen angehe, sei es für die Bundesgebiets dagegen sei inzwischen gescheitert; nachdem vor noch nicht allzu langer Zeit zwei Gebiete von Landkreisgröße zur Neugliederung mitprüfe oder gar die großen Gemeinden, oder daß, wie i n Österreich, der Rechnungshof offizielles Hilfsorgan des Parlaments wäre. Schließlich griff Dr. Schäfer noch einmal die Arbeit der Enquête-Kommission zur Reform des Grundgesetzes auf, die sechs Jahre gebraucht habe, um einen Bericht zu verfassen, von dem nun kaum die Rede sei, und richtete die Frage an Prof. Herzog, ob von dort her vielleicht noch m i t Initiativen zu rechnen sei. Der Richter am Bundesverfassungsgericht Dr. Katzenstein erinnerte daran, daß A r t . 72 GG, der dem Bund das Gesetzgebungsrecht nur zugesteht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, schon frühzeitig selbst i m Bundesrat nicht mehr als Instrument föderaler Bundeskontrolle gehandhabt worden sei, so daß er nicht der Meinung zustimmen könne, es sei die „lasterhafte Rechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts gewesen, die diese Vorschrift zum „toten" Recht gemacht habe. U m so mehr habe sich aber der Bundesratsrechtsausschuß bemüht, A r t . 84 GG i m Sinne der Länder „auszubauen". Die Bedenken dagegen, die er m i t Dr. Schäfer teile, hätten weder i m Bundesratsrechtsausschuß Platz gefunden, noch hätten sich Bundesregierung oder Bundesministerien gegen die Ausweitung des Zustimmungsrechts sonderlich gewehrt. Das werde wohl damit zusammenhängen, daß der Bundesrat oder die Mehrheit i m Bundesrat sich um so weniger veranlaßt gesehen hätte, oder politisch veranlaßt sehen konnte, von seinem Recht, Nein zu sagen, Gebrauch zu machen, je mehr der Rechtsausschuß den Weg freigekämpft habe zu größerer Machtposition. Z u der von Dr. Schäfer aufgeworfenen Frage der Stimmenverteilung i m Bundesrat betonte Dr. Katzenstein, er halte die Stimmenverteilung i n den Bundesratsausschüssen, i n denen jedes Land einschließlich Berlin eine Stimme habe, für i n der Praxis viel bedenklicher als die monierte geringe Stimmenabstufung für den Bundesrat selbst, wie sie i n der Verfassung festgelegt sei. Denn die meisten der vielen Tagesordnungspunkte, wie es Minister Herzog geschildert habe, würden eben maßgeblich i n den Bundesratsausschüssen vorbereitet; und dort seien die Länder stimmenmäßig gleichberechtigt. Das habe dann dazu führen können, daß ζ. B. Nordrhein-Westfalen m i t 6 Speyer 78

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einer Stimme die häufig gleichgerichteten Interessen der Stadtstaaten (3 Stimmen) nicht habe aufwiegen können. Minister Prof. Dr. Herzog betonte i n seiner Entgegnung zu den Stellungnahmen der Herren Schäfer und Katzenstein, er kritisiere keineswegs die Anzahl der Grundgesetzänderungen. Zum einen müsse man nämlich die Grundgesetzänderungen abziehen, die nur Fristverlängerungen hinsichtlich der endgültigen Abfassung der Finanzverfassung beträfen, und zum anderen gelange er dabei zu der Wertung, sie seien Dokumente dafür, i m übrigen die Verfassung einhalten zu wollen. Die Weimarer Reichsverfassung sei kein einziges M a l formell geändert, dafür aber auch nicht eingehalten worden. Was die Situation i m Freistaat Bayern i m Jahre 1949 anbetreffe, so müsse er berichten, daß die CSU an sich sehr wohl das Grundgesetz gewollt habe, obwohl sie mit manchen Regelungen nicht einverstanden gewesen wäre, aber unter dem Druck der gerade aufgetretenen Bayernpartei gestanden habe. Daher habe man nicht zugestimmt, aber die Mehrheit des A r t . 144 GG gelten lassen wollen. Die Einschätzung des Art. 72 Abs. 2 GG von Herrn Katzenstein teile er; es sei heute sinnlos, über andere Auslegungen nachzudenken, genau wie bei der Auslegung des Begriffs Rahmengesetz „der Zug abgegangen" sei. I m Vergleich zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts i m Grundrechtsbereich, die jede Einzelheit des Textes berücksichtige, sei es verwunderlich, wie i m Bereich der Kompetenzartikel judiziert worden sei, zu früh, wie er meine. Er teile auch die K r i t i k an A r t . 84 Abs. 1 GG und seine Praxis. Nur sehe er nicht, wie man diese Vorschrift anders als ihrem Wortlaut entsprechend auslegen könne. Was treibe denn eigentlich die Ministerialen oder Ausschußmitglieder dazu, Verfahrensvorschriften den Gesetzen beizufügen? Wenn man nicht, wie bei den Polenverträgen, absichtlich die Opposition i m Bundesrat i n Schwierigkeiten bringen wolle, was es eben auch gebe, könne man Verfahrensvorschriften schließlich beiseite lassen. A n der Arbeit der Enquête-Kommission teilzunehmen, habe er sich i m übrigen geweigert, weil er nicht geglaubt habe, daß etwas dabei herauskommen werde. Das Grundgesetz sei als Verfassung schlechter als die Weimarer Verfassung. Aber es funktioniere großartig. Er denke nicht, daß eine Kommission von Parlamentariern und Universitätsprofessoren i n einer völlig ruhigen Zeit das ersetzen könne, was die Not der Nachkriegs jähre an Verfassungsgebung hervorgebracht habe. Z u der Neufassung des A r t . 29 GG gab Prof. Herzog zu bedenken, diese beruhe gerade auch darauf, daß i n den Ländern, trotz der Bevölkerungsumschichtung durch die großen Flüchtlingsströme und der ursprünglich recht willkürlichen Grenzziehung durch die Besatzungsmächte, ein neues Landesbewußtsein entstanden sei, das sich auch i n Volksabstimmungen wie ζ. B. 1975 i n RheinlandPfalz glänzend bestätigt habe.

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Prof. Dr. Quaritsch, Speyer, wies i n diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Militärregierungen die Neugliederung nach A r t . 29 GG bis 1955 suspendiert hatten und danach die Länder organisatorisch und auch politisch so gefestigt gewesen seien, daß sie sich aller Neugliederungsversuche hätten erwehren können. Z u den Bemerkungen von Herzog über die Gründe der Ablehnung des Grundgesetzes durch die bayerische Staatsregierung und i m bayerischen Landtag hob Prof. Dr. Morsey, Speyer, hervor, daß es sich dabei nicht nur um eine interne wahltaktische Überlegung gehandelt habe, sondern daß das eine m i t Gewissensgründen motivierte Grundsatzentscheidung gewesen sei, hinter der allerdings die Überlegung gestanden habe, an dieser Entscheidung eines Landes das Grundgesetz insgesamt nicht scheitern zu lassen. Nach dem Ausgang der ersten Bundestagswahl habe daher Adenauer den bayerischen Ministerpräsidenten Ehard angehen können m i t der Bemerkung, an sich müsse dieser ja Bundeskanzler werden; das gehe aber nun nicht, w e i l er ja gegen das Grundgesetz gestimmt habe. Die Einflußnahme der Alliierten auf die Gestaltung des Grundgesetzes sei i m übrigen geringer gewesen, als allgemein und offensichtlich besonders bei Juristen angenommen werde. Eine, wie man damals gesagt habe, unheilige Allianz von CSU und SPD habe die Gestaltung des Bundesrats entscheidend geprägt. Adenauer habe seine ursprüngliche Konzeption von einem Senat als zweiter Kammer erst aufgegeben, nachdem Ehard i h n habe davon überzeugen können, daß nur die Länderbürokratie die Bundesbürokratie wirksam kontrollieren könne. Dr. Katzenstein Schloß an die Schilderung von Herzog über das Funktionieren des Bundesrats als Länderkammer an und gab zu verstehen, daß es i h n betroffen mache, aus den Ausschußprotokollen zu ersehen, daß bei Abstimmungen auch i m Rechtsausschuß, nicht nur wenn es sich u m politisch primäre Fragen handle, immer mehr die jeweilige Regierungsmehrheit der entsendenden Länder durchschlage und nicht die fachliche Kompetenz der Beamten. Universitätsdozent Dr. Gerhard Wielinger, Graz, griff die von Herzog i n seinem Referat geschilderten Probleme des Zusammenspiels von Bundes- und Länderbehörden auf. Er habe den Eindruck, daß es zwischen den bürokratischen Apparaten des Bundes und der Länder, i n Österreich wie i n der Bundesrepublik Deutschland, eine Zäsur gebe, die sich dahin auswirke, daß die Bundesbürokratie Vollzugsprobleme der Verwaltung schon bei der Gesetzesvorbereitung nicht genügend berücksichtige. Z. B. sei das neue österreichische Datenschutzgesetz auf Bundesebene vermutlich sehr gut vorbereitet worden, es sei auch m i t Vertretern multinationaler Konzerne besprochen worden, mit den Ländern als Trägern der m i t 6*

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telbaren Bundesverwaltung aber überhaupt nicht abgestimmt gewesen. A u f Landesebene wisse man nun nicht, wie es zu vollziehen sei; der Bundesrat als Vertretung der Länder habe das Datenschutzgesetz aber anstandslos „geschluckt". Seine Frage sei es nunmehr, wie man unter Beibehaltung der bundesstaatlichen Struktur solchen Funktionsstörungen zwischen den Verwaltungsebenen entgehen könne. Wielinger fügte hinzu, die Funktionstüchtigkeit der alten österreichischen Verwaltung bis i n die Kriegsjahre 1914/18 hinein habe wesentlich darauf beruht, daß die leitenden Beamten i n den Ministerien auch über Verwaltungserfahrung aus den Bezirken und Städten verfügt hätten. Dr. Möller, Institut für Zeitgeschichte, München, machte auf einen Wandel des Föderalismus aufmerksam, der mit der Einführung des parlamentarischen Systems verbunden sei und seine Legitimationsgrundlage verändert habe. Ursprünglich habe man historisch gewachsenen territorialen Besonderheiten durch die föderative Struktur Rechnung tragen wollen. Das treffe für die Bundesrepublik allein deswegen schon nicht mehr zu, weil die Länder nach 1945 ζ. T. künstlich geschaffen worden seien und daher historische Gewachsenheit als Legitimationsgrundlage nicht mehr durchschlage. Vielmehr habe sich ein neues Kontrollprinzip i. S. der Gewaltenteilung etabliert, nämlich eine Kontrolle der Bundesverwaltung durch die Länderverwaltungen. Außerdem habe die Struktur des parteipolitischen parlamentarischen Systems i n den Ländern ein Gewicht erlangt, das eine Neuordnung i. S. eines historischen Föderalismus unter Abschaffung bestehender Institutionen verhindere. Er halte es daher für notwendig, eine neue Legitimationsgrundlage bzw. ein verändertes Verständnis des Föderalismus zu schaffen. Regierungsdirektor Dr. Zeh, Deutscher Bundestag, Bonn, richtete die Frage an Minister Herzog, welche Rolle die Parlamentarier i n der Skizze spielten, die er von einem sich wandelnden Föderalismus gezeichnet habe; wenn die Bürokratie des Bundes allein oder entscheidend kontrolliert und konterkariert werde von der Bürokratie der Länder, sei kein Parlament erforderlich, für die Gesetzgebung eher lästig mit seinem „furor legislativus", der die Regelungsdichte anschwellen lasse und der Verwaltung letztlich die Durchführungsentscheidung überlasse. Es sei zu fragen, ob es dann vielleicht zu einem Scheinparlamentarismus komme, der sich i n einem Kreislauf abspiele, und daneben ein Kreislauf kooperierender Exekutiven entstehe ohne gegenseitige Zuordnung. Möglicherweise rühre daher die Politisierung des öffentlichen Dienstes durch die Parteien, die auf diesem Wege versuchen müßten, die Kommunikation m i t den Verwaltungen wieder herzustellen, die über parlamentarische Einwirkungen auf diesen Exekutivkreislauf nicht mehr gesichert erscheine.

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Nach der Rolle der Europäischen Gemeinschaften i m Hinblick auf einen Wandel des Föderalismus fragte der Richter am Amtsgericht Bremen, Dr. Beutler. Zwar sei i n den Zustimmungsgesetzen zu den Gemeinschaftsverträgen eine Verpflichtung zur Information des Bundesrats enthalten und es gebe auch einen Vertreter der Länder bei den EG; dennoch könne sich eine Tendenz entwickeln, die Länder i n diesem supranationalen Entscheidungsprozeß zu überspielen. Prof. Dr. Schambeck erörterte i n seinem Schlußwort noch einmal das System der Finanzkontrolle i n Österreich und stellte fest, daß die Kontrollberichte des österreichischen Rechnungshofes auch bei den Ländern und Gemeinden Beachtung gefunden hätten, die über eine bloß empfehlende Anregung hinausgegangen sei. Wenn auch die Rechnungshofberichte i n Österreich sanktionslos seien, so dürfe man doch ihre Öffentlichkeitswirkung nicht unterschätzen. Das habe sich zuletzt sehr deutlich i m Bereich der Verteidigung und i n der Gesundheitsverwaltung gezeigt. Allerdings gebe es Überlegungen und Vorschläge, das System der F i nanzkontrolle zu verändern; darüber werde aber wohl erst nach den anstehenden Nationalratswahlen konkret diskutiert werden können. Dem Bundesverfassungsrichter Dr. Katzenstein zustimmend, betonte Minister Prof. Herzog i n seiner abschließenden Stellungnahme zu der Aussprache, auch er halte die Stimmenverteilung i n den Ausschüssen des Bundesrats nicht für gerechtfertigt. Es sei i h m auch nicht klar geworden, warum nicht auch i n den Ausschüssen die Stimmen gewichtet w ü r den. Die Praxis könne dann dazu führen, daß ein Vorschlag i m Ausschuß unterliege, obwohl es sicher sei, daß er i m Plenum m i t der Unterstützung der gleichen Länder wie i m Ausschuß, aufgrund der anderen Stimmengewichtung, eine Mehrheit finde. Aus seiner Erfahrung aus der Arbeit des Bundesrates halte er das „Parlament der Beamten", das aber eben zwischen sachlicher Beamtenarbeit und politischem Auftreten von M i n i sterpräsidenten und Landesminister oszilliere, für eine glückliche Lösung. I n der praktischen Arbeit dort käme es häufig darauf an, über Parteigrenzen hinweg gegenseitige Unterstützung und Mehrheiten zu finden, die zwar auch aber eben nicht nur parteipolitisch motiviert würden. Was den A r t . 72 Abs. 2 GG angehe, so sei diese Vorschrift nur formal die einzige, die direkt auf die Alliierten zurückgehe, i m übrigen sei aber auch der Streit um die Bundes- oder Landesfinanzverwaltung — ein historischer Irrtum, weil es nicht darauf ankomme, wem die Kasse gehöre, sondern wem das Geld i n der Kasse gehöre — und die Frage des Finanzausgleichs entscheidend von den Alliierten beeinflußt worden. Zu dem Problem der Praxisferne der Bundesministerien merkte Herzog an, die ausführlichen Berichtigungs- und Änderungsvorschläge i m Bundesrat schüfen hier wohl das angemessene Gegengewicht. Er wolle aber

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auch nicht unerwähnt lassen, daß die Praktikabilität von Verordnungsentwürfen ζ. B. durchaus von Bonn aus i n Landesvertretungen und Landesministerien vorab abgefragt werde. Was nun die Rolle der Parlamentarier angehe, so sei er wohl überinterpretiert worden; dennoch halte er es für angebracht, das Parlament aufzufordern, die Gesetzentwürfe aus den Ministerien nicht einfach zu übernehmen, sondern auf die wesentlichen Vorschriften zu beschneiden und Grundsatzfragen zu diskutieren, anstatt perfektionistische Änderungsanträge zu lancieren. A u f die letzte Frage über den Wandel föderaler Strukturen durch die EG lasse sich nur schwer eine Prognose abgeben. Der Vertreter der Bundesländer i n Brüssel habe i m wesentlichen informatorische Aufgaben. Der Einfluß des Bundesrats auf die Stellungnahmen der Bundesregierung i n Brüssel sei „gleich null". Generell seien die Erfahrungen der Länder, i n völkerrechtliche Aufgaben und Befugnisse des Bundes hineinzuwirken (Lindauer Abkommen), nicht so, daß er bei der Erstreckung dieses Verfahrens auf die EG-Politik irgendeinen Optimismus zugunsten der Länder habe.

Landesverfassungen und Grundgesetz Von Theodor Maunz

I. Das Grundgesetz hat den bundesstaatlichen Aufbau der Bundesrepub l i k Deutschland zum Verfassungsinhalt, sogar zu den verfassungsrechtlichen Unantastbarkeiten erhoben. Gliedstaaten eines Bundesstaates haben ebenso wie Staaten mit Vollkompetenz das Recht, sich Verfassungen zu geben. Das Grundgesetz selbst spricht von der verfassungsmäßigen Ordnung i n den Ländern und verlangt von i h r Eigenschaften, die für einen Staat charakteristisch sind. Es ist sinnvoll und entspricht einer langen Tradition, daß Staaten die Grundlinien ihres Selbstverständnisses und ihrer Programmatik i n einem förmlichen Gesetz kundgeben, das sie m i t erhöhter Geltungskraft ausstatten und i n dem sie die politische Kräfteverteilung, die Aufgaben der obersten Organe und die Rechte des einzelnen festlegen. Unerläßlich ist es zwar für einen Staat nicht, sich eine förmliche Verfassung zu geben. Seine Staatsqualität mindert sich nicht, wenn er davon absieht. Da sich aber alle elf Länder der Bundesrepublik für eine Verfassung entschieden haben, davon zehn auch m i t der Benennung Verfassung, braucht der Frage nicht nachgegangen zu werden, wie es wäre, wenn sich die Länder keine Verfassungen gegeben hätten. W i r können vom rechtlichen und vom faktischen Bestand der Landesverfassungen ausgehen und ihr Verhältnis zum Grundgesetz betrachten. Die gegenwärtig geltenden Verfassungen der deutschen Länder sind teils vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündet und i n K r a f t getreten, teils nachher. Das konnte nicht ohne Einfluß auf ihren Inhalt bleiben. Die Schöpfer der ersten Gruppe von Verfassungen, nämlich aus den Jahren 1946 und 1947, brauchten nicht und konnten wohl zunächst auch nicht m i t einem Verfassungsrecht eines Gesamtstaates rechnen. Sie sahen sich i n ihren Entscheidungen und Gestaltungen durch ein übergeordnetes Verfassungsrecht nicht beschränkt. Dem steht nicht entgegen, daß am rechtlichen Fortbestand des Reiches grundsätzlich festgehalten wurde, wenn auch eines organlosen und daher handlungsunfähigen Reiches, und daß Erwartungen auf eine spätere politische Einheit des ganzen Deutschland gehegt worden sind. Einige Landesverfassungen ha-

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ben die Verpflichtung ausgesprochen oder anklingen lassen, daß das zunächst als Vollstaat angesehene Land später Gliedstaat eines Gesamtstaates werden w i r d oder soll, oder es wurde, wie i n der Bayerischen Verfassung von 1946, die Bereitschaft angekündigt, dem künftigen Bundesstaat beizutreten, der auf einem freiwilligen Zusammenschluß der deutschen Einzelstaaten beruht, deren staatliches Eigenleben zu sichern ist —, eine Formulierung, die auf den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Högner zurückgeht. Vorerst jedenfalls konnten die Politiker der ersten Stunde die staatlichen Gebilde, für die sie Verfassungen berieten, nicht als Gliedstaaten verstehen. So war es naheliegend, daß alles i n den Verfassungstext aufgenommen wurde, was herkömmlicherweise zur Verfassimg eines Vollstaats gerechnet w i r d und was vielen damals am Herzen lag. Von den Organisationsnormen für einen neuen Staatsaufbau und dem Wirken des Staates bis zu den Rechten der Bürger und der Menschen, aber auch bis zu weitreichenden Wirtschafts-, Sozialund Kulturordnungen, i n denen gleichzeitig Hoffnungen auf ein besseres Leben und Zusammenleben i m Staat enthalten sein konnte. Bei dieser ersten Gruppe, nämlich den Verfassungen vor dem Grundgesetz, handelt es sich um die Länder Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz, ferner um jene damaligen drei Länder, die später das Land Baden-Württemberg bildeten und deren Verfassungen i m Jahre 1953 durch die Verfassung dieses neuen Landes ersetzt worden sind, schließlich u m das Saarland, dessen Verfassung zwar aus dem Jahre 1947 stammt, das aber bei Inkrafttreten des Grundgesetzes noch außerhalb der Bundesrepublik stand. Die Verfassungen der zweiten Gruppe, also jene Verfassungen, die nach 1949 entstanden sind, konnten und muß ten m i t der Geltung des Grundgesetzes rechnen und sich an dessen Inhalt ausrichten. Es handelt sich u m die Verfassungen von Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, letztere „Landessatzung" genannt, ohne daß damit i h r Charakter als Verfassung i n Frage gestellt wird. Bei den Verfassungen der ersten Gruppe gab es zwar nach 1949 einzelne Änderungen; eine förmliche Angleichung an das Grundgesetz erfolgte jedoch nicht. Die Gruppierung der heute geltenden elf Landesverfassungen kann man auch danach vornehmen, ob sie lediglich die Organisation regeln und das Funktionieren der Staatsorgane sicherstellen wollen, oder ob sie auch den Wirtschafts-, Sozial- und Kulturbereich durch Leitgrundsätze gestalten wollen. Bloße Organisationsstatute enthalten die Verfassungen von Hamburg, Niedersachsen und SchleswigHolstein. Sachprogramme und Grundrechte finden sich i n den Verfassungen von Baden-Württemberg, Berlin, Bayern, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, i n Nordrhein-Westfalen m i t der Besonderheit, daß die Grundrechte des Grundgesetzes zu Bestandteilen

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der Landesverfassung und zu unmittelbar geltendem Landesrecht erklärt worden sind. Zusätzlich ist aber doch die Ordnung des Gemeinschaftslebens, teilweise i n bezug auf die gleichen Themen wie i m Grundgesetz, z.B. zum Thema Ehe und Familie, Gegenstand verfassungsrechtlicher Hegelungen geworden. Die beiden hier genannten Gruppen überschneiden sich oder decken sich; doch enthalten die vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen die umfassendere Sachprogrammatik. I n jedem Fall muß bei Zweifeln über die Fortgeltung einzelner Verfassungsrechtssätze der Länder jeweils ihre Vereinbarkeit m i t der gesamten Bundesrechtsordnung geprüft werden. Maßstab dafür ist der sehr prägnante, aber keineswegs eindeutige Vorrangsatz: Bundesrecht bricht Landesrecht. Die mangelnde Eindeutigkeit ergibt sich vor allem daraus, daß dieser Satz so zu verstehen ist: Nur kompetenzgemäßes Bundesrecht bricht Landesrecht. Die Fortgeltung ist also an die Kompetenz von Bund oder Land gebunden. Gerade sie ist aber mitunter Streitgegenstand. Π. Wenn w i r zunächst einen Blick auf die Ordnung des Wirtschafts- und Sozialbereichs i n den Landesverfassungen werfen, so zeigt sich folgendes: Manche enthalten etwas für heutige Betrachtungen Selbstverständliches; manche sind uns fremd. Doch sollte man sich über die vor mehr als dreißig Jahren i n einer ganz anderen Situation gewonnenen Formulierungen nicht lustig machen. Sie zeigen jedenfalls das starke Bemühen, den damaligen Anforderungen gerecht zu werden. Darüber, wie manche der damaligen Zielvorstellungen verwirklicht werden könnten, hat man sich anscheinend i n den ersten Nachkriegs jähren keine Sorgen gemacht. Auch an Kräfte zwecks Durchsetzung und gegebenenfalls an Sanktionen hat man wenig gedacht. I n erster Linie wollte man ein anderes Geschehen als vorher beginnen und gleichzeitig Bekenntnisse für die Zukunft ablegen. So heißt es beispielsweise i n der Bayerischen Verfassung von 1946: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten." „ Z u m Zweck einer möglichst gleichmäßigen Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse aller Bewohner können unter Berücksichtigung der Lebensinteressen der selbständigen produktiv tätigen Kräfte der W i r t schaft durch Gesetz besondere Bedarfsdeckungsgebiete gebildet und dafür Körperschaften des öffentlichen Rechts auf genossenschaftlicher Grundlage errichtet werden. Sie haben i m Rahmen der Gesetze das Recht auf Selbstverwaltung." „Eigentum an Bodenschätzen, die für die allge-

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meine Wirtschaft von größerer Bedeutung sind, an wichtigen Kraftquellen . . . und Unternehmungen der Energieversorgung steht i n der Regel Körperschaften oder Genossenschaften des öffentlichen Rechts zu." „ F ü r die Allgemeinheit lebenswichtige Produktionsmittel, Großbanken und Versicherungsunternehmen können i n Gemeineigentum überführt werden, wenn die Rücksicht auf die Gesamtheit es erfordert. E i n angemessenes landwirtschaftliches Einkommen w i r d durch eine den allgemeinen Wirtschaftsverhältnissen entsprechende Preis- und Lohngestaltung sowie durch Marktordnungen durch den Staat sichergestellt." „Verteilung und Nutzung des Bodens w i r d von Staats wegen überwacht." „Die Arbeitnehmer haben bei den wirtschaftlichen Unternehmungen ein Mitbestimmungsrecht i n den sie berührenden Angelegenheiten, sowie i n Unternehmungen von erheblicher Bedeutung einen unmittelbaren Einfluß auf die Leitung und Verwaltung des Betriebs. Die Arbeitnehmer als gleichberechtigte Glieder der Wirtschaft nehmen zusammen m i t den übrigen i n der Wirtschaft Tätigen an den wirtschaftlichen Gestaltungsaufgaben teil." Soweit die einschlägigen Texte der bayerischen Verfassung von 1946, die auch heute noch formell unverändert weitergeführt werden, auch bei Neuausgaben des Verfassungstextes i m Druck immer wieder nachgedruckt werden, und zwar ohne Fußnoten etwa des Inhalts, daß sie möglicherweise nicht mehr i n Geltung sind. A u f die Brisanz einiger dieser Formulierungen i n der Sicht der gegenwärtig bestehenden W i r t schaftsordnung braucht kaum hingewiesen zu werden. Von der Steigerung der Lebensqualitäten und vom eigenen Wege eines genossenschaftlichen Wirtschaftssystems jugoslawischer Färbung bis zum späteren gemeinsamen europäischen Agrarmarkt, zur europäischen Sozialcharta und zur vollparitätischen oder beinahe paritätischen Mitbestimmung nicht nur i n Großbetrieben ist manches i n der Verfassung angedeutet, allerdings gleichzeitig i n eine beängstigende Unbestimmtheit der Begriffe und Einschränkungen eingebettet worden, wie „Rücksicht auf die Gesamtheit", „größere Bedeutung", „erhebliche Bedeutung", „gleichmäßige Befriedigung", „besondere Bedarfsdeckungsgebiete", „Ausbeutung der breiten Massen" usw. Wenn von ihnen Rechte und Pflichten abhängen sollten, müßte zunächst an eine Präzisierung dieser Begriffe herangetreten werden. Dann begännen w o h l erst die Meinungsverschiedenheiten, die vorerst noch durch wohlklingende Worte verdeckt sind. Bemerkenswert an diesen Rechts- oder Programmsätzen ist vor allem, daß sie auch i n Bayern, selbst wenn man ihrer Unbestimmtheit Nachsicht schenkt, nie realisiert worden sind, ja, daß eine Realisierung gar nicht eingeleitet worden ist, jedenfalls nicht i n dem Sinn und i n der Zielrichtung, wie dies von ihren Schöpfern erwartet worden ist. Mißt man sie anhand des Grundgesetzes, so findet man zwar, daß i n diesem ein geschlossenes Wirtschaftssystem des Bundes nicht i n verfassungsrechtlichen

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Rang erhoben worden ist. Aber durch einfache Bundesgesetze, die ebenfalls den Landesverfassungen vorgehen, sind Rechtsnormen geschaffen worden, m i t denen sich manche Sätze jener Landesverfassung selbst bei größtem Bemühen einer bundeskonformen Auslegung kaum mehr i n Einklang bringen lassen. Manche Sätze i n der Landesverfassung sind i n einen tiefen Dämmerschlaf gesunken, zu dem Tätigkeiten führender Landespolitiker selbst beigetragen haben. Dämmerschlaf ist allerdings kein Rechtsbegriff. Vom Grundgesetz her w i r d zu fragen sein, ob wie hier die wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik mancher Landesverfassung i m Hinblick auf den Vorrang des Bundesrechts einfach außer K r a f t gesetzt worden ist, so daß sie auch dann nicht wieder aufleben können, wenn sich das Bundesrecht zu den einschlägigen Themen wesentlich ändern würde, oder ob sie vorerst i n den Zustand des Ruhens m i t der Möglichkeit späteren neuen Lebens versunken sind. Man w i r d unterscheiden müssen: Der niemals vollzogene Satz etwa, daß die Unternehmen der Energieversorgung Körperschaften des öffentlichen Rechts zustehen, ist jedenfalls i n dieser Formulierung von A r t . 15 GG verdrängt worden und nicht mehr auflebbar. Anders ist es, wenn die Programmatik gleichzeitig Grundrechte enthält. Dazu gilt zwar auch Bundesrecht, nämlich der noch zu besprechende A r t i k e l 142 GG; aber gerade er läßt Grundrechte der Landesverfassungen fortbestehen, wenn sie i n Ubereinstimmung mit dem Grundgesetz Grundrechte gewähren. Abgesehen von den Grundrechten kann es statt des Außerkrafttretens Uberlagerungen geben, bei denen, ohne daß die Landesverfassungen dem Grundgesetz widersprechen, entweder eine praktische Bedeutungslosigkeit eingetreten ist, etwa bei dem Satz, daß Bedarfsdeckungsgebiete das Recht zur Selbstverwaltung haben, oder bei denen nur einzelne aus der Masse der Regelung herausragende Spitzensätze noch Wirkung auf die Landesorgane ausüben können, etwa, was freilich zweifelhaft ist, i n der Weise, daß Landesorgane zugunsten von agrarischen Marktordnungen auf der Ebene des Bundes oder supranationaler Gemeinschaften eintreten müssen. Nicht geringere Schwierigkeiten bereiten vergleichbare Sätze der hessischen Landesverfassung von 1946. Berühmt geworden ist aus ihr besonders der lapidare Satz: „Die Aussperrung ist rechtswidrig." Daß dieser Satz m i t dem Grundgesetz nicht vereinbar sei, läßt sich durch höchstrichterliche Urteile belegen. Unbestritten ist dies bekanntlich dennoch nicht. Die hessischen Sozialisierungen der Nachkriegszeit, die später i m wesentlichen wieder aufgegeben worden sind, ließen sich auf folgende Sätze der Landesverfassung stützen: „ M i t Inkrafttreten dieser Verfassung werden i n Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene

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Verkehrswesen." „Vom Staate beaufsichtigt oder verwaltet werden: die Großbanken oder Versicherungsunternehmen, sowie diejenigen an sich i n Gemeineigentum zu überführenden Betriebe, deren Sitz nicht i n Hessen liegt." Bei diesen Sätzen der Landesverfassungen, denen zufolge die Sozialisierung schon weit fortgeschritten sein müßte, ist es i m Hinblick auf A r t . 15 deutlich, daß sie m i t dem ihnen seinerzeit zugeschriebenen Inhalt nicht mehr gelten können. Man wird, da der Widerspruch zum Grundgesetz hier unleugbar ist, ein Außerkraftsetzen dieser Verfassungssätze des Landes annehmen müssen. Aber auch sie stehen nach wie vor i m Verfassungstext von Hessen, ja es gibt sogar Betrebungen, die sich auf diesen Verfassungstext berufen. Ähnliches gilt von den Sozialisierungsanordnungen i n der Verfassung von Bremen. Während aber nach dem Wortlaut der hessischen Verfassung die dort näher bezeichneten Betriebe bereits mit Inkrafttreten der Verfassung, also kraft Gesetzes, i n Gemeineigentum übergegangen sind (oder sein sollten), verlangt Bremen, daß ein bestimmter Kreis von Betrieben durch Gesetze i n Gemeineigentum zu überführen sei. Genannt sind ganz allgemein Monopole, Konzerne, Kartelle, Syndikate sowie Unternehmen, die, wie der Verfassungstext sagt, solchen Zusammenschlüssen angehört haben und nach ihrem Ausscheiden aus ihnen noch eine Macht innerhalb der deutschen Wirtschaft verkörpern, die die Gefahr eines politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Mißbrauchs i n sich schließt, sowie Unternehmen, deren Wirtschaftszweck besser i n gemeinwirtschaftlicher Form erreicht werden kann. Der Wortlaut zeigt schon, welche Schwierigkeiten der Auslegung und Abgrenzung entstanden wären, wenn jene Sätze nicht durch das Grundgesetz oder auch durch einfache Bundesgesetze außer K r a f t gesetzt worden wären. Hier w i r d jedenfalls anzunehmen sein, daß der Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber i m Hinblick auf Bundesrecht nicht mehr vollziehbar ist. Der gesamte einschlägige Sachverhalt muß sich jetzt am Bundesrecht ausrichten. Auch die Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz von 1947 bekennt sich deutlich zur Sozialisierung bestimmter Betriebe, ohne daß davon erkennbare Wirkungen ausgegangen wären. Der Staat, so heißt es dort, hat durch Gesetz . . . Schlüsselunternehmungen (Kohlen-, Kali-, Erzbergbau, eisenerzeugende Industrie, Energiewirtschaft sowie das an Schienen und Oberleitungen gebundene Verkehrswesen) i n Gemeineigentum zu überführen, wenn mit diesen Unternehmungen eine so große Macht verknüpft ist, daß sie ohne Gefährdung des Gemeinwohls der Privathand nicht überantwortet bleiben kann. „Diese Aufgabe ist unverzüglich nach Inkrafttreten der Verfassung i n Angriff zu nehmen." Ebenso kann, wie die Verfassung sagt, durch Gesetz eine Überführung von monopolartigen Unternehmungen i n Gemeineigentum erfolgen, wenn die Nutzung dem

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Gemeinwohl widerstreitet. Ich kann nicht erkennen, daß diese Aufgabe unverzüglich i n Angriff genommen worden ist. Während das Verhältnis der wirtschaftlichen und sozialen Lebensordnungen i n den Landesverfassungen zum Grundgesetz mitunter schwer bestimmbar ist, stoßen die kulturpolitischen Leitgrundsätze nicht i m gleichen Umfang auf Meinungsverschiedenheiten. Das Bundesverfassungsgericht hat i m Konkordatsurteil das Wort „ausschließliche Kulturhoheit der Länder" verwendet, dabei aber keinen Zweifel gelassen, daß sie nur so weit reicht, als das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. I n einem expansiven Sinn ausschließlich ist sie also nicht. Die Zuständigkeit spricht zwar zugunsten der Länder; das Grundgesetz hat aber einige und zwar durchaus wesentliche Gebiete für den Bund i n Anspruch genommen. Das Bedeutendste hiervon sind nicht die Einzelaufzählungen i m Zuständigkeitskatalog des Grundgesetzes, als vielmehr die kulturellen Grundrechte, vor allem die Freiheit des Glaubens und Gewissens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, die Zusicherung ungestörter Religionsfreiheit, die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, die Freiheit der Kunst, Wissenschaft und Forschung sowie der Lehre, das elterliche Erziehungsrecht und die Gewähr staatlicher Schulgestaltung. I n den wesentlichen kulturpolitischen Regelungen stehen die Landesverfassungen i m Einklang m i t den hier genannten Bestimmungen des Grundgesetzes, selbst wo die Formulierungen variieren mögen. Die Landesverfassung von Rheinland-Pfalz hat die Abschnitte Schule, Bildung und Kulturpflege, sowie Kirchen und Religionsgemeinschaften besonders liebevoll behandelt. Das elterliche Erziehungsrecht hat sie zur Grundlage des ganzen Schulwesens gemacht, wie übrigens die Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen i n ganz ähnlicher Weise m i t einer vom Grundgesetz etwas abweichenden Formulierung, die aber, so möchte ich meinen, nicht unbedingt i m Gegensatz zum Grundgesetz verstanden werden muß. Schwieriger dürfte es sein, den Einklang des Landesverfassungssatzes, wonach die selbständige Abmeldung der Jugendlichen vom Religionsunterricht von der Vollendung des 18. Lebensjahres an möglich ist, m i t dem Bundesrecht zu vereinbaren, demzufolge sie vom 14. Lebensjahr an zulässig ist. Doch ist auch hier versucht worden, zu einer bundeskonformen Auslegung zu kommen, und zwar i n der Weise, daß Landesverfassungen aus der vorkonstitutionellen Zeit früheres Reichsrecht abgeändert haben und insoweit nach A r t . 125 Nr. 2 GG als regional beschränktes Bundesrecht i n K r a f t geblieben sind — eine kühne Konstruktion, die darauf hinausläuft, daß Sätze der geltenden Landesverfassung teilweise Bundesrecht sein können und daher von anderem, nämlich älterem Bundesrecht nicht außer K r a f t gesetzt werden. Die Problematik einiger anderer Rechtssätze aus der Landesverfassung deute ich i n der Weise an, daß ich sie lediglich zitiere; sie sprechen für

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sich, ζ. Β. „beim Aufbau des Schulwesens ist der Eigenart der männlichen und der weiblichen Jugendlichen Rechnung zu tragen" (also nicht etwa nur hinsichtlich der Fächer und der Methoden, sondern auch beim A u f bau, d. h. bei der Organisation). Oder: „Bei der Gestaltung des höheren Bildimgswesens ist das klassisch-humanistische Bildungsideal neben den anderen Bildungszielen gleichberechtigt zu berücksichtigen." Für die Bewegung zugunsten von Gesamtschulen und auch i n Hinblick auf die Zurückdrängung der Fächer des humanistischen Bildungsideals ist das nicht ganz ohne Hürde. Oder ein Beispiel aus der Verfassung von Hessen: „Das Recht der Eltern zur Erziehung der Jugend kann nur durch Richterspruch nach Maßgabe der Gesetze entzogen werden." Dadurch kann sicherlich nicht ausgeschlossen werden, das das Sorgerecht der Eltern durch ein Bundesgesetz, wenn es sich i m Rahmen des Grundgesetzes hält, auch ohne Richterspruch entzogen werden kann. E i n kurzer Rückblick auf die Lebensordnung i n den Landesverfassungen ergibt insgesamt folgendes: Die maßgebenden politischen Parteien i n den seinerzeitigen verfassunggebenden Versammlungen haben offensichtlich große Rücksicht aufeinander genommen. Die Parteien kamen einander i n der Formulierung der Verfassungssätze entgegen. Jede bemühte sich u m Verständnis für die Anliegen der anderen. So kamen nicht nur Formelkompromisse, sondern vielfach echte harmonische Entscheidungen zustande. Das erleichtert die verfassungskonforme Auslegung beim Vergleich m i t dem Grundgesetz.

m. Weniger Schwierigkeiten als die programmatischen Aussagen der Landesverfassung bereitet i m Verhältnis dieser Verfassungen zum Grundgesetz der innere staatsrechtliche Aufbau der Länder. Das Grundgesetz gewährleistet die Mobilität des politischen Grundbestandes eines jeden Landes. Es verlangt, daß die verfassungsmäßige Ordnung i n jedem Lande den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen sozialen Rechtsstaates entsprechen muß. Diese Begriffe müssen von den Ländern i n gleichem Sinn verstanden werden wie i m Grundgesetz. Das Grundgesetz nimmt nicht unmittelbare Inhaltsgestaltungen von Landesverfassungen i m Wege eines Durchgriffs vor, sondern es enthält Normativbestimmungen, an denen die Länder ihre Verfassungen ausrichten mußten oder müssen. Der Rahmen ist vom Grundgesetz abgesteckt; die Ausfüllung obliegt den Landesverfassungen. Ein Verstoß gegen den Rahmen würde den verstoßenden Landesrechtssatz nichtig machen. Der Grundkonsens unter den maßgeblichen politischen Kräften aller Länder über den Inhalt der Normativbestimmungen ist jedoch so weitgehend, daß Auslegungsunterschiede allenfalls i n Detailfragen auftauchen, nicht aber über die Wesensmerkmale selbst. Zum Bereich eigener Gestaltung einer Landesverfassung gehört es ζ. B., daß das plebiszitäre Element stärker oder weniger

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stark ausgeprägt sein kann. Daß Volksentscheide i m Grundgesetz auf zwei Fälle beschränkt werden, schließt nicht aus, daß sie von den Landesverfassungen auf andere Fälle erstreckt werden, was auch verschiedentlich geschehen ist. Auch Verfassungsänderungen können stärker oder weniger stark erschwert werden, m i t oder ohne Volksabstimmung; auch davon wurde Gebrauch gemacht. Landesverfassungen könnten zusätzlich zu Landesregierungen auch ein Landesoberhaupt, einen Staatspräsidenten, einführen, haben es aber i n keinem Land getan. Sie können ferner neben der volksgewählten Volksvertretung eine A r t zweiter Kammer aufstellen. Für deren Zusammensetzung und Aufgaben haben sie gewisse Variationsmöglichkeiten; davon ist nur i n Bayern m i t dem Bayerischen Senat Gebrauch gemacht worden. Das Wahlrecht zu den Landtagen kann m i t dem Ziel einer gerechten und klaren Widerspiegelung des Volkswillens mehr oder weniger kompliziert ausgestaltet werden. Landesverfassungen könnten eigene Landesangehörigkeiten vorsehen, zumal das Grundgesetz selbst sie bei der Regelung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes erwähnt. Doch hat sich kein Land dazu entschlossen, da sie praktisch gegenstandslos wäre, besonders auch i m Hinblick auf die Gleichstellung aller Deutschen, aus welchem Land sie auch kommen, hinsichtlich ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Die politische Entwicklung von dreißig Jahren hat ergeben, daß, anders als bei Schaffung des Grundgesetzes wohl angenommen worden war, Konflikte i n bezug auf diese Inhalte von Landesverfassungen nicht entstanden sind. Rechtliche Auseinandersetzungen haben sich nach einer ganz anderen Richtung ergeben. Sie sind i n der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes wohl nicht i n dieser Schärfe gesehen worden, aber bereits 1949 auf der ersten Kultusministerkonferenz von Bernkastel ausgetragen worden, nämlich hinsichtlich der Schaffung gemeinsamen Länderrechts durch Vereinbarung von Organen der Länder miteinander. Vom Grundgesetz her sind solche Vereinbarungen zulässig. Sicherlich können sich Vereinbarungen — etwa über Angelegenheiten des Schulrechts oder des Sicherheitsrechts — nur auf Gegenstände beziehen, die nach der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern durch das Grundgesetz Landesangelegenheiten sind. Eine konkrete Landesangelegenheit kann übereinstimmend für alle Länder gleichheitlich geregelt werden, und zwar ohne daß der Bund damit befaßt wird. Durch die Vereinbarung der Länder, jeweils i n ihrem Landesgebiet denselben Gegenstand ebenso zu regeln wie i n den anderen Ländern, w i r d der Gegenstand nicht auf die Ebene von Bundesrecht gehoben. Bundesrecht kann nur der Bund erlassen, und nur i n seinem Zuständigkeitsbereich. Vertraglich zwischen den Ländern vereinbartes Recht behält den Charakter von Landesrecht. Auch Gemeinschaftseinrichtungen aller oder einzelner Länder i m Bereich

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von Landesangelegenheiten gehören nicht einer dritten Ebene zwischen Bund und Ländern an. Die Lehre, daß Einrichtungen der sog. dritten Ebene entweder grundgesetzwidrig seien oder i n die Bundesebene gehoben würden, hat sich nicht durchsetzen können, da sie weder i m Grundgesetz noch i n den Landesverfassungen eine rechtliche Stütze findet. Die Vereinbarungen zwischen den Ländern werden keinesfalls Bundesrecht, und nur dann inneres Landesrecht, wenn das für den geregelten Gegenstand zuständige Landesorgan sie billigt. Das kann die Volksvertretung oder die Landesregierung oder ein Ressortministerium des Landes sein. Innerhalb einiger Länder haben sich weitere Auslegungsunterschiede ergeben, nämlich darüber, ob i n jedem Fall die Volksvertretung eingeschaltet werden muß oder ob ζ. B. bereits ein Ministerium Landesrecht schaffen kann. Die A n t w o r t hierauf kann nur die jeweilige Landesverfassung geben. Handelt es sich u m einen Staatsvertrag wie bei der Schaffung des Zweiten Deutschen Fernsehens als gemeinsamer Ländereinrichtung und bedarf ein Staatsvertrag nach der Landesverfassung der Zustimmung der Volksvertretung, so kann auch die gemeinsame Einrichtung nur auf diesem Wege zustande kommen. Rechtsträger einer solchen Einsetzung ist nicht eine über den Ländern stehende Ländergemeinschaft als juristische Person, was sie nicht sein kann, sondern je ein zu bestimmendes Land oder jedes einzelne an ihr beteiligte Land. Die Väter des Grundgesetzes haben ebensowenig wie die der Landesverfassungen vorausgesehen, welch gewaltiger Rechtssetzungsbestand sich auf diesem Wege angesammelt hatte. Herr Herzog hat bereits erwähnt, daß bis zum Jahre 1960, also i n den ersten zehn Jahren der Bundesrepublik, der Heidelberger Staatsrechtslehrer Hans Schneider 324 Ländervereinbarungen über gemeinsames Landesrecht zusammengestellt hat. I n den zwanzig Jahren seitdem ist das Material sprunghaft angestiegen. Eine neue Zählung liegt m. W. nicht vor. Der Bestand kann aber wohl auf mehrere tausend Vereinbarungen geschätzt werden, und er vermehrt sich von Jahr zu Jahr. Die Befugnis zum Abschluß solcher Vereinbarungen ist nicht i m Grundgesetz und i n den Landesverfassungen besonders zum Ausdruck gekommen. Sie kann aber nicht m i t überzeugenden Gründen geleugnet werden. Nach einem Wort von Hans Schneider ist sie eine föderalistische Selbstverständlichkeit. Ich möchte den Wert dieser Vereinbarungen weniger skeptisch bewerten, als dies Herr Herzog getan hat. Als Beispiel darf ich das Saarbrückener Schulabkommen des Jahres 1960 über die gymnasiale Oberstufe erwähnen. I n langen Besprechungen zwischen den Α-Ländern und den B-Ländern (bekanntlich so genannt je nach der Führung der Landesregierung durch die eine oder die andere der beiden großen Parteien) wurde eine Einigungsformel gefunden und i n den folgenden Jahren auch tatsächlich strikt durchgeführt. Gewisse Variierungen wurden ver-

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einbarungsgemäß zwar zugelassen, z.B. i n bezug auf die wählbaren oder ab wählbaren Leistungsfächer; der K e r n aber blieb gemeinsam. Z u den Normativbestimmungen des Grundgesetzes gehört es auch, daß den Gemeinden das Recht gewährleistet sein muß, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft i m Rahmen der Gesetze i n eigener Verantwortung zu regeln. Konfliktstoff enthält auch hier nicht das, was das Grundgesetz von den Ländern verlangt und die Landesverfassungen enthalten. Die Länder haben sich durchweg am Grundgesetz ausgerichtet. Aber es haben sich die faktischen Voraussetzungen zu Ungunsten der kommunalen Selbstverwaltung entwickelt. Den Anlaß oder Anstoß dazu bieten aber weder das Grundgesetz noch die Landesverfassungen, die beide noch von der Vorstellung gewachsener örtlicher Ordnungen und bürgernaher Einrichtungen kommunaler A r t ausgegangen sind, wie es sie heute nur selten mehr gibt. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Selbstverwaltung besteht weiterhin übereinstimmend i m Grundgesetz und i n den Landesverfassungen, ihre Bedeutung ist nur geringer geworden. Dazu hat neben der Fluktuation der Bevölkerung, dem w i r t schaftlichen Wachstum, den Finanzordnungen von Bund und Ländern wohl auch die kommunale Gebietsreform beigetragen, die keinen Verstoß gegen die Rahmenvorschriften des Grundgesetzes enthielt. Sie w i r d als eine durch die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse veranlaßte, auch durch das Sozialstaatsprinzip gebotene oder gedeckte organisatorische Maßnahme i m Einklang m i t dem Grundgesetz und den Landesverfassungen eingeschätzt, wodurch nicht ausgeschlossen ist, daß einzelne Aktionen gegen Landesverfassungen verstoßen haben mochten. Ein Vergleich der i n den Landesverfassungen einerseits und i m Grundgesetz andererseits verwendeten Begriffe zeigt folgendes Bild: Das Grundgesetz hat mitunter die Begriffe verwendet, die i n einer Schicht außerhalb des Grundgesetzes ausgebildet worden sind und dort Geltung erlangt haben. Z u dieser Schicht gehören neben anderen Rechtssätzen auch die vor dem Grundgesetz i n K r a f t getretenen Landesverfassungen. Das Grundgesetz, das wie jede Verfassung nur ein Konzentrat von begrenztem Umfang sein kann, hat sich damit zu Nutze gemacht, was anderwärts bereits durchdacht und festgelegt worden ist. I m einzelnen ist noch nicht untersucht worden, wie weit Begriffe des Grundgesetzes, die i m Wortlaut m i t solchen Landesverfassungen übereinstimmen, etwas anderes oder das Gleiche wie diese bedeuten sollen. Daß Begriffe, wie sozial oder Fürsorge, eine sinnvariierende Bedeutung haben können, ist sicher; aber selbst bei anscheinend feststehenden Bedeutungen, wie i n den Begriffen Bundesstaat oder Staatsaufsicht, braucht der Begriffsinhalt nicht der gleiche zu sein. I m Kommunalrecht beispielsweise bedeutet Staatsaufsicht lediglich Überwachung; dagegen w i r d „Staatsaufsicht 7 Speyer 78

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über das Schulwesen" als Lenkung des Schulwesens durch den Staat verstanden. I n aufschlußreichen Betrachtungen der Verfassungsauslegung hat Leusder Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfasner solche Begriffsverwendungen gewürdigt. Seine Monographie „Von sung" und seine Abhandlung „Grundgesetz nach Landesrecht" sind stark beachtet worden. Freilich kann nicht außer acht gelassen werden, daß manche Begriffe i n Landesverfassungen eine nach Ländern unterschiedliche Bedeutung haben könnten; i m Grundgesetz kann das gleichlautende Wort aber nur eine einheitliche, nicht nach Ländern differierende Bedeutung haben. Eine Übernahme i n das Grundgesetz kann keinesf alls die Wirkung haben, daß das Grundgesetz von etwaigen Änderungen der Landesverfassungen abhängen würde. Begriffe i m Grundgesetz haben einen vom Inhalt der Landesverfassungen losgelösten Eigenstand. IV. Das Verhältnis der Landesgrundrechte zu den Bundesgrundrechten hat i m Grundgesetz eine bemerkenswerte Regelung erfahren. Danach bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen insoweit i n Kraft, als sie i n Ubereinstimmung m i t dem Grundgesetz Grundrechte gewährleisten. Art. 142 GG wählte den Wortlaut, „auch" insoweit i n Kraft. Das kann aber nicht bedeuten, daß sie auch die Kraft bleiben, wenn sie nicht i n Übereinstimmung mit dem Grundgesetz stehen; das Wort „auch" ist insoweit irreführend. Gemeint mit ihm kann nur folgendes sein: die Annahme, daß sie außer Kraft treten, wenn sie mit dem Grundgesetz übereinstimmen, ist nach dem Willen des Grundgesetzes nicht zutreffend. Widersprechen sie aber dem Grundgesetz, so gilt der Vorrangsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht", der i n A r t . 142 auch noch ausdrücklich vorbehalten bleibt. Man sollte glauben, daß die Worte „ i n Übereinstimmung m i t dem Grundgesetz" volle Klarheit schaffen. Jedenfalls glaubten dies die Schöpfer des Grundgesetzes. Die Auslegungsschwierigkeiten, die der A r tikel verursacht hat, zeigen indessen, daß von Klarheit nicht gesprochen werden kann. Sicher ist, daß ein Gleichklang des Rechtsgehaltes der m i t einander zu vergleichenden Grundrechte i n jeder Richtung vorhanden sein muß, wenn ein Landesgrundrecht fortbestehen soll. Leisner hat dargelegt, daß die verschiedenen Normelemente des jeweiligen Grundrechts i m Grundgesetz und i n der betreffenden Landesverfassung getrennt einander gegenübergestellt werden müssen. Normelemente sind der A n spruchsinhalt: dann die i n den Grundrechtssatz eingebauten Beschränkungsmöglichkeiten; sodann die Festlegung des Grundrechtsträgers; und schließlich die Festlegung des aus dem Grundrechtssatz Verpflichteten, also des Grundrechtsadressaten. Es müssen nicht alle Grundrechtsele-

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mente miteinander i m Einklang stehen; dennoch kann Vereinbarkeit der Grundrechte gegeben sein. Gewährt der Landesverfassungsrechtssatz i m vergleichbaren Grundrechtselement das Gleiche oder sogar ein Mehr für den Gundrechtsträger, so ist das Landesgrundrecht mit dem Bundesgrundrecht vereinbar. Soweit das Landesgrundrecht i m vergleichbaren Normelement aber hinter den Normelementen des Bundesrechts zurückweicht, w i r d es durch das Grundgesetz außer K r a f t gesetzt; denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts w i l l Art. 142 GG einen Mindeststandard garantieren. Der Freiheitsgehalt des Landesgrundrechts, das weitergelten soll, darf nicht geringer sein als der Freiheitsgehalt des entsprechenden Bundesgrundrechts. Ein einfaches Beispiel kann das vielleicht veranschaulichen. Nach dem Wortlaut der rheinland-pfälzischen Verfassung haben uneheliche (künftig nichteheliche) Kinder den gleichen Rechtsanspruch auf Förderung wie eheliche Kinder. Nach dem Grundgesetz sind den unehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für die leibliche und seelische Entwicklung und die Stellung i n der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen. Der Anspruchsgehalt des Landesgrundrechts dürfte insoweit als weitergehend anzusehen sein, als darin ein unmittelbarer Anspruch des Grundrechtsträgers begründet ist, während das Bundesgrundrecht einen Auftrag an den Gesetzgeber erteilt; erst wenn dieser tätig geworden ist, kann geprüft werden, ob und gegebenenfalls i n welchem Umfang ein Rechtsanspruch besteht. Das hat keinen Einfluß auf die Geltung des Landesgrundrechts, gleichgültig welchen Inhalt das ergehende Gesetz hat; denn i n Vergleich zu setzen sind nur die Landesverfassung und das Grundgesetz. Es kann wohl auch keine Rolle spielen, daß für den Fall eines Unterlassens des Gesetzgebers durch langen Zeitablauf möglicherweise der Inhalt des Grundgesetzes auf die konkrete Entscheidung eines Streitfalls unmittelbar durchschlägt. Ein Bedenken aus einer anderen Richtung ergibt sich aus dem genannten Beispiel allerdings daraus, daß der unmittelbar wirkende Rechtsanspruch des unehelichen Kindes gebunden ist an den Inhalt des Rechtsanspruches, wie er ehelichen Kindern zusteht. Möglicherweise sind hier Zweifel erlaubt, weil der Rechtsanspruch nur auf Förderung gerichtet ist und weil vielleicht vergeblich nach einem Rechtsanspruch des ehelichen Kindes speziell auf Förderung durch den Staat gesucht wird. Da aber auch das Bundesgrundrecht lediglich von der Schaffung gleicher Bedingungen für eheliche und uneheliche Kinder spricht, w i r d man hier wohl kein Zurückbleiben des Freiheitsraums i m Landesgrundrecht anzunehmen haben. Die Normelemente „Grundrechtsträger" und „Grundrechtsadressaten" sind i n beiden Fällen die gleichen. Das Landesgrundrecht steht daher nach meiner Meinung i n Übereinstimmimg m i t dem Bundesgrundrecht, gilt also weiter. 7*

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Die Theorie des Mindeststandards hinsichtlich des Freiheitsraums eines Grundrechts leidet allerdings darunter, daß sie nur anwendbar ist bei Grundrechten, die einen Freiheitsraum gewähren. Bei anderen Grundrechten, etwa den sog. Teilhaberechten, w i r d man aber wohl analog verfahren dürfen. Man w i r d also vergleichen müssen, welchen Umfang die Teilnahme hat, die staatsrechtlich gesichert ist, und welche Einschränkungen i n solcher Hinsicht bestehen, z.B. hinsichtlich eines Gesetzesvorbehalts. Praktische Bedeutung hat die Weitergeltung von Grundrechten i n Landesverfassungen vor allem deshalb, w e i l davon abhängt, ob ein Verfassungsgericht des Landes angerufen werden kann, von dem sich vielleicht der Beschwerdeführer mehr erwartet als vom Bundesverfassungsgericht. Vielleicht erwartet er sich umgekehrt gerade vom anderen Weg mehr für seinen Anspruch. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, die aber nicht unbestritten geblieben ist, handelt es sich bei den zu vergleichenden Grundrechtssätzen um das gleiche Grundrecht. das mehrfach gesichert ist. Daher kann das Verfassungsgericht des Landes oder das Bundesverfassungsgericht oder es können beide angerufen werden, sofern jeweils die besonderen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Widersprechende Entscheidungen sind nicht ausgeschlossen, können aber hingenommen werden, da sich jede Entscheidung nur auf den Wirkungsbereich bezieht, der dem entscheidenden Gericht zukommt. Eine Bindung eines Landesverf assungsgerichts an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum gleichen Sachverhalt besteht nicht, da es sich u m Auslegung und Anwendung verschiedener Hechtsnormen handelt. V. Zum Abschluß soll aus dem Verhältnis von Landesverfassung und Grundgesetz wenigstens noch ein Thema kurz berührt werden: die Bundestreue. Unerläßliche Voraussetzung eines bundesstaatlich gegliederten Staates ist es, daß Gesamtstaat und Gliedstaaten i n einem Grundkonsens über eine einheitliche Ausrichtung der Staatspraxis stehen müssen. I n der Zeit der Weimarer Verfassimg und schon am Ende des Kaiserreichs sollten etwaige Lücken i m Konsens durch die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten geschlossen werden. Das Bundesverfassungsgericht sprach schon i m ersten Band seiner Entscheidungen von der Rechtspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten. Daneben bürgerte sich der Begriff Bundestreue m i t gleicher Bedeutung ein. Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff Bundestreue bis i n die sechziger Jahre hinein gebraucht, ζ. B. noch i m Streit u m das Zweite Deutsche Fernsehen. Die Pflichten aus der Bundestreue treffen beide Partner i m gegenseitigen

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Verhältnis und zwar so, daß sich kein Teil seiner Pflicht durch den Nachweis entziehen kann, der andere sei seiner Pflicht ebenfalls nicht nachgekommen. Die Pflicht eines Landes bezieht sich nicht bloß auf seine Handlungen, sondern auch darauf, den Inhalt seiner Landesverfassung so einzurichten, daß für den Bund und die anderen Länder keine schädlichen Auswirkungen bestehen. Einem Landesgesetzgeber, der das Grundgesetz und die Landesverfassung beachtet, kann aber — wiederum nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — nur dann ein Verstoß gegen die Bundestreue vorgeworfen werden, wenn er seine Ermessensfreiheit zu Ungunsten des Bundes oder anderer Länder mißbraucht. Ungeachtet der grundsätzlichen Bedeutung der Bundestreue hat sie i n der jüngsten Vergangenheit kaum mehr eine Rolle gespielt. Es ist still u m diesen Begriff geworden, wohl deshalb, weil kein Anlaß mehr bestand, auf ihn zurückzugreifen. Wenn das so ist, dann beweist dies wohl, daß sich das Verhältnis auch der Landesverfassungen zum Grundgesetz eingespielt hat. Trotz sachlicher Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern brauchen Lücken i m Grundkonsens nicht mehr durch eine griffige Auffangklausel geschlossen zu werden. Weder die Landesverfassungen noch das Grundgesetz enthalten Störelemente gegenüber den jeweils anderen Bereichen. Sie bilden zusammen ein abgestuftes, i n der Wirkung harmonisches Ganzes, i n dem Gegensätze und Streitfragen auf dem Boden des Rechts gelöst werden können und müssen, wie dies i n einem bundesstaatlich gegliederten Staat stets ein Ziel der rechtlichen Ordnung sein muß.

Verfassungskontrolle durch Verfassungsgerichtsbarkeit Von Ernst Benda

I. 1. I m Blick auf die Verwaltungsgerichte ist einmal sehr bildhaft gesagt worden: „ . . . sie haben den ihnen zugeschobenen vollen Becher der Verantwortung bis zur Neige geleert. Manchmal haben sie sich auch unaufgefordert nachgeschenkt." Und i n einer auch sonst bemerkenswerten Habilitationsschrift w i r d angefügt: „Trinken macht Durst". Wenn man die öffentliche K r i t i k der letzten Jahre verfolgt hat, konnte der Eindruck entstehen, nun sei auch das Bundesverfassungsgericht auf den Geschmack gekommen. U m so größer ist dann offenbar die allgemeine Freude, wenn nach Zeiten vorgeblicher Abschweifungen ernsthafte Zeichen von Abstinenz festgestellt werden. Wer heute einen Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes i m 30. Jahr unseres Grundgesetzes werfen w i l l , kann sich den Problemen von Kompetenzausübung und angeblicher -Überschreitung nicht entziehen. Deshalb verstehe ich meine Überlegungen als Beitrag zu der so aktuellen wie klassischen Abgrenzungsfrage: wo ist der Rubikon? 2. Diese Zuspitzung rechtfertigt es, Einzelstimmen zu vernachlässigen, die bereits die Institution i n Frage stellen. Ich gehe davon aus, daß noch immer ein breiter Konsens über die grundsätzliche Notwendigkeit eines „Hüters der Verfassung" besteht. Aber welche Rolle entspricht diesem Bild? Schon hier beginnen Differenzierungen und Differenzen. Ist das Gericht eine A r t Waldhüter, der nur eingreift, wenn der von den Verfassungsvätern gesetzte Normbestand ausgehöhlt oder vielleicht sogar i n aller Heimlichkeit abgeholzt wird? Wer dergestalt „auf der H u t " ist, w i r d manchen Waldfrevel ahnden oder von vornherein verhindern. Das ist eine nicht geringe Aufgabe. Aber ich bin sicher, daß die Mitglieder des Gerichts sich von Anfang an nicht nur i n einer solchen Rolle des Waldhüters, schon gar nicht lediglich als „fleet i n being" gesehen haben.

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Schon i n einer sehr frühen Entscheidung (BVerfGE 2, 351 [359]) heißt es, das Gericht habe „ohne Rücksicht auf die mehr oder weniger große A k tualität des Falles das Verfassungsrecht durch Entscheidungen zu entwickeln und den Rechtsfrieden für die Zukunft zu sichern". E i n solches Selbstverständnis ist nicht — oder nicht i n erster Linie — das eines Wachhundes, der ein m i t 146 trigonometrischen Punkten sauber vermessenes Rechtsgebiet umkreist. Dieses B i l d geht von einem eher statischen Verfassungsverständnis aus, von einem Grundgesetz, i n dem eigentlich alle Probleme vorgedacht und die Entscheidungen ablesbar sind, und wo wirklich streitige Auslegungsfragen immer seltener werden. Ganz anders versteht sich eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die i m Sinne der zitierten Entscheidung das Grundgesetz eher dynamisch sieht, nämlich als die Herstellung oder Feststellung eines Konsenses über die wesentlichen Grunddaten der i m Staat organisierten Gemeinschaft. Hier muß sich das Gericht immer neu bemühen, den einmal verankerten Konsens i n die jeweilige Zeit zu übertragen. Daraus folgt die beständige Aufgabe der Aktualisierung und Konkretisierung der Verfassung. Der Verfassungsrichter gestaltet das Verfassungsrecht m i t und bildet es fort. Das Bundesverfassungsgericht, nicht die jeweilige Parlamentsmehrheit, ist der vom Grundgesetz eingesetzte Treuhänder des Verfassunggebers. Es hat legitimen Anteil am pouvoir constituant, soweit dieser durch Rechtsfindung ausgeübt wird. Der Richter setzt dabei nicht sein Wollen an die Stelle der Verfassungsnorm; er dient dem jeweils i m Grundgesetz verankerten W i l l e n des Herrn der Verfassung, des Verfassunggebers, unabhängig davon, ob dieser i n der Urfassung vor 30 Jahren oder i n einer Verfassungsänderimg gesprochen hat. Daß der Grundgesetzgeber seinen Willen oft nur i n allgemeinen und der Konkretisierung bedürftigen Rechtsbegriffen geäußert hat und das Gericht ihn daher interpretieren muß, ist ein Problem jeder Rechtsfindung; es ändert nichts an der Rollenverteilung zwischen Herrn und Hüter der Verfassung. Denn dem Verfassunggeber — bei uns der Vs-Mehrheit i n Bundestag und Bundesrat — bleibt es unbenommen, eine aus seiner Sicht falsche oder zu weitgehende Interpretation durch Verfassungsänderung ins Lot zu bringen. I n einem so verstandenen B i l d vom „Hüter der Verfassung" steckt natürlich etwas von jenem anfangs geschilderten „auf der H u t sein", aber eben auch ein Element des Hegens und Pflegens, des „In-die-ObhutNehmens" unserer Verfassung. Je mehr der zeitliche Abstand vom Entstehungszeitpunkt des Grundgesetzes, die sich mehr und mehr ergebende Veränderung der Verhältnisse und der Wandel der Auffassungen sich auswirken, desto bedeutsamer, aber auch anspruchsvoller w i r d die A u f gabe, die Geltungskraft der Verfassung immer neu zu beleben, ihr A n t -

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Worten auf neue Fragestellungen zu entnehmen und das Bewußtsein wachzuhalten, daß auch die i m politischen Raum getroffenen Entscheidungen auf dem Boden des Grundgesetzes bleiben müssen, das keine wertfreie und wertneutrale Ordnung sein w i l l . 3. Bei diesem Verfassungsverständnis des Gerichts liegt es durchaus nicht i n seinem Belieben, sich i n politische Auseinandersetzungen einzumischen oder sich herauszuhalten. Der beliebte Appell an die Richter — videant judices! — zum judicial self-restraint, zur Zurückhaltung, zur „Weisheit", womit zuweilen die Bitte gemeint ist, keinen Ärger zu machen, erweckt den Anschein, daß es nur am guten oder bösen Willen der Richter liege, also von einer letztlich politischen Entscheidung abhänge, wieweit sie i h r Prüfungsrecht ausdehnten. I n Wirklichkeit kann, wie das Gericht i m Grundlagenvertragsurteil formuliert hat, selfrestraint niemals Verzicht auf Kompetenzen, also auf die Wahrnehmung seiner Verfassungsaufgabe bedeuten, sondern allein den Verzicht, Politik zu treiben. Soweit das Gericht m i t der Bitte u m Zurückhaltung beschworen werden soll, nicht i m politischen Streit Partei zu ergreifen, steckt darin nicht mehr als die Erinnerung an eine selbstverständliche Pflicht jedes Richters. Aber es gibt auch differenzierte Ansätze, die w i r nicht verkennen wollen. So w i r d dem Gericht entgegengehalten, auch ohne politische Parteinahme könne ein Verfassungsgericht den Grenzfluß zum Politischen überschreiten — möglicherweise unbewußt, vielleicht aber auch nicht ungern mitgerissen vom eigenen Gestaltungswillen, ja, m i t einer kleinen Prise „dolus eventualis". Bei dieser Argumentation geht es dann nicht mehr darum, daß das Bundesverfassungsgericht überhaupt i n politisch brisanten Verfahren Recht spricht — das w i r d zugestanden —, oder um den V o r w u r f unzulässiger Parteinahme — das w i r d von diesen K r i t i kern nicht behauptet. Es geht u m die A r t und Weise einer i m Grundsatz nicht bestrittenen Kompetenzausübung durch verfassungsgerichtliche Kontrolle. Π. Folgen w i r diesem Ansatz, dann zeigt sich schnell, daß ein Bedarf besteht an einer sorgfältigen Diskussion über verfassungsrechtliche A b grenzungs- und Methodenfragen. Beteiligte sind hier i n erster Linie Rechtswissenschaft, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. Zugleich w i r d schon bei einer ersten Bestandsaufnahme bewußt, wie wenig die bisherige Auseinandersetzung die ganze Fülle verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zur Kenntnis nimmt und wie wenig eigentlich auch von der Rechtswissenschaft das reichhaltige Entscheidungsmaterial jenseits

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der großen Fälle unter dem Gesichtspunkt unserer Fragestellung aufbereitet ist. 1. Mag man auch Rechtstatsachenforschung und das Abzählen und Durchsehen vieler Entscheidungen für weniger geistvoll halten als Vermutungen über den politischen Hintergrund der Gerichtsmitglieder, so ist doch meiner Ansicht nach der Blick auf die Fakten ein viel zu selten benutztes Hilfsmittel ernsthafter Dispute über unser Thema. Einen Punkt möchte ich beispielhaft aufgreifen. Haben eigentlich wirklich seit 1969 die Verfahren der abstrakten Normenkontrolle unverhältnismäßig zugenommen, und gibt es Anhaltspunkte dafür, i m Rahmen der abstrakten Normenkontrolle habe das Bundesverfassungsgericht etwa besonders leicht der Versuchung zur politischen Grenzüberschreitung nachgegeben? Was sind die Tatsachen? Damit einmal an einer Stelle ein Anfang gemacht wird, habe ich m i r die Verfahren der sog. abstrakten Normenkontrolle seit 1951 angesehen, also die F-Sachen, wie sie nach dem Aktenzeichen genannt werden. Schon die schlichte Zusammenstellung der F-Aktenzeichen unserer Geschäftsstellen erschüttert die Vermutung, die Zahl sei i n den letzten Jahren erheblich angestiegen. Von 1951 bis 1970 sind 50, von 1971 - 1978 21 Verfahren dieser A r t registriert worden; das ergibt statistisch zunächst etwa 2,5, dann nicht mehr als 2,6 Aktenzeichen pro Jahr. Diese Zahlen sind allerdings nur ein erster Anhaltspunkt, zumal sich die Zahl 71 schnell verringert, wenn man einige rein geschäftsmäßige Umtragungen, Erledigungen auf sonstige Weise usw. abrechnet. Es entspricht auch gerichtlicher Übung, gleichgerichtete Anträge zu einem Verfahren zu verbinden. Drei F-Verfahren schließlich waren Ende 1978 noch nicht abgeschlossen. So reduziert sich das von m i r zugrundegelegte Prüfungsmaterial auf insgesamt 37 veröffentlichte Senatsentscheidungen, von denen ich wiederum vier wegen ihrer eher formalen Natur vernachlässigen möchte. I m Blick auf die verbleibenden 33 Verfahren mag zunächst von Interesse sein, wer der Antragsteller war. Entgegen verbreiteter Erwartung haben die jeweiligen Oppositionsparteien von der Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle nur sparsam Gebrauch gemacht: vor 1966 die SPD zweimal, nämlich i m Streit um den Verteidigungsbeitrag und i n der Auseinandersetzung um das Saarstatut, nach 1969 die CDU/CSU ebenfalls zweimal, i m Streit um die Fristenlösung und u m die Neuregelung des Zivildienstes. Es gab auch einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP gegen das Sammlungsgesetz, das als Landesgesetz weiter galt. Viel häufiger wurden die juristischen Angriffe durch die Länder vorgetragen, die der jeweiligen Oppositionspartei i m Bundestag politisch nahestanden.

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K l a r an der Spitze liegen bei diesen 33 Verfahren der Freistaat Bayern m i t 11 Anträgen und Hessen m i t 9; die anderen Länder folgen mit Abstand: Baden-'Wurtemberg (einmal Wü-Ba) und Rheinland-Pfalz m i t je 5 Anträgen, Nordrhein-Westfalen m i t 4 Anträgen, Bremen, Hamburg und Niedersachsen m i t je drei, das Saarland und Schleswig-Holstein m i t je einem Antrag. Die Bundesregierung hat i n vier Fällen Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, die auch zu einer Sachentscheidung führten, eingeleitet. Man darf vermuten, daß sich die i n der Initiative und i n der Durchführung der Verfahren führende Rolle der Länder, vor allem Bayerns und Hessens, daraus ergibt, daß i n den Staatskanzleien der Landesregierungen ein ausreichender Stab qualifizierter Juristen zur Verfügung stand, der bei den Bundestagsfraktionen zumal bei deren recht mangelhafter personeller und finanzieller Ausstattung i n den Anfangs jähren nicht ohne weiteres vorhanden war. Daneben dürfte — i m Fall Hessen — etwa die verfassungsrechtlich besonders engagierte und sachkundige Persönlichkeit des Ministerpräsidenten Zinn eine besondere Rolle gespielt haben. Eine Vorsortierung der entschiedenen Verfahren nach Anlaß und Gegenstand reduziert die Zahl der für unsere Ausgangsfrage relevanten Senatsentscheidungen weiter: Neben dem parteipolitisch nicht umstrittenen Antrag zum Sammlungsgesetz waren zunächst vier weitere Verfahren ohne besondere Brisanz. Hier hielten Landesregierungen bestimmte Normen für überprüfungsbedürftig, deren Verfassungsmäßigkeit durch Gerichtsentscheidungen i n Zweifel geraten war. Sie behandelten der Sache nach wichtige, aber dem Parteienstreit entzogene Einzelpunkte wie die Änderung eines Landgerichtsbezirks, den Anbau von Weinreben, Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz oder die Geltung der 5-°/o-Klausel bei Gemeindewahlen. Zweimal erwiesen sich überprüfte Normen als nichtig, i n zwei Fällen als mit dem Grundgesetz vereinbar. A u f der kleiner werdenden Liste — 28 Verfahren bleiben — lassen sich bei weiterer Grobsortierung zwei Gruppen unterscheiden, bei denen es i m ersteren Fall um Fragen der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern, das Prinzip der Bundestreue, die Finanzverfassung oder sonst u m das Bund-Länder-Verhältnis geht. Dies sind 17 Verfahren; dazu nur einige Stichworte: Apothekenstoppgesetz, Ausgleichsbeträge i m Gesetz zu A r t . 131, Finanzausgleich, erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts, Tilgung von Ausgleichsforderungen, Preußischer Kulturbesitz, Beamtenrechtsrahmengesetz, Kreditwesengesetz, Reinhaltung der Bundeswasserstraßen, Jugendwohlfahrtsgesetz, Kapitalverkehrssteuergesetz, Eisenbahnkreuzungsgesetz, Mehrwertsteuer für Rundfunkanstalten, Hess. Richteramts- und Besoldungsgesetze, Städtebauförderungsgesetz und Landesquoten i m Hochschulrahmengesetz. Die

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teilweise politisch erhebliche Bedeutung dieser Entscheidungen ist nicht zu bestreiten, aber politische Kontroversen i m landläufigen Sinne enthalten wenige der Verfahren. Die Trefferquote ist annähernd gleich: neunmal wurden die angegriffenen Normen für m i t dem Grundgesetz vereinbar gehalten, i n 8 Entscheidungen wurden die Regelungen ganz oder teilweise für nichtig erklärt. I n einem dieser Fälle, dem Angriff der Bayer. Staatsregierung auf das Apothekenstoppgesetz, wurde zwar gegen die bayerische Meinung die Bundeszuständigkeit bejaht, das Gesetz aber aus einem anderen Grund (Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip) für nichtig erklärt. So verbleiben eigentlich nur 11 Verfahren, deren Gegenstand von erheblicher politischer Brisanz war und bei denen, wenn überhaupt, von einer „Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit den Mitteln der abstrakten Normenkontrolle" gesprochen werden könnte. I n vier Fällen scheiterte der Angriff der i m politischen Streit Unterlegenen auch vor dem Bundesverfassungsgericht: Der Kampf um den Wehrbeitrag endete damit, daß der Antrag der Mitglieder der SPD-Fraktion vor Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes für unzulässig erklärt wurde; erfolglos blieb der rechtliche Vorstoß der SPD gegen das Saarstatut ebenso wie i m Prinzip der Antrag des Landes Hessen gegen die Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, aber auch die Normenkontrollanträge der Länder Rheinland-Pfalz und Bayern gegen das 4. Rentenversicherungs-Änderungsgesetz, m i t dem die Stellung des von der Opposition mehrheitlich beherrschten Bundesrates gefestigt werden sollte. Erfolgreich waren die Anträge Hessens gegen die steuerrechtlichen Regelungen für Parteispenden und gegen die unmittelbare Parteifinanzierung über den Bundeshaushaltsplan. Ebenfalls zweimal siegte die parlamentarische Opposition, unterstützt durch befreundete Bundesländer — und zwar i m Streit u m die Fristenlösung und i m Verfahren über die jüngste Novelle zum Wehrpflichtgesetz. Die Bundesregierung vereitelte einmal den Versuch der Opposition, durch Gesetze über Volksbefragungen den politischen Streit u m die atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu ihren Gunsten zu entscheiden. Es bleibt das Verfahren zum Grundlagenvertrag, das der Freistaat Bayern eingeleitet hat. Das Zustimmungsgesetz wurde für m i t dem Grundgesetz vereinbar erklärt, aber aufgrund der verfassungskonformen Auslegung w i r d auch von den Antragstellern ein Punktgewinn i n Anspruch genommen. N i m m t man dieses als eine A r t Unentschieden, so ergibt sich ein Verhältnis von 5 :4 zugunsten derjenigen, die ihre politischen Ziele m i t verfassungsrechtlichen Mitteln und Argumenten zu erreichen suchten — statistisch gesehen fast ein Zustand echter Ausgewogenheit. Für

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politisch besonders bedeutsam halte ich schließlich den erfolgreichen Streit der bremischen Regierung gegen die eigene Parlamentsmehrheit, die i m Personalvertretungsgesetz durch die Einrichtung von Einigungsstellen i n Personalangelegenheiten den Vorsitzenden der Bürgerschaf t als Vorsitzenden der Einigungsstelle zum, wie es i n der Entscheidung heißt, „Nebenvorgesetzten aller Bediensteten" machen wollte. M i t dieser Entscheidung ist die Klischeevorstellung, daß die gewaltenteilende Grenze heute nicht mehr zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen Mehrheit und Minderheit verlaufe, durchbrochen worden. I n der zu Unrecht vergessenen Entscheidung stehen Sätze, die es wert sind, i n die Erinnerung zurückgerufen zu werden: „Die demokratische und rechtsstaatliche Herrschaftsordnung des Grundgesetzes setzt erkennbare Verantwortlichkeit i m Staat und i m besonderen eine verantwortliche Regierung voraus"; „die selbständige politische Entscheidungsgewalt der Regierung, ihre Funktionsfähigkeit zur Erfüllung ihrer verfassungsgemäßen Aufgaben, ihre Sachverantwortung gegenüber Volk und Parlament sind zwingende Gebote der demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung". Gerade diese Sätze besagen etwas über den Rang, den das Gericht der Arbeit der Regierung beimißt. — Man kann natürlich über alles streiten und besonders gut über die Aussagen einer Statistik. Ich w i l l die hier mehr beispielhaft eingeschobenen Zahlen auch nicht überbewerten. Nicht zu bestreiten dürfte aber wohl folgendes sein: Sieht man einmal von der Frage ab, ob überhaupt i n einem Fall der eine oder andere Grenzübertritt erfolgt ist, so w i r d schon bei einer ersten Auflistung erkennbar, daß die i m Blickpunkt der öffentlichen Diskussion stehenden spektakulären Themen nur einen kleinen Teil jener Entscheidungen ausmachen, die i n einer besonders bedeutsamen Verfahrensart ergangen sind. Wenn man — so ist ein Teil der öffentlichen Argumentation zu verstehen — eine Grenzüberschreitung des Bundesverfassungsgerichts als eine A r t vordergründige Einmischung i n politisch brisante Probleme versteht, dann ist jedenfalls der V o r w u r f schon statistisch nicht zu halten, das Gericht hätte gerade i n der Verfahrensart der abstrakten Normenkontrolle dem eigenen Gestaltungsdrang folgend besonders gern zugegriffen. Von dieser Handvoll Verfahren bleiben i m Grunde nur drei, die immer wieder zitiert werden: die Entscheidungen zum Grundlagenvertrag aus dem Jahre 1973, zur Fristenregelung aus dem Jahre 1975 und zur Wehrpflichtnovelle vom A p r i l des vergangenen Jahres. Und i m Blick auf k r i tisierte Entscheidungen aus anderen Verfahrensarten darf ich nur anmerken, daß es auch insoweit nur ganz wenige der immerhin rund 20 000 Druckseiten umfassenden Senatsentscheidungen sind, auf welche die K r i t i k m i t all ihren Vermutungen und wie ich meine gefährlichen Verallgemeinerungen jedenfalls bis vor kurzem zurückgegriffen hat.

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Immerhin, es bleibt eine gute Handvoll von Urteilen und Beschlüssen, über die polemisch, aber auch durchaus ernsthaft gestritten wird. Nachdem ich meinen Gedankengang bis hierher entwickelt habe, könnte die Erwartung entstehen, daß ich die verbleibende Zeit dazu nutze, jene besondere Gruppe von Entscheidungen Satz für Satz zu sezieren und Schlüsse zu ziehen. Dieses würde ich gern tun, wenn ich nur als Wissenschaftler vor Ihnen stünde. Aber ich bitte um Verständnis, wenn ich zwar weiter zum Thema Grenzüberschreitung, nicht aber i m Detail über einzelne Entscheidungen sprechen möchte. Lassen Sie mich diese Gelegenheit nutzen, um am Rande ein paar Worte über die Beteiligung von Verfassungsrichtern an solchen Diskussionen einzuschieben. So ist i n den letzten Jahren Klage geführt worden, daß Richter gegen K r i t i k besonders empfindlich seien. Es heißt auch, daß sie sich ungern auf Sachdiskussionen einließen. Den ersten Vorwurf habe ich schon bei anderer Gelegenheit als nicht belegbar zurückgewiesen: allergische Reaktion des Gerichts komme allenfalls vor, wenn bei i h m der Eindruck entstünde, es solle unter Druck gesetzt und damit i n der Erfüllung seiner nur i n voller Unabhängigkeit zu leistenden Aufgabe behindert werden. Eher t r i f f t es zu, daß die Mitglieder des Gerichts Sachdiskussionen nur behutsam und zu gewissen Zeiten am liebsten gar nicht führen. Der Grund hierfür liegt nicht darin, daß sie etwa Journalisten — wie es einmal formuliert worden ist — generell für „nicht satisfaktionsfähig" hielten. Die Schwierigkeit, die einem offenen Dialog entgegensteht, ergibt sich vielmehr aus dem Richteramt selbst: Diskussionsbeiträge, zumal die von politischer oder publizistischer Seite, verfolgen ja nicht lediglich den Zweck, mehr Grundsätzliches zu erörtern, sondern knüpfen gerade an aktuelle Verfahren an, auch wenn dieses unerwähnt bleibt. Daß der Richter sich nicht zu einer vor der Entscheidung stehenden Sache äußern darf, ist selbstverständlich. Ebenso wenig aber sollte er ergangene Entscheidungen i m einzelnen verteidigen oder kritisieren; die Entscheidung und ihre Gründe müssen für sich selbst sprechen. Das Beratungsgeheimnis hindert ihn, weiteres über die Gedankengänge zu berichten, an denen er selbst beteiligt war, und mindestens die kollegiale Höflichkeit verbietet es, Entscheidungen des anderen Senats zu kommentieren. Aber zu diesem Gebot richterlicher Selbstbeschränkung t r i t t auch ein sachlicher Grund, die zur Verfügung stehende Zeit nicht zu einer allzu intensiven Analyse jener vielzitierten Entscheidungen zu verwenden. So verlockend dies sein könnte, so darf man vor dem Hintergrund unseres Gesprächsthemas doch nicht bei diesen spektakulären Fällen stehen bleiben. Diese Fälle sind wichtig, zumal sie möglicherweise erhebliche politische Folgen auslösen können — für mich sind die etwa 60 bis 80 Entscheidungen beider Senate, die jährlich und meist ohne besondere öffentliche Anteilnahme verabschiedet werden, für die Wahrnehmung des verfas-

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sungsrechtlichen Auftrages bei weitem wichtiger, wenn auch ihre W i r kungen sich nur i n kleineren Schritten äußern, oft von Fall zu Fall fortschreitend und deshalb auch von der Wissenschaft nicht immer wahrgenommen. Wo aber — auch i m Hinblick auf das eingangs umschriebene Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts — ganz wesentliche Elemente der Kompetenzausübung und der eigentlichen Entfaltung abseits der politischen brisanten Tatbestände liegen, dort kann eine Untersuchung zum Thema Kompetenzüberschreitung nicht jene Fälle außer acht lassen, i n denen ebenso oder stärker „lebendige Verfassung geschieht". Ich möchte Ihnen bewußt machen, daß der gebannte Blick mancher Politiker und Journalisten auf einzelne Fälle verständlich, eine so getroffene Auswahl entgegen weit verbreiteter Auffassung für unsere Fragestellung aber wohl eher zufällig ist. Die Durchsicht der F-Sachen seit 1951 hat mich darin bestärkt. Die Herbeiziehung weniger plakativer Einzelfälle kann für eine systematische Aufarbeitung nicht ausreichen. 2. Es gibt einige Schriften zum Thema verfassungsrechtlicher Interpretation, es gibt auch i n jüngster Zeit nachdenkliche Aufsätze zu einzelnen Symptomen, welche die Judices beachten sollten. Insgesamt muß aber der Eindruck entstehen, daß die wenigen systematischen Ansätze die allgemeine Diskussion nicht erreicht haben. Meiner Ansicht nach wäre viel ereicht, wenn man sich m i t der Zeit auf möglichst breiter Ebene über einen Katalog verständigen könnte, oder über eine A r t konsensfähigen Maßstab, vor dem dann die Entscheidungen auf den Prüfstand gehoben würden. Das könnte jedenfalls undifferenzierter Polemik entgegenwirken. Auch hierzu w i l l ich hier nur einen Anstoß geben. Ich möchte versuchen, ein paar Elemente für einen solchen Katalog beizusteuern, — unter dem Eindruck der Verfahren zur abstrakten Normenkontrolle, i n Einbeziehung der einen oder anderen Anregimg aus der Literatur und vor dem Hintergrund meiner eigenen richterlichen Erfahrung bis i n die letzten Monate hinein. Dabei komme ich zunächst zu der These, daß es kaum möglich sein w i r d (von offensichtlichen Mißbrauchsfällen abgesehen), eine genau abgezirkelte Grenzlinie abzustecken. Auch das B i l d vom Grenzfluß ist wohl noch vereinfacht; auch Flüsse verändern ja ihre Breite, Tiefe und sogar ihren Verlauf. Dies bedeutet nicht, daß die Grenze zwischen Recht und Politik fließend wäre. Aber es soll heißen, daß ihre Linie vielfältig verwinkelt ist. Immerhin zeichnen sich verschiedene Grenzbereiche ab, die näher zu untersuchen wären. a) Da ist zunächst das weite Feld der Tatsachenfeststellung. Das Bundesverfassungsgericht n i m m t i n Anspruch, bei der Kontrolle einer Rechtsnorm auch das Rechtssetzungsverfahren einschließlich der Aufbe-

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reitung des Tatsachenmaterials i n seine Nachprüfung einzubeziehen. Dies hat innerhalb der F-Sachen eine Rolle gespielt z. B. i n den Verfahren zur Parteifinanzierung, zur Fristenlösung und zur Wehrpflichtnovelle. I n dem umstrittenen Urteil zu § 218 StGB ging es vorrangig um die Rechtsfrage, ob das Grundgesetz auch das werdende Leben als einen Höchstwert schützt und ob dies Recht etwa — nach einer i m Parlament vertretenen Meinung — gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht und der Menschenwürde der Frau während einer bestimmten Frist zurücktreten müßte. Nachdem das Gericht diese Zentralfrage entschieden hatte, hatte dies meiner Ansicht nach zwangsläufig Konsequenzen i n Richtung einer besonders intensiven Nachprüfung, ob sich der Gesetzgeber bei seiner Prognoseentscheidung über die Schutzwirkung der von i h m vorgesehenen flankierenden Maßnahmen hinreichend vergewissert hatte. Die Mehrheit des Senats hat die Ansicht vertreten, i m Zweifelsfall dürfe der Staat — jedenfalls bei Fehlen einer ernsthaften Güterkollision — nicht ohne weiteres auf das Schutzinstrument der Strafandrohung verzichten. War dies eine Grenzverletzung, d. h. keine Rechts-, sondern eine politische Entscheidung? Umgekehrt w i r d es kaum ohne Eindruck auf das Gericht bleiben, wenn ein Gesetz sich offensichtlich bewährt hat; obwohl es i m Rechtssinn einen „heilenden Effekt der Zeit" nicht gibt, w i r d er w o h l bei der Tatsachenfeststellung nicht ohne Bedeutung bleiben müssen. Z u diesem Grenzbereich von Tatsachenfeststellung und Prognose hat das Urteil zum Mitbestimmungsgesetz ganz wesentliche Akzente gesetzt; ich erinnere aber auch an die Kalkar-Entscheidung des Zweiten Senats. Die entsprechenden Passagen dieser jüngsten Entscheidungen möchte ich hier nicht wiederholen. Aber derartige Ansätze zu einer sachgerechten Differenzierung hatte ich i m Auge, wenn ich den Gedanken eines gemeinsamen Problem- oder Fragenkatalogs angesprochen habe. b) Einem zweiten Grenzbereich w i r d der Umstand zugeordnet, daß das Gericht neben Nichtigkeit und Verfassungsmäßigkeit eine große Variationsbreite seiner Tenorierung i n Anspruch nimmt: W i r unterscheiden eine ganze Skala fein abgestufter Rechtsfolgen: die Feststellung der Verfassungswidrigkeit, den Appell an den Gesetzgeber, die verfassungskonforme Auslegung. Ist es schon Grenzüberschreitung, wenn das Gericht bei der Auswahl der jeweiligen Variante möglicherweise die Wirkungen i m Auge hat, die von seinem Spruch i n die politische Realität ausstrahlen können? Es wäre jedenfalls auch hier m i t Sicherheit verfehlt, allzu einfache Grenzlinien einzuzeichnen. Aus der Sicht der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts haben sämtliche der genannten Modelle ihre Rechtfertigung. Es hängt von der

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Struktur des Streitgegenstandes ab, welches i m Einzelfall zum Tragen kommt. Ich sage dies auch durchaus i n Kenntnis der vielen zustimmenden Äußerungen zur Methode und zur Argumentation des Mitbestimmungsurteils. K r i t i k und Tadel der letzten Jahre habe ich erwähnt. Aber auch Lob hat j a zuweilen einen erzieherischen Hintergrund. Jede Zustimmung erfreut, zumal, wenn sie nicht einfach das Ergebnis, sondern die Anwendung unseres juristischen Handwerkzeugs meint. Dennoch muß ich vor dem Optimismus warnen, nun werde das Gericht die i n einem bestimmten Verfahren aus guten Rechtsgründen nicht benutzten Instrumente verfassungsgerichtlicher Entscheidungsfindung, durch vielfaches Lob erfreut, über Bord werfen. Ebenso, wie ich wenig Veranlassung sehe, m i r i m Rückblick auf die von m i r mitgetragenen Entscheidungen der letzten 7 Jahre den V o r w u r f mißbräuchlicher Handhabung anzuziehen, halte ich daran fest, daß die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Bandbreite auch i n Zukunft ein unerläßliches Hilfsmittel sein wird. Ich sage das gerade auch i m Blick auf die abstrakte Normenkontrolle. Hier kann es sogar einer Pflicht zur Fairneß gegenüber dem Gesetzgeber entsprechen, die Prüfung nicht nur auf die gerügten Verstöße zu begrenzen, sondern das Gesetz auf alle denkbaren Mängel m i t zu prüfen und den Gesetzgeber vor einer späteren Feststellung erneuter Verfassungsverstöße zu bewahren. Zuweilen ist auch der eine oder andere Hinweis des Gerichts an den Gesetzgeber schon aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit unverzichtbar. Wenn eine Norm aufgehoben wird, weil sie nach Auffassung des erkennenden Senats unverhältnismäßig ist, der Gesetzgeber aber vorgetragen hat, ein anderes M i t t e l habe nicht zur Verfügung gestanden, so muß das Bundesverfassungsgericht redlicherweise einen Weg aufzeigen, der nach seiner Auffassung gangbar gewesen wäre. Wenn dem Gesetzgeber dann ein anderes M i t t e l einfällt, das seinen Vorstellungen besser entspricht und gleichermaßen verhältnismäßig ist, w i r d das Bundesverfassungsgericht nichts einzuwenden haben. Aber zuweilen hat es den Anschein, daß sich der Gesetzgeber bequemt und sagt: nur dieser Weg ist verhältnismäßig und vom Gericht vorgeschrieben. Damit mag man die politische Auseinandersetzung abblocken, ein Argument für eine Grenzüberschreitung hat man i n diesem Falle nicht gewonnen. Ähnliches gilt, wenn der eine oder andere Halbsatz des Gerichts eifrig oder ängstlich als endgültige Weisung aufgegriffen wird. Wer die Entscheidungen des Gerichts auch unter diesem Gesichtspunkt Absatz für Absatz durchsieht, w i r d zu dem Ergebnis kommen, daß einige oberflächlich vorgetragene Attacken i n sich zusammenfallen. Und die immer wieder ins Gespräch gebrachte verfassungskonforme Auslegung ist doch bewußt als ein Weg entwickelt worden, die strenge Alternative des „Alles oder Nichts" zu vermeiden. Es muß auch legitim sein, der Gefahr des Umschlagens i n 8 Speyer 78

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einen verfassungswidrigen Zustand durch einen Appell an den Gesetzgeber vorzubeugen, einer eventuellen Pflicht zur Neuregelung oder A n passung an veränderte Verhältnisse nachzukommen. Ich w i l l damit nicht behaupten, daß verfassungskonforme Auslegung, Appellentscheidung oder obiter dictum i n allen Fällen notwendig sind oder auch nur notwendig gewesen sind. Ich persönlich würde eher zu einem vorsichtigen Gebrauch dieser Hilfsmittel neigen. Gleichwohl macht es sich derjenige zu leicht, der i n der Verfassungsrechtsprechung von einem kargen Ja-Ja oder Nein-Nein das Heil erwartet. c) Der dritte Bereich, i n dem immer wieder Vorwürfe einer Grenzüberschreitung anklingen, ist meiner Ansicht nach der schwierigste: der Prüfungsmaßstab selbst. Das Bundesverfassungsgericht ist legitimiert, i m Rahmen der Verfassungsauslegung am pouvoir constituant teilzuhaben. Viele Normen haben erst durch die Rechtsprechung Profil oder sogar Leben gewonnen. Und die i m Grundgesetz von seinen Vätern m i t bewunderungswürdiger Klugheit angelegten Möglichkeiten haben sich so entfalten können, daß die Bewährung unserer Verfassung nicht mehr ernsthaft bezweifelt wird. I n dem wieder vielzitierten Satz Adenauers „So haben w i r uns das nicht vorgestellt" mag immerhin auch eine Spur Anerkennung für die Intensität stecken, m i t der das Gericht seine Aufgabe wahrnimmt, vielleicht auch dafür, daß es ohne Machtstreben, sondern allein durch kontinuierliche Arbeit i n jetzt 28 Jahren an Eigengewicht gewonnen hat. Tatsächlich ist Verfassungsrecht über weite Strekken, was das Gericht daraus gemacht hat. Was davon war Grenzüberschreitimg? Und wie kann man diesen Bereich systematischer Erörterung zugänglich machen? Zunächst kann man die Fülle jener Entscheidungen aussortieren, i n denen der Prüfungsmaßstab vom Grundgesetz eindeutig festgelegt wird. Hierzu rechne ich etwa die Zuständigkeitsabgrenzungen. Zwar w i r d immer wieder i m Einzelfall streitig werden, ob ein Sachverhalt so oder anders zu subsumieren ist, aber das ist normal, so zweifelhaft, möglicherweise auch falsch, die A n t w o r t sein mag. Grenzüberschreitung i m hier verstandenen Sinne ist das nicht. Dies gilt auch wohl für die Entscheidungen, bei denen der Prüfungsmaßstab m i t den herkömmlichen Auslegungsmitteln konkretisiert werden kann. So dürfte wohl niemand von Grenzüberschreitung reden, wenn das Gericht selbstverständlich davon ausgeht, daß durch die Rundfunkfreiheit auch das Fernsehen geschützt wird. Hiervon löst sich ohne eindeutigen Übergang dann eine weitere Fallgruppe, bei der die Prüfung am Wortlaut ansetzt, diesen aber gleichzeitig inhaltlich ausgestaltet. Bekannte Beispiele bieten die ständig verfeinerte Ausfüllung des Eigentums begriff s oder die Unterscheidung zwischen Be-

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rufswahl und Berufsausübung. Das gleiche gilt verstärkt, wenn Rechtsbegriffe herangezogen werden, die bereits vom Wortlaut her unergiebig sind. Ich denke an die Verfassungsprinzipien des Rechtsstaates oder des Sozialstaates, an Willkürverbot, Verhältnismäßigkeit oder an die „an der Gerechtigkeit orientierte Betrachtungsweise". Hier kommt das Eigengewicht der Verfassungsrechtsprechung voll zum Tragen. Es wäre schon eine Aufgabe, i m einzelnen nachzuprüfen, ob und inwieweit innerhalb dieses Bereiches tatsächlich jene kritische Grenze erreicht wird, jenseits derer das Gericht, wie der Bundesjustizminister einmal schrieb, „sein Wertverständnis oder seine Wertinterpretation m i t der Behauptung, es sei die des Grundgesetzes, an die Stelle des Wertverständnisses oder der Wertinterpretation des Gesetzgebers setzt". Dieser Vorwurf wäre schlimm, wenn er belegbar wäre; denn Wertvorstellungen des Gesetzgebers dürfen, wenn die Entscheidung eine Rechtsentscheidung bleiben soll, nicht durch diejenigen der Richter, sondern allein durch die der Verfassung überwunden werden. Da die Entscheidungszuständigkeit, ob und was die Verfassung hierüber aussagt, nun einmal beim Gericht liegt, muß von dem K r i t i k e r der klare Nachweis dafür verlangt werden, daß die verfassungsgerichtliche Auslegung — auch etwa bei der Abwägung einer Güterkollision — rechtlich unhaltbar ist; andernfalls dürfte er einen so weitgehenden Vorwurf, der dem Richter eine Rechtsverletzung vorwirft, wohl nicht erheben, auch nicht, wenn er sich der Unterstützung durch eine abweichende Meinung versichern zu können glaubt. Wenn der überstimmte Richter — d e r mißverständliche oder zu mißbrauchende Formulierungen vermeiden sollte — seine Rechtsmeinung niederlegt, das Gericht habe sich an die Stelle des Gesetzgebers gestellt, so ist das eine Sache für sich. Aber der gleiche Vorwurf enthält eine eigene Dimension, wenn er aus dem politischen Raum erhoben w i r d ; dort klingt es leicht so, als werde dem Gericht schon seine Zuständigkeit zur authentischen und verbindlichen Verfassungsinterpretation bestritten, jedenfalls dann, wenn das Ergebnis politisch unerwünscht scheint. Wenn das nicht gemeint ist, sollte eine pauschal klingende Verurteilung der Entscheidungspraxis des Gerichts vermieden werden.

m. Irritationen sind, zumal bei politisch umstrittenen Fragen, unvermeidlich und sollten nicht überbewertet werden. Wichtiger ist, daß die Verfassungsorgane bei aller gebotenen, gewaltenhemmenden Distanz ihre Aufgabe i m partnerschaftlichen Sinne verstehen und ausüben. Dies sage ich nicht ohne Grund. Denn es ist nicht auszuschließen, daß w i r bei einer Fixierung auf gegenseitige Abgrenzungs- und Kompetenzprobleme eines Tages feststellen, daß w i r die Entwicklung eines neuen, viel tiefer gehen8*

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den Dilemmas verfassungsgerichtlicher Kontrolle aus dem Auge verloren haben: einer möglichen Labilisierung des staats- und gesellschaftspolitischen Grundkonsenses, der die bisherige Spruchpraxis — trotz aller Detailkritik — getragen hat. Wenn das Grundgesetz die Herstellung oder Feststellung des allgemeinen Grundkonsenses der i m Staat organisierten Gesellschaft sein soll, dann w i r d die Tragfähigkeit der Verfassung wie ihrer Interpretation i n dem Maße problematisch, i n dem dieser früher vorhandene Konsens verlorengeht oder auch nur unklar wird. Dabei geht es nicht u m die offene Absage an die Verfassungsordnung, sondern um das aus der Auflösung früher selbstverständlicher Wertvorstellungen, der Unsicherheit der Zukunftserwartungen, aus dem verbreiteten Gefühl des Ausgeliefertseins an eine ungewisse und bedrohliche Zukunft herrührende Defizit an einer konsensfähigen Theorie des Staates und der Gesellschaft. Das Wort von Forsthoff: „ W i r kennen die Welt nicht, i n der w i r heute leben", kennzeichnet knapp und treffend die Lage. Ungewiß scheint, ob zwischen den tragenden politischen Kräften, wie zuweilen behauptet, wirklich keine breite Basis gemeinsamer Grundüberzeugungen von Verfassungsrang mehr besteht; die bisherigen Verfassungsdebatten i m Deutschen Bundestag haben wenig Klarheit gebracht. Eine Bestandsaufnahme, die Konsens und Konflikt feststellt und auch bewertend ermittelt, welche bedeutenden Kontroversen unvermeidlich und nützlich sind, und inwieweit der Bestand der Verfassungsordnung ohne einen Grundkonsens i n Gefahr gerät, ist bisher nicht geleistet worden. Sie w i r d dringlich. Es liegt auf der Hand, daß die Aufgabe, zu dem Konsens des Grundgesetzes zurückzuführen, nicht allein und nicht einmal i n erster Linie vom Bundesverfassungsgericht geleistet werden kann; aber dieses kann und muß dort, wo das Grundgesetz bestimmte i m Wandel der Zeit unverrückbare Positionen bezogen hat, an ihnen unbeeindruckt durch modische Zeitströmungen festhalten, wenn es seine Aufgabe erfüllen w i l l . Der Vorwurf, es mische sich hierdurch i n die politische Auseinandersetzung ein, ist vielleicht unvermeidlich, aber nicht hinreichend begründet. I n jeder Entscheidung, die i n verfassungsrechtlichen Grundfragen an den durch das Grundgesetz gestellten Konsens erinnert, steckt zugleich der Appell an die politischen Kräfte, zu diesem Konsens zurückzukehren. Hält der Gesetzgeber ihn i m Licht der veränderten Verhältnisse für veränderungsbedürftig, muß der neue Konsens offen gesucht, also das Grundgesetz geändert werden. Solange dies nicht geschieht, kann das Bundesverfassungsgericht nur auf der Grundlage des geltenden Rechts entscheiden, sowie es dieses nach seiner eigenen rechtlichen Überzeugung ermittelt. Spannungen, die sich hieraus ergeben mögen, muß es ertragen. Wenn umgekehrt konkrete Anstöße zum Bemühen um diesen Konsens vom

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Gesetzgeber und den gesellschaftlichen Gruppen verstanden und innerlich akzeptiert werden, so kann das Gericht dies nur als Bestätigung und Ermutigung seiner täglichen Arbeit als Hüter der gemeinsamen Verfassung dankbar begrüßen.

Aussprache zu den Referaten von Theodor Maunz und Ernst Benda Bericht von Margarete M ü h l Prof. Dr. Papier, Bielefeld, wies i m Zusammenhang mit der von Präsident Prof. Benda erörterten Problematik zunächst darauf hin, daß i m Hinblick auf die Grenzziehung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Gewalt i n den letzten Monaten dem Bundesverfassungsgericht der V o r w u r f der Usurpation politischer Funktionen gemacht worden sei, ein Vorwurf, der indes durch das Mitbestimmungsurteil an Intensität abnehmen dürfte. Sodann wandte er sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gerichtsbarkeit der Instanzgerichte zu. Er gab zu bedenken, daß das Bundesverfassungsgericht i n Abkehr von den überlieferten Rechtsanwendungsmethoden eine wertorientierte Entscheidungsfindungsmethode anwende, die auf Topoi wie Wertordnung, Menschenbild, Güter- und Interessenabwägung, Zumutbarkeit u. a. gestützt sei und dadurch besondere Kompetenzprobleme bei der Kontrolle von Entscheidungen der Fachgerichte aufwerfe, wenn die Ausfüllung derartiger wertender Begriffe Gegenstand der zu entscheidenden Verfassungsfrage ist. Z u m Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsrecht einerseits und Wirtschaftsordnung, Wirtschaftsverfassung sowie Wirtschaftspolitik andererseits setzte sich Prof. Papier k r i tisch m i t der „staatspersonalen" Grundrechtsinterpretation auseinander, die seiner Ansicht nach i m Ansatz dem Mitbestimmungsurteil zugrunde liege. Er warnte vor der Gefahr, daß die Individualrechte (etwa A r t . 2 I, 9, 12, 14 GG) i n wichtigen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens leerlaufen könnten, sobald sie den Bereich des Persönlichen verlassen, wenn ihnen eine solche begrenzte Schutzfunktion zugemessen werde. Prof. Dr. Burmeister, Saarbrücken, dankte zunächst Herrn Präsident Prof. Benda für die „wohltuende Realanalyse" der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts i m Gegensatz zu den weit verbreiteten Diskussionen über die angebliche Usurpation politischer Macht. Z u diesem V o r w u r f wies er darauf hin, daß das Gewaltenteilungssystem i n der Form, wie es i m Grundgesetz konzipiert sei, derzufolge das Parlament der Gegenspieler der Regierung sei, i n der politischen Wirklichkeit nicht funktioniere. I n Anbetracht der Fülle der vom Parlament verabschie-

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deten Gesetze und des meist nicht vorhandenen Konsenses unter den politischen Kräften i m Parlament müsse daher das Bundesverfassungsgericht anstelle des Parlamentes die Kontrollfunktion übernehmen. Dies aber sei notwendigerweise m i t einem Zuwachs an politischer Kontrolle verbunden. Prof. Burmeister regte deshalb zu einer Neubesinnung über Stellung und Funktion des Parlamentes an, bevor K r i t i k am Bundesverfassungsgericht geübt werde. Hinsichtlich der Methoden der Verfassungsinterpretation bezweifelte er, daß Verfassungsinterpretation wesensgleich sei m i t der Interpretation einfacher Gesetze. Die Verfassung sei vielmehr Kontrollnorm und weniger „Entwicklungsnorm". Daher müsse der Rechtsfortbildung durch Richterrecht eine engere Grenze als ζ. B. i m Bereich des Zivilrechts gezogen werden, selbst wenn dies zu Lasten eines pragmatischen Entscheidungsergebnisses gehe. Dies sei insbesondere wünschenswert, um zu einer vorhersehbaren Methode der Verfassungsinterpretation zu gelangen. Abschließend vertrat Prof. Burmeister die Ansicht, daß das Gericht i m Hinblick auf die Aufgabe als „repressiver Kontrolleur" Zurückhaltung üben solle, soweit es darum gehe, die Gründe einer Entscheidung gemäß § 31 BVerfGG für verbindlich zu erklären; denn hierdurch würde eine gefährliche Beschränkung der Gestaltungsfreiheit des künftigen Gesetzgebers bewirkt. Prof. Dr. Maurer, Konstanz, knüpfte ebenfalls an die von Präsident Prof. Benda dargelegte Entscheidungsanalyse i m Bereich der abstrakten Normenkontrolle an. Er legte jedoch das Schwergewicht auf die Feststellung, daß der Zahl nach zwar nur relativ wenige Gesetze dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt werden, daß diese Gesetze indes von erheblicher Bedeutung seien. Daraus dürfe gefolgert werden, daß der Gesetzgeber damit rechnen müsse und auch i n der Tat damit rechne, daß sein Gesetz der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden wird. Die Folge sei, daß vom Bundesverfassungsgericht eine politische Präventivwirkung ausgehe. Zu der von Prof. Burmeister bereits angesprochenen Problematik der Gewaltenteilung wies Prof. Maurer darauf hin, daß eine Verschiebung der Gewichte auf die politischen Parteien stattgefunden habe und daß als Gegengewicht zu diesen — und zwar i n besonderem Maße, wenn Regierungs- und Oppositionspartei dieselben Interessen verfolgen — dem Bundesverfassungsgericht eine besondere Funktion als dritte Gewalt zukomme; i n dieser Rolle habe sich das Gericht jedoch hervorragend bewährt, wie die bisherige Judikatur zeige (vgl. etwa nur die Entscheidung über die Parteifinanzierung oder das Diätenurteil). Prof. Maurer ging schließlich auf die von Prof. Maunz behandelte Problematik des Verhältnisses der Grundrechtsgarantien i n den Landes-

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Verfassungen zu denjenigen i m Grundgesetz ein. Er vertrat die Auffassung, daß die landesverfassungsrechtlichen Grundrechte, auf die eine Verfassungsbeschwerde vor dem Landesverfassungsgericht gestützt werden kann, unabhängig davon Wirksamkeit besitzen, ob sie mehr oder weniger gewähren als die Bundesgrundrechte. Dies gelte insbesondere insoweit, als eine an sich begründete Verfassungsbeschwerde beim Landesverfassungsgericht nicht allein deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden könne, w e i l das entsprechende Bundesgrundrecht mehr Schutz gewähre. Es bestehe kein „Widerspruch" zwischen Bundes- und Landesgrundrechten, so daß der Grundsatz der Bundestreue gemäß A r t . 31 GG hier keine Anwendung fände. I n einer ersten Erwiderung wies Präsident Prof. Dr. Benda zu der von Prof. Papier angesprochenen Frage des Verhältnisses des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichten darauf hin, daß es zwar zunächst einmal u m die Auslegung einfachen Rechts gehe, dahinter könnten sich jedoch durchaus verfassungsrechtliche Fragen verbergen, so daß es zu der von Prof. Papier dargelegten Wertungsproblematik komme. Ferner bemerkte der Referent, daß das Gericht es begrüßen würde, wenn der Gesetzgeber den Zivilgerichten i m Bereich des rechtlichen Gehörs Gelegenheit zur selbständigen Korrektur gäbe, wie es bereits i n § 33 a StPO für die Strafgerichtsbarkeit vorgesehen sei. Die Entscheidung i m M i t bestimmungsstreit kennzeichnete Präsident Prof. Benda als eine Auseinandersetzung m i t der Frage nach der individuellen Funktion der Grundrechte. Die A n t w o r t laute: Schutz der Freiheitsrechte jedes einzelnen Bürgers, aber unter Berücksichtigung der sozialen Bezüge; dieses Spannungsverhältnis i m Bereich der Freiheitsgarantie habe hier konkret gelöst werden müssen. Z u den Ausführungen von Prof. Burmeister über die Gewaltenteilung hob Präsident Prof. Benda hervor, daß das Bundesverfassungsgericht auch die Funktion habe, gewisse Schwächen i m Gesetzgebungsverfahren abzugleichen, die auf den Umfang der Aufgaben sowie die Komplexität der Probleme zurückzuführen seien. Insoweit charakterisierte er die Funktion des Bundesverfassungsgerichts als eine A r t nachträglicher Gewährung „rechtlichen Gehörs". Sodann machte der Referent einige allgemeine Bemerkungen zur Frage des § 31 BVerfGG. Die „tragenden Gründe" einer Entscheidung — ein statischer Begriff — trügen die Entscheidung, die m i t einem Gebäude vergleichbar sei, bei dem es auch einen Balkon — die „obiter dicta" geben möge. Eine ausnahmsweise Verbindlicherklärung der gesamten Gründe einer Entscheidung würde an der generell unterschiedlichen Bedeutung der verschiedenen „Gebäudeteile" nichts ändern. Schließlich griff Präsident Prof. Benda die auch von Prof. Maurer vorgebrachte Forderung auf, daß i n einer Rechtsprechungsanalyse stärker auch Tatsachen wie Anlaß, Gegenstand des Rechtsstreits sowie quantitative Feststellungen m i t einbe-

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zogen werden. Darauf habe die Wissenschaft bisher zu wenig Augenmerk gelenkt, während die Methodendiskussion geradezu ins Unübersehbare abgeglitten sei. Prof. Quaritsch vertrat die Ansicht, daß die Frage nach den Methoden der Verfassungsinterpretation i n ihrer Bedeutung — insbesondere auf einer wissenschaftlichen Veranstaltung unter dem Aspekt „Dreißig Jahre Grundgesetz" — nicht überbetont werden dürfe. Wichtiger sei es vielmehr, danach zu fragen, warum vor dreißig Jahren das Bundesverfassungsgericht m i t der relativ weitreichenden Kompetenz eingerichtet worden sei, Staatsakte auf ihre Verfassungsgemäßheit zu überprüfen, und damit letztlich i n die Hand der dritten Gewalt die autoritative Entscheidung über die Grundlagen unseres Verfassungslebens gelegt worden sei. Prof. Quaritsch sah den Grund dafür i n der Erkenntnis, daß es ein jakobinischer Trugschluß war anzunehmen, Freiheit, Verfassung und Gerechtigkeit seien am besten beim Parlament aufgehoben. Vielmehr sei ein anthropologisches Bedürfnis vorhanden gewesen, m i t der dritten Gewalt eine solche unabhängige Instanz zu schaffen, der i n Anbetracht der gewandelten staatspolitischen Verhältnisse i n der modernen Demokratie, der komplexen Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts, das politische Vertrauen entgegengebracht werden kann, das ehedem etwa das Herrenhaus oder das Oberhaus genoß. Ein solches Gruppenbedürfnis habe i m übrigen auch Vorbilder i n der Geschichte, wie zum Beispiel der Areopag i n der vorperikleischen Zeit zeige. Heute stelle sich nun die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht diesem Bedürfnis gerecht geworden sei. Prof. Quantsch vertrat die Auffassung, eine Durchsicht der Entscheidungen des Gerichts von seinem Bestehen an ergebe, daß die Aufgabe voll erfüllt worden sei. Das Bundesverfassungsgericht habe einen wesentlichen Beitrag zur Rechts- und Verfassungskultur sowie zum Verfassungsbewußtsein und auch zum politischen Bewußtsein dieses Staates geleistet. A n diesem Ergebnis ändere auch nichts die Feststellung, daß das Gericht bisweilen Entscheidungen getroffen habe bzw. treffen mußte, bei denen die Grenzziehung unter dem Aspekt der verfassungsrechtlichen Deduktion durchaus i n Frage gestellt werden könne (ζ. B. der Prozentsatz der für Wahlkampfkostenerstattung erforderlichen Stimmen) oder die i n ihrem methodischen Ansatz angreifbar seien. Maßgeblich sei allein, daß die Entscheidung den geschriebenen und ungeschriebenen Grundlagen unseres heutigen Staates entspreche Und damit sicheren Bestand i n der Gesellschaft habe. Stadtdirektor Dr. Michaelis, Wunstorf, wandte sich der besonderen Frage des verfassungsgerichtlichen Verfahrens der Verfassungsbeschwerde zu, der seiner Ansicht nach eine ganz zentrale Bedeutung als Kontrollmittel einer mehr und mehr parteipolitisch durchsetzten Exekutive zukomme. Er bezog sich auf die i m Schrifttum geäußerte K r i t i k , daß das

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Bundesverf assungsgericht i n der Handhabung der Verfassungsbeschwerde bis an die Grenze der Rechtsverweigerung stoße und richtete an Präsident Prof. Benda die Frage, ob es verfassungsrechtlich vertretbar sei, daß, erstens, der Dreierausschuß i n seiner Funktion gleichsam an die Stelle des Gerichts trete, zweitens, das Bundesverfassungsgericht gemäß § 93 a Abs. 5 BVerfGG ohne Begründung zu entscheiden befugt sei und, d r i t tens, gegenüber einem Bürger, der die Rechtslage nicht übersehen und m i t seiner Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg habe, eine Mißbrauchsgebühr verhängt werden dürfe und m i t Sätzen zwischen 250 D M bas 1 000 D M auch tatsächlich verhängt werde. Als letzter Diskussionsredner stellte Prof. Dr. Knies, Saarbrücken, die Verbindung m i t den Ausführungen von Prof. Quaritsch zu der Frage her, ob das Bundesverfassungsgericht seine Aufgabe erfüllt habe. Er wies darauf hin, daß zwar der Nutzen der Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Wissenschaft nicht bestritten werde, daß jedoch i n der öffentlichen (politischen) Diskussion gleichwohl die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt in Frage gestellt werde, da i h r die demokratische Legitimation fehle. Hinter diesem wenig überzeugenden Argument steckt nach Ansicht von Prof. Knies der Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht w i r k e einer Dynamisierung der Verfassung m i t dem Ziel der ständigen Anpassung an gewandelte gesellschaftspolitische Verhältnisse entgegen. Prof. Knies mahnte abschließend vor den Gefahren eines solchen auf einen dynamischen politischen Prozeß bezogenen Verfassungsverständnisses, das letztlich einen notwendigen Wandel der Verfassung hemmen könnte. Prof. Maunz beschränkte sich i n seinen abschließenden Ausführungen auf das von Prof. Maurer angesprochene Problem des Verhältnisses der Landesgrundrechte zu den Bundesgrundrechten. I n allen wesentlichen Punkten stimme er m i t Prof. Maurer überein. Rein positiv-rechtliche Bedenken gegenüber dessen Auffassung habe er jedoch für den Fall, daß die Landesgrundrechte weniger Schutz als die Bundesgrundrechte gewähren. Da die Landesgrundrechte m i t h i n nicht i n Ubereinstimmung m i t dem Grundgesetz stehen, wie es dem Wortlaut nach i n A r t . 142 GG heißt, so müsse der Grundsatz des A r t . 31 GG „Bundesrecht bricht Landesrecht" eingreifen. Prof. Maunz versicherte jedoch, er werde die weite Auffassung von Prof. Maurer nochmals durchdenken. Präsident Prof. Benda begann sein Schlußwort m i t einer — bewußt pragmatisch gehaltenen — Erwiderung auf die Fragen von Stadtdirektor Dr. Michaelis. Er wies zunächst auf die Problematik der stetig wachsenden Zahl von Eingängen hin: Während vor vier oder fünf Jahren erstmals die Zweitausendgrenze überschritten worden sei, werde Ende 1979 womöglich schon eine Jahresquote von 3 000 neuen Fällen erreicht wer-

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den. Diese Entwicklung lasse die Frage an Gewicht gewinnen, m i t welchen Maßstäben und Methoden eine Auswahl getroffen werden könne. Präsident Prof. Benda hob hervor, daß es für die Arbeitsweise des Gerichts einen Unterschied machen müsse — und zwar gerade i m Interesse einer verantwortungsbewußten und auch unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensdauer effektiven Rechtsprechungstätigkeit —, ob eine Rechtsfrage von erheblicher verfassungsrechtlicher Bedeutung, deren Entscheidung eine entsprechende Tragweite habe, vorliege, oder ob — u m das andere Extrem zu wählen —, ein Querulant auftrete, der das Bundesverfassungsgericht ebenso wie etwa den Bundeskanzler und den „Spiegel" anschreibt. Dem Interesse eines beschleunigten Verfahrensablaufs diene die Entscheidung durch den Dreierausschuß. Die Erledigung einer Sache i n einem überschlägigen Verfahren entspreche zwar nicht seinen Vorstellungen von einer idealen Verfassungsgerichtsbarkeit. Jedoch sei die Einrichtung eines solchen Verfahrens gerechtfertigt und sogar geboten, wenn das Bundesverfassungsgericht auch i n Zukunft seiner Aufgabe nachkommen wolle. Der Dreierausschuß müsse oftmals, worauf Präsident Prof. Benda m i t besonderem Nachdruck hinwies, Eingaben zurückweisen, hinter denen eine ernsthafte und wichtige verfassungsrechtliche Fragestellung stehe, die aber vom Ergebnis her keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten. Das Gericht könne dem Beschwerdeführer i n diesen Fällen nicht zu dem verhelfen, was er für sein Recht hält. I m übrigen, so führte Präsident Prof. Benda aus, sähe er keine Alternative zu der hergebrachten, i n zwei Arbeitsgänge gegliederten Arbeitsmethode i n den Senaten. Zunächst werde anhand eines gründlich vorbereiteten, meist sehr umfangreichen, schriftlichen Vorschlags des Berichterstatters die Rechtsproblematik des Falles ausführlich beraten, i n einer zweiten Runde werde sodann der Entscheidungsentwurf Satz für Satz durchgesprochen. Dieses sehr zeitaufwendige, aber i m Hinblick auf die Qualität der Entscheidung notwendige Verfahren erfordere es, Vorgänge, die verfassungsrechtlich unergiebig oder gar querulatorisch seien, so schnell wie möglich „wegzuschieben". Ein Senat könne bei dieser Arbeitsmethode i m Jahresdurchschnitt 40, vielleicht 50, keinesfalls aber mehr als 60 Fälle erledigen. Dies bedeute bei jährlich 3 000 Eingängen, daß 2 880 i m Dreierausschuß erledigt werden müssen, wenn ein Berg von Rückständen vermieden werden solle. Z u der Frage nach der Begründungspflicht der Entscheidungen wies Präsident Prof. Benda darauf hin, daß die Laufzeiten der Verfahren zu lang seien, so daß eine Methode gefunden werden mußte, die es gestattet, zumindest über die abgewiesenen Eingänge zügig zu entscheiden. I m Regelfall werde aber auch eine Begründung gegeben, selbst wenn diese nur kurz ausfalle oder i n der Form der Verweisung auf eine früher ergangene Entscheidung ergehe.

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Schließlich bemerkte Präsident Prof. Benda zu der Frage nach den Mißbrauchsgebühren, daß es enttäuschend sei, wenn von einem A n w a l t eine Verfassungsbeschwerde eingelegt werde, deren Aussichtslosigkeit auf Grund der eindeutigen Rechtsprechung offensichtlich sei. Dies könne selbstverständlich nicht dem Beschwerdeführer angelastet werden, vielmehr sei hierfür der „studierte" Rechtsanwalt verantwortlich, der unter Verletzung seiner Standespflicht und wider besseres Wissen, womöglich aus Gewinnstreben, seinem Mandanten die Verfassungsbeschwerde aufgedrängt habe. Hier habe es Einzelfälle gegeben, i n denen deshalb das Gericht die Entscheidung bewußt derart formuliert habe, daß der Rechtsanwalt sich veranlaßt fühlte, den Betrag selbst zu überweisen und seinen Mandanten lediglich über die negative Entscheidung i n Kenntnis zu setzen, ohne die Mißbrauchsgebühr zu erwähnen — ein Verhalten, das i m Interesse des Ansehens des Anwaltstandes geboten sei. Daneben gäbe es aber auch andere Fälle, i n denen der Beschwerdeführer sich von dem Gericht nicht belehren lassen wolle und trotz abschlägiger Bescheide immer wieder seine Sache vorbringe. Hier würden Mißbrauchsgebühren verhängt, indes nur i n seltenen Ausnahmefällen i n Höhe von 1 000 DM, i n der Regel dagegen weit niedriger, i n einer den Einkommensverhältnissen angemessenen Höhe. Entschieden wies Präsident Prof. Benda die bisweilen i m Schrifttum geäußerten Behauptungen zurück, daß ein Beschwerdeführer, der i n einer ernsthaften Sache das Bundesverfassungsgericht anrufe, durch Verfahrensgebühren oder andere Verfahrensregelungen gehindert werde, eine Entscheidung des Gerichts zu erlangen.

Alternativen des Sozialstaate Von K a r l Doehring

I. Sozialstaat als Verfassungsbegriff Bis heute ist der Inhalt des Begriffs Sozialstaat i m Sinne einer normativen Staatszielbestimmung umstritten. Keine Einigung besteht darüber, ob es sich dabei um ein Staatsprogramm, eine Staatsaufgabe, eine Institutsgarantie, eine Auslegungsregel oder auch um ein Individualrecht handelt, und immer bleibt noch die Notwendigkeit, den Normgegenstand „sozial" zu klären. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Mitbestimmungsgesetz verwendet den Begriff „sozial" routinemäßig, ohne Definitionsversuch und ohne Subsumtionsversuch. Es w i r d nicht der Begriff „sozial" erläutert, sondern der konkrete Sachverhalt beschrieben und dann als „sozial" relevant bezeichnet 1 . Die Reichsverfassung von Weimar hatte „soziale" Grundrechte aufgezählt, denen aber -die Vollzugsreife fehlte und die auf diese Weise über einen gewissen Programmcharakter hinaus keine Bedeutung erhalten konnten. Eine Generalklausel entsprechender A r t fand sich dort nicht, es sei denn, man würde ähnlichen Allgemeinbegriffen wie ζ. B. „Wohlfahrtspflege" (Art. 9 Abs. 1) den Charakter unserer heutigen Sozialstaatsklausel zuerkennen wollen. Andererseits ist es w o h l unzweifelhaft, daß die Sache „sozial" i n der Zeit der Weimarer Verfassimg so gut bekannt war wie heute. Daß man dennoch keine Generalklausel erfand, mag — einmal umgekehrt — vielleicht als eine „Flucht i n die Enumeration" bezeichnet werden, die angetreten wurde, um einer unbegrenzten Auslegung zu entgehen. Man hat daher wohl die sozialen Grundrechte inhaltlich auf die Sache „sozial" abgestimmt, sicherlich i n Kauf nehmend, daß eine Erschöpfung des Gegenstandes so nicht erreicht werden kann. Bei der Redaktion dieser Grundrechte verwendete man zwar hier und da das Wort sozial (Art. 119 Abs. 2, „soziale" Förderung der Familie; A r t . 124 Abs. 2, Vereine, die „sozial-politische" Zwecke verfolgen; „sozial-politische" Gesetze i n A r t . 165 und dort auch „soziale" Selbstverwaltungskörperschaften), doch die 1

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v. 1. 3.1979, NJW 1979, S. 699 ff. (703).

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so vorgenommene Verwendung des Begriffs stand i n immittelbarem Zusammenhang m i t anderen normativen Merkmalen, so daß ihre Auslegung i n diesem Kontext erleichtert war. Eine Parallele hierzu bildet vielleicht der Begriff „politisch" i m Grundgesetz, der — bei aller Anerkennung der Unmöglichkeit einer abstrakten Definition — i m Normzusammenhang 2 dann doch konkretere Gestalt gewinnt. Als Ergebnis dieser Betrachtung mag festgehalten werden: „Sozial" als Generalklausel ist für das deutsche Recht eine Erfindung der Väter des Grundgesetzes, die aber, wie K . Stern richtig demonstriert 3 , eine inhaltliche Bestimmung nicht vorgenommen haben. Vielleicht handelt es sich — wieder sei auf K . Stern verwiesen — um einen Triumph des dilatorischen Formelkompromisses 4 . Wenn das richtig ist, bleibt die Auslegung des Grundgesetzes i n dieser Beziehung offen, d. h. auch die positive Seite eines solchen Kompromisses, nämlich die Ausgestaltung der Norm i m Laufe der Verfassungsentwicklung, bleibt erhalten. Es wäre noch zu erwägen, ob die Gegenstände des heutigen Sozialbegriffs durch die frühere Enumeration der Weimarer Verfassung vorbestimmt sind, wobei man sich auf eine historische Auslegung berufen könnte. Doch eine solche Schlußfolgerung ist nicht gerechtfertigt, denn die genannte Enumeration begründete leges speciales und kann deswegen nicht zum Inhalt einer Generalklausel umgemünzt werden. Das gleiche gilt auch für die Enumeration „sozialer" Rechte, wie sie sich i n der Europäischen Sozialcharta 5 findet und die zur Auslegung des Grundgesetzes nicht verwendbar ist, w e i l sie als internationale Verpflichtung nicht den Inhalt der Verfassung auszufüllen vermag. Es sei auch vermerkt, daß die Sozialcharta überwiegend so wie die sozialen Grundrechte der Weimarer Verfassimg als nicht vollzugsreif angesehen wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht m i t m. E. voller Berechtigung der objektiven Auslegung Vorrang einräumt vor einer subjektiven Auslegung 6 , wären ohnehin frühere Enumerationen nur als Anregung zur Ausfüllung des Begriffs verwendbar. Das Grundgesetz muß also seine Sozialstaatsklausel autonom m i t normativem Sinn erfüllen. Die sich hierbei ergebenden Gefahren sind bekannt. Eine sog. unbegrenzte Auslegung eröffnet die konturlose Einfügung von Rechten und Pflichten i n das Grundgesetz, aber ebenso ihre Leugnung; einer sog. unbegrenzten Auslegung anderer Normen werden Möglichkeiten eröffnet, wenn man unter Verweis auf den Begriff sozial 2

Art. 16 Abs. 2 GG; Art. 59 Abs. 2 GG. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 682 ff. 4 K. Stern, a.a.O., S. 687 ff. 5 Europäische Sozialcharta v. 18.10.1961, BGBl. 1964 I I , S. 1262. 6 So schon BVerfG v. 10. 5.1957, BVerfGE 6, 389 (431). 3

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die Konturlosigkeit weiter transportiert. Als Beispiel mag der Begriff der Sozialbindung des Eigentums dienen, bei dem die sozialen Bedürfnisse der Gemeinschaft verteidigt oder befürwortet werden können, während die soziale Stellung des einzelnen i n gleichem Maße Begünstigungen wie auch Belastungen erfahren kann. Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts ist auch i n dieser Hinsicht ein eindrucksvolles Beispiel. Das Bestehen des aufgezeigten dilatorischen Formelkompromisses zu leugnen, wäre unklug, denn er könnte sich als fruchtbar weil ausfüllungsfähig erweisen und muß nicht gefürchtet werden, wenn seine Ausfüllung gelingt. N u r ist festzuhalten, daß diese Auflösung dort an eine Grenze stößt, wo klare Aussagen der Verfassung oder ihr Gesamtbild kein Ausweichen und keine Auffüllung mehr zulassen. Wenn — u m ein Beispiel zu nennen— A r t . 15 GG die Entschädigung gem. A r t . 14 GG auch bei Verstaatlichung vorsieht, kann die Sozialstaatsklausel nicht als Argument dafür verwendet werden, daß der Wesensgehalt der Eigentumsgarantie herabgedrückt wird, was ζ. B. m i t entsprechender Argumentation vor dem Bundesverfassungsgericht i m Streit über das Mitbestimmungsgesetz versucht wurde. Ob die Grenzziehung des Grundgesetzes klar oder unbestimmt ist, mag oft zweifelhaft sein. Aber die Sozialstaatsklausel ist nicht die einzige Generalklausel; dem, was sie an Rechtswerten zu bieten vermag, stehen andere Generalklauseln nicht nach, so daß es nicht nur um ihre Begrenzung durch leges speciales geht, etwa durch Grundrechte, die niemals verkürzt werden dürften, sondern auch u m Rechtswertgrenzen oder auch um Wertentscheidungen, die der Sozialstaatsklausel zumindest gleichrangig gegenüberstehen. Hierbei ist noch gar nicht an den Rechtsstaatsbegriff gedacht, nicht also an die alte Kontroverse, wie sie i n den A u f fassungen Forsthoffs und Bachofs frühzeitig zutage trat und auf die noch zurückzukommen ist, sondern vor allem an die Freiheitsverbürgung des Grundgesetzes, die Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Gibt es denn eine Evidenz für die Inhaltsbestimmung des Sozialen? Sicherlich ist das anzunehmen, aber sie kann den Begriff nicht voll ausfüllen, und sie kann nur einen i m Grunde von niemandem geleugneten und daher unproblematischen Teilbereich erfassen. So w i r d niemand bestreiten wollen, daß die Sorge für die vom Schicksal benachteiligten Staatsbürger, die Sicherung der Armen, die Förderung der Schwachen, die Notvermeidung, die Mangelbeseitigung und ähnliches zum Inhalt der Sozialstaatsauffassung zählen. Aber man könnte fragen, ob man hierfür eines solchen Spezialbegriffes eigentlich bedarf. Dieser Staatsauftrag zur Notvermeidung hat sicherlich i n früheren Rechtsordnungen auch bestanden, obwohl von einer Sozialstaatsklausel nicht gesprochen wurde.

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I n dieser Frage des Staatsauftrages zur Notvermeidung unterscheiden sich patriarchalische Regierungsformen i m Grunde weder von republikanisch-liberalen Demokratien noch von kommunistischen Staatsauffassungen, und dieses Ziel und diese Aufgabe hatten K a r l Marx und Lorenz v. Stein gleichermaßen vor Augen, auch wenn sie diese m i t verschiedenen Methoden zu erfüllen suchten. Die Denk- und Wertungsgabel aber beginnt erst jenseits des Notvermeidungs- und Mangelbeseitigungsstaates. Es beginnen die Alternativen, die den Gegenstand dieses Referats ausmachen sollen. Unter Vorwegnahme meiner Ergebnisse, die ich an drei Alternativauffassungen über den Sozialstaat aufzeigen w i l l , sei hier schon auf die folgenden Fragestellungen hingewiesen. Wo hat die Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit ihren Platz i m Hinblick auf das Gebot des Sozialstaates? Sie könnte durch ihn eingeschränkt sein, aber sie macht, wie ich darlegen werde, den wesentlichen Inhalt des Sozialbegriffs des Grundgesetzes aus; semper et sine exceptione pro libertate — und nicht nur i n dubio. Eine weitere Frage bezieht sich auf die folgende Gedankenverbindung. Es w i r d die fraternité, die Pflicht zu sozialer Leistimg für die Allgemeinheit und ihrer Mitglieder untereinander gefordert. Das ist m. E. aber nicht der wesentliche Inhalt gerade des Sozialstaatsbegriffs, denn diese Pflicht kann unter jeder Staatsform gefordert und erzwungen werden, sei es durch Steuern oder durch Dienstleistungen. Wesentlicher für den Sozialstaat ist das Recht auf Leistung, das nicht verkürzt werden darf, bzw. dessen Verkürzung ich unter der Freiheitsverbürgung des A r t . 2 GG für unsozial halte. Der Schutzanspruch gegen den Staat, er solle verhindern, daß der Staatsbürger an individueller Leistung gehindert w i r d — sei es durch die Staatsgewalt selbst oder durch gesellschaftliche Kräfte —, erscheint m i r als der vielleicht wesentlichste Inhalt des Sozialstaatsprinzips. Die Forderung z. B., aus sozialen Gründen eine Wohnung zu erhalten, mag m i t dem Sozialstaatsgedanken gerechtfertigt werden; die Forderung aber, man möge an der Selbsthilfe zur Wohnungsbeschaffung nicht gehindert werden, scheint m i r viel wesentlicher. Das gleiche gilt für den Arbeitsplatz. Wenn man die individuellen Kräfte hemmt, Wohnung und Arbeit selbständig zu beschaffen — u m bei diesen Beispielen zu bleiben —, w i r d auch die Notvermeidung als Aushilfeprinzip alsbald am Ende sein und damit auch der primitivste Inhalt jedes Sozialstaatsprinzips. Die Freiheitsverbürgung ist letztlich sozialer als die egalitäre Versorgung. Oder anders ausgedrückt: Die Freiheitsverbürgung ist die platonische Idee des Sozialstaats des Grundgesetzes, während die Krisen-,

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Mangel- und Notvermeidung die selbstverständlichsten aller Staatsaufgaben sind und sich aus dem nie geleugneten Verhältnis von subjectio und protectio zwischen Staat und Staatsbürgern ergeben. Diese Andeutungen sollten nur die Denkatmosphäre erzeugen, i n der ich nun drei Alternativen des Sozialstaats aufzeigen w i l l . 1. Es ist zu entscheiden, welche Position die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes i m Hinblick auf das Begriffspaar sozial und sozialistisch einnimmt. 2. Es ist zu fragen, wer die Verantwortung i m Staate für die Sozialgestaltung trägt, die Staatsgewalt oder die gesellschaftlichen Kräfte und Verbände oder eine i m übertragenen Sinne soziale Mischverwaltung und Mischverantwortung. 3. Einmal mehr ist das Verhältnis von Rechtsstaat und Sozialstaat zu prüfen. Welches Prinzip hat Vorrang bei Kollisionen? Sind sie verschmelzbar? Oder kann Kollision überhaupt vermieden werden? I I . Sozial und sozialistisch Welches ist der Unterschied zwischen „sozial" und „sozialistisch" und, wenn er besteht, wie verhält sich das Grundgesetz zu ihm? Oder ist keine Entscheidung möglich? Beide Begriffe haben engen Bezug etwa zum Wirtschaftssystem, von dem das Bundesverfassungsgericht sagt, es sei durch das Grundgesetz nicht vorbestimmt 7 . Wenn hier von sozialistisch gesprochen wird, ist durchaus nicht nur das typisch kommunistische Regime gemeint, sondern eine auch i n unserem Staat bestehende Tendenz, die trotz verbaler Ablehnung kommunistischer Ideale doch deren Substanz fördert, sei es i n der Annäherung an Rätesysteme, wie sie sich ζ. B. i n der Gruppenuniversität finden, oder an materielle Egalitätsvorstellungen. Zur Vermeidung rein terminologischer Unklarheiten seien Definitionen vorgeschlagen. Das sozialistische Staatsideal sieht das Kollektiv als einen Eigenwert an und muß daher auch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ablehnen 8 . Es soll zwar nicht jede individuelle Freiheit aufgehoben werden, doch schon die Zuerkennung eines Eigenwertes macht das Kollektiv zum Selbstzweck, der zwar mehr oder weniger betont aber nicht geleugnet werden kann. Dem gegenüber steht eine Verfassungskonzeption, die einen Eigenwert vorrangig dem Individuum zuerkennt und also das Kollektiv nur als ein Medium zur Entfaltung individueller Freiheit ansieht. So wie das sozialistische Ideal nicht unbedingt die individuelle Freiheit gänzlich aufheben w i l l , liegt es auch nicht i m 7 8

Zuletzt wieder BVerfG v. 1. 3.1979, vgl. Fn. 1, S. 702. Staatsrecht der DDR, Lehrbuch 1977, S. 20 ff.

9 Speyer 78

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Wesen des Sozialen, die Mediumfunktion des Kollektivs schlechthin zu leugnen. Doch die Konsequenzen für die Rechtsordnung sind i n beiden Fällen recht verschieden. Es ist ein Unterschied, ob ein Gemeinwesen, etwa eine Gemeinde, M i t t e l zur Selbstdarstellung einsetzt, oder ob Mittel zur Förderung der einzelnen Gemeindemitglieder und zur Herstellung ihrer individuellen freien Entfaltung verwendet werden. Ob das Gemeinwesen das eine oder das andere i m Rahmen der Selbstverwaltung fördert, kann zu einer Rechtsfrage werden, wenn es um die Sozialstaatsklausel geht, die als normierte Staatszielbestimmung zu beachten wäre. Es ist ein Unterschied, ob die Gewerkschaften die Arbeiterschaft schützen oder fördern sollen oder den einzelnen Arbeiter und vor allem, ob die Staatsgewalt die eine oder die andere Bestrebung unterstützt und sich i n jedem Falle gleichermaßen auf die Sozialstaatsklausel berufen kann. Die gleiche Alternative zeigt sich i n der Frage der staatlichen Pflicht zur Herstellung gesellschaftlicher Chancengleichheit, denn es ist ein Unterschied, ob Gruppenchancen gefördert werden und ihre Gleichheit hergestellt wird, oder ob die Förderung der Chancen die ganz inividuelle Entfaltung der Freiheit zum Gegenstand hat. Die Herstellung der Chancengleichheit kann auf der Herstellung gleicher ökonomischer Verhältnisse beruhen — d a s ist nach der hier vorgeschlagenen Terminologie i n erster Linie ein „sozialistisches" Ziel — oder sie kann darin bestehen, die gleiche Chance der Selbstdarstellung des einzelnen Menschen zu gewährleisten, was i n meinem Sinne als sozial zu bezeichnen wäre. Die Ausnutzung der Chance kann völlig verschiedenen individuellen Zielen dienen, wenn sie subjektiv gesehen w i r d und i h r nicht ein objektiver Maßstab