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German Pages 438 Year 2015
Sebastian Klinge 1989 und wir
Histoire | Band 61
Sebastian Klinge promovierte in Zeitgeschichte an der Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichtspolitik, Wissenschafts- und Kulturgeschichte sowie Geschichte und Theorie der Medien.
Sebastian Klinge
1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungszentrums Laboratorium Aufklärung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, gefördert im Landesprogramm des ProExzellenz-Programms des Freistaats Thüringen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Zugl. Jena, Univ. Diss.
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung: 1989 und Wir | 11
TEIL I: ELEMENTE EINER G ESCHICHTE DER DDR-E RINNERUNG Erstes Kapitel: Geschichtspolitik des Verschwindens | 35
Was ist Geschichtspolitik? | 38 Die doppelte Redundanz der Geschichtspolitikanalyse | 45 Das Spectrum der Geschichtspolitik | 48 Die Realität der geschichtspolitischen Konstruktion | 52 Zweites Kapitel: Die DDR als Geschichte (1989-2008) | 57
Staatliche Geschichtspolitik zur DDR | 58 Geschichtswissenschaft und DDR-Forschung seit 1989 | 65 „Brauchen wir eine Historisierung der DDR?“ – Zur Tagung „Die DDR als Geschichte“ | 69 „Wohin treibt die DDR-Erinnerung?“ – Das Expertenvotum der „Sabrow-Kommission“ | 76 Die DDR-Erinnerung als Kontroverse – Zur Rezeption des Expertenvotums | 82 Das Parlament der DDR-Erinnerung – Zur öffentlichen Anhörung der Expertenkommission | 94 Drittes Kapitel: Die DDR in der Geschichtspolitik des „Erinnerungsjahres 2009“ | 105
Die Ausweitung der Geschichtszone – 2009 als Jahr des Erinnerns | 107 Die „Unrechtstaatsdebatte“ als Geschichtspolitikum | 122 Der Geist der Staatssicherheit und das Erbe der SED | 138
TEIL II: GESCHICHTEN EINES ENDES – 1989/2009 Erstes Kapitel: Die Friedliche Revolution im „Erinnerungsjahr 2009“ | 167
Kritik und Krise – Erzählungen von der Friedlichen Revolution | 170 Subjektivierung und Souveränität: Die (Auto-)Biographie als Meistererzählung der Friedlichen Revolution | 193
Zeiträume – Die Friedliche Revolution in Berlin und Leipzig | 212 Wem gehört die Friedliche Revolution? Institutionen des politischen Gedächtnisses | 247 Die Friedliche Revolution und Wir – Die Aktualität von 1989 für die Lebenswelt 2009 | 275 The Revolution will be televised – Die Friedliche Revolution in den Medien 2009 | 288 Zweites Kapitel: Der 9. November 1989/2009 | 311
Unfall, Glücksfall, Mauerfall: Erzählungen eines Endes | 314 Verzettelte Geschichte – Schabowskis Pressekonferenz als Ereignis | 329 Zwischen Monstrum und Souvenir – Die Berliner Mauer als Artefakt | 338 Der 9. November 2009 – Das „Fest der Freiheit“ in Berlin | 358 Black Box Mauerfall – Das „Fest der Freiheit“ in den Medien 2009 | 378 Schluss: Was treibt die DDR-Erinnerung? | 393 Epilog | 405 Abkürzungsverzeichnis | 407 Literaturverzeichnis | 409
Vorwort
Auf dem Weg zum Jenaer Westbahnhof ging ich regelmäßig an einem Schild vorbei, das dort eher unscheinbar eine Wand zierte. Auf diesem Schild war zu lesen: „20 Jahre Friedliche Revolution [mit großem „F“], Deutsche Einheit, Bürgerliches Engagement“. Dieses Schild wundert und erfreut mich bis heute gleichermaßen, passte es doch hervorragend zu dem Dissertationsvorhaben, das ich gedanklich 2009 begann und das nun in der vorliegenden Darstellung seine Form gefunden hat. Was war so wunderlich an diesem Schild? Zunächst einmal war nicht zu erkennen, wer aus welchem Grund gerade an dieser Stelle dieses Gedenkschild angebracht hatte. Dies blieb, was seine Politik und seine Öffentlichkeit, Agenda oder Ideologie anging, nahezu völlig offen, abgesehen von der Verwendung des Begriffs der Friedlichen Revolution. Durch das reine Betrachten des Schildes konnte nichts Genaues über das herausgefunden werden, was es sagen, zeigen und sein wollte, außer: Es wollte erinnern. Das, woran es jedoch erinnerte, war umso erstaunlicher: Denn es hieß ja nicht „Zum Gedenken an die Friedliche Revolution“, sondern es gedachte der „20 Jahre Friedliche Revolution“. Diese waren 2009 Anlass eines groß angelegten „Erinnerungsjahres“ und von diesem handelt meine Arbeit. Da war nun also eine Gedenktafel, die nicht dem vergangenen Ereignis, sondern seinem Jubiläum gedachte. Dieses Schild war für mich das erste Monument dessen, was ich untersuchen wollte, und hier hatte es, ob gewollt oder nicht, eine greifbare Umsetzung gefunden. Wenn es um die Geschichte der DDR oder des Umbruchs von 1989 geht, wird bisweilen dünnes Eis betreten. Das liegt vor allem daran, dass diese Geschichte noch ihren Platz in der deutschen Erinnerungslandschaft sucht, dass sie relativ jung ist und dass es viele Instanzen gibt, die dabei mitreden und sich Gehör verschaffen wollen. Auch davon handelt diese Arbeit. Sie folgt dabei einer mehr oder weniger ethnographischen und archäologischen Perspektive. Das heißt, sie begreift die Welt, die sie beschreibt, nicht zwangsläufig als die eigene. Vielmehr muss das, was hier durchgehend „Erinnerungsjahr 2009“ genannt wird, wie ein fremdes Gebiet erschlossen werden, um anschließend erklärbar zu sein. Das bedeutet gleichzeitig,
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dass sie ihrem Untersuchungsgegenstand gegenüber aufgeschlossen, vorurteilsfrei und ohne Agenda, aus reiner Neugierde entgegen tritt. Ich hoffe, diesen Blick durchweg beibehalten zu haben. Wenn sich ein „neues“ Gebiet erschließt, überwältigt dies einen zunächst. Das geht sicherlich den meisten Historiker*innen so, die das Problem der Auswahl und der Diktion ernst nehmen, auf die Hayden White nie müde wurde, sie zu stoßen.1 So sind die hier gewählten Beispiele keine erschöpfende Auswahl aller möglichen Phänomene, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin. Ich hoffe dennoch, einige repräsentative Gewährsfiguren für das gefunden zu haben, was die Erinnerung an die DDR und die Geschichte von 1989 um 2009 ausmachte. Meine Auswahl sollte lediglich gewichten, nicht aber bewerten. Die gewichtigste Figur, die ich dabei gewählt habe, war die der Öffentlichkeit. Was um 2009 nicht öffentlich zugänglich war, musste im Verborgenen bleiben, ohne Präsenz und damit, so die Grundannahme, auch ohne Wirkung. Was rezipiert werden sollte, was auch den letzten Besucher und Zuhörer erreichen musste, was die letzte Schülerin und die letzten Leser wissen und begreifen sollten, musste vermittelt werden, musste an die Öffentlichkeit treten und sich einem Publikum aussetzen. So habe ich auch meine Quellen gesucht und gewählt, als wäre ich einer dieser Rezipienten. Keine Hinterzimmerabsprache, keine politische oder ideologische Agenda lässt sich mit bloßem Willen durchsetzen, so „mächtig“ ihre Vertreter und Fürsprecher auch sein mögen. Sie muss sich immer vermitteln können, um ihr Ziel zu erreichen. Erst dann entscheidet sich, ob sie sich realisiert. Das gilt auch für Geschichtspolitik, wie im Folgenden oft betont werden wird. Da das „Erinnerungsjahr“ ein stark mediales Ereignis war, liegen meinem Untersuchungskorpus einige Fernseh-, Film- und Internetquellen zu Grunde. Die meisten Formate haben früher oder später ihren Weg in Online-Mediatheken gefunden – seien es Zeitungsberichte, Pressemitteilungen, Reden der Bundesregierung oder Privataufnahmen von Besuchern des „Fest der Freiheit“. Aus Gründen der besseren Nachprüfbarkeit habe ich dort, wo eine online archivierte Version vorlag, einen Link2 angegeben, wissend, dass diese Archive relativ unbeständig sind (was schon eine analytische Prämisse des archivarischen Umgangs mit Geschichte in der Zeitschicht 2009 herleitet, mit denen diese Arbeit sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal auseinandersetzen musste: Die Archive sind unbeständig). Es ging mir nicht darum, ein Korrektiv zu schaffen, das die historischen oder politischen „Fehler“ des „Erinnerungsjahres 2009“, der daran anschließenden Kul1
Vor allem in White, Hayden: Auch Klio dichtet. Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett-Cotta 1986.
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Um eine bessere Überprüfbarkeit zu gewährleisten habe ich Links, die zu lang waren, in eine Shortlinkversion umgewandelt und zusätzlich, sofern sie vorlagen, Autoren, Artikeltitel, Erscheinungsdatum, Abrufdatum und Website angegeben. Artikel ohne Autorennennung sind mit „N.N.“ angegeben.
V ORWORT
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tur oder Denkweisen aufzeigt und richtigstellt. Zwar bringe ich eine Idee davon mit, wie man ein „Erinnerungsjahr“ und Geschichtspolitik untersuchen könnte, aber nicht davon, was man von seinem Untersuchungsgegenstand und dessen Wert zu halten hat. Das mag den einen oder anderen enttäuschen, der gerne eine Richtigstellung zu manchen Dingen der Geschichtspolitik, gerade zur DDR und zu 1989, lesen möchte. Mir ist auch klar, dass diese Geschichtspolitik noch riskant und sensibel war und ist. Dennoch, und hier kommt der ethnographische Blick wieder ins Spiel, lag es mir an einer interessanten Beschreibung3 und nicht daran, den Akteuren, die ich hier präsentiere, etwas vorzuschreiben. Dass die hier dargestellten Narrative aus 2009 zugleich als noch aktueller Forschungsstand gelten können, ist mir ebenfalls bewusst. Da der Forschungsstand von mir allerdings vor allem als Quelle verwendet, dementsprechend mit einiger Distanz behandelt und analysiert wird, soll keine Diskreditierung aktueller Erzählweisen zu 1989 sein, sondern der Versuch, auch aktuellem Geschichtsdenken eine reflektierende zeithistorische Haltung entgegenzubringen. Dies ist deshalb nur dann eine kritische Arbeit, wenn es um die Untersuchung von Geschichtspolitik geht, nicht aber eine kritische Arbeit zum Umgang mit 1989. So ließe sich beispielsweise schon daran eine Agenda erkennen, wie man das, was 1989 in Europa geschah, benennt: Revolution, Umbruch, Konterrevolution, Wende, etc. sind alles besetzbare, teils ideologische Begriffe.4 Wenn in dieser Untersuchung von Friedlicher Revolution, Mauerfall und 1989 die Rede ist, dann sind diese kursiv gesetzt. Ich habe alle Eigennamen mit Eigenlogik hier kursiv markiert, um zu zeigen, dass sie nicht selbstverständliche Begriffe sind, sondern dass sie komplexe, ihrer eigenen Semantik, Diskursivität, Materialität und Praxis folgende Dinge von geschichtspolitischem Belang waren. Ein Urteil über ihre Qualität soll keine dieser Begriffsverwendungen darstellen. Ein anderer Anspruch dieser Arbeit ist es, theoretische Überlegungen mit einer empirischen Grundlage zu vereinbaren. 3
Wie Bruno Latour schreibt: „Textliche Berichte sind das Labor des Sozialwissenschaftlers [und ich möchte hinzufügen: auch des Historikers], und wenn die Laborpraxis hier eine Hilfe sein kann, dann deshalb, weil gerade aufgrund der Artifizialität des Ortes vielleicht Objektivität gewonnen wird, sofern durch ständige und leidenschaftliche Aufmerksamkeit Artefakte rechtzeitig aufgespürt werden.“ Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010a, S. 221 (Hervorhebung im Original). Ich habe versucht, mich an dieses Programm zu halten, wohl wissend jedoch, wie Latour weiter ausführt: „Textliche Berichte können scheitern, wie das bei Experimenten ebenfalls häufig der Fall ist.“ Ebd., S. 222. Ein Risiko, das jede Forschung, auch meine, eingehen muss.
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2009 verdichtet dargestellt durch Sabrow, Martin: „Wende“ oder „Revolution“? Der Herbstumbruch 1989 und die Geschichtswissenschaft. Vortrag in der Reihe „Umbruch 1989-1991. Zentrum und Peripherie“, Forum Neuer Markt am 2.4.2009a.
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Theorie hat in der Geschichtswissenschaft einen teils sehr schweren Stand. Der grundsätzliche Vorwurf an theorielastige Arbeiten lautet meist, Theorie tauge nur für das Vorwort oder die Einleitung, würde sich im Laufe der Untersuchung allerdings als Marginalie verflüchtigen.5 Diese Einstellung habe ich immer als fatal empfunden (wobei es sicherlich viele Untersuchungen gibt, die diesem Argument Futter geben). Ich habe daher theoretische Einordnungen und Abstraktionen an den Stellen vorgenommen, wo sie mir passend erschienen und einen Mehrwert an Erkenntnis hervorbringen können, nicht nur in der Einleitung und den ersten, über die Analyse von Geschichtspolitik reflektierenden Kapiteln. Der Aufbau meiner Arbeit ist in der Folge so gewählt, dass einzelne Leitmotive immer wieder an den Stellen erscheinen, wo die Darstellung auf sie stößt, anstatt dass sie zwangsläufig en bloc behandelt werden. Das mag nicht immer der klassischen Anlage von Untersuchungen entsprechen, reflektiert allerdings formal die von mir gewählte Methode der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die ihren Akteuren folgt und keine ordnende und kategorisierende „Setzkastenwissenschaft“ betreibt. Da eine Untersuchung wie diese dankenswerterweise nie im luftleeren Raum entsteht, bin ich Vielen zu Dank verpflichtet: Zuerst Prof. Dr. Norbert Frei, der mich immer wieder ermutigte, eine zeithistorische Arbeit zu schreiben und Prof. Dr. Wolfgang Ernst, der mich mit der Frage konfrontierte, ob ich einen Begriff von „Geschichte“ überhaupt noch tragen könne. Den Doktorand*innen der Doktorandenschule Laboratorium Aufklärung und des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts für schöne Gespräche, Austausch und eine entspannte und interessante Zeit in Jena. Der Robert Havemann Gesellschaft, der Kulturprojekte Berlin GmbH, dem Bürgerarchiv Leipzig, dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, der Bundeszentrale für politische Bildung, der BStU, der „Stiftung Aufarbeitung“, dem DDRMuseum Berlin und allen dazugehörigen und weiteren Gesprächspartner*innen, die mir Zugang zu ihren Ansichten und Unterlagen gewährten. Meinem Korrekturteam: Steffen, Konrad, Fabian und Christian für die unbezahlbare Hilfe. Mirjam, Sebastian, Thomas, Thomas, Uje und Steffi für die Beherbergung auf Archivreisen und die Ablenkung danach. Meinen Eltern für die ununterbrochene und liebevolle Unterstützung. Meike für alles. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Schwestern Annika und Henrika: Weil ich mit Annika am 9. November 1989 auf Holles Hochzeit tanzte und wir uns noch sehr gut erinnern, und weil das Jahr 1989 noch nichts von Henrika wissen konnte, sie jetzt aber alles über 1989 (so sie denn will).
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Vgl. die Beiträge in Baberowski, Jörg (Hrsg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt am Main/New York: Campus 2009.
Einleitung 1989 und Wir
„The past is a foreign country: they do things differently there“. So beginnt die Erzählung des 1953 veröffentlichten Romans „The Go-Between“ von L. P. Hartley. 1 Die Vorstellung, dass es sich bei der Vergangenheit, an die man sich, wie der Protagonist des Romans, vermittels von Dokumenten, Aufzeichnungen und anderen Speichermedien erinnert, um ein fremdes Land handelt, in dem „andere Regeln“ gelten, ist ein weit verbreitetes, allerdings auch befremdliches Bild. Einerseits ist es der modern denkende Mensch gewohnt, den Lauf der Dinge als sich entwickelnd und fortschreitend, verzeitlicht und vergänglich zu empfinden. Er erfährt die vergangene Zeit folgerichtig nicht als „seine“ Zeit. Sie ist ihm fremd und fern geworden. Andererseits erscheint diese erinnerte, vergangene Zeit mit ihren Erfahrungen, Ereignissen, Entwicklungen und Verwirrungen als weitestgehend identitätsstiftend, sei es als biographische Memoiren, staatlich-bürokratisch gesicherte Archive oder gar als kollektives Gedächtnis. Die Geschichte, die Vergangenheit, die Erinnerungen zeigen so, Friedrich Nietzsche auf den Kopf stellend, „wie man wurde, was man ist“.2 Diese Arbeit begibt sich inmitten dieses spannungsreichen Gefüges zwischen dem gegenwärtigen Betrachter und der betrachteten Vergangenheit. Die Vergangenheit, die hier betrachtet wird, heißt 1989, den rückblickenden Standpunkt des Betrachters markiert das „Erinnerungsjahr 2009“. Bleibt man in der Allegorie von Hartleys Erzähler, so zeigt sich dem Betrachter von 2009 die Vergangenheit 1989 als ein „foreign country“ mit „anderen Regeln“. Der Beobachter aus dem Jahr 2009 wird sich also auf jene Weise zu 1989 verhalten, wie sich Anthropologen, Ethnolo1 2
Hartley, L. P.: The Go-Between. London: Penguin Books 2012, S. 5. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. In: Ders.: Der Fall Wagner u.a. Kritische Studienausgabe herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV 2004, S. 255-374.
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gen, Pioniere und Entdecker, Touristen und andere Reisende einem „foreign country“ nähern, wie sie sich ein solch fremdes Land erschließen und eine Beziehung zu diesem Gebilde entwickeln, das nicht oder nicht mehr ihr eigenes ist. Wir Historiker sind es gewohnt, solche fremden Länder zu erklären, ihre Regeln, die so anders sind, nachzuvollziehen, zu verstehen und nötigenfalls die fremden Sprachen, Sitten und Handlungsweisen zu übersetzen. Wenn es einen Platz für Historiker in der Allegorie von Hartleys Roman gibt, dann liegt dieser irgendwo zwischen Ethnologen, Dolmetschern und Reiseführern. Der Historiker steht in der Mitte, zwischen dem fremden Vergangenen, Geschichtlichen und Gewesenen einerseits, und dem Gegenwärtigen, seinen Zeitgenossen und Mitlebenden andererseits. 3 Der Historiker ist so gesehen ein „Go-Between“, ein Mittler und Übersetzer des Vergangenen.4 Um dieses „Dazwischen“ wird es in dieser Arbeit gehen. Wie lässt sich das Verhältnis 1989/2009 beschreiben? Was liegt in dem Zwischenraum, der hier notdürftig mit einem diakritischen „/“ bezeichnet wurde? Wer und was operiert als „Go-Between“, als Mittler, Vermittler, Übersetzer zwischen 1989 und 2009? Was heißt in diesem Fall „Historisieren“, was „Geschichtspolitik“? Kurz: Was bedeutet der Satz „1989 und Wir“5?
D IE
DREI
E PISTEMOLOGIEN
IN
„1989
UND
W IR “
„1989 und Wir“ – auf diese Formel lässt sich der Inhalt der vorliegenden Untersuchung prägnant verkürzen. Dabei lässt sich dieser Satz auch leicht unterschiedlich verstehen, je nachdem, welchen der drei Satzteile man hervorhebt. Und je nach
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In genau diesem Hans Rothfels’ Definition von Zeitgeschichte als „Geschichte der Mitlebenden und ihre[r] wissenschaftliche[n] Behandlung“ folgenden Sinne ist die vorliegende Arbeit auch eine zeithistorische. Vgl. Rothfels, Hans: Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Heft 1/1953, S. 1-8.
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Diese epistemologische Metaphorik ist Bruno Latour entlehnt, der in „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“ die Figur des Reiseführers einführt, um das Vorgehen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zu veranschaulichen, vgl. Latour 2010a, S. 37ff. Die ANT wird für diese Untersuchung eine methodisch-epistemologisch entscheidende Rolle einnehmen.
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Diese grundlegende Fragestellung sowie ihre Formulierung entlehne ich Frei, Norbert: 1989 und wir? Eine Vergangenheit zwischen „Erinnerungskultur“ und Geschichtsbewusstsein. In: Ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. Erweiterte Taschenbuchausgabe. München: DTV 2009, S. 7-21.
E INLEITUNG
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Betonung dieses Satzes wären mehrere unterschiedliche Analysen vorstellbar, deren Möglichkeiten und Grenzen hier kurz vorgestellt werden sollen. Handelt diese Arbeit also von 1989? Versteht man 1989 hier in einem historischen Sinne und so, dass im klassischen Verständnis Leopold von Rankes geklärt werden soll, was 1989 „eigentlich gewesen“ ist, so muss die Frage verneint werden. Hier wird es nicht darum gehen, das „Wesen“ und das „Eigentliche“ von 1989 als Ereignis, als Zeitschicht oder als Erfahrungsraum zu klären. Insofern handelt diese Arbeit nicht „wesentlich“ von 1989. Sie erhebt auch keinen Anspruch darauf, eine konkrete oder gar korrekte Darstellung dieses epochemachenden und ereignisreichen Jahres zu liefern. Auch wird es nicht darum gehen, die Geschichte der Erinnerung an 1989 kritisch zu beleuchten, sie auf ihren historischen Kern hin zu untersuchen und als Kontrastfolie zur Geschichtspolitik und -kultur zu verwenden. Auch das würde bedeuten, das „Eigentliche“ von 1989 gegen eine ideologisch und/oder epistemologisch konstruierte Version von 1989 auszuspielen. Das wäre sicherlich für manche ehrenwert, steht aber nicht im Fokus und Interesse dieser Untersuchung. Der Grund dafür liegt darin, dass eine solche Analyse reine „Realpolitik“ 6 betreiben würde, die objektivistische Sichtweisen über andere stellt. Eine solche Analyse käme, mit Bruno Latour gesprochen, einer „epistemologischen Polizei“ gleich, die unter Berufung auf das „objektiv Reale“ von 1989 andere Deutungen und Darstellungen denunzieren würde. Diese Epistemologie nähme an, dass 1989 als Fakt „an sich“ und Realität „für sich“ stehe und spreche. Im Angesicht dieser „für sich“ sprechenden Fakten müsste jede anders geartete Aussage über 1989 verstummen. Diese Form der Epistemologie scheint allerdings nicht besonders realistisch, da sie jede Kontroverse um 1989 asymmetrisch unter Verweis auf bestimmte Autoritäten (meist: „die objektiven Fakten“) zu beenden versuchte und gleichzeitig die Multiperspektivität ausblendet, die einer Historisierung und Erinnerung zu 1989 innewohnt. Realistisch wäre eine solche Analyse auch deshalb nicht, da das „Eigentliche“ von 1989 alles andere als epistemologisch klar, selbstredend und -verständlich ist. Vielmehr wird sich zeigen, dass gerade die Objektivität von 1989 nichts weniger als unumstritten ist. 1989 als Objekt von Wissen und Historisierung würde in dieser Analyse eine Vormachtstellung gegenüber allen anderen Teilen des Satzes „1989 und Wir“ einnehmen und diese epistemologisch dominieren. Heißt das nun, dass es in dieser Arbeit nur zufällig oder willkürlich um 1989 geht? Auch das ist nicht der Fall. Nur weil nicht angenommen wird, dass 1989 als ein „eigentliches“ Geschichts- und Wissensobjekt „für sich“ stehen und sprechen
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Damit gemeint ist das Verständnis von Realpolitik, wie Bruno Latour es vertritt, vgl. Latour, Bruno: From Realpolitik to Dingpolitik or How to Make Things Public. In: MTP. Atmospheres of Democracy. Cambridge: MIT Press 2005.
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kann, heißt dies nicht, dass die „Objektivität“ 7 von 1989 in dem Satz „1989 und Wir“ keine Rolle spielt. Ganz im Gegenteil: Es ist eines der vorrangigen Anliegen dieser Arbeit, das Spezifische von 1989 als Geschichtsobjekt zu klären. Man stelle sich einfach eine andere historisch aufgeladene Jahreszahl anstelle von 1989 in dem vorangestellten Satz vor: „1648 und Wir“, „1871 und Wir“, „1945 und Wir“ – die Frage ist, welchen Unterschied diese Jahreszahl und die historischen Implikationen, die mit ihr einhergehen, für die Bedeutung des Satzes machen. Ohne es im Einzelnen an dieser Stelle belegt zu haben, darf hypothetisch angenommen werden, dass dieser Unterschied nicht zu gering ausfallen würde. 1989 ist nicht irgendein geschichtliches Ereignis, das im Jahr 2009 erinnert wird. Es ist mit bestimmten Bedeutungen, Denk-, Sprech- und Zeigweisen, Erinnerungen, Erwartungen und Erfahrungen verbunden, die sich bisweilen stark von anderen Geschichtsobjekten unterscheiden – und dadurch ihren Erinnerungsprozess ein gutes Stück vor- bzw. mitbestimmen. Zu sagen, es gehe nicht in erster Linie darum, 1989 in dem Satz „1989 und Wir“ zu betonen, heißt für diese Arbeit also nicht, 1989 seiner Bedeutung für diesen Satz und die darin implizierte Praxis der Bezugnahme zu berauben. Wenn 1989 also nicht der dominierende Satzteil von „1989 und Wir“ ist, handelt diese Arbeit dann von „Uns“, in diesem Fall der Gegenwart des „Erinnerungsjahres 2009“? Diese Frage ist wiederum schwieriger zu beantworten und bedarf einigen Vorlaufs. Betont man das „Wir“ in „1989 und Wir“, so begibt man sich schnell auf die Seite des Sozialkonstruktivismus. Radikalisiert man diesen Standpunkt, so lässt sich, wie oben vorgenommen, die reine Objektivität eines Ereignisses und einer Zeitschicht leicht verwerfen und einer sozialen Konstruktion dieser „Wirklichkeit“ unterordnen. Was 1989 also „eigentlich“ sei, liegt nun nicht mehr an 1989 selbst und seiner Objekthaftigkeit, sondern wird von „Uns“ gemacht, der Gesellschaft, dem Sozialen, den Zeitgenossen der Gegenwart von 2009. Die Schwierigkeiten fangen dort an, wenn erklärt werden muss, was diese Zeitgenossenschaft, was das „Wir“-Sein im Jahr 2009 überhaupt bedeutete. Wir Historiker sind es gewohnt, die Umstände einer bestimmten Zeitgenossenschaft zur Erklärung heranzuziehen, um die Ereignisse, Menschen und Dinge einer bestimmten Zeitschicht zu verstehen. Versucht man also beispielsweise, den Um-
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Damit ist sowohl gemeint, dass es sich bei 1989 um eine materielle Menge an historischen Datenbeständen handelt als auch, dass diese sich über andere Objekte wie Akten, Fotografien, Denkmäler, etc. materialisieren. Zum epistemologischen Status von Objektiven und Objektivität in der Wissenschaftsgeschichte s. Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
E INLEITUNG
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gang mit Geschichte im Deutschen Kaiserreich 1871-1918 zu untersuchen8, würde man als Historiker auch das Spezifische der Zeitschicht „Kaiserreich“ herausstellen müssen. Da das Kaiserreich bereits unbestritten der Vergangenheit angehört, würde eine solche Untersuchung wohl auch ohne Weiteres als „historisch“ gelten. Das Jahr 2009 gehört allerdings, zu dem Zeitpunkt, als diese Arbeit abgefasst wurde, eher rechnerisch der Vergangenheit an und wird heuristisch nicht zwangsläufig als im geschichtlichen Sinne vergangen empfunden. Man mag deshalb eine Untersuchung, die sich mit dem Jahr 2009 befasst, nicht direkt für eine historische Arbeit halten, sondern eher für eine politologische, eine soziologische oder, je nach Standort des Beobachters oder Herkunft des Verfassers, sogar für eine ethnologische. Die Differenz zwischen einer Untersuchung der Geschichtspolitik und -kultur von 1871-1918 und einer zu 2009 liegt also darin, dass man nicht mehr von „Uns“ sprechen würde, wenn es um das Kaiserreich geht, 2009 aber noch „unsere“ Zeit ist. 2009 ist heuristisch noch kein foreign country mit „anderen Regeln“, das Kaiserreich schon. Trotzdem, so würde ein Soziologe, Politologe oder Ethnologe einwerfen, können wir als Zeitgenossen nicht annehmen, dass „wir“ automatisch die Regeln „unserer“ Zeit und Gegenwart verstehen – zumindest nicht analytisch und/oder wissenschaftlich. Vielmehr wäre „uns“ 2009 als Zeitschicht ebenso erklärungsbedürftig wie 1871. Lässt man sich darauf ein, dass 2009, seine Regeln und Spezifika trotz aller Zeitgenossenschaft als „fremd“ erscheinen, gerät auch das heuristisch für gegenwärtige Phänomene als erklärend empfundene soziale „Wir“ selbst in Erklärungsnot. Wenn dann weiter gefragt wird, was 2009 für eine Gegenwart ist, was diese Gegenwart ausmacht, muss auch gefragt werden, wer „Wir“ als Zeitgenossen dieser Gegenwart sind, was dieses „Wir“ konstruiert und konstituiert, ob es auch „unser“ „Wir“ ist, oder ein „fremdes“ „Wir“. Kurz: Man kann nicht mehr davon ausgehen, dass das Sein, Erscheinen und „Eigentliche“ von 1989 einfach durch dieses „Wir“ erklärt werden kann, da es nun selbst erklärungsbedürftig geworden ist. Insofern wird in dieser Untersuchung auch nicht das „Wir“ als das Soziale, das in der Lage ist, alles Gegenwärtige und Geschichtliche (auch 1989) zu konstruieren, betont. Sondern dieses „Wir“ wird selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Heißt das nun, dass auch das „Wir“ in „1989 und Wir“ eigentlich keine Rolle spielt, nun, da es selbst erklärungsbedürftig erscheint? Auch das ist nicht der Fall. Denn die Zeitgenossenschaft, die „Wir“ im „Erinnerungsjahr 2009“ mit 1989 eingingen, fand unter spezifischen Umständen statt, die sowohl ein bestimmtes phänomenologisches Erscheinen und ontologisches Dasein der Vergangenheit 1989 herausforderten, als auch durch diese Vergangenheit mitgeformt wurden. Diese 8
So geschehen bei Hardtwig, Wolfgang: Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich. In: Ders. (Hrsg.): Geschichtskultur und Wissenschaft. München: DTV 1990, S. 264-301.
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Umstände sind zwar noch zu klären, dadurch aber nicht weniger relevant. Das Argument, das hier gegen eine absolut soziologische Erklärung durch das „Wir“ angebracht wurde, geht schlicht nicht davon aus, dass „Wir“ bereits wissen und vollständig verstehen, woraus die Gesellschaft, die Welt und die Zeit, in der „wir“ leben, analytisch zusammengesetzt ist. Die Untersuchung, die hier vorgenommen wird, muss all diese Elemente neu klären.9 Schließlich spielt die Szene des „Erinnerungsjahres 2009“ nicht in irgendeiner Zeitschicht, sondern in einer spezifischen. Und so, wie wir Historiker davon ausgehen würden, dass das Kaiserreich eine Spezifik ausweist, die diagnostiziert werden kann und sogar aus Erklärungsnotwendigkeit geklärt werden muss, gilt die gleiche Logik des Erklärens und Verstehens 10 auch für das „Erinnerungsjahr 2009“. Diese Untersuchung wird also nicht darum herumkommen (und dies im Übrigen auch nicht wollen), eine Zeitdiagnose zu 2009 zu stellen. Wenn aber diese Arbeit weder in erster Linie von 1989 als Objekt, noch von „Uns“ als konstruierendem sozialen Kollektiv handelt, was ist dann der Gegenstand der Untersuchung? Akzeptiert man die oben angeführten Einwände, muss eine dritte Möglichkeit der Beschreibung und Untersuchung, ein drittes epistemologisches Verfahren gefunden werden. Aus dem Satz „1989 und Wir“ bleibt nunmehr lediglich ein Satzteil übrig, das tatsächlich der wichtigste und zentralste für diese Untersuchung sein wird: das „Und“.11 „Und“ ist eine Konjunktion. Sie konjugiert sowohl das Objekt 1989 als auch die Subjekte des „Wir“. Das „Und“ steht zwischen Subjekt und Objekt, den „Dingen an sich“ und den „Menschen unter sich“, dem Archiv der Vergangenheit und den Konstrukteuren der Gegenwart. Das „Und“ ist ein Go-Between. Es bildet die Mitte des Satzes, es vermittelt zwischen den Satzteilen. Und noch wichtiger: Es stellt eine Relation zwischen ihnen her, zwischen 1989 und dem soziologischen „Wir“; es trennt sie nicht voneinander, sondern fügt diese einander zu, addiert sie miteinander (ein anderes, mathematisches, Zeichen für das „Und“ wäre ein „+“). Man mag dies 9
Damit folgt die hier vorgeschlagene Analyse dem soziologischen Programm der Akteur-Netzwerk-Theorie, vgl. Latour 2010a, S. 9ff.
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Zu diesen beiden Grundgesten historischen Arbeitens vgl. Welskopp, Thomas: Erklären, begründen, theoretisch begreifen. In: Goertz, Hans-Jürgen (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt 2007, S. 137-177 und Muhlack, Ulrich: Verstehen. In: Goertz 2007, S. 104-136.
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Dies folgt der „Modernen Verfassung“ Bruno Latours, dessen epistemologischen Vorschlag, die Praktiken der Mitte, den Bereich zwischen Objekten und Subjekten zum Gegenstand der Analyse zu machen, ebenfalls aufgenommen wird, vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 22ff.
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zunächst für wortspielende Sophisterei halten, allerdings verändert sich mit der Betonung des „Und“ auch das analytische Verfahren des Satzes „1989 und Wir“ hin zu einer Praxis, die in der Lage ist, mit den Einschränkungen der Subjekt/ObjektDichotomie aufzuräumen. Dieser Punkt lässt sich an dem Kommunikationsmodell12 verdeutlichen, das Claude Elwood Shannon entworfen hat und bis heute als Grundlage der Informations- und Kommunikationstechnologie verwendet wird. Laut Shannon lässt sich Kommunikation, im Sinne der Übertragung von Information, mathematisch bestimmen. Oft wird dieses Modell auf die Sender/Empfänger-Beziehung verkürzt dargestellt.13 Auf die drei Epistemologien von „1989 und Wir“, die Geschichtspolitik und -kultur sowie Übertragungs- und Vermittlungsprozesse angewendet, wie sie bisher für den Fall des „objektivistischen“ 1989 und „sozialkonstruktivistischen“ Wir dargestellt wurden, ließe sich 1989 auf die linke Seite der Message, dem zu Vermittelnden, zu Sendenden verorten. Dort sitzt die Quelle des Sprechens, sitzen die Fakten, die „für sich“ sprechen.14 Der zweite Fall des „Wir“-Sozialkonstruktivismus ließe sich dann auf der rechten Seite des Receiver, des Empfängers einordnen, der die Message seiner Beschaffenheit nach empfängt, versteht, interpretiert, bewertet und in Handlung umsetzt, auch eingedenk des Falles, dass er sie (absichtlich oder nicht) „falsch“ versteht.15 In diesem Fall wäre der Empfänger die entscheidende Instanz für den gelungenen Vermittlungsprozess, indem er die Message seiner Destination zuführt, denn um dorthin zu gelangen, muss sie durch den Receiver gehen. Die Objekt/Subjekt-Dichotomie bei der Vermittlung von Geschichte und ihre Analogie zu Shannons Kommunikationsmodell wäre damit aber nur auf zwei Elemente verkürzt, die beide auf ihre Art den gesamten Vermittlungsprozess entscheiden und dominieren. An dieser Stelle kommt die dritte Epistemologie des „Und“ ins Spiel. Das „Und“ soll all die in dieser Verkürzung vergessenen und übersehenen 12
Shannon, Claude E.: A Mathematical Theory of Communication. In: The Bell System Technical Journal Vol. 27/1948. Zur ideengeschichtlichen Genese der Informationstheorie vgl. Gleick, James: The Information. A History, a Theory, a Flood. New York: Pantheon Books 2011, besonders S.221ff. Zum Verhältnis von Informationstheorie und geschichtlichem Denken s. Ernst, Wolfgang: Signale aus der Vergangenheit. Eine kleine Geschichtskritik. Paderborn: Fink 2013.
13
So zum Beispiel bei Auer, Peter: Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 7-17.
14
Ein rein auf dem vermittelten Zeichen basierte Theorie der Semiose findet sich bei Ogden, C. K./Richards I. A.: The meaning of meaning. A study of the influence of language upon thought and of the science of symbolism. London: Routledge 2001.
15
Eine derart kontextbasierte Zeichentheorie liefert Morris, Charles: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik der Zeichentheorie. Frankfurt am Main: Fischer 1988.
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Instanzen wieder in das Vermittlungsmodell einbringen, die sonst als wenig entscheidend für den gesamten Prozess angesehen würden (was natürlich nicht in Shannons Sinn wäre, sondern der stark verkürzenden und vereinfachenden Rezeption seines Modells anzulasten). In Shannons Modell tauchen nicht nur Message und Receiver auf, sondern auch noch etliche andere Elemente, die zwischen diesen beiden Instanzen liegen: Transmitter, Signal, Noise Source. In der Mitte findet sich darüber hinaus eine kleine Box, die Black Box der Kommunikation, der Übertragung und Vermittlung. Auf diese Black Box in der Mitte des Prozesses wird es hier ankommen. Denn schließlich muss jede Art der Vermittlung laut Shannon durch alle diese Instanzen gehen. Deswegen wäre eine Verkürzung auf nur sendende (objektivistische) oder empfangende (sozialkonstruktivistische) Elemente der Vermittlung nicht nur unzulässig, sondern auch unterkomplex. Die Epistemologie des „Und“ soll diese Instanzen der Vermittlung addieren, hinzufügen, sie einbeziehen und ihnen ihre Stimme und Rolle zuteilen. Das Modell Shannons ist eine mathematische Abstraktion, die auf den ersten Blick nicht viel mit der politischen, kulturellen, medialen und technischen Vermittlung zu tun hat (wobei dies für letztere gerade nicht gilt). An dieser Stelle sollte Shannons Beitrag zur Informationstheorie allerdings nicht nur die Methode und Perspektive dieser Arbeit veranschaulichen. Sie steht vielmehr für einen oft übersehenen Faktor der Geschichtsvermittlung: Die Technik der Vermittlung selbst. Shannons Modell war ursprünglich für die Ingenieure, Mathematiker und Physiker der Bell Laboratories gedacht, deren Arbeit dazu führte, dass die amerikanische Ostküste mit der Westküste über elektronische Kabel telefonisch kommunizieren konnte.16 Sie half, die Stimmen von Verwandten, Bekannten, Geliebten, Kollegen und Vorgesetzten über weite Strecken zu transportieren und dadurch eine Art Anwesenheit in Abwesenheit zu gewährleisten. Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Heute sind die Auswüchse dieser Kommunikationstechnik unter Stichworten wie „Massenkommunikation“, „Multimedialität“, „Globalisierung“ und anderen Theoremen der „Vernetzung“ nahezu definitorisch für „unsere“ Welt geworden. „Die Welt ist flach“17 lautet ein geläufiges Wort, um das 21. Jahrhundert zu beschreiben, das schließlich auch die Szene stellt, in der das „Erinnerungsjahr 2009“ spielte. Bei einer Analyse dieser Szene sind die technologischen Bedingungen der Vermittlung daher immer mitzudenken. Doch nicht nur Apparaturen und Technologien sind mit den Techniken des Vermittelns gemeint. Es geht auch um Praktiken, Redeweisen, Darstellungsarten. Es geht um die Modi des Vermittelns, die im Falle des „Erinnerungsjahres“ von Konzerten über Ausstellungen, Monographien, Filme, Comics, Podiumsdiskussio16 17
Gleick 2011, S. 168ff. Friedman, Thomas L.: Die Welt ist flach. Globalisierung des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
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nen, Tweets und Reden vor Parlamenten verschiedene Formen annahmen und entsprechend verschiedene Inhalte produzierten. Müsste sich diese Untersuchung auf einen Objektbegriff stützen, es wäre wohl der des Mediums der Geschichte. Dieser Begriff ist auf produktive Art schwammig und auch in seiner eigenen Disziplin, den Medienwissenschaften, mehr als umstritten und weniger als klar.18 Das macht ihn allerdings weder unbrauchbar noch uninteressant, am wenigsten wird seine Operationalisierbarkeit dadurch eingeschränkt. Hier wird der Begriff Medium im eher weiten Sinne verwendet: In ihm treffen sich etymologisch und metaphorisch sowohl die „Mitte“ (der Ort des „Und“) als auch die Vermittlung (die hier untersuchte Praxis).19 Gleichzeitig liefert der Begriff des Mediums einen Verweis auf die Techniken, Apparaturen und Modi der Vermittlung – der Art und Weise also, wie eine Verbindung, eine Relation zwischen zwei eigentlich getrennten, differenten oder auseinanderliegenden Punkten und Instanzen hergestellt wird. Im verbindenden Begriff des Mediums entsteht eine Brücke zwischen Subjekten und Objekten, Vergangenheiten und Gegenwarten, zwischen Orten und zwischen Personen. Diese drei Epistemologien mit Betonung auf ihr Medium in ein Zusammenspiel zu bringen, ist die methodische Aufgabe dieser Arbeit.
D IE S ZENE
DES
„E RINNERUNGSJAHRES 2009“
„Was läuft 2009“ fragte der Spiegel in der Titelstory seiner ersten Ausgabe desselben Jahres.20 Als eine mögliche Antwort auf diese Frage wurde festgestellt: „Eigentlich sollte es ein fröhliches Jahr werden, eines der großen Feste“ 21, denn: „2009 jährt sich die Gründung der Bundesrepublik zum 60. Mal, der Fall der Mauer zum 20. Mal. Für all diese Jubiläen waren Reden vorgesehen, die eine positive Pointe haben sollten: Die Lehren aus Krieg und Holocaust sind gezogen, die Bundesrepublik ist ein ordentlicher Staat geworden, die deutsche Einheit ist, alles in allem, eine Erfolgsgeschichte. [...] Das hat bei den vergangenen Jubiläen immer ein bisschen zu selbstgefällig geklungen, ein bisschen zu
18
Überblicke dazu bei Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 und Mersch, Dieter: Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius 2006.
19
Dieter Mersch spricht bezüglich der Praxis von Medien folgerichtig auch von „Vermittelungen“, da Medien zwischen die Dinge in deren Mitte gestellt werden und gleichzeitig als vermittelnde Instanz operieren. Vgl. Metzger, Stefanie: Artmix Gespräch mit Dieter Mersch auf Bayern 2 am 27.4.2012.
20
Titelblatt, Der Spiegel 1/2009.
21
Höges, Clemens u.a.: Jahr der Bewährung. Der Spiegel 1/2009.
20 | 1989 UND WIR rund. Alles gutgegangen, der Rest ist Formsache. Nun gibt es plötzlich wieder eine Frage an die Deutschen, an Deutschland: Wie bewährt sich das Land dieses Mal in einer schlimmen Wirtschaftskrise? Wie kommen gerade die Deutschen, die Demokratie erst über wachsenden Wohlstand gelernt haben, durch schlechte Zeiten?“22
Diese Passage brachte ohne zu zögern die Tagespolitik von 2009 (namentlich: Wirtschaftskrise und Demokratisierung) mit der Geschichtspolitik zu den anstehenden Jubiläen zusammen. Die sich so der Geschichtspolitik im „Erinnerungsjahr“ aufdrängende Fragen lauten: Was war 2009? Vor welcher Herausforderung stand die darin eingebettete Geschichtspolitik? Und wie ließen sich diese möglicherweise über eine Politik zur Geschichte bewältigen? Nach der mehr oder weniger dekonstruktivistischen Lesart des Satzes „1989 und Wir“ und der drei darin enthaltenen Epistemologien, sind ein paar Worte zur Szenerie dieses „Erinnerungsjahres“ und des Panoramas, vor dem es sich bewegt, angebracht.23 Wir Historiker sind es, wie bereits erwähnt, gewohnt, ein solches Zeitschichtenpanorama für unsere Gegenstände zu eröffnen. Welche Umstände waren es also, die den Raum öffneten, in dem sich das „Erinnerungsjahr 2009“ ereignete? Was hieß es, sich in diesem Raum zu „erinnern“? Und welche Rolle spielte das Ereignischiffre 1989 dabei? In seinem popkulturellen Rückblick auf die sogenannten „Noughties“, die „Nuller-Jahre“ von 2000 bis 2009, stellte der Musikjournalist Simon Reynolds folgende Kulturdiagnose: Die Noughties seien von ihrer eigenen (popkulturellen) Vergangenheit besessen, es grassiere die für Reynolds’ Buch titelgebende Retromania.24 Die Hauptthese Reynolds’ lautet, dass es keine genuine Originalität in der Entwicklung der Popkultur der Noughties gebe, sondern diese sich als fortlaufende Bricolage aus symbolischen, musikalischen oder konservatorischen Verweisen auf eine (pop-)kulturelle Vergangenheit präsentierten. Dominierende Figuren und Techniken dieser Entwicklung seien das Archiv, der Sammler, der Kurator und der spukende Geist/Untote.25 Diese Figuren werden auch, im konkreten oder übertragenen Sinn, in dieser Untersuchung eine Rolle spielen.
22
Ebd.
23
Zum Begriff des Panoramas in epistemologischer Perspektive s. Latour 2010a, S. 316ff.
24
Reynolds, Simon: Retromania. Pop Culture‘s addiction to its own past. London: Faber and Faber 2012.
25
Einige dieser Figuren werden intensiver beleuchtet bei Metz, Markus/Seeßlen, Georg: Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life-Science und Pulp Fiction. Berlin: Matthes und Seitz 2012, Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt am
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Reynolds schien, gemessen an der Debatte, die sein Buch auslöste, einen Nerv getroffen zu haben. Allerdings sind die Auswüchse der Retromania Historikern nicht unbekannt. Unter dem Schlagwort „Memoryboom“ grassiert seit einigen Jahren ein Phänomen, das Erinnerung und Historisierung immer mehr in lebensweltliche und kulturelle Zentren rückt.26 Auch Reynolds’ Untersuchungsobjekt, die Popkultur, ist davon nicht frei, wie auch der Sammelband „History goes Pop“ 27 darstellt: Geschichte im Fernsehen, Geschichte im Computerspiel, Geschichte im Roman, in Comics und im Museum, Geschichtsportale im World Wide Web, Geschichte in den Tageszeitungen. Auch die Jahrestage schienen sich zu häufen und Kultur, Politik und Gesellschaft immer mehr und fast jährlich in irgendeiner Form zu beschäftigen. Komplementär dazu erfreuen sich Theorien des kulturellen Gedächtnis immer größerer Beliebtheit und sind theoretisch wie auch heuristisch zum Gemeinplatz und common sense geworden. Die Trennschärfen zwischen Geschichtlichkeit, Historisierung und Erinnerung verschwimmen immer mehr. Mit Jean Baudrillard gesprochen wird die (museale, konservierte) Vergangenheit immer mehr zu einer „Dimension des Lebens“.28 Die Figuren und Techniken, die laut Reynolds eine solch breite „Erinnerungskultur“ begleiten, schlagen sich immer mehr im alltäglichen und kulturellen Leben nieder. So sind für Reynolds die Phänomene Youtube und iTunes der Unternehmen Google und Apple die technisch realisierten Bedingungen eines neuen archivarischen Prinzips, das alles immer und überall verfügbar machen kann, ohne eine bestimmte Reihenfolge zu implizieren. Sie speichern auf Silizium und in Glasfaserkabeln ganze Kulturbestände (auf dem iPod heißt der komplett gespeicherte Musikund Datenverband folgerichtig Library) und Algorithmen29 schlagen berechnete Weiterverzweigungen vor. Man kann sich durch Youtube und vergleichbare Dienste klicken, ohne an ein Ende zu kommen oder genau zu wissen, was als nächstes folgen könnte. Digitale Archive, wie sie sich mitsamt ihrer Hardware immer weiter ausbreiten, sind laut Reynolds nicht mehr linear und auch nicht dauerhaft. Vielmehr Main/New York: Campus 2007 und Bourriaud, Nicolas: Postproduction. Culture as screenplay. How Art reprogrammes the world. New York: Lukas & Sternberg 2005. 26
Ein Kompendium dieses Phänomens bietet Hardtwig, Wolfgang/Schug, Alexander (Hg.): History sells. Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt. Stuttgart: Steiner 2009.
27
Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien. Bielefeld: transcript 2009.
28 29
Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978, S. 18. Dazu, wie Algorithmen sich auf Wissenstechniken und -politiken, und damit auch Techniken und Politiken des historischen Wissens, auswirken, vgl. Bunz, Mercedes: Die stille Revolution. Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen. Berlin: Suhrkamp 2012.
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funktioniert ihre Art, Gespeichertes als eine Art allgemeiner und technisierter Erinnerung (digitaler Speicher heißt im Englischen nicht zufällig Memory30) verfügbar zu machen und auch zu behalten, wie ein verzweigtes Rhizom.31 Die technische Seite dieser Art des Archivs verschiebt sich laut Wolfgang Ernst weg von einer konservierenden Lagerung hin zur Form des Übertragens.32 Das Archiv wird dadurch fluktuierender, nicht-linearer, verzweigter, unübersichtlicher und auch unzuverlässiger – aber auch immer leichter zugänglich. Man muss diese Entwicklung weder verdammen noch begrüßen, am wenigsten jedoch sollte man sie und ihre Konsequenzen für eine Technik des Erinnerns gerade in einem „Erinnerungsjahr“ geringschätzen, in dem diese Technologien sich weit verbreitet haben. Tatsächlich werden im empirischen zweiten Teil der vorliegenden Arbeit des Öfteren genau diese Techniken und ihre Rolle bei der Vermitt(e)lung von 1989 im Mittelpunkt stehen. Ein weiterer Aspekt, der sich bezüglich Techniken wie Facebook, Twitter oder Youtube im Allgemeinen mit dem Stichwort Web 2.0 verbindet, ist die sogenannte Netzpolitik.33 2009 konnten einige globale und lokale Ausläufer dieser Politik für einige Zeit die Schlagzeilen bestimmen. Am anschaulichsten war dies bei den meist über Kommunikationsdienste wie Twitter oder Facebook organisierten Demonstrationen im Iran gegen die Ergebnisse der dortigen Präsidentschaftswahlen, welche mitunter die „Twitter-Revolution“ genannt wurden.34 Zwar konnte im eigentlichen Sinne von Revolution keine Rede sein, da die Demonstrationen keinen direkten politischen Umbruch oder, im Revolutionsbegriff von Thomas Kuhn, Paradigmenwechsel35 hervorbringen konnten. Auch die Rolle von Twitter und Facebook sollte
30 31
Gleick 2011, S. 398ff. Vgl. Reynolds 2012, S. ix-xiv sowie dessen Gegenwartsdiagnose im Abschnitt „Now“, S. 3ff. Die philosophische Figur des Rhizoms findet sich bei Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin: Merve 1992.
32
Vgl. Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin: Merve 2002, S. 129ff.
33
Vgl. zu diesem Stichwort vor allem Beckedahl, Markus: Die digitale Gesellschaft. Netzpolitik, Bürgerrechte und die Machtfrage. München: DTV 2012. Netzpolitik meint an dieser Stelle, dass sich durch und mit Techniken der Vernetzung auch politische Akte durchführen lassen und teilweise erst möglich werden. Dadurch verändert Technik auch Politik und vice versa.
34
Vgl. Morozov, Evgeny: Iran. Downside to the „Twitter Revolution“. In: Dissent Fall 2009, S. 10-14.
35
Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
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in dieser Sache nicht überschätzt werden.36 Allerdings waren die Ereignisse im Iran in dieser Hinsicht Vorboten für die Proteste gegen „Stuttgart 21“, den sogenannten „Arabischen Frühling“ und die „Blackberry-Riots“ in London 2011 bis hin zur globalen „Indignados“- und „Occupy“-Bewegung. Diese waren alle größere politische und zivile Versammlungen, die ihre Mobilisation und Organisation vor allem mit Hilfe von Web 2.0-Diensten, Handys, Laptops und Smartphones betrieben. Das Web 2.0 und die Verbreitung von Informationstechnologie, so könnte eine Diagnose lauten, hat nicht nur die Wissenstechniken des Archivs und Zugriffs verändert, sondern auch zwei zentrale Aspekte der Politisierung und Demokratisierung technisch umgesetzt: Die Vermehrung von Stimmen und die Mobilisierung von Interessen. Wenn Politik und das Politische nicht allein als Sache von repräsentierenden Parteien und Ausschüssen verstanden werden soll, sondern als eine Sache der polis, die alle darin lebenden betrifft, die eine Stimme haben, gehört und gezählt werden können (der demos), dann kann durchaus gesagt werden, dass die Vermehrung dieser Stimmen und die Mobilisierung diverser Interessen, wie sie im frühen 21. Jahrhundert beobachtet werden können, eine breitere Politisierung zur Folge hatte, die gleichzeitig andere Formen annimmt als gewohnt, bzw. das Versprechen der Demokratie auf anderem Wege einzulösen versucht. Diese Politisierung um 2009 wendete sich in erster Linie gegen ein Phänomen, das der Politologe Colin Crouch in seinem 2008 auf Deutsch erschienenen gleichnamigen Essay „Postdemokratie“ nennt und den Verfall politischer Repräsentation und demokratischer Interessenvertretung meint. Crouch definiert sein Theorem folgendermaßen: „Der Begriff [Postdemokratie] bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor gewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“37
Auch wenn Crouch im nächsten Satz seine Diagnose eine „Übertreibung“ nennt, sieht er doch die Tendenz zur wachsenden Ausbreitung dieser Symptome in demo36
Siehe dazu Morozov, Evgeny: The Net delusion. The dark side of internet freedom. New York: Public Affairs 2011.
37
Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 10.
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kratischen Staaten mit Sorge. Man muss Crouchs Einschätzung im Detail nicht teilen. Dennoch schließen sich die neueren politischen Bewegungen dieser Diagnose meist mehr oder minder explizit an. Auch die Finanzkrise, die seit 2007/2008 eine neue Art des politischen Umgangs mit dem Markt und dessen Techniken und Institutionen fordert, lässt sich als postdemokratisches Phänomen verstehen, da auch dort die „Interessen der Wirtschaft“ im Zentrum des politischen Handelns standen. Gerade deshalb sah der Spiegel auch in der Finanzkrise eine Herausforderung der bundesrepublikanischen Demokratie. Ähnliches galt für die 2007 beginnenden Proteste gegen „Stuttgart 21“, die sich ebenfalls gegen ein am Souverän des demos vorbei entschiedenes, aus Sicht der Protestierenden reinen Wirtschaftsinteressen unterworfenes Bahnhofsbauprojekt richteten.38 Auch die Regierungen in Teheran, Kairo oder Tunis, die sich seit 2009 immer wieder Protesten gegenüber sahen, wurden offiziell demokratisch gewählt, jedoch von den Protestlern als mehr oder weniger „postdemokratisch“ empfunden.39 Das ging diskursiv schließlich so weit, dass Kanzlerin Merkel sich im Fall der Demonstranten auf dem Kairoer Tahrir-Platz an den Herbst 1989 und die Friedliche Revolution in der DDR erinnert fühlte.40 Was sich um 2009 also bis dato beobachten lässt, ist eine vermehrt öffentliche und internationale Auflehnung gegen postdemokratische Tendenzen in der Politik.41 Dies betraf das „Erinnerungsjahr 2009“ insofern direkt, als dass auch die darin statt38
Wenngleich diese Darstellung der Lage sicherlich einseitig ist. Dennoch bestimmte diese Einschätzung über das Zustandekommen und besonders die Umsetzung des Bauvorhabens den Protestdiskurs. Zur Geschichte der Debatte s. Brettschneider, Frank (Hrsg.): Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz. Wiesbaden: Springer VS 2013.
39
Zur Darstellung des „Arabischen Frühlings“, Analogien zum empörten „Wutbürgertum“ und der Rolle neuerer Technologien vgl. Perthes, Volker: Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen. München: Pantheon 2011, Lüders, Michael: Tage des Zorns. Die arabische Revolution verändert die Welt. München: Beck 2011 und Ghonim, Wael: Revolution 2.0. Wie wir mit der ägyptischen Revolution die Welt verändern. Berlin: Econ 2012.
40
So äußerte Merkel sich auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2011, vgl. Krüger, Paul-Anton/Schmidt, Janek: Frau Merkels Gespür für die Revolution. Sueddeutsche.de am 5.5.2011 (URL: http://sz.de/1.1055828 [19.8.2013]).
41
Als in Worte gefasster Klassiker dieses „Wutbürgertums“ gilt mittlerweile Hessel, Stéphane: Empört Euch! Berlin: Ullstein 2011.Um 2009 erschienen einige Titel, die dieses Thema aufgriffen, unter anderem Brüggemann, Axel: Wir holen uns die Politik zurück. Frankfurt am Main: Eichborn 2009; Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand. Hamburg: Nautilus 2010; Müller, Albrecht: Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen. München: Droemer Knaur 2009.
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findende Geschichtspolitik direkt in diese politischen und politisierenden Tendenzen eingebunden war. Wenn die Sphäre der Politik, besonders in Demokratien, sich um 2009 dem Vorwurf aussetzen musste, keine geregelte und demokratische Repräsentation mehr zu leisten, dann betraf dies auch die Geschichtspolitik, die sich per se nur mit Repräsentation beschäftigt – wenngleich es sich nicht direkt um die Interessen eines Souveräns, sondern die Repräsentation historischer Tatsachen handelt. Es wird sich zeigen, dass gerade das Chiffre 1989 sich um 2009 als geschichtspolitischer Glücksfall erweisen sollte, konnten doch darunter im historischen Bezug nahezu alle Bereiche des Politischen adressiert werden, die auch die Tagespolitik von 2009 betrafen. Sowohl in der Friedlichen Revolution als auch um 2009 ging es um ein Repräsentationsdefizit und die Forderung nach weitergehender Demokratisierung: dass der Souverän nicht hinter verschlossenen Türen und im Sinne einer Ideologie Entscheidungen trifft, sondern dass die Stimmen des demos wieder in das Zentrum des Politischen rücken. In diesem Sinne waren „Wir sind das Volk“, das vielleicht zentralste Motto der Proteste von 1989, und das „We are the 99%“ der „Occupy“-Bewegung42 nahezu deckungsgleich (wenngleich gegen unterschiedliche Ideologien gerichtet). Beide einte der Ruf nach einer anderen Souveränität im demokratischen Prozess. Letztlich ist diese Forderung nach Demokratisierung, nach Pluralität der Stimmen und Ausweitung der Zählung der beteiligten Stimmen ein Prozess mit dem Ziel, die an der Politik beteiligten Akteure zu vermehren. Die Geschichtspolitik von 2009 blieb von dieser Forderung nicht unberührt und es wird sich zeigen, dass gerade diese Vermehrung der Akteure für die Geschichtspolitik des „Erinnerungsjahres 2009“ kennzeichnend war. Selbst wenn das Jubiläum von 1989 ein vermeintlich bundesdeutsches Phänomen bildete, so zeichnete das Abstraktum der Demokratisierung und der Repräsentationskrise innerhalb des Politischen doch ein globales Panorama, auf das, wie zu zeigen sein wird, im „Erinnerungsjahr“ immer wieder eingegangen wurde. Mehr noch: Es wird sich zeigen, dass diese Globalität im Zeichen der Demokratisierung (für die wiederum 1989 als Zeichen stand) erst – und auf gewisse Weise neu – hergestellt wurde. Was sich also um 2009 abzeichnete war eine Krise der politischen Repräsentation, die einher ging mit einer immer stärker werdenden Forderung nach Einlösung der versprechen der Demokratie.43 42
Zwar gab es die „Occupy“-Bewegung erst seit Herbst 2011, sie gehörte allerdings zu den um 2009 eingeleiteten Protesten gegen postdemokratische Tendenzen in der lokalen und internationalen Politik und war somit ein Ausläufer des Diskurses, der sich an der Schnittstelle 1989/2009 ausmachen ließ.
43
Eine Analyse dieser Zusammenhänge lieferte zuletzt Graeber, David: The Democracy Project. A History, a Crisis, a Movement. New York: Spiegel & Grau 2013. Dass es dabei vor allem um die Krise des demos geht, wird durch das rot hervorgehobene „Demo“
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Es ist sicher kein Zufall, dass eines der zentralen politischen Themen um 2009, die Ökonomie, sich um die Organisation des oikos drehte. Dieser Begriff, politisch verstanden, meint nichts anderes als die Mobilisierung der Gemeinschaft und der beweglichen Inventare des eigenen Haushalts. Er behandelt sowohl das Problem des „Wir“ (als zu schaffende und organisierende Gemeinschaft), als auch des „und“ (als Modus des Organisierens, Zählens und Bezugnehmens innerhalb des oikos).44 Dass das Gesetz (gr. nomos) des oikos – die Ökonomie – durch die Finanzkrise ins Wanken und an Grenzen geriet, die neu geordnet, neu formuliert und neu gedacht werden mussten, zeigt, dass die Komplexität, mit der sich die Politik um 2009 auseinanderzusetzen hatte, eine riskante Politik hervorbrachte. Es wird sich zeigen, dass gerade 1989 und die dazugehörige Geschichtspolitik im „Erinnerungsjahr 2009“ dazu geeignet erschienen, eine neue Gemeinschaftsordnung zu beschwören und hervorzubringen, die vor allem, wie der Spiegel in der eingangs zitierten Passage nahelegte, durch die Krise der Ökonomie als notwendig erschien. Die moderne Welt hat ihre Gegenstände, von denen sie weiß, über die sie spricht, mit denen sie umgeht und nach denen sie fragt, stark vermehrt. 45 Die Folge davon ist eine komplexere Welt, in der Techniken, Technologien, Gemeinschaften, Naturen und Ökonomien auf dem Prüfstand stehen. Zu den Elementen dieser Komplexität gehört auch die Vermehrung der Vergangenheiten und dazugehörigen Geschichten. Diese bevölkern zunehmend die „breite Gegenwart“, welche die moderne Welt durch die Vermehrung ihrer Gegenstände hervorbringt. 46 Eine solche Komplexität ist politisch kaum in einem Parteien- und Institutionsschema zu fassen, das noch stark in klar abtrennbaren, kategorisch einzuordnenden Blöcken von Inte-
in „Democracy“ im Titellayout von Graebers Buch deutlich. Die Krise des oikos beschrieb selbiger Autor bereits in Graeber, David: Debt. The first 5,000 years. New York: Melville House 2012. Dass Graeber sich beider Krisengebiete so explizit annimmt, erklärt auch seine seit 2009 gestiegene Popularität, s. dazu Martini, Tania: Die Rakete der Kapitalismuskritik. Taz.de am 3.6.2012 (URL: www.taz.de/!94485/ [20.8.2013]). 44
Vgl. Serres, Michel: Der Naturvertrag. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 und Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010.
45
Laut Bruno Latour ist dies der Grundzug der Moderne überhaupt, s. Latour 2008, S. 43ff.
46
Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 16f.
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ressens- und Handlungsgemeinschaften denkt. Auch das wurde um 2009 deutlich, wie noch zu zeigen sein wird.47 Wenn um 2009 die Pluralität des demos und die Komplexität des oikos zentrale politische Probleme und Handlungsfelder bildeten, berührte dies auch die Geschichtspolitik als Teil des politischen Feldes. Die praktische Vermitt(e)lung von 1989 war nicht immer direkt davon betroffen, fand jedoch vor diesem Panorama statt, das in der Geschichtspolitik von 2009 des Öfteren seine Spuren hinterließ. Auch deshalb machte es einen Unterschied, in welchem (politischen) Kontext das „Erinnerungsjahr“ stattfand.48
D AS ARCHIV
VON
1989
Nun hatte dies auf den ersten Blick nicht viel mit der DDR, der Friedlichen Revolution, dem Mauerfall oder der dazugehörigen Geschichtspolitik zu tun. Allerdings nur auf den ersten Blick: Wie sich im Laufe der Darstellung zeigen wird, waren alle diese Elemente der Nährboden der geschichtspolitischen Theorie und Praxis zu 1989. Diese Geschichte bekam eine politische Funktion, die sowohl die Krise des oikos als auch der polis, der Repräsentanten und Sprecher sowie der Souveränität beinhaltete. Was also bedeutete 1989? Und was bedeutete es für die Zeitschicht 2009? 1989 war zuvorderst ein umfangreiches Archiv an Bildern, Aussagen, Zeitzeugen, die befragt werden konnten, an Texten und Artefakten, die seit 1989 selbst schon Gegenstand des Historischen geworden waren. Es ist eine Zeitschicht, die
47
In diesem schematischen Politikverständnis, das nicht über eine Parteienbildung hinausweist, scheitert beispielsweise jeder Versuch, eine Bewegung wie „Occupy“ einzuordnen, die auf die Delegation von Repräsentanten verzichtet, und eher, wie im ZuccottiPark zu beobachten war, die Organisierung des oikos als politische Praxis fordert und umsetzt. Vgl. Graeber, David: Inside Occupy. Frankfurt am Main/New York: Campus 2012.
48
Wenngleich dieser Kontext auch hier nur heuristisch in seinen Elementen beschrieben werden kann, ein weitergehende Historisierung der Noughties steht noch aus. Einige Arbeiten von Historikern wie Timothy Garton Ash, Eckart Conze oder Andreas Wirsching haben diese Zeitschicht dennoch bereits zeitgeschichtlich in den Blick genommen, vgl. Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. München: Siedler 2009, S. 885ff.; Wirsching, Andreas: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit. München: Beck 2012 und Ash, Timothy Garton: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000-2010. München: Hanser 2010.
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sich in Latenz hält und deren Aussagen-Archiv49 sich noch nicht in Gänze erschlossen hat, bzw. immer wieder anders erschließen ließ. So gesehen war die Politik zu dieser Geschichte, die sich im Archiv findet, immer eine Operation der Umwandlung von Latenz in Präsenz. Die Versuche, die seit 1989 in diese Richtung unternommen worden sind, seien es die Enquete-Kommissionen des Bundes zu den Fragen der „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (1992-1994) und „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (1995-1998), sei es die 2005 einberufene sogenannte „SabrowKommission“, Filme, Kunstwerke, geschichtswissenschaftliche Darstellungen oder Romane, wie zuletzt prominent Uwe Tellkamps „Der Turm“ 50 – sie alle gingen der Frage nach, welche Art Präsenz der Geschichte 1989 in ihrer jeweiligen Gegenwart (und am besten so auch für die Zukunft gesichert) zukommen sollte. Diese Arbeit untersucht genau diese Operation Latenz/Präsenz. Warum ist die DDR (noch) nicht verschwunden? Wie lässt sich ihr vermeintliches Verschwinden mit dem Bruch 1989/90 erzählen, zeigen, erklären, darstellen, wenn nicht sogar ideologisieren oder idealisieren? Was hat 1989 als Geschichte in dieser Hinsicht zu bieten? Die Geschichte dieser fortwährenden (Re-)Präsentation der DDR – und von 1989 im Speziellen – in den Blick zu nehmen und am Beispiel des „Erinnerungsjahres 2009“ auf eine breite empirische Basis zu stellen, ist das Anliegen dieser Arbeit. Die Prämisse dabei lautet, dass das, was aus dieser Latenz in die Präsenz von 2009 geriet, eben die Operation ist, die man Geschichtspolitik nennt. Diese ist weder strikt intentional noch irgendwie willkürlich, vielmehr ähnelt sie dem, was Michel Foucault „Diskurs“ nennt: Ein Gebiet des Sag- und Machbaren, das einer gewissen Eigenlogik folgt, die sich sowohl inhaltlich als auch materiell zeigt. 51 Denn nicht nur Erzählungen lassen sich, wie zum Beispiel in der Historiographie, aus der Latenz des Archivs in eine selektive Präsenz versetzen. Es ist auch eine Frage des technischen, apparativen, medialen Re-Präsentierens, eines auch technischen a priori der (Re-)Präsentation. Wenn also um 2009 vermehrt auch private Archive offengelegt wurden, wie beispielsweise in dem Projekt „Wir waren so frei“52, wenn mit privaten Kameras 49
Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.
50
Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. Tellkamps Roman erschien extra zum 20. Jahrestag des Mauerfalls als Taschenbuch-Sonderausgabe.
51
Zur historisierenden Methode Foucaults vgl. Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt am Main/New York: Campus 2008, S. 91ff.
52
Siehe dazu N.N.: Das Projekt. Wir waren so frei. Momentaufnahmen 1989/1990. Wirwaren-so-frei.de (URL: http://www.wir-waren-so-frei.de/index.php/About/Index [16.8. 2013]). Seit 2008 wurden dort Privataufnahmen aus der Zeit der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls gesammelt, archiviert und offen zugänglich gemacht. Vom 1. Mai
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aufgenommene Fotografien, privat aufgezeichnete Berichte dessen, was in Leipzig, Berlin oder andernorts geschah, bildlich gesprochen aus den Schuhkartons auf dem Dachboden in die Glasvitrinen und auf die Server von Ausstellungen, Google und zivilgesellschaftlichen Institutionen gelangten, war dies auch eine dezidiert politische Aussage, die zu 1989 getätigt werden konnte und dessen Geschichtlichkeit bereicherte, wendete oder untermauerte. Und es war eine Aussage, die meist komplementär zu dem Narrativ getätigt wurde, das zu 1989 möglich war: dass viele eine Stimme haben können – nicht nur in der Demokratie, sondern auch in der Historisierung der DDR. Auch bedeutete es, dass diese Aufnahmen nicht nur privat, sondern auch öffentlich bedeutsam waren, dass sie, um nochmals Foucault zu behelfen, nicht nur wichtige Dokumente waren, sondern dass diese auch in Monumente verwandelt werden können.53 Daraus ergab sich eine Konstellation, wie sie darstellt: Aus dem Bereich der Geschichte rekrutierte sich das Archiv namens 1989 mitsamt der dazugehörigen Objekte, die die Latenz dessen bildeten, was als Zeichen von 1989 gezeigt, gesagt, erzählt, wiederholt und recycelt werden konnte. Auf der anderen Seite trat dem die Politik der Gegenwart, das „Wir“ von 2009, gegenüber, die dieses Archiv, durch ihre (durchaus konstruierten) Narrative und technischen Bedingungen in Präsenz versetzte. Beide Pole bewegen sich symmetrisch aufeinander zu in eine Black Box – die Black Box der Geschichtspolitik. Die Bewegung ist deshalb symmetrisch, weil hier weder die Objekte realpolitisch vorgaben, wie die Gegenwart des „Erinnerungsjahres“ mit ihnen umzugehen hatte, noch gestaltete die Gegenwart 2009 das historische Archiv rein nach ihrem Willen. Vielmehr traten beide Pole in einen geschichtspolitischen Aushandlungsprozess, der eine einschließende und eine ausschließende Politik hervorbrachte: Nicht alles aus dem Archiv 1989 gelangte in die Gegenwart von 2009 und damit aus Latenz in Präsenz; einiges wurde in diesem Prozess ausgeschlossen, einiges eingeschlossen. Der zentrale Punkt ist, dass in der Analyse des „Erinnerungsjahres 2009“, wie sie hier vorgenommen wird, der Fokus auf der Black Box der Geschichtspolitik und den darin vorkommenden Operationen liegt. Die Geschichte von 1989 war nicht irgendeine Geschichte, das Jahr 2009 nicht irgendein Kontext, in dem sie auftauchte, die menschlichen und nichtmenschlichen Akteure, die an ihrer Vermittlung beteiligt waren, nicht irgendwelche Mittler und Zwischenglieder. Wer die Black Box von „20 Jahre Mauerfall“ öffnete, stieß sowohl auf regierende Bürgermeister als auch Wissenschaftler, Fotografen, Grafikdesigner, Kuratoren, Comiczeichner und Romanciers, fand Smartphones, Druckerbis zum 9. November 2009 fand zudem im Museum für Film und Fernsehen in Berlin eine Ausstellung mit ca. 300 Privataufnahmen aus dem Fundus des Archivs statt. 53
Foucault 1981, S. 13ff.
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schwärze, Content Management Systeme in Sozialnetzwerken, biographische Skripte, Ausstellungen in Holzboxen, Filmsets mit Mauer-Attrappen und Filmkameras. Diese Mischung war es, so die Hypothese dieser Untersuchung, welche die DDR-Erinnerung um 2009 be- und antrieb. Bezüglich der DDR-Erinnerung im Speziellen und der Geschichtspolitik im Allgemeinen beobachtet Thomas Großbölting in einem 2010 erschienenen Essay eine Tendenz zur „‚Virtualisierung‘ des Gedenkens“, die sich, etwas vereinfacht, „[w]egen des starken Wandels der Gesellschaft, ihrer Kommunikations- und ihrer Medienstrukturen“ immer weiter verbreite.54 Demgegenüber habe die „Funktionalisierung von Geschichte zur Identitätsstiftung, als Waffe im politischen Geschäft oder in sonstigen Formen“ als „Geschichtspolitik alten Stils“ ihre Bedeutung eingebüßt. Virtualisierung bezeichnet für Großbölting vor allem den seit geraumer Zeit einsetzenden „Medienwandel, der historische Fragmente überall und weltweit verfügbar macht“, weshalb deren „Abrufbarkeit […] nicht mehr an Konkretionen und Kontexte gebunden“ sei.55 „Damit eng verbunden“, so Großbölting weiter, „ist eine […] Veränderung in Vergemeinschaftungsprozessen in der Nachmoderne überhaupt, die durch Prozesse der Individualisierung und Medialisierung gekennzeichnet ist.“56 Das bedeute dann, „dass Erinnerung an Vergangenheit in Grundzügen anders funktionieren und vor allem ganz andere Wirkungen haben kann.“57 Die vorliegende Untersuchung teilt diese Hypothese mit Großbölting und ist gleichzeitig der Versuch, ihr eine breitere theoretische und empirische Basis zu geben. Als Beispiel für seine Behauptungen dient ihm so auch ausgerechnet das, wie er es nannte, „Supergedenkjahr 2009“ – und besonders das „Fest der Freiheit“ am 20. Jahrestag des Mauerfalls, das auch hier eine größere Rolle spielen wird. 58 Zudem blieb laut Großbölting eine „deutlich nationale Profilierung“ der Erinnerung an 1989 um 2009 aus, was wiederum ein thematisch breiteres und vor allem globaleres Panorama des „Erinnerungsjahres“ implizierte. Dennoch handelte es sich Großböltings Ansicht nach beim „Fest der Freiheit“ um „in hohem Maße stilisierte Bilder“ und „ein recht unbestimmt bleibendes, vor allem symbolisch verdichtetes Erinnerungsmoment“. Dies könne als ein Beispiel für Niklas Luhmanns Theorie der „Kommunikationsverhinderungskommunikation“ gelten, in der Vergangenheit und geschichtspolitische Diskussionen zum „Topos“ abgekürzt werden.59 Dass es jedoch ganz so einfach nicht war, dass auch Akte der 54
Großbölting, Thomas: Die DDR im vereinten Deutschland. In: APuZ Nr. 25-26/2010, S. 38f.
55
Ebd., S. 39.
56
Ebd.
57
Ebd.
58
Ebd.
59
Ebd.
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Vermittlung wie das „Fest der Freiheit“ nicht nur effekthaschende Oberfläche und Unterhaltung waren, dafür sammelt diese Untersuchung diverse Belege. Auch Großböltings konstruktivistischer Schluss, dass die „jeweilige Geschichtspolitik […] nahezu unabhängig von Vergangenheit“, und letztere nur „ein diskursives Element im Funktionieren des politischen Systems“ sei, wird sich so nicht bestätigen. Es ist eben nicht egal, welche Vergangenheit zu welcher Politik führte. Auch Großbölting spielt so die „Fakten“ der Vergangenheit gegen die „Konstruktion“ der (Geschichts-)Politik aus. Die daraus sprechende Geringschätzung von Politik als Tätigkeit, sich historisierend zu einer Vergangenheit wie 1989 zu verhalten, übersieht letztlich, dass Medialisierung, Virtualisierung, Subjektivierung und andere „nachmoderne“ Erscheinungen sowohl Möglichkeiten, Mittel als auch Effekte von Geschichtspolitik sein können – und allesamt um 2009 auch waren, wie zu zeigen sein wird. Großbölting hat jedoch Recht, wenn er mit Claus Leggewie 60 annimmt, die DDR-Erinnerung und die dazugehörige Geschichtspolitik werde medial be- und getrieben.61 Und sicherlich hat auch Leggewie Recht, wenn er annimmt, dass „Medien, mit denen Vergangenheit evoziert und aktualisiert“ werden, „die Inhalte [beeinflussen], […] sie aber nicht [bestimmen]“. 62 Diese Praxis wird hier mit Begriffen wie Übersetzung, Übertragung und Vermittlung über den Weg der Kosmopolitik und Hantologie an die Geschichtspolitik weitergeleitet werden. Hier, so die These, operierte die Schnittstelle Latenz/Präsenz. All diese Motive werden zu prüfen und empirisch zu konkretisieren sein. Ebenso wird sich der hier vorgeschlagene Begriff von Geschichtspolitik genauer definieren müssen, um letztlich als Werkzeug dafür zu dienen: die Black Box des „Erinnerungsjahres 2009“ zu öffnen.
60
Leggewie, Claus: Zur Einleitung. Von der Visualisierung zur Virtualisierung des Erinnerns. In: Meyer, Erik (Hrsg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien. Frankfurt am Main/New York: Campus 2009, S. 9-27.
61
Das betrifft sicherlich nicht nur diese Geschichtspolitik, wie beispielsweise Meyer 2009 darlegt, aber vor allen Dingen auch. Das war unter anderem damit zu erklären, dass, wie Großbölting richtig sieht, neuere Kommunikationswege wie Mikrobloggingdienste, etc. immer weiter verbreitet und genutzt werden, um überhaupt zu kommunizieren – so auch über Geschichte und die dazugehörige Politik. Andererseits war 1989 schon selbst ein stark medialisiertes und elektronisch archiviertes Ereignis, das sich entsprechend digitalisieren, komprimieren und kommunizieren ließ.
62
Leggewie in: Meyer 2009, S. 21.
Teil I: Elemente einer Geschichte der DDR-Erinnerung Heart to Heart and Mind to Mind We are the ones who seem to travel through time JOHN MAUS
You talk to me as if from a distance And I reply with impressions chosen From another time BRIAN ENO
Erstes Kapitel Geschichtspolitik des Verschwindens
Im August 2009 erschien ein Bildband des Fotografen Stephan Kaluza mit dem Titel „Die unsichtbare Mauer“.1 Darin fügte sich aus insgesamt 30.000 Fotos ein einziges Bild von insgesamt 45 Kilometern des ehemaligen Berliner Grenzabschnitts zusammen. Der Blick des Fotografen richtete sich von Westen nach Osten; die Perspektive blieb dabei im immer gleichen Abstand zu seinem Objekt. Anfang und Ende der Bilderreihe schlossen aneinander an, sodass der Eindruck eines Rundganges entstand, der sich innerhalb der Bildstrecke immer wiederholen ließe. Kaluzas Bildstrecke zeichnete sich durch zwei zentrale Motive aus: Die Präsenz des Abwesenden2 und der Stillstand der Zeit. Beides sind in der Fotografietheorie häufig verwendete Topoi. So schreibt Heinz-Norbert Jocks zu Kaluzas Arbeit: „Wenn der Fotografie einprogrammiert ist, etwas einmal Gewesenes endlos zu reproduzieren, und wenn sie dazu auch noch imstande ist, Dinge, die nicht mehr existieren, und Menschen, die nicht mehr leben, also etwas Abwesendes visuell so anwesend zu machen, als wäre es immer noch da, so traut Kaluza diesem Medium darüber hinaus noch zu, nicht nur Physisches oder Materielles zu verewigen, sondern er ist auch davon überzeugt, dem Geist des Abwesenden eine unsichtbare Präsenz zu verschaffen. […] Bei ihm gibt es kein Fortschreiten der Zeit, nichts, was aus der Zukunft kommt, und erst recht keine Vergangenheit. […] Er vergleichzeitigt, was in Wirklichkeit nicht gleichzeitig war.“3 1
Kaluza, Stephan: Die unsichtbare Mauer. Köln: DuMont 2009.
2
Unter dem Stichwort „Latenz“ wird dieses meist geisteswissenschaftliche Problem erörtert in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Klinger, Florian (Hg.): Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen u.a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. Gumbrecht erhebt die Latenz gar zum Epochenmerkmal „nach 1945“, s. Gumbrecht, Hans Ulrich: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2012.
3
Jocks, Heinz-Norbert: Der Geist des Abwesenden. Ein Versuch über die Zeit und das Sehen in den Foto-Projekten von Stephan Kaluza. In: Kaluza 2009, S. 328f.
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Was Jocks den „Geist des Abwesenden“ nennt, was Kaluza auf seinen Bildern gleichzeitig zeigte und nicht zeigte (die Berliner Mauer) und was die Fotostrecke zugleich redundant in Bewegung versetzte und statisch als Momentaufnahme einfror kann symptomatisch für das stehen, was Historisierung und Geschichtspolitik genannt wird. Dies sind aufeinander bezogene Praktiken, die gleichzeitig epistemologisch und politisch verstanden werden können. Epistemologisch, da sowohl Historisierung als auch Geschichtspolitik Wissen über die Vergangenheit in Form von Geschichte(n) produzieren; politisch, da besonders Geschichte dazu in der Lage ist, gleichsam Formen der Vergemeinschaftung zu schaffen – etwa durch Kontroversen über die Vergangenheit und den Umgang mit selbiger. Die in Kaluzas Fotografien verdeutlichten Motive tauchen in dieser politischen Epistemologie wieder auf: Wie organisiert man eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen? Wie können Dinge gezeigt werden, die vergangen, also nicht mehr anwesend sind? Wie überwindet man diese Abwesenheit und schreibt sie gleichzeitig fest? Kaluzas Arbeit erschien wohl auch nicht zufällig in dem Jahr, das hier als „Erinnerungsjahr 2009“ bezeichnet wird. Dieses Jahr zeichnete sich durch eine Fülle an Jahrestagen zur deutschen und europäischen Geschichte aus: So wurde der Varusschlacht um 9 n. Chr. ebenso gedacht wie dem Gründungstag der Weimarer Republik 1919, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939, oder dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes 1949. An medialer und öffentlicher Präsenz wurden all diese Anlässe von der Erinnerung an die „Friedliche Revolution“ und den „Mauerfall“ 1989 in den Schatten gestellt. Dies mag einerseits daran gelegen haben, dass mit nur zwanzig Jahren der kürzeste Abstand zu den Ereignissen von 1989 lag. Die Erinnerung an 1989 war nicht zuletzt durch eine größere Anzahl an Zeitzeugen „lebendiger“ als die an 1949, 1939 oder gar 1919. Andererseits handelte es sich um äußerst unterschiedliche Ereignisse, die in in diesem Jahr erinnert wurden: Die Weimarer Republik steht unter dem Gesichtspunkt ihres Scheiterns eher im Zeichen negativen Gedenkens. 4 Ebenso verhält es sich mit dem September 1939, der sich über ein absolutes „Nie wieder“ in die bundesrepublikanische Erinnerung eingeschrieben hat. Beide Ereignisse werden für gewöhnlich eher mahnend erinnert. Anders verhält es sich mit Blick auf das Grundgesetz und die Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949. Hierbei handelt es sich oft um ein stabiles Moment des Erinnerns, da das damals gültig gewordene Grundgesetz auch heute noch integrativ für das Selbstbild der gegenwärtigen Bundesrepublik steht. Die Geschichte des Grundgesetzes kann so ohne Weiteres als
4
Wenngleich auch 2009 mehr differenzierende Sichtweisen zur Weimarer Republik zutage traten, vgl. Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Weimar 1919 – Chancen einer Republik. Köln u.a.: Böhlau 2009.
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eine Erfolgsgeschichte erzählt werden.5 Die Erinnerung an 1989 wiederum umschließt tendenziell all diese Momente: Die Friedliche Revolution und der Mauerfall gelten als „Glücksmomente“, „Jubeltage“ und sind somit Teil einer positiven Erinnerung.6 Gleichzeitig geht es in den Diskussionen um die DDR nicht zuletzt auf Grundlage der Totalitarismustheorie um die Etablierung eines negativen Erinnerns: „SED-Staat“, „Unrechtsstaat“ und „Durchherrschte Gesellschaft“ sind häufig verwendete Bezeichnungen für das Staats- und Sozialgebilde DDR, deren Strukturen sich nicht wiederholen sollen. Prominentestes Symbol dieser Unterdrückung sind die Berliner Mauer und der damit verbundene Grenzstreifen. Das Projekt „Die unsichtbare Mauer“ von Stephan Kaluza verstand es, diese beiden Erinnerungstopoi zu vereinen: Indem es die Berliner Mauer und den ehemaligen Grenzstreifen zeigte, verwies es auf den Repressionscharakter, welcher der DDR innewohnte. Gleichzeitig zeigte das Fotoprojekt, dass diese Strukturen nicht mehr physisch präsent sind – und somit der Vergangenheit angehören. Die Arbeit Kaluzas ist deshalb verdichtet geschichtspolitisch zu verstehen. Geschichtspolitik beschäftigt sich mit der Frage, wie dieses Vergangene in der Gegenwart gestaltet, sowie für die Zukunft stabilisiert und realisiert werden kann. Ihre Aufgabe ist es, eine passende Form des Umgangs und Daseins für das Vergangene zu finden. Kaluzas Arbeit löste diese Aufgabe ästhetisch. Geschichtspolitik ist aber darum bemüht, eine Vielzahl an Techniken zu ermöglichen, die eine Vergangenheit erst in eine Geschichte und Erinnerung überführen können. Dass es dabei keine homogene Präsenz geben kann, ist dem agonalen Charakter dieser Art von Politik geschuldet: Geschichtspolitik bemüht noch um ihren Gegenstand – und gerade das macht sie politisch. Sie weiß noch nicht, mit welcher DDR sie es heute und in Zukunft zu tun hat. Die DDR muss noch geschichtspolitisch entworfen und gestaltet werden. In diesem Kapitel soll das Feld geschichtspolitischen Handelns dargestellt werden. Dabei stehen zwei Fragen im Mittelpunkt. Erstens: Was heißt es, Geschichtspolitik zu betreiben? Und zweitens: Welche Art von Geschichtspolitik fordern die DDR und das „Ereignis 1989“? Wie oben kurz dargestellt, unterscheiden sich die verschiedenen Jahrestage in ihrer Funktionsweise. Die geschichtspolitische Ausgestaltung von 1989 ist daher generell auch nicht deckungsgleich mit anderen Jahres5
Ein moderner Klassiker dieser Erzählung ist sicherlich Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta 2006.
6
Vgl. zur legitimatorischen Funktion von „1989“ Augstein, Franziska: Im Garten der Erinnerung. Der Bericht der Kommission: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Sabrow, Martin/Eckert, Rainer/Flacke, Monika/Henke, Klaus-Dietmar/Jahn, Roland/Klier, Freya/Krone, Tina/Maser, Peter/Poppe, Ulrike/Rudolph, Hermann (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 (BpB-Lizensausgabe 2007), S. 208.
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tagen (wenngleich gerade 2009 nicht wenige Überschneidungen festzustellen waren). Aus diesem Grund sollen die Spezifika der Geschichtspolitik zur DDR und 1989 herausgestellt werden. Dazu gehören sowohl die Debatten zur angemessenen Historisierung innerhalb der Zeitgeschichtsschreibung als auch die institutionellen Rahmen und diskursiven Ordnungen, die sich seit 1989 ausmachen lassen. Zunächst wird jedoch der analytische Begriff der Geschichtspolitik ausdifferenziert. Dies scheint deshalb notwendig, da bisherige Arbeiten zur Geschichtspolitik nur unzureichend in der Lage waren, einen angemessenen analytischen Begriff des Politischen und/oder von Politik zu entwickeln, wie er sich im Hinblick auf die Entwicklung, Konstruktion und Etablierung von „Geschichten“ anwenden lässt. Dem soll mit dem Begriff der „Kosmopolitik“ schließlich eine Alternative geboten werden.
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Der Begriff „Geschichtspolitik“ wird meist funktional auf Christian Meiers Verwendung desselben im „Historikerstreit“ von 1986 zurückgeführt. 7 Meier verwendete diesen Begriff eher auf denunziatorische Art: Wo Geschichtspolitik betrieben wurde, fand eine Ideologisierung von Geschichte statt, die sich nicht auf wissenschaftliche Fakten stützt. Im Laufe der Neunziger Jahre und im Zuge der Weiterentwicklung soziologischer Gedächtnistheorien wurde aus der Politisierung von Geschichte ein eigenes Analysefeld, was den Begriff „Geschichtspolitik“ von seiner denunziatorischen Funktion weitestgehend löste und zu einer analytischen Kategorie wandelte. Meist wird der Begriff „Geschichtspolitik“ einerseits von „Vergangenheitspolitik“, „Gedächtnispolitik“ und „Erinnerungspolitik“ unterschieden, der Politikbegriff andererseits vom Kulturbegriff. Genauso oft stehen sie allerdings synonym füreinander.8 Das Analysefeld „Geschichtspolitik“ ist also noch relativ jung und wenig definiert. Da sich diese Arbeit ihrem Selbstverständnis nach auf diesem Feld bewegt scheint es zunächst angebracht, es kurz zu durchstreifen.
7
Wenngleich das Adjektiv „geschichtspolitisch“ schon früher gefunden werden kann, vgl. Schmid, Harald: Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept. Zur Historisierung der Kategorie „Geschichtspolitik“. In: Schmid, Harald (Hrsg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 65 (dort Anm. 44).
8
Vgl. Schmid, Harald: Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik. In: Heinrich, Horst-Alfred/Kohlstruck, Michael (Hg.): Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie. Stuttgart: Steiner 2008, S. 75-98.
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Heinrich August Winkler beschreibt das Verhältnis von Politik und Geschichte wie folgt: „Alle Geschichte ist eine Geschichte von Kämpfen um die Deutung von Geschichte. […] Wer über historische Deutungsmacht verfügt, übt mittelbar auch politischen Einfluss aus. Je stärker eine Richtung ihre Sicht von Geschichte durchsetzt, desto näher kommt sie dem Zustand der kulturellen Hegemonie. Dahin zu gelangen ist ein Ziel aller politischen Richtungen.“9
Für Winkler ist Geschichtspolitik die „Inanspruchnahme von Geschichte für Gegenwartszwecke“, ihre gesteigerte folklorisierte Form ist der „Mythos“, ihr kultureller Ort der des „kollektiven Gedächtnisses“, das Maurice Halbwachs10 soziologisch beschrieben hat.11 Winklers Aufzählung von Elementen der Geschichtspolitik kann als vertikal bezeichnet werden: Es handelt sich um einen asymmetrischen, hegemonialen Prozess. Deutungsmacht, so scheint es, ist etwas, das eine politische Richtung nicht nur anstreben, sondern auch besitzen kann. Zwar weist Winkler darauf hin, dass eine demokratische Ordnung wie die Bundesrepublik „ihren Bürgern [...] kein einheitliches Geschichtsbild verordnen“ kann und es sich für gewöhnlich um mehrere im „Deutungskampf“ konkurrierende Geschichtsbilder handelt. Dennoch sei die Möglichkeit eines „breite[n] Konsens“ nicht ausgeschlossen, denn, so Winkler weiter, „[o]hne einen Minimalkonsens in Sachen der eigenen Geschichte könnte ein demokratisches Gemeinwesen gar nicht dauerhaft bestehen“.12 Wie genau dieses Verhältnis von Deutungsmacht, Mythos und kollektivem Gedächtnis aussieht oder analysierbar ist, darauf findet sich in Winklers Ausführungen kein Hinweis. Anders verhält es sich mit Edgar Wolfrums Arbeit „Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland“. Wolfrum grenzt darin „Geschichtspolitik als Analysefeld“ zunächst von der Geschichtskultur ab, deren Defizite darin bestünden, zu sehr auf die Rolle der Historiographie, Ideologisierung und Ästhetisierung von Geschichte fokussiert zu sein und über eine „tendenzielle Blindheit für das Politi-
9
Winkler, Heinrich August: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Der Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland. Göttingen: Wallstein 2004, S. 7 (Hervorhebung im Original).
10
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.
11
Winkler in: Winkler 2004, S. 11ff.
12
Ebd., S. 10f. Ähnlich äußerte sich Edgar Wolfrum: „Die pluralistische Bundesrepublik ist kein homogenes Subjekt, daher kann es auch nicht ein konsistentes Geschichtsbild geben, was etwas Dogmatisches hätte[.]“, vgl. Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 19481990. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 26.
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sche“ verfüge. Demgegenüber bestehe die politische Dimension von Geschichte laut Wolfrum aus komplexeren Zusammenhängen der Vergemeinschaftung: „Geschichtspolitik ist ein Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen. Sie zielt auf die Öffentlichkeit und trachtet nach legitimierenden, mobilisierenden, politisierenden, skandalisierenden, diffamierenden usw. Wirkungen in der politischen Auseinandersetzung. […] Im engeren Sinne interessiert aber vor allem, wie politische Eliten agieren; sie gilt es in den Blick zu nehmen, weil sie Macht besitzen bzw. Herrschaft ausüben. […] Geschichte kann ein wichtiges Vehikel sein, um Zusammenhänge zwischen diffusen Gruppen zu schaffen.“ 13
Wie bei Winkler, so stehen auch für Wolfrum „Eliten“, die „Macht besitzen“ im Zentrum. Auch führt Wolfrum keinen Begriff von Politik ein. Politik erscheint vielmehr als stumme Voraussetzung für das Vorhandensein von Geschichte überhaupt. Wolfrum betrachtet „Geschichtspolitik“ mehr oder minder als (sozial)konstruktivistische Praxis: „Entscheidend ist nicht die Frage nach dem wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt des vermittelten Geschichtsbildes, sondern die Frage, wie, durch wen, warum, mit welchen Mitteln, welcher Absicht und welcher Wirkung Erfahrungen mit der Vergangenheit thematisiert und politisch relevant werden.“14 Geschichtspolitik sei des Weiteren ein „öffentlich[] und massenmedial vermittelte[r] Prozeß, in dem sichtbar Kräfte und Gegenkräfte am Werke sind und um die Hegemonie von Diskursen und Deutungsmustern ringen“. Dabei zeige sich, dass Geschichte „hochgradig moralisier- und skandalisierbar“ sei, eine „situativ wandelbare Waffe, die der Politiker unentwegt handhabt“.15 Verkürzend könnte die Argumentation Winklers und Wolfrums wie folgt zusammengefasst werden: Geschichtspolitik wird von Politikern gemacht. 16 Zwar bestünden divergierende Geschichtsbilder innerhalb der gleichen Gesellschaft, und darüber hinaus haben auch Medien, Gedenkstätten, Museen und andere Instanzen ihren Anteil an der geschichtspolitischen Praxis. Dennoch erweisen sich bestimmte Individuen und Institutionen als privilegiert hinsichtlich der Etablierung und Vermittlung konsensfähiger und -bildender Geschichtsinterpretationen. Im Zweifel werden diese hegemonialen Positionen in den Fokus gerückt, da sie „Macht haben“ und über „Deutungsmacht“ verfügen. Auffällig bei Wolfrum und Winkler ist in diesem Zusammenhang auch die Verwendung martialischer Metaphern, wenn von 13
Wolfrum 1999, S. 25f.
14
Ebd., S. 26.
15
Ebd., S. 29.
16
Vgl. auch die Kritik von Schwelling, Birgit: Politische Erinnerung. Eine akteurs- und handlungsbezogene Perspektive auf den Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Politik. In: Heinrich/Kohlstruck 2008, S. 102f.
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„Deutungskämpfen“ die Rede ist, oder Geschichtspolitik zur „Waffe“ wird. Man fühlt sich an Michel Foucaults parodistische Verdrehung der Berühmten Formel Carl von Clausewitz’ erinnert: „Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“17 Wolfrum fügt seinem Analysefeld allerdings eine entscheidende weitere Dimension hinzu, die bei Winkler kaum Erwähnung findet: Die Geschichtswissenschaft. Wolfrums Auffassung nach besteht ein „spannungsreiches Nebeneinander von Wissenschaft und Politik“.18 Wo Politik jedoch einem moralischen, interessengeleiteten Impetus unterliege, erweise sich die Geschichtswissenschaft als aufklärerisches Korrektiv. Dennoch kämen auch Historiker nicht umhin, die Öffentlichkeit – und damit das geschichtspolitische Feld – aufzusuchen, um ihren „autonomen Prinzipien“ und „Wahrheitsansprüche[n]“ Geltung zu verleihen.19 Nach Wolfrum sind Historiker, ebenso wie Politiker und Massenmedien, entscheidend an der Herstellung objektivierbarer Geschichtsbilder beteiligt. Ihre Funktion sei es, durch historische Fakten, Objektivität und Verwissenschaftlichung allzu ideologisierte oder moralisierte Geschichtsbilder gerade zu rücken. Politiker sprechen demnach für ihre (meist parteilich) ideologisierten Positionen, die Wissenschaftler hingegen tragen dazu bei, dass die Fakten für sich sprechen. 20 Wolfrum argumentiert, dass es sich bei dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft um eine komplexe Beziehung handelt, die nicht vereinfacht dargestellt werden sollte. Ihm wie auch Winkler ist bewusst, dass in pluralistischen Gesellschaften, trotz eines möglicherweise existierenden Minimalkonsens, diametrale Positionen und Propositionen gut mit- und nebeneinander bestehen können. Dennoch scheint das, was Winkler und Wolfrum als Geschichtspolitik beschreiben, eher erklärungsbedürftig als selbst erklärend. Der Grund dafür liegt in der merkwürdigen Ambivalenz des besonders von Wolfrum gezeichneten Problems: Einerseits erzeugt Politik Geschichte, andererseits bildet Geschichte die Rahmenbedingungen von Politik. Einerseits handelt es sich um eine komplexe und plurale Politik, andererseits um ein asymmetrisches Hegemonialstreben elitärer Kräfte. Hier das Feld der Politik, in dem Ideologien, Interessen und Kontroversen eine (geschichts)politische Gemeinschaft formen, dort die Geschichtswissenschaft, die durch Wahrheitsanspruch und Vernunftprinzipien das kritische Korrektiv des Faktischen einführt (nicht ohne Grund beschreibt Wolfrum das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik als ein „Nebeneinander“). Und doch ist gleichzeitig alles mit allem in Wolfrums Darstellung verbunden. 17
Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 26
18
Wolfrum 1999, S. 29
19
Ebd.
20
Zur Kritik dieser Politik/Wissenschaft-Dichotomie vgl. Latour 2010, S. 93ff.
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Die Problemlage, die hier exemplarisch an zwei zeitgeschichtlich ausgerichteten Texten gezeigt wurde, steht für eine generelle analytische Schieflage der Geschichtspolitiktheorie: Sie beschreibt ein politisches Feld, ohne einen analytischen Begriff des Politischen und der Politik zu entwickeln.21 Man könnte auch sagen: Sie umgeht ein philosophisches Problem. Wolfrums Geschichtspolitikfeld oszilliert zwischen normativer Faktizität und ideologischem Sozialkonstruktivismus. Das Begriffsfeld der Geschichtspolitik ist angereichert mit Metaphern und Theoremen, deren Prämissen nicht selten sozialkonstruktivistischer oder objektivistischer Art sind: Kollektives Gedächtnis, Mythen- und Traditionsbildung, Symbolpraxis, Erinnerungsorte und -räume, Identität, Orientierung, Legitimierungsanspruch und Geschichtsbewusstsein sind nur einige zentrale Begriffe, die sich mit historisierender Politik in Verbindung bringen lassen. Was Wolfrum und Winkler zwar sehen, aber analytisch nicht fruchtbar machen, da sie zu sehr auf „Macht“ in ihrem Politikverständnis abzielen, ist die komplexe, polyphone und öffentlichkeitswirksame Dimension von Geschichtspolitik, die alles andere als homogen erscheint. Dazu kommt, dass sie ein Metaphernrepertoire heranziehen, das Politik nur in martialischen Bildern zu denken weiß. Um eine methodisch differenzierte Kategorie von Geschichtspolitik hat sich, neben Wolfrum, besonders Harald Schmid bemüht. Für ihn stehen fünf Aspekte im Mittelpunkt geschichtspolitischer Analysen: (1) Formen und Mittel (Sprache, Symbole, Rituale, Narrative), (2) Inhalte und Produkte (Genealogische Konstrukte von Geschichtsbildern), (3) Funktionen (Legitimation, Kritik, Integration, Identifikation, Identität), (4) Akteure (politische Klasse, Medien, Historiker) und (5) normative Kontexte der Geschichtspolitik (Werte, Traditionen).22 Geschichte ist demnach ein „Produkt gesellschaftlicher Deutungskämpfe“, in dem es allerdings nicht, wie Winkler suggeriert, um die bloße Akkumulation von „Deutungsmacht“ geht, sondern um die Einbettung dieser Machtstrukturen innerhalb einer „politischen Kultur“.23 Was Wolfrum noch unterscheidet (Politik und Kultur), fügt Schmid so wieder zusammen: Geschichtspolitik ist eine Frage der Politikkultur. Damit ist weder geklärt, was genau diese Kultur des Politischen ausmacht, noch, wie sie methodisch in den Griff zu bekommen ist. „Kultur“ als Begriff bleibt bei Schmid ebenso unbestimmt wie „Gesellschaft“ und „Politik“.
21
Ein Umstand, den Harald Schmid u.a. zurecht beklagen, ohne ihn jedoch auf zufriedenstellende Weise gelöst zu haben, vgl. die Beiträge in Schmid 2009.
22
Schmid in: Schmid 2009, S. 72ff.
23
Ebd., S. 74.
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Diesen Umstand bemerkt auch Heidemarie Uhl – und verlegt den Schwerpunkt der Geschichtspolitik auf die Konstruktion eines „Gedächtnisses“. 24 Uhl unterscheidet dabei zunächst „Gedächtnis als Kultur“ von „Gedächtnis als Politik“. Gedächtnis im Begriff der Kultur umfasst laut Uhl die Stabilisierung von Symbolen, Narrativen, Ritualen oder Praktiken („Kultur des Bewahrens“, Kulturelles Gedächtnis, Erinnerungsorte). Erinnerung im Begriff der Politik verneint hingegen diese Stabilität. Vielmehr bestehe das politisch aufgeladene Gedächtnis aus ständigen Kontroversen und Verhandlungen um ein bestimmtes Geschichtsbild, das zwangsläufig „immer prekär und vorläufig“ ist („Politik des Durchsetzens“).25 Uhl kritisiert jedoch beide Ansätze als unzureichend für die Erfassung der Kategorie „Gedächtnis“ und schlägt vor, dieses als „soziales Palimpsest“ zu verstehen, das durch kulturelle wie soziale Prozesse um- und überschrieben werden kann und sich nicht auf einzelne soziale, kulturelle oder politische Akteure zurückführen lässt. 26 Damit rückt Uhl das Gedächtnis allerdings wieder in den abstrakten Raum des Sozialen, der zuvor als zu unbestimmt, zu stabil und zu wenig prekär gedacht wurde. Dennoch weist Uhls Versuch, Politik, Geschichte, Gedächtnis und Kultur als prekär, riskant, als Praxis der Über- und Umschreibung zu verstehen auf einen Punkt hin, der in den bisherigen Begriffsbestimmungen von Geschichtspolitik zwar evident, aber nicht konstitutiv war: Die Unsicherheit der Konstruktion von Geschichte als zentrales Motiv politischen Handelns. Zwar tauchen bei Winkler und Wolfrum die demokratische Kontroverse, divergierende Sichtweisen sowie antagonistische Interessen und Ideologien auf. Am Ende steht in beider Theorien jedoch immer ein hegemonialer und/oder kollektivierter Diskurs, ein mehrheitsfähiges und relativ stabiles Geschichtsbild. Dort, wo Winkler und Wolfrum Politik, Kultur und Wissenschaft als mehr oder minder getrennte Sphären ausmachen, zweifeln Schmid und Uhl an der Ergiebigkeit einer solchen Trennung. Einen beide Ansätze zusammenführenden Vorschlag bietet Knud Andresen unter Berücksichtigung des Spatial Turns.27 Für Andresen besteht Geschichtspolitik 24
Uhl, Heidemarie: Kultur, Politik, Palimpsest. Thesen zu Gedächtnis und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Schmid 2009, S. 38ff.
25
Uhl in: Schmid 2009, S. 42ff. Zum Gedächtnis als „Kultur“ gehören auch das „Kulturelle Gedächtnis“-Konzept Jan Assmanns und das „Erinnerungsort“-Konzept von Pierre Nora und Etienne François. Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992; Nora, Pierre (Hrsg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck 2005 und François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl. Bonn: BpB 2005.
26 27
Uhl in: Schmid 2009., S. 45ff. Andresen, Knud: Die Erforschung von Geschichtspolitik unter Aspekten des Spatial Turns. In: Schmid 2009, S. 93ff.
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aus drei Dimensionen: (1) Politische Handlung (Geschichtspolitik ist kein separates Politikfeld, sondern Teil ganzer politischer Zusammenhänge), (2) symbolischer Kommunikationsraum (soziale und kulturelle Kontexte der Geschichtskonstruktion) und (3) narrative Strukturen (Erzähltypen und Vermittlungstechniken).28 Soweit ähnelt die Bestimmung dessen, was Geschichtspolitik ausmacht, den Ausführungen Schmids, Uhls oder Wolfrums. Was Andresen jedoch vorschlägt, ist, ein Bezugssystem für diese Mehrdimensionalität zu entwickeln: „Um dem Komplex Geschichtspolitik gerecht zu werden, muss die Forschung die sozialen, materiellen und mentalen Dimensionen des Handlungsfelds, die zumeist alleinstehend untersucht oder überbewertet werden, gleichzeitig in den Fokus nehmen. ‚Sozial‘ meint die Partizipierenden, die Träger des Gedächtnisses, ‚materiell‘ umfasst die Konstitution der Medien, und ‚mental‘ bezieht sich auf die beteiligten Vorstellungen, Ideen, Werte, Normen und Codes.“29
Hinzu kommt der Komplex der Institutionalisierung, Verwaltung und Organisation. Dennoch reicht es nicht, nur einen Beziehungskomplex als bloße Verknüpfung zu beschreiben, ohne eine Aussage über die Qualität dieser Vernetzung zu machen: Durch Interaktion der Akteure und Objekte entsteht in Andresens Bild ein Spacing, in dem sich alle interagierenden Instanzen konstitutiv und konstruktiv, vor allem aber auch räumlich und gestalterisch an Geschichtspolitik beteiligen. Dies bedeutet für Andresen „Geschichtspolitik in ihrer Komplexität [zu] untersuchen, ohne Gefahr zu laufen, Bestandteile auszublenden“.30 Was Winkler und Wolfrum analytisch hierarchisieren, Schmid und Uhl in den Bereich des Sozialkonstruktivismus verweisen und um eine prekäre Dimension bereichern, erhält bei Andresen eine sowohl relationale als auch materielle Grundierung. Dem sozial konstruierten „Mythos“ und „Gedächtnis“ wird eine materielle Dimension zugeführt und die asymmetrische Machtpolitik in eine symmetrische und relationale Konstruktionspolitik umgeschrieben. Der vorangehende Abschnitt versuchte, verschiedene methodische und theoretische Programme und Begriffe von Geschichtspolitik nachzuzeichnen. Dabei sollte vor allem deutlich werden, dass es bisher keinen methodischen, theoretischen oder analytischen Konsens für die Untersuchung geschichtspolitischer Vorgänge gibt. Es ist im Sinne eines lebendigen Wissenschafts- und Politikbetriebs nicht wünschenswert, in solchen Dingen normativ zu homogenisieren. Daher kann und soll dies auch nicht Anliegen dieser Darstellung sein. Dennoch sind grundlegende Fragen nach 28
Ebd., S. 95ff.
29
Ebd., S. 101.
30
Ebd., S. 104.
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dem Zusammenhang von Kultur, Gesellschaft, Erzählung, Ideologie, Gedächtnis und Politik im Hinblick auf einen Begriff von Geschichtspolitik nicht geklärt, obwohl sie bei nahezu allen hier dargestellten Ansätzen eine mehr oder weniger große Rolle spielen. Einigkeit besteht bei der Untersuchung von Geschichtspolitik sozusagen über das Inventar der Untersuchungsobjekte, nicht aber über deren ursächliche oder wirkungsvolle Stellung zueinander. Dabei lassen sich höchstens feine Verschiebungen im Arrangement dieser Begriffe und Instanzen erkennen, die von einer fundamentalen Differenzierung hin zum Versuch einer Verknüpfung dieses Analyseinventars reichten. Das Problem der bisherigen Analysen von Geschichtspolitik besteht darin, die methodischen und begrifflichen (oder auch: philosophischen) Probleme entweder ignoriert oder lediglich vermehrt zu haben. Hier soll ein an Andresen anknüpfender Vorschlag gemacht werden, der auf die Verbindungen, Interaktionen und Vermehrung der an Geschichtspolitik beteiligten Instanzen abzielt. Darin, so die These, besteht das Politische von Geschichtspolitik.
D IE DOPPELTE R EDUNDANZ DER G ESCHICHTSPOLITIKANALYSE Noch einmal zurück zu Stephan Kaluzas Fotoprojekt der „unsichtbaren Mauer“: Die durch Kaluzas Kunst implizit aufgeworfene geschichtspolitische Frage war, wie etwas Vergangenes in der Gegenwart Präsenz zeigen kann und auf welche Art diese Präsenz herstellbar ist. Kaluzas Strategie war es, durch Fotografie die Abwesenheit seines Objekts zur Grundlage ihres Geschichtlich-Seins zu machen. Dieser Moment des Abwesenden wurde im Foto räumlich und zeitlich festgehalten und konserviert. Damit illustrierte Kaluza implizit den Begriff des „Kollektiven Gedächtnisses“: Ohne ein kollektiv vorhandenes Wissen über die Historizität der Mauer konnte diese in Kaluzas Fotos, abgesehen von einigen materiellen Überresten und Spuren, nicht gesehen, nicht wahrgenommen werden. Dass es einst eine Mauer gab, dass sie physisch größtenteils verschwunden ist, dieses Wissen machte sie auf Kaluzas Bildern erst „sichtbar“. Die Fotos knüpften also an einen Wissensbestand an, der Voraussetzung für die Erfahrbarkeit dessen war, was sie durch ihr Nicht-Zeigen überhaupt zeigten: Dass es keine Mauer (mehr) zu sehen gab. Dieses Wissen ist weiterhin geläufig, jedoch ist ungewiss, ob es von jedem und jederzeit auch in Zukunft vorausgesetzt werden kann. 31 Kaluzas Art, Historizität zu zeigen, war also durchaus prekär: Sobald das Wissen um die Berliner Mauer verschwunden, noch nicht oder nicht mehr beim Betrachter vorhanden ist, wird sie auch auf den Fotos nicht mehr erfahrbar. Das Historische befindet sich an der
31
Vgl. Jocks in: Kaluza 2009.
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Schwelle des Verschwindens, es erzählt selbst immer vom Verschwinden der Vergangenheit durch dessen selektiven Übergang in Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung. Geschichtspolitik bezeichnet sodann die Strategien dieser Übertragungen einer Vergangenheit in Geschichte. Daher auch der Begriff: Geschichtspolitik. Geschichte ist, im Gegensatz beispielsweise zum Zeitraum der Vergangenheit, gestaltbar.32 Daran sind, wie Wolfrum zeigt, sowohl Politiker als auch Wissenschaftler beteiligt. Gestaltet wird die Seinsweise des Vergangenen in der Gegenwart und deren Erhalt für die Zukunft. Damit wird Geschichtspolitik ein ontologisches Verfahren und notwendigerweise zu einem philosophischen Problem – jenem Problem, das die oben beschriebenen Ansätze zur Geschichtspolitik entweder ignorieren oder nur unzureichend angehen. Entweder wird die Gestaltung von Geschichte den politischen Institutionen zugeschrieben oder einem sozialen Konstrukt wie Kultur, Kollektiv33 oder Gedächtnis überlassen. Ersteres kann als realpolitischer, letzteres als sozialkonstruktivistischer Ansatz beschrieben werden.34 Beide Erklärungsansätze haben entscheidende Defizite: Der realpolitische Ansatz verdoppelt im Grunde eine lebensweltliche Heuristik davon, wie Politik funktioniert, indem er den Ideologien und Institutionen, Akteuren und Eliten bereits ein stabiles Handlungspotential unterstellt. Realpolitik ist dabei der Bereich, in dem in einem normierenden und asymmetrischen Top-Down-Verfahren Fakten, Tatsachen und Seinsweisen von Geschichte bestimmt, organisiert und durchgesetzt werden. Wenn Edgar Wolfrum davon spricht, dass „politische Eliten […] Macht besitzen bzw. Herrschaft ausüben“35, dann wird nicht infrage gestellt, was Politik ist und wie es dazu kommt, dass jemand „Macht besitzt“. Geschichte wird von Politikern „benutzt“, sie wird ideologisiert und einem Hegemonialstreben unterworfen, das wiederum Macht sichern 32
Dazu Schmids Kritik des Begriffs „Vergangenheitspolitik“, der im Grunde annehmen muss, dass in die Vergangenheit noch politisch eingegriffen werden könne, vgl. Schmid in: Heinrich/Kohlstruck 2008, S. 77.
33
Da vorgeschlagen wird, einen kosmopolitischen Gesellschaftsbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zu übernehmen, der bei Bruno Latour ebenfalls „Kollektiv“ heißt, sei darauf hingewiesen, dass hier der Kollektiv-Begriff der meisten Gedächtnistheorien abgelehnt wird, nicht aber der Kollektivbegriff der ANT, s. das Kapitel „Die Realität der geschichtspolitischen Konstruktion“. Zum Kollektiv-Begriff einiger Gedächtnistheorien s. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2011.
34
Vgl. Heinrich, Horst-Afred/Kohlstruck, Michael: Zur theoriegeleiteten Analyse von Geschichtspolitik. In: Heinrich/Kohlstruck 2008, S. 10. Heinrichs und Kohlstrucks Kategorisierung von Geschichtspolitik ähnelt Bruno Latours Unterscheidung von Realpolitik und Dingpolitik, die ich im Folgenden implizit weiterführen werde, vgl. Latour 2005, S. 4-33.
35
Wolfrum 1999, S. 26.
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soll. Wolfrums Erklärung ist jedoch nicht ganz so einseitig. Vielmehr heißt es bei ihm im Sinne des konstruktivistischen Ansatzes weiter: „Geschichte kann ein wichtiges Vehikel sein, um Zusammenhänge zwischen diffusen Gruppen zu schaffen.“36 Geschichtspolitik erschafft demnach Gemeinschaften und kollektive Identitäten, Gedächtnisse und Erinnerungen, „unabhängig vom wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt“.37 Aber auch der konstruktivistische Ansatz verdoppelt seine Erklärungsinstanzen: Indem die Gesellschaft, das Kollektiv und die Kultur allesamt Formen der Vergemeinschaftung durch Gedächtnis, Erinnerung und Geschichten schaffen, erzeugen sie sich gleichzeitig selbst. Dieser Verdoppelungseffekt rührt daher, dass beispielsweise kollektive Mythen und Erinnerungen dazu in der Lage sind, eine gemeinsame Gesellschaft oder Kultur zu erzeugen, gleichzeitig jedoch behauptet wird, dass diese Mythen und Erinnerungen wiederum selbst von der Gesellschaft, dem Kollektiv oder der Kultur produziert werden. Auch hier sind Explanandum und Explanans relativ frei austauschbar. Dieser doppelten Redundanz von Erklärungen und zu Erklärendem (Politik, Kultur und Gesellschaft konstituieren Geschichte/Geschichte konstituiert Politik, Kultur und Gesellschaft) stellt Wolfrum als normatives Korrektiv die Geschichtswissenschaft gegenüber. Diese funktioniert ebenfalls einerseits realpolitisch, indem sie die historischen Tatsachen für sich und gegen die Ideologien sprechen lässt. Andererseits agiert sie konstruktivistisch, indem sie durch eigene Kontroversen, ihren Wahrheitsanspruch und ihr Vernunftpotential Geschichtsbilder – und damit Gemeinschaften – konstituiert. Auch die Geschichtswissenschaft geht in beiden Erklärungsstrategien auf, die dadurch einmal mehr ihre analytische Kraft einbüßen. Wie lässt sich diese doppelte Redundanz umgehen? Erste Ansätze finden sich bei Uhl und Andresen: Uhl betonte das Prekäre an geschichtspolitischen Konstruktionen, Andresen suchte nach den interaktiven und relationalen Zwischenräumen der beteiligten Instanzen. Denkt man diese Ansätze weiter, ergibt sich daraus eine Analysestrategie, die nicht davon ausgeht, dass Politik, Kultur oder Gesellschaft stabile Instanzen sind, wenn sie Geschichtspolitik betreiben, sondern dass sie selbst dabei auf dem Spiel stehen. Das heißt, dass Geschichtspolitik als konstitutives Handlungsfeld ein riskantes Unterfangen ist. Was dort an Kollektivität geschaffen werden soll, ist jeweils prekär und wird immer wieder Gegenstand neuer Aushandlungen sein. Diese Aushandlungen finden nicht auf lose miteinander verbundenen oder stets um Differenz zueinander bemühten Feldern statt, sondern lassen sich als interagierendes Netzwerk beschreiben. Ein solches Netzwerk bezeichnet Andresen mit Spacing – und bedient sich damit nicht zufällig der Raummetapher, die in der Kultur- und Gedächtnisforschung seit mehreren Jahren Konjunktur hat. Diese Me36
Ebd.
37
Ebd.
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tapher verweist nicht allein auf narrative, mythisierende Momente von Historisierung, sondern auch auf deren Materialität, die in der Lage ist Räume zu schaffen, zu gestalten und ihnen eine geschichtspolitische Funktion zuzuweisen.38 Daraus ergeben sich zwei Fragenkomplexe, die in der bisherigen Geschichtspolitikanalyse zwar erkannt wurden, durch ihre doppelte Redundanz jedoch unbeantwortet und offen geblieben sind: Wer und was handelt in der Geschichtspolitik? Und wovon handelt sie?
D AS S PECTRUM
DER
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Geschichtspolitik handelt von Geschichte. Sie bestimmt das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit und bemüht sich um deren Zukunftsfähigkeit. Darin sind sich alle bisher dargestellten Positionen einig. Aber mit welcher Geschichte (als Tatsache, als Erzählung, als Erinnerung) hat es die Geschichtspolitik zu tun? Die ontologische Differenz, die Kaluzas Arbeit an der „unsichtbaren Mauer“ verdeutlichte, gilt es dabei auszuhalten und politisch zu gestalten. Darin vereint und überwindet Geschichtspolitik zugleich die räumliche und temporale Differenz des modernen Zeitkontinuums Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft.39 Im modernen Verständnis von Geschichte sind Zeit und alle in ihr aufkommenden Ereignisse, Objekte und Subjekte vergänglich. Ihre bevorzugte Darstellungsart ist der Zeitstrahl, an dem entlang sich die Dinge punktuell entwickeln. In der Moderne ist Vergänglichkeit, und damit Vergangenheit, irreversibel. Jede Form der
38
Vgl. neben Pierre Nora und Etienne François vor allem Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999 und Robbe, Tilmann: Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. Allerdings ist nicht allen Theoretikern sozialer und kultureller Gedächtnispraktiken die Relationalität des Räumlichen geläufig; so werden „Erinnerungsorte“ auch oft auf einer „Mental Map“ angesiedelt, was in diesem Fall tatsächlich nicht mehr als eine Metapher im etymologischen Sinne ist, vgl. Haverkamp, Anselm (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996. Die Metapher „Erinnerungsort“ hingegen kann in ihrer paradigmatischen Breitenwirkung geradezu als „Absolute Metapher“ im Sinne Hans Blumenbergs gelten, vgl. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.
39
Zur Genese dieser Verzeitlichung des Denkens vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 und Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995.
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Wiederholung erscheint zunächst archaisch und anachronistisch, in diesem Sinne also unmodern.40 Historisierung, Archivierung und Erinnerung sind Formen der Bewahrung dieses Vergangenen, das in den Archiven und Gedächtnissen ausgelagert wird.41 Diese Auslagerung garantiert ihre Abrufbarkeit und gleichzeitig ihre Verbannung aus dem Gestaltungsraum der Gegenwart. Realpolitik und Konstruktivismus sind sich darin einig, dass die Vergangenheit vorbei ist und entweder faktisch rekonstruiert oder ideologisch und kulturell repräsentiert werden kann. Geschichte ist in diesem Denken das temporale und räumliche Andere der Gegenwart. Für Carl Schmitt und Hannah Arendt ist die Figur des Anderen und des Fremden konstitutiv für jeden politischen Prozess. Die inklusive Gestaltung (Arendt), bzw. agonale Festschreibung (Schmitt) dieser Differenz ist für beide die politische Aufgabe schlechthin.42 Die Differenzfigur „Vergangenheit“ und ihre gestalterische Übertragung in „Geschichte“ lassen sich in einer anderen Differenzfigur, dem „Gespenst“ (lat. spectrum) allegorisch fassen. Diese Figur wurde von Jacques Derrida im Hinblick auf das Chronotopos der Verzeitlichung43 näher beschrieben: „Wenn es so etwas gibt wie die Spektralität, das Gespenstige, dann gibt es Gründe, diese beruhigende Ordnung der Gegenwarten anzuzweifeln, und vor allem die Grenze zwischen der Gegenwart, der aktuellen oder präsenten Realität der Gegenwart, und allem, was man ihr gegenüberstellen kann: die Abwesenheit, die Nicht-Präsenz, die Unwirklichkeit, die Inaktualität, die Virtualität oder selbst das Simulakrum usw. Vor allem muss die Gleichzeitigkeit mit 40
Vgl. Latour 2008, S. 91ff. Zur Evolution des Zeitpfeils in Abgrenzung zur zyklischen Zeit s. Gould, Stephen Jay: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil und Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. München u.a.: Hanser 1990.
41
Wolfgang Ernst hingegen vertritt die Theorie, dass neue Archivtypen von der Speicherung zur Übertragung übergehen und dadurch das Dispositv der konservierenden Ausgrenzung des Vergangenen aus der Gegenwart hinfällig machen. Vgl. Ernst 2002 und Ernst, Wolfgang: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts). Berlin: Kadmos 2007.
42
Zum Topos des Agons in der Politik vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 2011; Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin: Duncker & Humblot 1987 und in jüngster Zeit Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. In der neueren Politiktheorie wird diese Kategorie jedoch stark kritisiert und gegen andere Topoi wie Kosmopolitik und Freundschaft gestellt. Vgl. vor allem Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 oder Beck, Ulrich: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
43
Vgl. Zum Theorem des Chronotopos s. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 139ff.
50 | 1989 UND WIR sich selbst bezweifelt werden. Bevor man wissen kann, ob es einen Unterschied gibt zwischen […] der vergangenen Gegenwart und der zukünftigen Gegenwart, muß man sich vielleicht fragen, ob der Spektral-Effekt oder die Wirkung des Gespenstigen nicht darin besteht, diese Opposition […] zwischen der wirklichen Anwesenheit und ihrem anderen außer Kraft zu setzen.“44
Was in Kaluzas Fotografien noch „geisterhaft“ war (man könnte sagen, die Mauer „spukte“ als Präsenz durch Absenz, als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ durch seine Fotografien), stellt auch bei Derrida die moderne Zeitvorstellung infrage. Der „Spuk“ des „Gespenstes“ (frz. spectre) bringt den modernen Zeitstrahl durcheinander. „The time is out of joint“, heißt es in Shakespeares Hamlet.45 Dieser Ausruf Hamlets, den er im Angesicht des Gespenstes seines ermordeten Vaters artikuliert, dient Derrida als Blaupause der von ihm selbst entworfenen Philosophie namens Hantologie (einem Kompositum aus frz. hanter (heimsuchen) und Ontologie)46, welche die Logik der Gegenwärtigkeit des nicht mehr oder noch nicht Gegenwärtigen begrifflich zu fassen sucht. Geschichtspolitik kann demnach durchaus als hantologisches Verfahren gedacht werden. Sie organisiert die Art und Weise der Wiederkehr47 des nicht mehr Gegenwärtigen und verschafft ihm eine Präsenz, die auch in Zukunft gültig sein soll. Damit verabschiedet sie sich vom inkommensurablen Differenzdenken des Antagonismus und der politischen Markierung des „Anderen“ als Agon, indem sie versucht, für das historisch Andere, für die Vergangenheit ein Verfahren zu entwickeln, wie es sich in die Gegenwart wieder konstitutiv eingliedern lässt. Auf diese Art schafft Geschichtspolitik erst eine Gemeinschaft – durch und mit Geschichte werden unterschiedliche Zeiten wieder kommensurabel zueinander, die nicht auf der selben Zeitlinie existieren. Dadurch ergibt sich eine andere analytische Vorstellung von Zeitlichkeit, die ein breiteres Spectrum umfasst. Bruno Latour beschreibt dieses nun kaum mehr als modern zu verstehende, da nicht linear operierende Spectrum wie folgt: 44 45
Derrida 2004, S. 61f. (Hervorhebungen im Original). Shakespeare, William: Hamlet. Stuttgart: Reclam 1998, Akt 1, Szene 5. Interessanterweise fügt Hamlet diesem Ausruf eine geradezu geschichtspolitische Aufgabe an: „That ever I was born to set it [d.h. the time] right.“
46
Da das „h“ im Französischen stumm ist, spricht sich dort „Hantologie“ nahezu gleichlautend wie „Ontologie“ – und ist damit eine für Derrida typische Begriffsbildung im Sinne der différence/différance, vgl. Derrida, Jacques: Die différance. Ausgewählte Texte. Stuttgart: Reclam 2004a.
47
Weitere Synonyme für „Gespenst“ sind beispielsweise „Revenant“ oder „Wiedergänger“, d.h. wiederkehrende Gestalten, die aus der Zeit gefallen, out of joint zu sein scheinen, vgl. Derrida 2004, S. 34ff.
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„Strangely enough, we have changed time so completely that we have shifted from the time of Time to the time of Simultaneity. Nothing, it seems, accepts to simply reside in the past, and no one feels intimidated any more by the adjectives ,irrational’, ,backward’ or ,archaic’. Time, the bygone time of cataclysmic substitution, has suddenly become [...] a monstrous time, the time of cohabitation. Everything has become contemporary.“48
So sehr Historie, Verzeitlichung und Geschichtlichkeit auch als Effekte der Moderne gelten können, so nicht-modern erscheint doch die geschichtspolitische Praxis dieser Vergleichzeitigung, deren Techniken und Strategien gerade in einem Zeitalter, das sich zuweilen als „medial“, also durch (Ver-)Mittler bestimmt begreift, immer vielfältiger werden.49 Dabei ist diese Praxis der Geschichtspolitik kein bloßes soziales Konstruieren, das ideologischer Willkür unterliegt, sondern ein ästhetisches Verfahren, um die Realität dieser Präsenz von Geschichte zu bestimmen und zu konstruieren. Politik ist, mit Jacques Rancière gesprochen, auch immer eine „Sache des Erscheinens“.50 Vor diesem Hintergrund leuchtet auch die von Wolfrum durchgeführte Trennung von Politik und Ästhetik, bzw. Kultur nicht ein. Geschichtspolitik muss sich zeigen, sie muss sinnlich und kognitiv erfahrbar sein, um überhaupt Wirkung entfalten zu können. Gleiches gilt für den von ihr zu gestaltenden Gegenstand „Geschichte“, der sich ebenfalls als sinnlich-kognitiv widerspenstig, da nur schwerlich verfügbar, erweist. Das macht diesen Gegenstand philosophisch wie politisch komplex – und damit auch die Praxis der Geschichtspolitik. Was aber ist diese Praxis genau?
48
Latour 2005, S. 30 (Hervorhebung von mir). Latour übernimmt damit eine Vorstellung von Zeitlichkeit, wie sie Michel Serres vertritt. Vgl. Serres, Michel: Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour. Berlin: Merve 2008, S. 70-81.
49
Zum vielfältigen Motiv und der Genese von Medialität vgl. Hörisch, Jochen: Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
50
Vgl. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 85 und Balke, Friedrich: Zwischen Polizei und Politik. Eine Genealogie des ästhetischen Regimes. In: Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hg.): Das Politische und die Politik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S. 211. Zum Verhältnis von Präsenz und Ästhetik s. Gumbrecht 2004 und Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
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D IE R EALITÄT DER K ONSTRUKTION
GESCHICHTSPOLITISCHEN
Realpolitik und Konstruktivismus verteilen ihre Ursachen und Wirkungen auf die Felder Politik, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft, die nach jeweils unterschiedlichen ideologischen und ökonomischen Prämissen Geschichte erschaffen. Daneben steht, zumindest nach eigenem Anspruch und mit einiger Ambivalenz, die Geschichtswissenschaft mit ihren Tatsachen, Vernunftpotentialen und Wahrheitsansprüchen. Andresen hat den Versuch unternommen, einen Interaktionsraum zwischen Akteuren, Objekten und Rezipienten von Geschichtspolitik zur Grundlage der Beschreibung zu machen. Dadurch will er verhindern, dass redundante Erklärungen zu viel Gewicht erhalten. Zudem werden, im Sinne Uhls, die großen Erklärungen von Realpolitik und Konstruktivismus als prekär, instabil und wandelbar verstanden. Andresens Konzept des Spacing und Uhls radikal-skeptische Haltung gegenüber stabilen sozialen, kulturellen und politischen Formationen weisen starke Ähnlichkeiten zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) auf, wie sie etwa Bruno Latour, John Law, Madeleine Akrich oder Michel Callon vertreten und die hier als analytisches Verfahren gegenüber der geschichtspolitischen Praxis vorgeschlagen wird. 51 Worin liegt der Vorteil einer solchen Beschreibung? Zunächst einmal äußert die Akteur-Netzwerk-Theorie radikale Skepsis52 gegenüber den von Realpolitik und Konstruktivismus angeführten, meist stabilen Ursachen von Geschichtspolitik: Man kann in diesem Sinne Geschichtspolitik weder durch Politik, noch durch Kultur oder Gesellschaft allein erklären. Diese Heuristiken verleiten zu vorschnellen Erklärungen, wie „Das hat die Politik gemacht!“, „Dahinter steckt die Gesellschaft!“, „Dafür ist die Kultur verantwortlich!“ Wie gesehen, sind Erklärtes und Erklärendes hier frei austauschbar und bergen dadurch kaum analytisches Potential. Auch die umgekehrte Richtung der Erklärung wird
51
Zur Genese der Akteur-Netzwerk-Theorie s. die chronologisch geordnete Textsammlung in Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006.
52
Als Klassiker dieser Haltung gilt sicherlich Lyotard, François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen Verlag 1994. In Anlehnung an Gilles Deleuze und Félix Guattari übernimmt Isabelle Stengers die skeptische Figur des Idiot, dem jede große Erklärung zu schnell und zu einfach erscheint und durch sein ständiges NichtVerstehen ausbremst und entschleunigt: „[D]er Idiot verlangt, dass wir langsamer werden, dass wir uns selbst nicht für ermächtigt halten zu glauben, wir würden die Bedeutung dessen, was wir wissen, hervorbringen.“ Vgl. Stengers, Isabelle: Spekulativer Konstruktivismus. Mit einem Vorwort von Bruno Latour. Berlin: Merve 2008, S. 155f.
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infrage gestellt: Inwiefern ist Geschichte konstitutiv für Gesellschaften, Kulturen und Politiken? Hinzu tritt die unaufgelöste Ambivalenz der Geschichtswissenschaft zur Geschichtspolitik. Alles in allem lag das Problem bisher darin, die Ebene der Relationen analytisch zu konturieren und diese nicht disjunktiv, sondern konnektiv und integrativ zu verstehen.53 In einem solchen Ansatz muss eine Analyse von Geschichtspolitik sich nicht mehr entscheiden, ob sie Fakten und Verwissenschaftlichung gegen ideologische Politisierung ausspielt. Vielmehr ist auch die Geschichtswissenschaft konstitutiv an der Konstruktion von Geschichtspolitik beteiligt. Gerade indem sie die historischen Tatsachen ins Spiel bringt, erfüllt sie eine epistemologische Funktion, die auch auf die politische Ebene zielt. Dadurch sind die Trennungen zwischen Fakten und Ideologie, Politik, Gesellschaft und Kultur insgesamt in einem verflochtenen Netzwerk aufgehoben zugunsten eines dynamischen Modells der Interaktion, Verbindung und Übersetzung. Die Politik, die daraus entsteht, lässt sich als Akteur-Netzwerk beschreiben und als politische Epistemologie bezeichnen.54 Diese Beschreibung führt einige Neujustierungen in die Geschichtspolitiktheorie ein, die im Folgenden kurz beschrieben werden. Die bisherigen Vorschläge zu einer Analyse von Geschichtspolitik haben meist mehrere lose verbundene Akteursinstanzen und Handlungsfelder nebeneinander gestellt. Diese a priori Unterteilung in Handlungsinstanzen entspricht allerdings einer eher heuristischen als analytischen Praxis, die auf in der Moderne vorangetriebene Denkstile (z. B. die Subjekt-Objekt-Dichotomie) zurück geht.55 Andresens Vorschlag, keine a priori Trennung der an Geschichtspolitik beteiligten Elemente vorzunehmen, erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll. Der Grund für die Aufhebung dieser Trennung liegt darin, dass Geschichtspolitik dadurch nicht länger primär Sache der Politiker, Eliten und ähnlichem ist, sondern alle interagierenden Elemente einbezogen werden können. Aufgegeben wird damit eine Analyse, die 53
Eine konnektive Philosophie der Schnittstelle und der Produktion vertreten mit dem Begriff der „Wunschmaschine“ Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Deleuze und Guattari liefern neben anderen Denkern des Prozessualen, Vermischten und Vermengten wie Michel Serres und Alfred North Whitehead die philosophischen Grundlagen der Akteur-Netzwerk-Theorie. Vgl. auch Schmidgen, Henning: Bruno Latour zur Einführung. Hamburg: Junius 2011.
54
Ein Plädoyer für eine solche politische Epistemologie findet sich in Latour 2010.
55
Vgl. die „Verfassung der Moderne“ in Latour 2008, S. 22-66, Gumbrecht 2004 und die Genese dieses Diskurses im Zuge des humanistischen Leitbildes bei Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974.
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durch ihre heuristische Vorannahme der gegebenen Felder Politik, Gesellschaft oder Kultur diese bloß verdoppelt. Wenn diese Vorannahmen zurückgenommen werden, kann eine Analyse einsetzen, die zeigt, wie innerhalb geschichtspolitischen Handelns erst die Felder Politik, Kultur oder Gesellschaft entstehen, bzw. konstruiert und produziert werden. Hier setzt die Aufhebung der zweiten Trennung ein, die durch Konstruktivismus und Realpolitik vollzogen wurde. Diese ging davon aus, dass Geschichtspolitik ihre Gegenstände „bloß“ konstruiert, ohne die Realität der Fakten und Tatsachen zu berücksichtigen, wie sie beispielsweise von der Geschichtswissenschaft in den Diskurs gebracht werden. Diese Trennung zwischen Fakten und Konstruktionen verstellt den Blick darauf, wie real Konstruktionen sind. Es kommt vielmehr darauf an eine Beschreibung zu finden, die diese Realität der Konstruktionen erklären und verstehen hilft. Was in der Geschichtspolitik konstruiert wird, ist die reale Erscheinungsweise, die tatsächliche Präsenz der Vergangenheit als Geschichte: So werden Tatsachen konstruiert, also hergestellte, produzierte Gegenstände des Wissens.56 Und genau das bezeichnet die Praxis der Geschichtspolitik: Ihren Gegenstand real zu konstruieren. Dass dabei nicht nur Politiker und Wissenschaftler, Journalisten, zivilgesellschaftliche Verbände und Zeitzeugen beteiligt sind, sondern eben auch die bei der Vermittlung eingesetzten Objekte und daran partizipierende Rezipienten ebendieser Vermittlung, ist in Andresens Konzept des Spacing bereits enthalten. Dadurch entsteht eine Vermehrung der Akteure, die gleichzeitig eine simple asymmetrische Hierarchisierung unterwandert.57 Ideologien, Interessen und Macht sind in diesem Sinne weder Ursachen noch Besitzstände innerhalb der Geschichtspolitik, sondern müssen interaktiv vermittelt und hergestellt werden. Oft werden wiederum a priori Parteien, Politikern oder anderen Interessenverbänden Positionen, Interessen oder Einflusspotentiale unterstellt, die in der Vorwegnahme erklären, wie durch sie Geschichtspolitik betrieben wird. Eine solche Vorannahme übersieht allerdings, dass jede Geschichtspolitik bereits vorhandene Positionen oder Allianzen sozialer oder ökonomischer Art aufs Spiel setzen kann und teilweise sogar muss. Um ein bestimmtes Geschichtsbild stabil zu konstruieren, müssen Interaktionen, Delegationen 56
Die wohl einschlägigste Arbeit zur wissenschaftssoziologischen Begriffsbildung „Tatsache“ hat Ludwik Fleck geliefert: Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. In dessen Nachfolge siehe die Begriffsbildung „Faitiche“ bei Bruno Latour, der Tatsachen (frz. faits) kosmopolitisch im oben dargestellten Sinne begreift, vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S.327ff.
57
Auch Bruno Latour geht es um eine dezidiert symmetrische Beschreibung der SubjektObjekt-Verhältnisse, vgl. Latour 2008.
G ESCHICHTSPOLITIK DES V ERSCHWINDENS
| 55
und Allianzen hergestellt werden. Geschichtspolitik wird dadurch prozessual gedacht und gewinnt ein Stück ihrer Kontingenz zurück. Geschichte politisch konstruieren heißt auch, die Sprecher und Aussagen (Propositionen) darüber zu vermehren, welche Geschichte wie konstruiert werden soll.58 Dadurch wird umgangen, dass „herrschende“ Geschichtsbilder als gegeben hingenommen werden, ohne sie auf ihren Konstruktionsprozess zu befragen, der sie erst „wirkmächtig“ werden lässt.59 Geschichtspolitik erhält so eine kosmopolitische Ausrichtung, wie sie Isabelle Stengers vorgeschlagen hat.60 Stengers plädiert für eine verlangsamte Betrachtung des Konstruktionsprozesses, die daran interessiert ist, weder a priori Erklärungen für die untersuchten Akteure, Handlungen und Objekte zu finden, noch die daran beteiligten Entitäten zu übersehen. Gleichzeitig bemüht sich eine kosmopolitische Analyse darum, die Verbindungen, Vermittlungen und Übersetzungen aufzuzeigen, welche durch politische Handlungen entstehen und diese im Grunde erst zu politischen Handlungen werden lassen. Denn Politik in diesem Sinne heißt: Akteure vermehren, Propositionen versammeln, Allianzen bilden, die eine „Politik des Erscheinens“ (Rancière), wie sie der Gegenstand der Geschichtspolitik fordert, als konstruktive Politik versteht. Was heißt das hier Beschriebene nun für die Geschichtspolitik zur DDR? Zunächst einmal bestimmt auch die Geschichtspolitik zur DDR ihren Gegenstand konstruktiv. Die DDR, die Friedliche Revolution, die Mauer sind allesamt Objekte von Geschichtspolitik, deren Erscheinungsform verhandelt wird. In einem kosmopolitischen Arrangement erweisen sich die zu verhandelnden Dinge jedoch nicht bloß als ideologisch gestaltbar, sondern besitzen eine eigenartige Widerständigkeit, die den Möglichkeitsraum ihrer Formung und Konstruktion mitbestimmt. Kurz: Geschichtspolitik kann mit der DDR nicht machen, was sie will. Vielmehr fordert die DDR selbst durch ihre Eigenarten eine bestimmte Art und Praxis von Geschichtspolitik heraus.
58
Zu dieser Idee und dem Begriff der Proposition s. Latour 2010, S. 82-122.
59
Etliche Beispiele dafür, wie eine Tatsache „wirkmächtig“ wird und wie man die Herstellung dieser Wirkung analytisch fassen kann finden sich in Latour, Bruno: Science in Action. How to follow scientists and engineers through society. Cambridge, MA: Harvard University Press 1987.
60
Stengers 2008, S. 153ff.
Zweites Kapitel Die DDR als Geschichte (1989-2008)
Schon 1989 ließ sich eine begriffliche Zäsur ausmachen, die ein Bewusstsein gegenüber den zeitgenössischen Zäsuren artikulierte: Begriffe wie „Wende“ und „Revolution“, „Zusammenbruch“, „Implosion“ oder gar „Untergang“ markierten einen Übergangszustand, der etwas Altes hinter sich ließ und Raum für neue Entwicklungen öffnete.1 Was sich bereits 1989 ausmachen ließ, könnte daher als „Historisierungskonsens“ gegenüber der DDR bezeichnet werden: Ein Wissen darüber, dass die DDR, wie man sie bisher kannte, nunmehr der Vergangenheit zugehört. Politik, Wissenschaft und Zeitzeugenverbände begannen sozusagen über Nacht damit, die „alte“ DDR als historisch zu verstehen. Damit erfolgte der Startschuss zu lang anhaltenden, oft emotional geführten Kontroversen darüber, mit welcher DDR man es eigentlich zu tun hatte und mit welcher man es in Zukunft zu tun haben möchte. 2 Zwischen 1989 und 2009 ließen sich punktuell Topoi und Instanzen dieser Diskurse ausmachen, die den Raum des Sagbaren, Zeigbaren und Machbaren in der Geschichtspolitik zur DDR bis in die Gegenwart kennzeichnen. Dabei lösten sich die Grenzen zwischen staatlicher und wissenschaftlicher Geschichtspolitik, falls es sie je gegeben hat, immer weiter auf – was nicht zuletzt das Fallbeispiel der sogenannten „Sabrow-Kommission“ zeigte. Eine Darstellung über die Vorgeschichte der DDR als historisierter, bzw. zu historisierender Gegenstand wird also notwendig sein um darzulegen, auf welchem Nährborden, vor welchem Panorama sich die
1
Als komprimierte Darstellung dieser Semantiken s. Sabrow 2009a (URL: http://goo.gl/ psNZL [29.3.2012] und Hüttmann, Jens: DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der Bundesdeutschen DDR-Forschung. Berlin: Metropol 2008, S. 298f.
2
Sabrow, Martin: Die Historikerdebatte über den Umbruch von 1989. In: Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/Große Kracht, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München: Beck 2003, S. 114.
58 | 1989 UND WIR
DDR und die dazugehörige Geschichtspolitik im oben beschriebenen Sinne konstruierte.
S TAATLICHE G ESCHICHTSPOLITIK
ZUR
DDR
Weder die wissenschaftliche noch die politische Auseinandersetzung mit der DDR setzte erst 1989 ein.3 Allerdings markiert 1989 eine nicht nur historische, sondern auch epistemische Zäsur. Spätestens seit den Wahlen zur DDR-Volkskammer im März 1990, mit denen in vielen Augen die Wiedervereinigung politisch besiegelt war, wurde die DDR vermehrt von dem Ende ihrer Existenz her gedacht. Prompt sahen sich auch nahezu alle bisherigen wissenschaftlichen wie politischen Umgangsformen mit der DDR dem Vorwurf ausgesetzt, den Bruch 1989/90 nicht vorhergesagt, die DDR sogar als politisches Gebilde und Untersuchungsobjekt für stabil gehalten, und dadurch stabilisiert zu haben. Dieses sogenannte „Prognosedebakel“4 lieferte ein einschneidendes Argument für die epistemologische Neuordnung des DDR-Diskurses, der auch neue Formen des geschichtspolitischen Umgangs forderte. 1989 wurde schnell zum diskursiven Ausgangs- oder Fluchtpunkt für diese Geschichtspolitik. Mit „Historisierungskonsens“ ist nicht gemeint, dass es ein nun verbreitetes oder zu verbreitendes homogenes Bild über die DDR und ihre Geschichte gab. Vielmehr ist damit gemeint, dass die DDR in höherem Maße zu einem Matter of Concern5, einem „Ding von Belang“ wurde, das Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, aber auch Objekte, Tatsachen und Erzählungen gleichermaßen zu mobilisieren wusste. Der DDR-Diskurs und gerade die Frage, wie man zukünftig mit der DDR und ihrem „Erbe“ umzugehen habe, verbreiteten sich seit 1989 in hohem Maße. Als Blaupause dieses geschichtspolitischen Vorgangs diente nicht selten der Umgang der Bundesrepublik mit dem Nationalsozialismus. Diese vergleichende (und teils auch gleichsetzende) Praxis ist bis heute auszumachen und auch viel kriti-
3
Hüttmann 2008, S. 13-25.
4
Hüttmann 2008, S. 302ff.
5
Vgl. Latour 2005. Latour grenzt darin „Matters of Fact“ als Effekte der „Realpolitik“ von „Matters of Concern“ (Dinge von Belang) als Produkt und gleichzeitig Produzenten einer konstruktiv(istisch)en „Dingpolitik“ ab. Erstere verhindert Mobilisierung, indem sie unter einem Realitätspostulat jede Diskussion über Tatsachen unterbindet oder ignoriert, wohingegen die „Matters of Concern“ nicht anders als mobilisierend und mobilisiert existieren können, indem sie das Interesse von Wissenschaftlern, Bürgern, Politikern und anderen Instanzen wecken und zum Gegenstand einer Kontroverse werden.
D IE DDR ALS G ESCHICHTE (1989-2008)
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siert worden.6 Andererseits trug das Bewusstsein um die Versäumnisse in der „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus und seines „Erbes“ in der Bundesrepublik entscheidend dazu bei, dass die DDR so schnell und so umfangreich ein „Ding von Belang“ werden konnte. Der Imperativ lautete vielerorts, dass die geschichtspolitischen Fehler der Bundesrepublik im Umgang mit der „zweiten deutschen Diktatur“ nicht wiederholt werden dürfen.7 Oft konträr dazu stand die Forderung nach dem Anstoß eines gemeinsamen Erinnerungsprozesses, der integrativ auf das nunmehr wiedervereinigte Deutschland wirken sollte. Zu diesem Zweck wurde ein „Schlussstrich“ unter die Täter-Opfer-Debatten gefordert, die vor allem im Zuge der Historisierung der DDR-Staatssicherheit aufkeimten und eine eher moralisch als juristisch geführte Verurteilung der totalitären Strukturen innerhalb der DDR forderten.8 Im Sinne der Totalitarismustheorie und der mit ihr einhergehenden Delegitimisierungsstrategie totalitärer Strukturen und Politiken rückte schnell das „Ministerium für Staatssicherheit der DDR“ (MfS) in den Fokus der Aufarbeitung, da dort die Manifestation totalitärer Strukturen für viele offensichtlich war. 9 Die schnelle Verabschiedung des „Stasi-Unterlagen-Gesetzes“ (StUG) im November 1991 und der daraus resultierenden „Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU), die seit dem Inkrafttreten des „Einigungsvertrags“ am 3. Oktober 1990 von einem „Sonderbeauftragten“ (Joachim Gauck) geführt wurde, institutionalisierte diese Form der Erinnerung. Dass die Unterlagen des MfS bis heute von der BStU 6
Zahlreiche Beispiele für diese Praxis liefert Rudnick, Carola S.: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989. Bielefeld: transcript 2011.
7
Vgl. Rudnick 2011. Neben Rudnick s. vor allem Wielenga, Frieso: Schatten deutscher Geschichte. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Vierow bei Greifswald: SH-Verlag 1995.
8
Wenngleich gegen führende SED-Mitglieder und „Mauerschützen“ juristisch vorgegangen wurde, allerdings in einem eher geringen Umfang. Vgl. Rudnick 2011, S. 33ff. Zur Schlussstrich-Debatte vgl. Wielenga, Frieso: Schatten der deutschen Geschichte. Der Umgang mit der Nazi- und DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland. In: Deutschland Archiv 10/1994, S. 1058-1073.
9
Das lag nicht zuletzt daran, dass die Akten des MfS in der BStU sowie der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ (SAPMO) im Bundesarchiv so früh archiviert und einsehbar gemacht wurden, vgl. Mählert, Ulrich/Wilke, Manfred: Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1989. In: Möller, Frank/Mählert, Ulrich (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin: Metropol 2008, S. 127f. und 132ff. Zur damaligen Aktualität der Totalitarismustheorie vgl. Kocka, Jürgen: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag. In: Möller/Mählert 2008, S. 145ff.
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verwaltet werden und noch nicht in ein reguläres Archiv überführt wurden, verdeutlicht den Sonderstatus10, den die Staatssicherheit der DDR in diesem Diskurs bis heute innehat.11 Durch die Ende 2008 durchgesetzte Fortschreibung des Gedenkstättenkonzeptes des Bundes12 hat sich dieser paradigmatische Schwerpunkt nochmals legislativ verankert, ebenso die Parallelsetzung der Aufarbeitung von DDR und Nationalsozialismus als geschichtspolitische Aufgabe der Bundesregierung. Letztere betonte darin einmal mehr den „antitotalitären Konsens“ im Selbstverständnis der Bundesrepublik. Von diesem profitierten nicht zuletzt Gedenkstätten wie die ehemaligen Haftanstalten Bautzen und Berlin-Hohenschönhausen als auch die Gedenkstätte Berliner Mauer und die frühere Zentrale der Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße – allesamt Institutionen, die den repressiven und totalitären Charakter der DDR widerspiegeln.13 Besonders bemerkenswert ist die Einsetzung von zwei Enquete-Kommissionen seitens der Bundesregierung zu „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (1992-1994) und „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (1995-1998).14 Man mag diese Art der Verstaatlichung von Geschichtspolitik mit einigem Recht als Typ von „Wahrheitskommission“15 oder gar als auf einer „Tribunal-Idee“16 fußend betrachten. Bezeichnenderweise führten beide Kommissionen auch die „SED-Diktatur“ im Titel, was an der grundsätzlichen Bewertungstendenz kaum Zweifel lassen mochte. Allerdings übersehen diese kritischen Positionen wiederum den wenig homogenen und kontroversen Charakter dieser Unterfangen und sprechen darüber hinaus dem
10
Aktuell ist der archivarische Sonderstatus der BStU bis 2019 gesichert, vgl. N.N.: Aufarbeitung mit Zukunft. Der Spiegel 13/2010.
11
Zur Stellung des MfS in der Geschichtspolitik seit 1989 s. Giesecke, Jens: Die Stasi 1945-1990. München: Pantheon 2011, S. 270ff.
12
Vgl. hierzu die aktuelle Fortschreibung des Gedenkstättenkonzeptes des Bundes „Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen“. Deutscher Bundestag Drucksache 16/9875 (URL: http://goo.gl/jCe0H [18.7.2013]).
13
Für einen detaillierten Abriss der Geschichte dieser Gedenkstätten s. Rudnick 2011. Das Kapitel zu Bautzen beginnt darin S. 131, zu Hohenschönhausen S. 227 und zur Gedenkstätte Berliner Mauer S. 547.
14
Eine aktuelle Darstellung und Einordnung beider Kommissionen bietet Beattie, Andrew H.: Playing politics with history. The Bundestag inquires into East Germany. New York u.a.: Berghahn Books 2008.
15 16
Rudnick 2011, S. 47. Bock, Petra: Von der Tribunal-Idee zur Enquete-Kommission des Bundestages ‚Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland‘. In: Deutschland Archiv 11/1995, S. 1171-1183.
D IE DDR ALS G ESCHICHTE (1989-2008)
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staatlichen Anteil des Politischen eine analytische Hegemonialstellung in Fragen der Geschichtspolitik zu, was empirisch kaum haltbar ist. Schon das Zustandekommen der ersten Enquete-Kommission zeigte, dass es keine klare Zielsetzung hinsichtlich der Aufarbeitungsform oder Erzählweise einer möglichen DDR-Geschichte gab. Gleiches galt für die Antragstellungen der einzelnen Parteien zur Etablierung einer solchen Kommission. 17 Einigkeit bestand lediglich darüber, dass eine „Aufarbeitung“ stattfinden sollte, mehrheitlich unter Gesichtspunkten der Delegitimation der totalitären DDR und besonders der SEDPolitik und ihrer Nachfolgepartei PDS. Dass sich im Endeffekt auf praktische wie politische Ziele, sowie sechs zentrale Themenfelder18 geeinigt werden konnte bedeutet nicht, dass damit alle Kontroversen über die Art und Weise dieser „Aufarbeitung“ gelöst wurden. Vielmehr zeigte sich, dass von staatlicher Seite der Versuch unternommen wurde, den „Historisierungskonsens“ in aller Breite zu institutionalisieren. So gehörten beiden Enquete-Kommissionen vor allem Historiker und Zeitzeugen an, die wohl nicht willkürlich, aber auch nicht nach inhaltlicher Homogenität ausgewählt wurden. Insgesamt wurden 327 „Sachverständige“ und Zeitzeugen in 81 Plenarsitzungen angehört; zusätzlich konnte man sich auf 150 Expertisen, Gutachten und Berichte zu Arbeit und Abschlussbericht der Kommission stützen. Die aus der Kommission hervorgegangene Dokumentation ihrer Arbeit und Beschlüsse umfasste 15.378 Seiten, veröffentlicht in 18 Teilbänden.19 Dass die Tendenz eher zu einer „Aufarbeitung“ unter totalitarismustheoretischer Perspektive neigte, ist auch nicht unbedingt als Ursache, sondern eher als Symptom einer allgemeinen Konjunktur dieses Paradigmas zu Beginn der Geschichtspolitik zur DDR zu sehen. In der ersten Enquete-Kommission kulminierte der breite Historisierungskonsens in einer institutionalisierten Form, ihre Arbeit und Ergebnisse blieben zudem nicht unwidersprochen. Allein deshalb ist weniger, trotz einiger einheitlicher Tendenzen, von einem homogenisierenden als einem mobilisierenden Akt seitens des Staates zu sprechen, wodurch Themen, Akteure, Propositionen und moralischethische Bewertungen zu „Dingen von Belang“ wurden. Nun wurden Kontroversen institutionalisiert, die durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz, BStU und den „antitotalitären Konsens“ zum Gegenstand von Verhandlungen wurden. Bezeichnenderweise ging aus der ersten Kommission kein direkter Beschluss, keine Gesetzeslage und keine Behörde oder andere Einrichtung hervor. Vielmehr lässt sie sich als Parla17 18
Rudnick 2011, S. 48-52. Diese Themenfelder waren: 1. Machtstrukturen 2. Ideologie 3. Recht, Justiz und Polizei 4. Innerdeutsche Beziehungen 5. Rolle der Kirchen 6. Formen von Devianz und Opposition, vgl. Rudnick 2011, S. 56.
19
Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Neun Bände in 18 Teilbänden. Baden-Baden: Nomos 1999. Vgl. auch Hüttmann 2008, S. 342ff.
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mentarisierung des „Historisierungskonsens“ verstehen, der auf eine breitere soziale und politische Basis gestellt werden sollte, indem die DDR als Geschichte verhandelt wurde.20 Die zweite Enquete-Kommission hingegen zielte direkt auf eine Institutionalisierung und vor allem Strukturierung einer DDR-Erinnerung ab. Ihr Auftrag war es, auf Grundlage wiederum des „antitotalitären Konsens“, Handlungsempfehlungen für die Gestaltung einer gesamtgesellschaftlich gültigen und akzeptierten Erinnerung an die DDR zu erarbeiten. Dazu sollten 160 Gutachten und 292 Personenanhörungen innerhalb von 53 Sitzungen erfolgen. 21 Allein diese Menge zeigt an, dass es sich erneut eher um eine mobilisierende als um eine homogenisierende Veranstaltung handelte. In die Kommissionsarbeit waren Politiker, Wissenschaftler und Zeitzeugen ebenso eingebunden wie auf institutioneller Ebene Parteien, Behörden, Museen, Opferverbände und Universitäten. Inhaltlich war die Kommission darum bemüht, den „antitotalitären Konsens“ nicht mehr rein totalitarismustheoretisch zu verstehen, sondern differenzierte Sichtweisen auf die DDR und den Vergleich zum Nationalsozialismus zu entwickeln. Ihrem Auftrag entsprechend gingen damit pädagogisch-didaktische Vorschläge einher, wie die DDR in der bundesrepublikanischen Erinnerung verankert werden konnte. Dabei dominierte paradigmatisch die biographisch ausgerichtete, empathisch vermittelte Opferperspektive. Die Pluralität und Dezentralisierung der Vermittlung sollten aufrechterhalten bleiben.22 Mit der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ (kurz: „Stiftung Aufarbeitung“) wurde schließlich 1998 eine neue Bundesbehörde geschaffen, welche die Arbeit der zweiten Enquete-Kommission fortführen sollte.23 Dabei betonte der Auftrag der „Stiftung Aufarbeitung“ noch stärker den Bereich der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, Archivierung und Förderung der DDR als Geschichte und Erinnerung. Dass darin leicht ein „Instrument“ staatlicher Gestaltung von Geschichtspolitik gesehen werden könnte soll erneut nicht darüber hinwegtäuschen, dass Institutionalisierung nicht mit Homogenisierung gleichzusetzen ist.24 Ähnliches lässt sich auch über das 1999 entworfene und 2008 mit dem Titel „Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen“ fort20
Diese These teilt auch Rudnick 2001, S. 62.
21
Ebd., S. 64f.
22
Ebd., S. 69f.
23
Ebd., S. 75ff.
24
Ein solcher Vorwurf lässt sich auch, zumindest in jüngster Zeit, empirisch gegenüber der „Stiftung Aufarbeitung“ kaum halten, zu sehr lag und liegt der Akzent ihrer Arbeit auf Pluralität, Dezentralisierung und Professionalisierung innerhalb der DDR-Forschung. Zur Arbeit der „Stiftung Aufarbeitung“ im „Erinnerungsjahr 2009“ vgl. das Kapitel „Wem gehört die Friedliche Revolution? Institutionen des politischen Gedächtnisses“ im zweiten Teil dieser Arbeit.
D IE DDR ALS G ESCHICHTE (1989-2008)
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geschriebene Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung sagen. Zwar finden sich in dem Konzept klar wertende, aus dem auch explizit genannten „antitotalitären Konsens“ gespeiste Perspektiven auf die „beiden Diktaturen in Deutschland“25. Allerdings fällt auch auf, dass es der Bundesregierung in erster Linie um heterogene Mobilisierung ging: „Sie [d.h. die Bundesregierung] wird dabei die Heterogenität der Trägerschaften von Gedenkstätten achten und unterstützen. Damit trägt sie dazu bei, den dezentralen und pluralen Charakter der Gedenkstättenlandschaft zu festigen, der sich durch ein Neben- und Miteinander von ehrenamtlicher und professioneller Arbeit, lokaler, regionaler und überregionaler Verantwortungsübernahme sowie individuellem und kollektivem Engagement auszeichnet.“26
Das Papier nannte mehr oder weniger klare Kriterien, die zu einer Förderung seitens des Bundes berechtigten. Dennoch blieb es im kosmopolitischen Sinne nicht bei einer reinen Verteilung von Geldern, sondern auch um eine weitergehende Einbeziehung von an der Vermittlung beteiligten Instanzen: Zeitzeugen, „authentische Orte“, Projektkonzepte, die Bausubstanz der Gedenkstätte, „Kooperationsfähigkeit“, „Synergiepotential“, und nicht zuletzt die „historischen Fakten“ sind in dem Konzept versammelte Akteure der staatlichen Geschichtspolitik.27 Darüber hinaus griff das Konzept auf die geschichtspolitische Vorarbeit der beiden Enquetekommissionen und anderer erinnerungspolitischer Konzepte (darunter auch die Empfehlungen der „Sabrow-Kommission“) zurück.28 Neben dieser mobiliserenden Strategie verstand sich das Gedenkstättenkonzept jedoch auch klassisch geschichtspolitisch nach den Kriterien Edgar Wolfrums. So nahm auch das Konzept an, dass „[d]as Verständnis der eigenen Geschichte [...] zur Identitätsbildung jeder Nation“ beiträgt. 29 Zur Rolle der Geschichtswissenschaft hieß es dann auch: „Fundament der Erinnerung sind die historischen Fakten und ihre wissenschaftliche Erforschung. Auf ihr ruht die Erinnerungspolitik, die sich in der Förderung von Aufarbeitung und dem Gedenken ausdrückt. Die Aufarbeitung soll die Öffentlichkeit über Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und der SED-Diktatur aufklären, um dadurch den
25
Fortschreibung des Gedenkstättenkonzeptes des Bundes „Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen“. Deutscher Bundestag Drucksache 16/ 9875, S. 3.
26
Ebd., S. 2.
27
Ebd., S. 2f. sowie S. 18f.
28
Ebd., S. 11.
29
Ebd., S. 1.
64 | 1989 UND WIR antitotalitären Konsens in der Gesellschaft zu festigen und das Bewusstsein für den Wert der freiheitlichen Demokratie und der Menschenrechte zu stärken.30
Damit verortete sich das Gedenkstättenkonzept programmatisch an der Schnittstelle von politischer Epistemologie und pädagogisch-moralischer Vermittlung. Geschichte stelle demnach nicht nur eine Vergemeinschaftung her, sondern stabilisiere auch Demokratie und Menschenrechte. Diese Vorstellung einer politischen Aufgabe oszillierte einmal mehr zwischen der Realpolitik der Fakten und dem Konstruktivismus der Vergemeinschaftung und Ethik, die beide in Relation zueinander verknüpft wurden. Was an dem Gedenkstättenkonzept auffiel und ebenso viel Kritik nach sich zog, war die starke Aufwertung der SBZ/DDR als Gegenstand der Geschichts- und Erinnerungspolitik des Bundes gegenüber dem Nationalsozialismus. 31 Darin mochte einerseits eine Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit der SBZ/DDR gesehen werden, da beide geschichtspolitisch ähnlich behandelt wurden.32 Andererseits konnte darin eine Marginalisierung des Nationalsozialismus entdeckt werden, da diesem lediglich drei Spalten, dem „Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Deutschland“ jedoch insgesamt 11 Spalten an konzeptioneller Darstellung gewidmet wurden. Dieses quantitative Missverhältnis kann jedoch genauso als Symptom des geschichtspolitischen Status dieser beiden Vermittlungsgegenstände verstanden werden, in dem die DDR, im Gegensatz zum Nationalsozialismus, als geschichtspolitisch noch weitestgehend ungeformt erschien, was das Gedenkstättenkonzept in seiner Ausführlichkeit zu ändern suchte. Man kann diese Form von politischer Epistemologie mit guten Gründen kritisieren, allerdings zeigte sich einmal mehr, dass die DDR seit 1989 auch für den Staat ein immer dringlicher werdendes „Ding von Belang“ darstellte, das zukunftsfähig werden sollte und als prekär behandelt wurde.33 Zusammenfassend lässt sich über die Geschichtspolitik auf Initiative des Bundes sagen, dass seit 1989/90 eine immer breitere Historisierung, und eine damit einher gehende Institutionalisierung der DDR als geschichtspolitisches „Ding von Belang“ einsetzte. Dazu wurden Wissenschaftler, Politiker und Zeitzeugen gleich30
Ebd., S. 2.
31
Vgl. Rudnick 2011, S. 99ff.
32
Dagegen spricht, dass sich das Konzept, ob vordergründig oder nicht, gegen diese epistemologische und geschichtspolitische Gleichsetzung aussprach, vgl. Fortschreibung des Gedenkstättenkonzeptes „Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen“. Deutscher Bundestag Drucksache 16/9875, S. 1f.
33
So hieß es dann im Vorwort des fortgeschriebenen Konzeptes: „Geschichte muss konsequent aufgearbeitet werden. Jeder Generation müssen die Lehren aus diesen Kapiteln unserer Geschichte immer wieder neu vermittelt werden.“ Vgl. ebd.
D IE DDR ALS G ESCHICHTE (1989-2008)
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ermaßen in den Verhandlungsprozess einbezogen, Kommissionen gegründet und kontroverse Diskussionen geführt, pädagogisch-didaktische Konzepte entwickelt, personelle und monetäre Strukturen aufgebaut und insgesamt die geschichtspolitischen Akteure, Sprecher, Orte, Praktiken und Objekte vermehrt und in einer parlamentarischen Struktur versammelt.34 Die größten Kontroversen entstanden um das geschichtspolitische Verhältnis von Nationalsozialismus und DDR sowie den Paradigmen der Totalitarismustheorie und eher sozial- und alltagsgeschichtlich differenzierenden Sichtweisen. Dass sich der „antitotalitäre Konsens“ und Bemühungen, diesen gesamtgesellschaftlich zu verankern, als roter Faden durch die „DDRAufarbeitung“ bis heute zieht heißt nicht, dass gleichzeitig ein epistemologischer Konsens zugunsten der Totalitarismustheorie entstanden ist. Vielmehr lässt sich in dieser Frage ein immer stärkerer Hang zur Differenzierung ausmachen. Diese Entwicklung gilt auch für die fachwissenschaftlichen Kontroversen über den Umgang mit der DDR, welche im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen.
G ESCHICHTSWISSENSCHAFT SEIT 1989
UND
DDR-F ORSCHUNG
Ebenso wenig wie staatliche Institutionen, ist die Geschichtswissenschaft ein geschichtspolitischer Monolith, sondern ein Ort der Mobilisierung und Kontroverse. Gerade Zeitgeschichte wird gerne als „Streitgeschichte“35 bezeichnet, nicht selten wird ein neuer „Historikerstreit“36 ausgerufen. Darin unterscheiden sich die Geschichtswissenschaften allerdings nicht grundsätzlich von anderen Wissenschaften.37 Auch die Politik teilt sich mit der Wissenschaft das Merkmal der Kontrover-
34
Unter kosmopolitischen Aspekten wäre eine tiefer gehende Untersuchung der EnqueteKommissionen und ihrer konstruktiven Verwendung von Dingen, Tatsachen und Objekten interessant, die diese Untersuchung aufgrund anderer Schwerpunktsetzung leider nicht leisten kann.
35
Vgl. Sabrow/Jessen/Große Kracht 2003, wobei das Kontroverse auch für andere geschichtswissenschaftliche Bereiche sicherlich zutrifft. Auch über die Geschichte der Antike lässt sich vortrefflich streiten, vgl. beispielsweise zum Umgang mit Herodot als Quelle Pritchett, William Kendrick: The liar school of Herodotus. Amsterdam: Gieben 1993.
36
Vgl. Große Kracht, Klaus: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005.
37
Vgl. besonders die Geschichte der sogenannten „Science Wars“ zwischen Naturwissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern vor allem in den Neunziger Jahren. Für einen Überblick s. Stengers, Isabelle: Cosmopolitics I. The Science Wars, the Invention of
66 | 1989 UND WIR
sen von Propositionen ebenso, wie sie ihr epistemisches Verfahren teilen: Das Umreißen von Problemen und Lösungswegen, die Erschaffung von Begriffen und Methoden, die Rekrutierung von Allianzen, Argumenten und Objektivitäten. 38 Die Frage, wie nach 1989 mit der DDR seitens der Geschichtswissenschaft vorzugehen sei, stellt sich also nicht rein politisch oder gar staatlich, sondern eben kosmopolitisch. Die geschichtswissenschaftlichen Antworten auf diese Frage bieten Stoff für eine eigenständige Untersuchung.39 Hier soll lediglich punktuell an zwei Konferenzen gezeigt werden, auf welche Art Geschichtswissenschaftler versuchten, gegenüber der DDR als zu historisierender Gegenstand ein angemessenes epistemologisches Verfahren zu entwickeln.40 Dabei handelt es sich erstens um eine reine Fachkonferenz, die unter dem Titel „Die DDR als Geschichte“ vom 6. bis 8. Juni 1993 in Potsdam abgehalten wurde, sowie zweitens um die Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ um Martin Sabrow (kurz: „Sabrow Kommission“), die am 9. Mai 2005 durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM), Christina Weiss, eingesetzt wurde und am 6. Juni 2006 eine öffentliche Anhörung zu ihrem Expertenvotum veranstaltete. Zeichnete sich erstere Veranstaltung durch einen fachwissenschaftlichen Impuls aus, dem auch Politiker und Zeitzeugen folgten und der sich durchaus politisch verstand, ging die „Sabrow-Kommission“ auf eine Initiative der Bundesregierung zurück, eine geschichtswissenschaftliche Expertise in Fragen der DDR-Erinnerung einzuholen. Schon diese organisatorischen Verflechtungen zeigen, dass Politik und Wissenschaft, Zeitzeugen und Artefakte nicht ohne Weiteres getrennt wurden. Auch die Geschichtswissenschaft war und ist aktiver Teil der Geschichtspolitik. Martin Sabrow beschrieb dieses Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur Politik in Fragen nach der Deutung von 1989 so treffend wie problematisierend: „Die Frage nach Mechanics, Thermodynamics. Minneapolis, Minnesota: University of Minnesota Press 2010 und Bammé, Arno: Science Wars. Von der akademischen zur postakademischen Wissenschaft. Frankfurt am Main u.a.: Campus 2004. 38 39
Vgl. Latour 2010 und Latour 1987. Einen Überblick über den Umgang mit dieser Frage zwischen Dokumentation und qualitativer Feldforschung anhand von Interviews mit Historikern bietet der Sammelband von Möller/Mählert 2008.
40
Beide Konferenzen rekrutieren sich aus einem ähnlichen wissenschaftlichen Umfeld, dem ZZF in Potsdam. Nichtsdestotrotz bemühte sie sich, die zentralen Probleme der DDR als zu historisierender Gegenstand zu thematisieren und auch in vollem Umfang Paradigmen einzubeziehen, die für gewöhnlich nicht dem Umfeld des ZZF zugeordnet werden. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass hier nur einseitige Ansichten vertreten waren, sondern eben das gesamte Spektrum der DDR als Geschichte ausgelotet wurde.
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der Auseinandersetzung der Historiker mit dem Umbruch von 1989 ist vielschichtig. Sie bezieht sich gleichzeitig auf ein historiographisches Deutungsproblem und auf eine politische Bewältigungsaufgabe, sie evoziert das Handeln im Umbruch und ebenso die Reflexion auf den Umbruch.“41 Auch hier bewegte man sich in einem „Historisierungskonsens“ einerseits und einer moralisch verstandenen Verpflichtung zur „Aufarbeitung“ andererseits, deren Kontrastfolie der historisierende Umgang mit dem Nationalsozialismus war. 42 Dies führte des Öfteren zu denunziatorischen Vorgängen gegenüber DDR-Historikern oder den sogenannten „De-De-Errologen“ (Ernst-Otto Maetzke) aus dem Westen, die sich schon vor 1989 darum bemühten, die DDR als Untersuchungsobjekt anzuerkennen.43 Damit war auch eine stark biographisierte Form der Auseinandersetzung verbunden, die sich nicht selten in moralischen Werturteilen gegenüber dem Untersuchungsgegenstand „DDR“ oder anderen Mitgliedern der Forschungsgemeinschaft ausdrückte. Dies lag zunehmend an dem Umstand, dass viele frühe DDR-Forscher Kontakte in die DDR Unterhalten mussten, um überhaupt an relevantes Untersuchungsmaterial zu gelangen. Hinzu kam, dass die Gruppe der DDRForscher vor 1989 nicht sehr groß war, es sich also um eine kleine und stark vernetzte Scientific Community handelte, die teilweise auch aufeinander angewiesen war, wenn es beispielsweise darum ging, Forschungsmaterialien auszutauschen. Erneut zeigte sich, dass Zeitgeschichte als Geschichte der „Mitlebenden“ (Hans Rothfels) das Untersuchungsobjekt nicht immer von seinem Forschersubjekt trennt.44 Nach 1989/90 verschwand allerdings die DDR als „lebendiges“ Objekt45, und musste demnach neu geordnet bzw. institutionell neu zugeordnet werden. Nicht nur in dieser strukturellen Neuordnung lag die Herausforderung von 1989 für die Geschichtswissenschaft. Im Sinne Thomas S. Kuhns46 stand sie vor dem Problem, durch 1989 neue Paradigmen des Wissens, Erklärens und Bewertens bezüglich der DDR entwickeln zu müssen. Allein das „Prognosedebakel“, gepaart mit der politisch-moralischen Denunziation innerhalb der Forschergemeinschaft, führte 41
Sabrow, Martin: Die Historikerdebatte über den Umbruch von 1989. In: Sabrow/Jesse/Große Kracht 2003, S. 116 (Hervorhebungen im Original).
42
Sabrow in: Sabrow/Jesse/Große Kracht 2003, S. 121f.
43
Dabei implizierte der Vorwurf meist, dass mit der Anerkennung als Untersuchungsgegenstand zugleich auch eine politische Anerkennung der DDR einhergehe. Vgl. Hüttmann 2008, S. 15ff
44
Vgl. zur generationellen Lage der DDR-Forschung Hüttmann 2008, S. 41ff.
45
Vgl. Stolpe, Manfred: Zeitgeschichte als politische Verantwortung. In: Kocka, Jürgen/ Sabrow, Martin (Hg.) Die DDR als Geschichte. Fragen-Hypothesen-Perspektiven. Berlin: Akademie-Verlag 1994, S. 17. Genau dieses „Lebendig-Sein“ ermöglichte die gespenstige Seinsweise der DDR als hantologisches Phänomen erst.
46
Vgl. Kuhn 2007.
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die Geschichtswissenschaft epistemisch wie forschungsethisch an ihre Grenzen. 47 Dass diese neu gezogen und funktionalisiert werden mussten, schlug sich in etlichen Debatten über den moralischen wie epistemologischen Charakter der DDRForschung nieder. Besonders herausfordernd und kontrovers waren auch hier, wie auf dem staatlich-institutionellen Feld, die neue Konjunktur der Totalitarismustheorie48 sowie, als Effekt des Wiedervereinigungsprozess, eine Neuverhandlung nationalstaatlicher Perspektiven. Damit einher gingen die Kontroversen zwischen Herrschafts- und Sozial-, später auch Alltags- und Kulturgeschichte um die epistemologisch und moralisch legitime Deutung der DDR sowie der Ereignisse von 1989.49 Dabei wird häufig übersehen, dass all diese Deutungstechniken für gewöhnlich nicht von einem „antitotalitären Konsens“ abwichen. Im Mittelpunkt der Kontroversen stand meist die Frage, wie sich der totalitäre Charakter der DDR angemessen erfassen lässt. Daraus ergab sich eine Fülle an begrifflichen Komposita wie „Fürsorgediktatur“, „Erziehungsdiktatur“ (beide Konrad Jarausch), „SED-Staat“ (Klaus Schroeder, Jochen Staadt und Manfred Wilke) oder „durchherrschte Gesellschaft“ (Alf Lüdtke), die jeweils eigene Narrative, Erklärungen und Verständnisse der Ursachen und Wirkungen von Totalitarismus in der DDR beinhalten.50 Daran schloss sich auch die Frage an, ob und inwiefern die DDR als „Unrechtsstaat“ gelten könne. In diesem Zusammenhang wurde auch in der Forschung die Staatsicherheit der DDR zu einem regelrechten „Boomthema“51. Entscheidend dazu trug sicherlich die schnelle Öffnung der MfS-Akten durch das „Stasi-Unterlagengesetz“ (StUG) bei, die das Sagbarkeitsfeld deutlich erweiterte. Das Wissen über die totalitären Strukturen war dadurch auf einen Schlag zugänglich, wenngleich für nicht-betroffene Bürger nur in eingeschränkter Weise. Einmal mehr bestimmte die Archivkonjunktur auch das historische Wissen und die geschichtspolitischen Debatten. Dass damit eine epistemologische Verdoppelung entstand, die nicht zuletzt von der dokumentarischen Akribie des MfS abhing, welches sich dadurch inhaltlich in den Mittelpunkt der DDR-Forschung stellen konnte, beschreibt Wolfgang Ernst treffend: „Archiv ist also nicht erst das, was nach dem Ende bleibt; schon am Anfang bildet es das vorgängige Raster registrierter Wirklichkeit.“52 Andere Archivbestände waren zu Be47
Sabrow, Martin: DDR-Bild im Perspektivwandel. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 239f.
48
Besonders institutionalisiert durch den „Forschungsverbund SED-Staat“ an der FU Berlin, sowie das „Hannah Arendt Institut für Totalitarismusforschung“ an der TU Dresden.
49
Vgl. Hüttmann 2008, S. 308-323.
50
Vgl. ebd., S. 348ff.
51
Vgl. ebd., S. 360.
52
Ernst 2002, S. 24. Vgl. auch Lutz Niethammers Kritik vorrangig an den Stasi-Unterlagen ausgerichteter DDR-Forschung im Interview mit der taz: Reinecke, Stefan: „Ostpartys glorifizieren nichts“. Die Tageszeitung am 12.5.2006.
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ginn der sich neu strukturierenden DDR-Forschung zunächst kaum zugänglich. Zudem fehlte als Kontrastfolie der Zugang zu den Akten der Bundesrepublik, die weiterhin der Sperrfrist unterlagen.53 Die DDR-Forschung sah sich also vor der Aufgabe, ihren Gegenstand neu zu fassen – und sich gleichzeitig neu zu orientieren.
„B RAUCHEN WIR EINE H ISTORISIERUNG DER DDR?“ – Z UR T AGUNG „D IE DDR ALS G ESCHICHTE “ Viele der zu Beginn der Historisierung aufkommenden Fragen, Probleme und Kontroversen der frühen DDR-Forschung nach 1989/90 wurden auf der von Jürgen Kocka und Martin Sabrow in Potsdam veranstalteten Tagung „Die DDR als Geschichte“ im Juni 1993 verhandelt.54 Im Vorwort zum Tagungsband hieß es, die „versammelten Beiträge dieser Tagung stellen die Bemühungen von Historikern aus beiden Teilen Deutschlands und aus dem Ausland vor, den historischen Ort der so unvermutet in die Geschichte entlassenen DDR zu bestimmen.“ Dabei handelte es sich um „den Versuch einer wieder zusammenwachsenden Wissenschaftsdisziplin, ihre eigene Funktion und ihre eigene Leistung gegenüber der zweiten deutschen Diktatur und in ihr kritisch zu beleuchten.“55 Allerdings waren auf der Tagung nicht nur Historiker, Politologen und Sozialwissenschaftler anwesend, sondern auch Zeitzeugen, Journalisten und Politiker wie Manfred Stolpe, Jens Reich, Hermann Rudolph und Wolfgang Thierse. Die damalige Politologin und heutige SPD-Politikerin Gesine Schwan nahm ebenfalls an der abschließenden Podiumsdiskussion teil. Wenngleich vor allem methodische und epistemologische Fragen der DDR-Historisierung im Zentrum der Tagung standen, kann also nicht die Rede von einer rein fachwissenschaftlichen Veranstaltung sein. Laut Jürgen Kocka ging es darum, „den Ort der DDR in der deutschen und europäischen Geschichte“ zu erörtern und um die Frage, „mit welchen Begriffen wir sie [d.h. die DDR] am besten erfassen können“. Formell richte man sich an eine
53
Vgl. zur Problematik der neuen DDR-Forschung Kahlenberg, Friedrich: Anmerkungen zur Quellenproblematik der DDR-Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 67-73.
54
Grundsätzlich steht diese Tagung nur für eine Momentaufnahme der DDR-Forschung und es ist zumindest fraglich, wie repräsentativ sie für das Feld der Zeitgeschichte war. Für diese Darstellung bietet sie allerdings eine epistemologische Verdichtung der Fraugen und Probleme innerhalb der DDR-Forschung an und in diesem Sinne soll sie auch hier verhandelt werden.
55
Vorwort in: Kocka/Sabrow 1994.
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„größere Öffentlichkeit“ und „wissenschaftliche Fachkritik“.56 Schon im Ansatz also wurde diese wissenschaftliche Verhandlung als „Ding von Belang“ betrachtet. Die Suche nach angemessenen Begriffen stellte dabei das zentrale epistemologische Problem. „Die Geschichte der DDR ist kontrovers“, führte Kocka weiter aus und traf damit eine nur vordergründig banale Feststellung. Der damalige Ministerpräsident Brandenburgs, Manfred Stolpe, betonte in seinem Geleitwort die „politische Verantwortung“ der Zeitgeschichte – nicht zuletzt gegenüber den Zeitgenossen und Zeitzeugen, deren Leben sich nun kurz nach der Wiedervereinigung in eine historische Dimension verwandelte, die es in der Zeitgeschichte zu verhandeln galt. In diesem Sinne sei DDR-Geschichte noch „lebendige Vergangenheit“.57 Zeitgeschichte wurde bei Stolpe zum Instrument der Aufhebung von Alterität – und damit politisch verstanden: „Die Aufnahme der DDRGeschichte in die gemeinsame deutsche Geschichte bedeutet nichts weniger als die Aufnahme der DDR-Bürger in die gleichberechtigte Verantwortung für Gegenwart und Zukunft Deutschlands. Geschichtsaufarbeitung stellt sich daher als Integrationsaufgabe“.58 Die Schaffung von Begriffen, die Etablierung von Kontroversen, die Vermittlung nach außen und die Aufgabe der Vergemeinschaftung: All diese Elemente des oben skizzierten kosmopolitischen Geschichtsbegriffs wurden von Kocka und Stolpe schon 1993 als konstitutiv für die „DDR als Geschichte“ angesehen. Daraus resultierte eine historiographische Versuchsanordnung zur Bestimmung dessen, was die DDR als zu untersuchendes Objekt und „Ding von Belang“ ausmachte. Wolfgang J. Mommsen sah den „Ort der DDR in der deutschen Geschichte“ doppelt verzweigt: einerseits als „Geschichte eines Satelliten des sowjetischen Empire“ mit „absolute[r] Hörigkeit Gegenüber der sowjetischen Partei“, andererseits als „Produkt eines Seitenstrangs der deutschen Geschichte“, namentlich der „kommunistischen Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit“; insgesamt jedoch als Produkt der Nachkriegszeit.59 Mommsen ordnete die DDR ideologie- und mentalitätsgeschichtlich dem Paradigma des „Deutschen Sonderwegs“ 60 zu (ohne dass Mommsen allerdings diesen Begriff verwendete), wenn in seiner Darstellung beispielsweise von „besonderen Tugenden der Deutschen“ wie „Tüchtigkeit“ und „Be56
Kocka, Jürgen: Zur Lage der historischen DDR-Forschung. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 13.
57
Stolpe, Manfred: Zeitgeschichte als politische Verantwortung. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 17f.
58
Ebd., S. 20.
59
Mommsen, Wolfgang J.: Der Ort der DDR in der deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 28 und 33f.
60
Vgl. auch Jürgen Kockas Fragekomplex zu diesem Paradigma in Bezug auf die DDRForschung. Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 200.
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reitschaft zu harter Arbeit“ als Stabilitätsfaktoren der DDR angeführt wurden.61 Hinzu kämen die „besonderen deutschen Verhältnisse“ der Zweistaatlichkeit als Resultat des Zweiten Weltkriegs.62 Aufgabe der Zeitgeschichte sei es, „die Geschichte der beiden deutschen Teilstaaten […] als Teil einer gemeinsamen Nationalgeschichte zu begreifen“, womit Mommsen die historiographische Aufgabe in der Verinnerlichung „der äußerlich vollzogene[n] Vereinigung“ sah.63 Damit schloss sich Mommsen dem Edikt der politischen Verantwortung der Zeitgeschichte an und schrieb ihr gleichermaßen die Fähigkeit zu, diese Art von „innerer Einheit“ zu leisten, was seine Position stark in die Nähe der Theorie des „kollektiven Gedächtnisses“ rückt. Dem schloss sich unter kathartischen Vorzeichen auch Joachim Petzold an: „Die Historisierung der DDR […] ist aber nicht nur ein dringendes Gebot der Geschichtsschreibung, sondern auch ein unerläßliches Mittel, um Menschen für die neue demokratische Ordnung zu gewinnen, sie angesichts bitterer Erfahrungen nicht in ablehnende Nostalgie verfallen zu lassen, sondern ihnen zu helfen, mit sich selbst und ihrer eigenen Vergangenheit ins Reine zu kommen.“64
Die Historisierung der DDR, das reale Finden und konstruktive Erfinden der „DDR als Geschichte“, wirke identitätsstiftend sowohl auf individueller wie kollektiver Basis. Zudem ließen sich, laut Peter Steinbach, im Verfahren der Historisierung „Meinungsklimata“ spiegeln, die sich „in der Regel auf politische Kontroversen, Entscheidungen und Konsensbildungen beziehen“ konnten, wodurch ihre „spezifische Möglichkeit zur politischen Instrumentalisierung“ entstehe. 65 Für Letzteres gebe die Geschichtswissenschaft in der DDR ein mahnendes Beispiel. Dem gegenüber sei laut Steinbach der Pluralismus „umstrittener Geschichtsdeutungen“, der die narrative und interpretatorische „Vielfalt von Geschichten […] nebeneinander stehen“ ließe, hochzuhalten.66 Geschichtspolitik hieß demnach auch, den Pluralismus der Narrative konstruktiv zu stützen. Je breiter das interpretatorische Angebot der Zeitgeschichte, desto größer sei ihre geschichtspolitische Funktion. Damit korrespondierte nicht zuletzt das „Problem des Verhältnisses von Moral und Wissenschaft bei der Erforschung
61
Ebd., S. 30ff.
62
Ebd., S. 36.
63
Ebd., S. 39.
64
Petzold, Joachim: Vergleichen, nicht gleichsetzen! (Kommentar). In: Kocka/Sabrow 1994, S. 103.
65
Steinbach, Peter: Zur Geschichtspolitik (Kommentar). In: Kocka/Sabrow 1994, S. 159.
66
Ebd., S. 160ff.
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der DDR“, wie Jürgen Kocka resümierte. 67 Die Epistemologie der DDR-Forschung wurde unter geschichtspolitischen Bedingungen so auch zu einer ethischen Frage. Nicht selten bestand die Gefahr, Akteure und Sprecher zu übersehen oder auszuschließen.68 „Wer soll, wer darf teilnehmen an diesem Diskurs?“, fragte Kocka weiter. Wie „[g]elingt die deutsche Vereinigung in der gemeinsamen, wenngleich konfliktreichen Erinnerung? Und wenn sie gelingen soll, was ist zu tun?“69 Eine teils aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossene Figur stellt der Zeitzeuge dar. Diesem wird oft unterstellt, eigene Erfahrungen nicht von historischen Fakten und Tatsachen trennen zu können und daher zu wenig Abstand zur Geschichte zu haben.70 Demnach war die Frage danach, wer am DDR-Diskurs teilnehmen durfte, auch für die Figur des Zeitzeugen existentiell. Dessen Perspektive brachte in Potsdam Jens Reich in die Diskussion ein: „[F]ür uns [Zeitzeugen] stehen natürlich Dinge wie Moral und Utopien viel höher [...]. Wir können nicht weg von den Verwundungen, die diese Geschichte für uns hat.“ 71 Reich brachte hier implizit den psychoanalytischen Begriff des „Trauma“ (gr. Wunde)72 an. Gleichzeitig leitete Reich aus der Zeitzeugenperspektive einen starken Hang zur Moralisierung ab, die von den biografischen Verknüpfungen von Zeitgenossen und Geschichtsereignis herrührt. Der Verlust der eigenen biografischen Vergangenheit an die historisierte Geschichte führe bei vielen Zeitgenossen aus der DDR zu einer „ganz selbstverständlichen oder natürlichen Nostalgie“. Reich beschrieb damit schon 1993 ein Phänomen, das im frühen 21. Jahrhundert als „Ostalgie“ einige Popularität erreichen sollte. Dem schloss sich Wolfgang Thierse an, der von einer „immer entschlossenere[n] Abwehrnostalgie, eine[r] manchmal trotzige[n] Verklärung“ der vergangenen DDR und dem damit einhergehenden „Biographiebruch“ sprach. Zu67
Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. Kocka/Sabrow 1994, S. 199.
68
Eine ausschließende, stumm machende Politik beschreibt Isabelle Stengers als das genaue Gegenteil der Kosmopolitik, vgl. Stengers 2008, S. 181f.
69
Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 201.
70
Zum Problem der Zeitzeugenschaft vgl. Niethammer, Lutz (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der Oral History. Frankfurt am Main: Syndikat 1980 und aus Perspektive der Sozialpsychologie Straub, Jürgen (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.
71
Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 202f.
72
Vgl. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Fischer 1991 und aktuell Hunt, Nigel C.: Memory, War and Trauma. Cambridge, MA: Cambridge University Press 2010.
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dem beklagte Thierse eine mangelhafte epistemische Moral: „Es gibt für meine Begriffe zu viele Urteile, zu viel Urteilen und zu wenig Begreifen. […] [D]as Urteil über das gescheiterte System namens DDR ist latent immer zugleich auch das Urteil über die Menschen, die in diesem System gelebt haben, und ihre Biographien.“73 Diese Schieflage erklärte sich für Thierse aus der fehlenden historischen Distanz, die drei Jahre nach der Wiedervereinigung „noch nicht möglich ist“. 74 Zu dieser kosmopolitischen Aufgabe der Geschichtswissenschaft gehörte auch die Herausbildung geeigneter Begriffe und Paradigmen, die sich seit 1989/90 besonders im Spannungsverhältnis von totalitarismustheoretischen, national- und sozialgeschichtlichen Deutungen entfalteten. Skepsis zumindest an der These von einer bestimmten Mentalität „der Deutschen“, sowie einer rein totalitarismustheoretischen Interpretation der DDR äußerte Mary Fulbrook. Sie verstand die „DDR als Diktatur“ eher sozialgeschichtlich. Fulbrook vertrat in Potsdam die These, dass der totalitäre Charakter der SED nicht nur repressiv, sondern geradezu mobilisierend wirkte und gesellschaftlich, mental und kulturell fundiert war. Damit richtete sie ihre Untersuchung auf die Frage nach den Stabilisierungsmomenten der DDR aus.75 Demnach waren MfS, SED, Blockparteien und Intelligenzja in den Gründungsjahren der DDR gleichermaßen an der Etablierung und Stabilisierung der DDR beteiligt.76 Seit dem Bau der Mauer im August 1961 sei laut Fulbrook zudem eine „Art Nischengesellschaft“ mit einer daraus resultierenden „Mentalität von ‚Anpassung und Meckern‘“ entstanden, da es „keine realistische Alternative“ zu einem Arrangement mit dem sozialistischen Staat gab.77 Diesem notwendig arrangierten „Gehorsam“ gegenüber habe es allerdings einige Formen und Techniken von „Verweigerung“ 73
Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 204f. Diese Position unterstreicht auch Bernd Florath: „Ich wünschte mir, daß Biographien geschrieben werden können als Biographien und nicht immer sofort an die Position des Individuums im System zusteuern.“ Ebd., S. 229.
74
Ebd., S. 204
75
Eine Fragestellung, welche die DDR nicht bloß „von ihrem Ende her“ denkt. Eine solche Untersuchung wurde zumindest von Hermann Rudolph vehement gefordert: „Die DDR ist auch deswegen nicht von ihrem Ende her zu sehen, weil sie nicht auf ein Ende hin gelebt wurde.“ Vgl. Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 217f. Eine Sozialgeschichte der Stabilisierungsmomente innerhalb der DDR liefert Port, Andrew I.: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin: Ch. Links 2010 (BpB-Lizensausgabe 2010).
76
Fulbrook, Mary: Herrschaft, Gehorsam und Verweigerung – Die DDR als Diktatur. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 77ff.
77
Ebd., S. 80.
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und Dissidenz gegeben. Der DDR wohnte für Fulbrook seit Beginn ihrer Existenz ein Legitimationsdefizit inne, das die SED und ihre Organe zunächst nur durch Zwang zum Arrangement zu kompensieren in der Lage waren. Dies habe in Dissidentenkreisen zu einer totalen Verweigerung gegenüber diesem Arrangement geführt – und dadurch zu einer Infragestellung der Legitimität des Staates.78 Innere und äußere Emigration waren laut Fulbrook der radikale Ausdruck dieser Ablehnung. Die „politisch wirksamste Form der Verweigerung“ sei jedoch ein vor allem seit den Achtziger Jahren zu beobachtender „politischer Aktivismus“ gewesen, der zugleich den Sozialismus als Staatsform nicht infrage stellte, sondern vielmehr an einer Reform und Verbesserung desselben interessiert war. 1989 schlug sich diese Haltung besonders in der Parole „Wir bleiben hier“ nieder – für Fulbrook „die wirksamste Losung der sanften Revolution“.79 Damit vertrat Fulbrook die These, dass 1989 eine Art „Zivilgesellschaft“ die DDR sowohl stabilisiert als auch beendet habe. Demzufolge seien Sozial- und Strukturgeschichte die epistemologisch stichhaltigeren Paradigmen als totalitarismustheoretische Narrative: „Eine Herrschaftsgeschichte ohne Sozialgeschichte erhellt wenig.“80 Dem gegenüber bezweifelte Peter Steinbach, ob die Begriffe der Sozialgeschichte, die er genealogisch in der „liberalbürgerlichen Demokratie“ verortete, für ein eher wenig liberales und ziviles Staatengebilde wie die DDR geeignet seien: „Ich denke, wir müssen präzise verschiedene, keineswegs nur semantische, sondern auch realhistorische Zusammenhänge unterscheiden, die durch Begriffe für den Vergleich erschlossen werden. Dies gilt für den Begriff der Öffentlichkeit, dies gilt auch für den Begriff des Widerstands. […] Die Begrifflichkeit der Analysen muß stets deshalb neu begründet und im Blick auf die vergangene Wirklichkeit überprüft werden.“81 78
Ebd., S. 81f. Darin sah auch Hans Mommsen einen zentrale Grund des Scheiterns der DDR: „Hätte die DDR eine Identität bei breiteren Teilen der Bevölkerung geschaffen, wäre […] der Zusammenbruch des Systems, so, wie er letztlich erfolgte, nicht geschehen.“ Vgl. Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 215.
79
Fulbrook In: Kocka/Sabrow 1994., S. 83.
80
Ebd., S. 84. Diesem Diktum schloss sich M. Rainer Lepsius an, s. Lepsius, M. Reiner: Sozialhistorische Probleme der Diktaturforschung (Kommentar). In: Kocka/Sabrow 1994, S. 97-101. Vor diesem Hintergrund sei eine Differenzierung nicht nur der diktatorischen Verhältnisse in der DDR notwendig, ebenso stelle sich auch die Frage nach dem Vergleich zum Nationalsozialismus. Ergebnisse seien hier gerade in der Differenzierung der beiden Systeme und ihrer Funktionsweisen zu erwarten, weniger in ihrer Gleichsetzung. Vgl. Petzold, Joachim: Vergleichen, nicht gleichsetzen! (Kommentar). In: Kocka/Sabrow 1994, S. 101ff.
81
Steinbach, Peter: Zur Geschichtspolitik (Kommentar). In: Kocka/Sabrow 1994, S. 168f.
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In diesem Spektrum bewegte sich auch die Frage nach dem Nationalsozialismus als Vergleichsmoment für die totalitären und diktatorischen Züge der DDR. Anselm Doering-Manteuffel riet, ebenso wie Joachim Petzold82 oder Gerhard A. Ritter83, zu einer differenzierenden Position. Zugleich schrieb Doering-Manteuffel das Grundmotiv dieses Vergleichs einem „westdeutsche[n] Besonderheitsbewusstsein“ zu, das sich selbst eine moralisch integrere Position durch erhöhtes Geschichtsbewusstsein zugestand – und daraus ein „moralisches Urteil“ gegenüber der DDR als „Diktatur“ ableite. Von daher sei zunächst ein „Einvernehmen [zu] erzielen über die Kategorien, die eine Diktatur kennzeichnen“, um einen angemessenen Diktaturbegriff für die DDR entwickeln zu können.84 Hans Mommsen bezweifelte zumindest, dass es sich bei der DDR „um eine deutsche Diktatur“ handelte, da diese maßgeblich von außen und auf sowjetische Initiative hin gegründet wurde. Daraus resultiere der „Charakter des SED-Regimes als ‚penetriertes System‘“.85 Insgesamt überwog in Potsdam die Haltung, dass es sich um eine sozial und historisch komplexe Diktatur gehandelt habe, was nicht zuletzt an einem leichten Hang der Teilnehmer zu sozialgeschichtlicher Betrachtung der DDR liegen mochte. Den bis heute geläufigen Topos eines differenzierenden Diktaturvergleichs brachte Petzold mit dem Satz „Vergleichen, nicht gleichsetzen“86 auf den Punkt. Auf der Potsdamer Tagung im Juni 1993 konnte weder Einigkeit darüber erzielt werden, wie eine sich neue formierende zeitgeschichtliche DDR-Forschung ihre politische wie analytische Aufgabe wahrnehmen und umsetzen sollte, noch konnte und sollte ein einheitliches Paradigma mit homogener und systematischer Begrifflichkeit für den historischen Gegenstand „DDR“ gefunden werden (wenngleich dies sicher für viele Teilnehmer ein wünschenswertes Ergebnis gewesen wäre). Vielmehr stand die Tagung exemplarisch für einen Fragen- und Problemkomplex, der sich mit der nun historisch gewordenen, aber noch ihre historiographische Form suchenden DDR verband. Damit korrespondierte auch die fachwissenschaftliche Entwicklung der Geschichtspolitik mit der Ausrichtung der ersten EnqueteKommission, die lediglich den „Historisierungskonsens“ institutionalisieren konnte. Im Grunde handelte es sich in der frühen Phase der Geschichtspolitik zur DDR um ein epistemologisches Problem, das Hans Mommsen treffend umschrieb: „Nun reden wir hier von der DDR, und genaugenommen wissen wir nicht ganz genau, 82
Petzold, Joachim: Vergleichen, nicht gleichsetzen! (Kommentar). In: Kocka/Sabrow 1994, S. 101ff.
83
Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 226f.
84
Ebd., S. 210f.
85
Ebd., S. 214.
86
Petzold, Joachim: Vergleichen, nicht gleichsetzen! (Kommentar). In: Kocka/Sabrow 1994, S. 101ff.
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wovon wir reden[.]“87 Einigkeit bestand darin, zeitgeschichtliches Arbeiten generell mit einer politischen Verantwortung zu verbinden – und damit den „Historisierungskonsens“ auf eine breite institutionelle und diskursive Basis zu stellen. Dazu gehörte sowohl ein narrativ-interpretatorischer Pluralismus an Geschichtsbildern und -deutungen als auch die analytische (Er-)Findung von Begriffen. Das ethische Problem pluralistischer Propositionen wurde ebenfalls wahrgenommen und besonders in dem Plädoyer verdeutlicht, zeitgenössische Erfahrungen nicht dezidiert aus dem DDR-Diskurs auszuklammern und eine „reine“ Verwissenschaftlichung anzustreben, was die Figur des Zeitzeugen in den Kreis legitimer Sprecher erhob. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass in dieser nahezu prekären Situation, in der eine Wissenschaft um Form und Funktion ihres Gegenstandes rang, sich als politisch begriff – und dadurch umso mehr bereit war, sich weder vom Feld der staatlichen und institutionellen Politik, noch von individuellen Erfahrungen der Zeitzeugen abzugrenzen. In dem Moment, da die DDR-Forschung ihren Gegenstand neu bestimmen musste, und dieser darüber hinaus historisch wurde, begriff sich die Zeitgeschichte als kosmopolitisch.
„W OHIN TREIBT DIE DDR-E RINNERUNG ?“ – D AS E XPERTENVOTUM DER „S ABROW -K OMMISSION “ Ging es auf der Potsdamer Tagung noch um die Frage nach der „DDR als Geschichte“ und die kosmopolitische Verantwortung der Geschichtswissenschaft in dieser Sache, wurde die Verflechtung von Wissenschaft und Politik in Fragen der DDR-Erinnerung 2005/2006 schon als gängige Praxis begriffen. Stellvertretend dafür stand vor allem die Geschichte der „Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“ um Martin Sabrow.88 Diese wurde von der damaligen Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM), Christina Weiss, eingesetzt. Ihr gehörten Vertreter der Geschichtswissenschaft an, insbesondere des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam, wie auch Zeitzeugen, die sich aus dem Umkreis der oppositionellen DDRBürgerrechtsbewegung rekrutierten. Hinzu kamen 35 begutachtende Sachverständi-
87
Podiumsdiskussion. Zum Ort der DDR in der europäischen und deutschen Geschichte. In: Kocka/Sabrow 1994, S. 215.
88
Das von der Expertenkommission abgegebene Votum, die dazugehörige öffentliche Anhörung am 6. Juni 2006 im Wortprotokoll sowie deren Rezeption findet sich in dem Dokumentationsband Sabrow u.a. 2007.
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ge.89 In ihrem Selbstverständnis sah sich die Kommission in der AufarbeitungsGenealogie seit 1990 verankert. 90 Weiss hatte 2004 die Zuständigkeit für die BStU erhalten, die zuvor dem Innenministerium unterstand.91 Damit standen Spekulationen im Raum, wie zukünftig mit den Unterlagen des MfS umzugehen sei. Dies nahm Weiss zum Anlass, die „Erinnerungslandschaft DDR“ mit Hilfe des Expertengremiums um Martin Sabrow konzeptionell neu zu ordnen. Der Auftrag an die Expertenkommission lautete, auf dem Stand der bisherigen Aufarbeitung „unter besonderer Berücksichtigung von Widerstand und Opposition“ eine erinnerungspolitische Struktur zu entwerfen, die sowohl dezentral lokalisiert als auch inhaltlich, konzeptionell und organisatorisch gebündelt ist.92 Neue Institutionen sollten dabei nicht entstehen, es ging lediglich um eine breitere „Profilierung, Arbeitsteilung und Kooperation“ in Sachen der DDR-Erinnerung.93 Die Kommission definierte ihren Gegenstand im Anschluss daran nochmals eigenständig: „Gegenstand der Kommissionsberatungen ist eine Bestandsaufnahme und Perspektivenentwicklung der öffentlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur als Teil der nationalen ‚Erinnerungslandschaft’ im europäischen Kontext. Den Fokus der Kommissionstätigkeit bildet der Umgang mit den Sachzeugnissen und historischen Überresten des SED-Staates und seiner Gesellschaft, also DDR-bezogene Gedenkstätten und Erinnerungsorte, Zeugnissammlungen und historische Ausstellungen von überregionaler Bedeutung und Ausstrahlung. […] Die Kommission fühlt sich einem dezentralen und zugleich föderalen Verständnis von zeitgeschichtlicher Aufarbeitung verpflichtet, das die Erinnerung an die SED-Diktatur […] als eine gesamtstaatliche Aufgabe betrachtet.“94
Die Hervorhebungen sollen verdeutlichen, in welchem Spektrum die Kommission ihre Tätigkeit angelegt sah: Die Gestaltung von Räumen und der Einbezug von Artefakten wurde als konstitutiv für eine geschichtspolitische Gestaltung der DDR89
Eine Liste der größtenteils in leitender Funktion einer Gedenkstätte oder Behörde vorstehenden Sachverständigen findet sich in Sabrow u.a. 2007, S.42f.
90
Sabrow, Martin: Zur Entstehungsgeschichte des Expertenvotums. In: Sabrow u.a. 2007, S. 7 und „Die Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 18ff.
91
Vgl. Schlegel, Matthias: Richtig aufarbeiten. Eine Kommission berät wie mit der SEDDiktatur umgegangen werden soll. In: Sabrow u.a. 2007, S. 185.
92
Sabrow, Martin: Zur Entstehungsgeschichte des Expertenvotums. In: Sabrow u.a. 2007, S. 8f.
93
Die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 18.
94
Sabrow, Martin: Zur Entstehungsgeschichte des Expertenvotums. In: Sabrow u.a. 2007, S. 10 (Hervorhebungen von mir).
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Erinnerung angesehen, die sowohl national als auch europäisch wirken sollte. Was der Kommission vorschwebte, war eine Art Spacing der DDR, wie Knud Andresen es beschrieben hat. Daher auch die Metapher der „Erinnerungslandschaft“, in der „Orte des Erinnerns und Lernens“ entstehen sollten.95 Damit war nicht nur die Frage nach einer Organisationsstruktur verbunden, sondern auch das ästhetische Problem einer „Politik des Erscheinens“: Auf welche Art sollte der „Erinnerungsraum DDR“ gestaltet werden? Wo und wie könnte er archiviert werden? Wie sollten zukünftige Ausstellungen konzipiert und organisiert werden? 96 Welche Zeugnisse, Tatsachen und Überreste sollten darin eingebunden sein? In diesen Fragen einen Konsens zu finden, stellte die Kommission erneut vor eine kosmopolitische Aufgabe, die sich schon in der „Meinungsvielfalt des Gremiums“ niederschlug, „das sich aus Bürgerrechtlern, Fachhistorikern, Ausstellungsmachern und Publizisten mit in etwa gleichgewichtiger ost- und westdeutscher Herkunft zusammensetzte“.97 Auch hier stellte sich das Problem „von politisch-moralischem Aufarbeitungsbedürfnis und kritischem Historisierungswillen“, das schon die Potsdamer Tagung von 1993 beschäftigt hatte. Auf die Entstehung des Expertenvotums zurückblickend, sah Martin Sabrow die Leistung der Kommission, deren Vorschläge bis dato keine direkte Umsetzung gefunden haben, darin, dass „die divergierenden Zielsetzungen und Denkstile von Betroffenen und Beobachtern, von Erinnerungskultur und Fachwissenschaft in einen produktiven Austausch gebracht werden konnten“.98 Insofern interessiert die „Sabrow-Kommission“ an dieser Stelle auch nicht primär aufgrund ihrer Ergebnisse. Vielmehr kann sie als Gradmesser einer kosmopolitischen Praxis der Geschichtspolitik zur DDR unmittelbar vor dem „Erinnerungsjahr 2009“ betrachtet werden, da sie in hohem Maße mobilisierend auf die gesamte „Erinnerungslandschaft“ gewirkt und einige Kontroversen um den geschichtspolitischen Umgang mit der DDR ausgelöst hatte. Warum dies der Fall war, erklärte sich Sabrow aus der „wachsenden Bedeutung, die der Repräsentation der zeitgeschichtlichen Vergangenheit im deutschen und europäischen Selbstverständnis zukommt und für die sich seit einigen Jahren der Begriff ‚Erinnerungskultur‘ eingebürgert hat“.99 Dieses „Pathos der Erinnerung“100 produktiv aufzunehmen, zu professionali95
Die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 17.
96
Zu diesem Zweck wurden insgesamt 39 Einrichtungen zur DDR-Erinnerung überprüft. Vgl. Schlegel, Matthias: Richtig aufarbeiten. Eine Kommission berät wie mit der SEDDiktatur umgegangen werden soll. In: Sabrow u.a. 2007, S. 186.
97
Sabrow, Martin: Zur Entstehungsgeschichte des Expertenvotums. In: Sabrow u.a. 2007, S. 12f.
98
Ebd., S. 16.
99
Ebd. S. 15.
100 Ebd.
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sieren und zukunftsfähig zu institutionalisieren verstand die Expertenkommission als ihre zentrale Aufgabe. In ihrem Votum benannte die Kommission neben einigen Errungenschaften zentrale Defizite in der Geschichtspolitik zur DDR. Dazu gehörten „eine nach Ost und West geteilte Wahrnehmung der DDR-Geschichte“, die „medial vermittelte Trivialisierung der DDR als politisches System“ unter „geschichtsrevisionistische[r] Negierung ihres Diktaturcharakters“, die eingeschränkte historische Vermittlung der DDR-Geschichte an Schulen, Mängel an Finanzierung und Professionalisierung, fehlende Zukunftsstrategien sowie eine „gegenwärtige Vorrangstellung der öffentlichen Dokumentation staatlicher Repression gegenüber derjenigen von Widerstand und Anpassung, Ideologie und Parteiherrschaft sowie von Alltag und Diktatur, die als Wirkungsmechanismen deutlich unterbelichtet bleiben“.101 Demgegenüber benannte die Kommission „Leitlinien für die zukünftige Entwicklung der DDR-bezogenen Diktaturaufarbeitung“: „Offenheit und Pluralität“, „Dezentralität und Autonomie“, „Vernetzung und Effizienz“ sowie „Professionalisierung und Perspektivenerweiterung“ innerhalb der „Erinnerungslandschaft DDR“. 102 Bei diesen Leitlinien handelte es sich um implizit epistemologische Ordnungen. Die Kommission ging davon aus, dass „[h]istorische Vergegenwärtigung […] einen nie abgeschlossenen Prozeß“ bilde und „in ständigem Fluß“ sei, dem ein „Bemühen um historische Erschließungstiefe und Perspektivendifferenzierung“ gegenübergestellt werden müsse. Dies sei in dem Bewusstsein zu leisten, dass sich „mit dem allmählichen Zurücktreten der Erfahrungsgeneration […] Erwartungs- und Bildungshorizonte“ verändern werden.103 Damit drang die Kommission in den ästhetischen und epistemologischen Bereich von Geschichtspolitik vor. Die DDR als Geschichte erschien hier auf andere Art prekär und unbestimmt als noch 1993 auf der Potsdamer Tagung. Der „Sabrow-Kommission“ ging es darum, eine endgültige Historisierung der DDR als „Erscheinung“ im Raum zu entwerfen, die zukunftsfähig und stabil ist. Thematisierte die Kocka-Tagung noch die Differenz und Alterität von Zeitzeugen und Zeitgeschichte, Moral und Analyse, so stellte sich für die Expertenkommission vor allem die Frage nach dem „Erbe“ dieser Differenz und der zukünftigen und noch zu gestaltenden Form der „Erfahrung“ DDR. Zu diesem Zweck fanden sich in dem Expertenvotum „Entwicklungsperspektiven“ sowie „Profilierungsvorschläge“ für eine zukünftige Aufarbeitung. Zum Ersteren gehörte die Umstrukturierung der Archive, besonders der MfS-Unterlagen, sowie eine forschungspolitische Forderung nach mehr Vernetzung bereits bestehender
101 Die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 20f. 102 Ebd., S. 21f. 103 Ebd.
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Institutionen mit politischem Bildungsauftrag.104 Inhaltlich ging es um eine neue Fokussierung auf das bestehende Archivmaterial, die neben den „Quellen des Herrschaftsbereichs“, der historiographisch und methodisch bisher im Vordergrund stand, oppositionelle Quellen mindestens gleichwertige Bedeutung zukommen lassen sollte. Innerhalb dieses Spektrums sollte die BStU zu einem „Dokumentationsund Forschungszentrum ‚Diktatur und Geheimpolizei‘“ umgestaltet werden, da ihre Sonderstellung und -aufgabe ohnehin nicht als permanent angelegt, demnach eine zukünftige Umstrukturierung am besten frühzeitig zu gestalten sei. 105 Was die „Profilierungsvorschläge“ betraf, so ging es der Kommission in erster Linie um eine bestandswahrende und gleichzeitig ausdifferenzierte Vernetzung und Professionalisierung von Museen, Gedenkstätten und Lernorten. Darüber hinaus sollte sich in der nunmehr zu schaffenden „Erinnerungslandschaft“ die zuvor vorgeschlagene thematische Verschiebung hin zu Oppositionsquellen vollziehen, da die „naturwüchsig entstandene Gedenklandschaft gegenwärtig bis zu einem gewissen Grad noch der Herrschaftslogik des SED-Regimes und seiner Hinterlassenschaft selbst“ folge. Diese Konzentration auf die Herrschaftsstrukturen von SED, MfS und angegliederten Institutionen mache „die tägliche Aushandlung individueller Entscheidungsspielräume nicht ausreichend sichtbar“ und wiederhole damit einen Mangel der „NS-bezogenen Aufarbeitung“.106 Paradigmatisch ging es der Kommission also um die Ausdifferenzierung totalitarismustheoretisch geschulter Ansätze unter Zuhilfenahme sozial-, kultur- und alltagsgeschichtlicher Darstellungen. Darin folgte sie den Impulsen der Kocka-Tagung und hob die dort diskutierten Perspektiven auf ein institutionelles, strukturelles und materielles – kurz: ein politisches – Niveau. Aus dieser Prämisse leitete die Empfehlung der Expertenkommission drei „Aufarbeitungsschwerpunkte“ ab: (1) „Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand“, (2) „Überwachung und Verfolgung“ sowie (3) „Grenze und Teilung“. Allein diese dreifache Fokussierung zeigte, dass der repressive Charakter der DDR weiterhin als konstitutiv für eine gelungene und geschichtspolitisch korrekte Erinnerung angesehen wurde. Auch wurde die Rede von der DDR als „Diktatur“ nicht aufgegeben. Der erste Schwerpunkt betonte demonstrativ den Zusammenhang von Herrschaft und Gesellschaft (nicht zuletzt durch die Bindestriche107 zwischen den Schlagworten). Demnach gehe es bei der Darstellung von Herrschaft nicht um eine vereinfa104 Ebd., S. 23ff. 105 Ebd., S. 26ff. Vgl. auch die tendenziell zustimmende Presseerklärung der BStU vom 15.5.2006 in: Sabrow u.a. 2007, S. 222f. 106 Die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 31f. 107 Zur analytischen Funktion des Bindestriches in einem Akteur-Netzwerk: Latour, Bruno: Über den Rückruf der ANT. In: Belliger/Krieger 2006, S. 567f.
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chende dialektische Hierarchisierung von Herrscher/Beherrschte oder Täter/Opfer, sondern um eine komplexe „Durchdringung“ der Gesellschaft und die Darstellung der „Bindungskräfte der DDR“. Es gehe auch darum, „die Selbstwahrnehmung breiter Schichten der früheren DDR-Bevölkerung und ihrer nachwachsenden Generationen […] angemessen [zu] erfassen“. Hierzu sollte in Berlin ein „Forum Aufarbeitung“ entstehen, für das entsprechende Räume und Flächen bereitgestellt und unter der Schirmherrschaft der „Stiftung Aufarbeitung“ und des Haus der Geschichte/Zeitgeschichtliches Forum Leipzig realisiert werden sollten.108 Ähnlich fiel das Verfahren für die anderen Schwerpunkte aus: „Überwachung und Verfolgung“ sollte mit Hilfe der BStU und unter Einbeziehung bestehender Gedenkstätten und authentischer Lernorte mit diesem Themenfokus (u.a. BerlinHohenschönhausen) in einem „Forschungs- und Dokumentationszentrum ‚Diktatur und Geheimpolizei’“ aufgehen. Dabei wurde nicht abschließend geklärt, ob die Gedenkstätten der BStU unterstellt oder im Rahmen einer Stiftung vernetzt werden sollten. Der Themenkomplex „Teilung und Grenze“ sah ebenfalls eine solche Vernetzung bereits bestehender Gedenkstätten vor (Berliner Mauer, Checkpoint Charlie, Marienborn, etc.). Diese Empfehlungen schloss die Kommission mit einer geradezu programmatischen Emphase ihrer politischen Epistemologie: „Die Umsetzung der Empfehlungen könnte so neue Maßstäbe für eine plurale und multiperspektivische Aufarbeitung der deutschen Geschichte im ‚Jahrhundert der Extreme‘ setzen, die das politische Bekenntnis zu den Werten einer freiheitlichen Gesellschaft mit der historischen Erkenntnis der Geltungskräfte und der Überwindung ihres diktatorischen Gegenentwurfs verbindet.“109
Zusammenfassend ging es der Expertenkommission um eine thematische, institutionelle und räumliche Neuordnung der DDR-Erinnerung. Daraus gingen sowohl paradigmatische als auch topographische wie bürokratische Vorschläge hervor. Ziel war es, die DDR als „Erinnerungslandschaft“ zu gestalten und sie dadurch zukunftsfähig zu machen. Die Kommission erhob eindeutig pädagogische Ansprüche zur politischen Bildung und Erziehung und forderte ein „politisches Bekenntnis“ auf Grundlage „historische[r] Erkenntnis“. Dazu sollten Behörden, authentische Orte, gestaltbare Großflächen, zivilgesellschaftlich und privat geführte Gedenkstätten, Archive und Quellen mobilisiert und vernetzt werden. Geschichtspolitik, wie sie von der Expertenkommission betrieben wurde, zeigte sich einmal mehr als politische Epistemologie – eine Politik des Erscheinens, Vernetzens, Mobilisierens und Ordnens – weniger als Hegemonisierung und hierarchische Machtausübung. Die 108 Die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 33f. 109 Ebd., S. 41.
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zentrale Frage war die der geschichtspolitisch korrekten Vermittlung und Übersetzung der DDR für zukünftige Generationen. Erst in zweiter Instanz ging es um ein „politisches Bekenntnis“, das ohne eine stabile Vermittlung gar nicht zustande kommen könne.
D IE DDR-E RINNERUNG ALS K ONTROVERSE – Z UR R EZEPTION DES E XPERTENVOTUMS Die bisherige Geschichte der „Sabrow-Kommission“ konnte als vermischte, aber doch sehr klar strukturierte geschichtspolitische Geschichte erzählt werden: Die Initiative ging von staatlicher Seite aus, die Wissenschaft sollte die Tatsachen einbringen und hatte eine einigermaßen klar vorgegebene Auftragslage, an die sie sich hielt. Zwar war der Grad an Mobilisierung sehr groß (Wissenschaftler, Museen, Gedenkstätten, Zeitzeugen, externe Gutachter, Politiker, Fragebögen, etc.) und kann daher durchaus als kosmopolitisch gelten. Dennoch entpuppte sich die Geschichte der Expertenkommission erst in dem Moment als entscheidende Vorgeschichte des „Erinnerungsjahres 2009“, in dem sie nicht nur zur Schnittstelle nahezu aller an der DDR-Erinnerung beteiligten Institutionen wurde, sondern auch zum Schauplatz einer Aushandlung über die Art und Weise, wie die DDR in Zukunft erscheinen sollte. Diese Kontroverse verdichtete sich erst, nachdem das Expertenvotum öffentlich wurde, und führte zu einer kaum antizipierten Explosion an Diskursen über die DDR. Grundsätzlich suggerierte ein einheitlich verfasstes und von nahezu allen Mitgliedern unterzeichnetes Expertenvotum wie das der „Sabrow-Kommission“ mehr Einheitlichkeit als tatsächlich während seines Zustandekommens unter den Experten gegeben war. Deutlich wurde dies nicht zuletzt dadurch, dass die erste Kritik an dem Votum von einem Mitglied der Kommission selbst kam – in Form eines Sondervotums von Freya Klier. Ihre Kritik zielte in erster Linie auf „den Geist des Abwickelns, des Historisierens“, der dem Votum innewohne. Laut Klier handelte es sich bei der DDR noch nicht um ein „historisch abgeschlossene[s] Gebilde“, vielmehr bemerke sie „seit dem Ende der DDR ein kontinuierliches Weiterwirken ehemaliger Nomenklaturkader“ der SED: „[S]ie sitzen im Bundestag, in den Medien, in Schulen und vielfältigen Gremien unserer Demokratie. Und sie werden nicht müde, ihren Unrechtsstaat im Nachhinein demokratisch aufzupolieren und in der öffentlichen Erinnerung zu glätten. Sie zielen auf Zukunft.“110 Der Fehler lag laut Klier also darin, etwas als historisch zu behandeln, das keinesfalls historisch sei. Vielmehr zeichneten sich die repressiven Organe der DDR
110 Ebd., S. 44f.
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dadurch aus, dass sie weiterhin gegenwärtig seien und nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft der DDR als Geschichte gefährdeten – und damit die demokratischen Strukturen der Bundesrepublik. Die gegenwärtige Öffentlichkeit und Demokratie wurde für Klier – im Sinne von Derridas Hantologie – von der DDR und ihren totalitären Strukturen heimgesucht. Dem könne nur erfolgreich begegnet werden, wenn die „Übertragung von Geschichtswissen an unseren komplett reizüberfluteten Nachwuchs“ gelinge. Dies stand nicht im Widerspruch zur Programmatik des Expertenvotums, das ebenfalls auf Vermittlung und Übertragung abzielte und so demokratische Grundwerte festigen wollte. Zudem unterbreitete Klier in ihrem Sondervotum, abgesehen von einem empfohlenen Besuch der Gedenkstätte Hohenschönhausen, keine weitergehenden Vorschläge dazu, wie eine solche Übertragung besser gelingen könne. Was Freya Klier interessanterweise für inkommensurabel bezüglich einer gelungenen Geschichtspolitik zur DDR hielt, war der zuvor etablierte „Historisierungskonsens“.111 Historisieren hieß bei Klier Ausklammern, Abschließen, Abtrennen von der Gegenwart – ganz im Sinne des modernen Denkens. Dem würden die meisten Historiker sicherlich widersprechen, daher auch wahrscheinlich das Missverständnis mit dem Expertenvotum, das Historisierung gerade als Stabilisierung von Wissen verstand. Dennoch nahm Klier bereits an dieser Stelle einige Hauptlinien der Kritik an dem Sondervotum vorweg. Einen ähnlichen Ton schlug auch Hubertus Knabe an, damaliger Leiter der von Klier angepriesenen Gedenkstätte Hohenschönhausen. Nachdem Knabe die Zusammensetzung und Arbeit der Kommission in der Welt als intransparent und zu „links“ kritisiert hatte, warnte er darüber hinaus vor einer Verharmlosung der DDR, die sich „wieder wachsender Beliebtheit“ erfreue.112 Knabe diskreditierte in seiner Kritik jegliche sozial- und alltagsgeschichtliche „Perspektivendifferenzierung“ in Sachen DDR-Erinnerung als „staatlich geförderte Ostalgie“. Die Schaffung eines „Geschichtsverbunds“ erinnere „an die Planwirtschaft der SED“ und ihre „Großkombinat[e]“. Wie der „erschreckende[n] Unwissenheit der Jugend entgegengewirkt“, wie die anschwellende „Ostalgie“ und ehemalige Stasi-Kader, die sich immer öfter mit geschichtsrevisionistischen Äußerungen an die Öffentlichkeit wagten, zurückgedrängt werden können, ließe das Votum unbeantwortet. In einem weiteren Artikel für die Berliner Morgenpost wiederholte Knabe den Vorwurf der „staatlich
111 Ein Kuriosum, das Martin Sabrow im Rückblick auf die gesamte Rezeption des Expertenvotums feststellte, vgl. Sabrow, Martin: Das letzte Donnern. Erinnerungsland DDR: Zum Streit um die Empfehlungen der Expertenkommission. In: Sabrow u.a. 2007, S. 288ff. 112 Knabe, Hubertus: Das Aufarbeitungskombinat. Merkwürdige Vorschläge zur Neuorganisation des DDR-Gedenkens. In: Sabrow u.a. 2007, S. 189ff.
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geförderten Ostalgie“ und unterstellte dem Expertenvotum, eine „DDR als LightVersion“ in die Geschichtspolitik einführen zu wollen.113 Damit gaben Klier und Knabe den Startschuss für eine ausufernde Diskussion über das Expertenvotum, in deren Zentrum die Frage stand, ob eine sozial- und alltagsgeschichtliche Historisierung der Aktualität der DDR angemessen und die „Erinnerungslandschaft“ zu zentralisieren sei. Über der Kontroverse schwebte zudem die Frage, welche Form des Erscheinens, welche Art des Erzählens und welche Wege des Vernetzens die DDR-Erinnerung für die Zukunft rüsten könnte. Spätestens mit dieser Kontroverse verschob sich die geschichtspolitische Fragestellung zur DDR-Geschichte: Aus „Was war die DDR?“ und „Was soll die DDR für uns sein“ wurde „Wie soll die DDR werden?“. Die DDR als Geschichte, als Erinnerung wurde zu einem Zukunftsprojekt. Die Öffentlichkeit, die das Expertenvotum erlangte, stand dabei in keinerlei Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit auf der institutionell-politischen Handlungsebene. Eine Einlösung der Vorschläge seitens des BKM ist bis heute nicht oder nur in groben Ansätzen erfolgt.114 So richtete sich die weitere Kontroverse auch nicht nur auf das Expertenvotum selbst, sondern vielmehr auf Knabes und Kliers Kritik desselben sowie die damit einhergehenden Fragen an die zu formende DDR-Erinnerung. Regina Mönch kritisierte in der FAZ Knabes Einwände als „abstrus“ und unterstellte seiner Haltung „Selbstherrlichkeit“. Knabe setzte laut Mönch in Hohenschönhausen lediglich auf „emotionale Überwältigung“ statt Professionalisierung.115 Dieser Kritik schloss sich Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung an: In Hohenschönhausen mangele es an einer Dauerausstellung, Führungen dienten der „Autotherapie“ der Betroffenen, Informationsbroschüren seien voller „Ungenauigkeiten“. Augstein sah eine geschichtspolitische Allianz zwischen Knabe, seiner Gedenkstätte und Bernd Neumann, einem „alte[n] Anhänger des ehemaligen Kanzlers Kohl und der ‚geistig-moralischen Wende’“ und seit 2005 Nachfolger von Christina Weiss als Bundesbeauftragter für Kultur und Medien. Knabe brauche Politiker wie Neumann zur „Bestätigung seines Weltbildes“. 116 Ähnliche Kritik 113 Knabe, Hubertus: Die DDR als Light-Version. Staatlich geförderte Ostalgie. Die Expertenkommission will die SED-Diktatur weniger grau zeichnen. In: Sabrow u.a. 2007, S. 193f. 114 Zur offiziellen Reaktion des BKM auf das Expertenvotum vgl. Pressemitteilung Nr. 138 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 12.5.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 198f. Zur bisherigen Umsetzung s. Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts des Bundes (a.a.o.). 115 Mönch, Regina: Meine DDR. Vorab zerpflückt: Das Gedenkstätten-Gutachten. In: Sabrow u.a. 2007, S. 196ff. 116 Augstein, Franziska: Im Garten der Erinnerung. Der Bericht der Kommission: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Sabrow u.a. 2007, S. 204ff.
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vertrat auch Miriam Lau in der Welt. Sie analysierte zunächst Knabes Biographie (westdeutsche Herkunft, selbst Opfer von Bespitzelung), um in einem zweiten Schritt seine Gedenkstätte und deren Arbeit als „Schockpädagogik“ zu kritisieren.117 Auch Lau bemängelte eine zu große und zu wenig differenzierende Emotionalisierung der DDR-Vermittlung in Hohenschönhausen und führte dies auf die Person Knabe zurück. Diese Kritik drehte die Argumente Knabes gegen die „Sabrow-Kommission“ einfach um und wendete sie gegen ihn selbst mit nahezu den gleichen Argumenten und Schlussfolgerungen. Die erste Kontroverse über die DDR-Geschichtspolitik war also Professionalisierung versus Emotionalisierung. Das betraf besonders die Frage der Vermittlung. Wie viel Abstand sollte zur DDR hergestellt werden, aus welcher Distanz sollte sie betrachtet werden? Besonders Kliers Einwand, es handele sich bei einer „Historisierung“ der DDR in erster Linie um eine Ausgliederung derselben aus dem Alltag und Erfahrungsraum von Jugendlichen und nachkommenden Generationen, deren Lücke auch laut Knabe durch individuelle und falsche Erinnerung seitens Lehrern, Eltern oder ehemaligen Stasi-Kadern gefüllt werde, kritisierte eine distanzierte Professionalisierung.118 Die DDR und vor allem ihre totalitären Strukturen müssten erfahrbar sein, denn Erfahrungen ließen sich besonders durch emotionale Einbindung vermitteln, einer Art Nacherleben oder Simulation von Vergangenheit. Demgegenüber argumentierte die auf Historisierung und Professionalisierung abzielende Position, dass eine gelungene Vermittlung vor allem auf Grundlage wissenschaftlich und historisch korrekter Vermittlung geschehen könne.119 Im Zentrum der Vermittlung stand nicht selten die Repressionsstruktur innerhalb der DDR. Damit ging eine moralisch aufgeladene Historisierung einher, wie aus Kliers und Knabes Kritik zu entnehmen war. Auch Jochen Staadt vom „Forschungsverbund SED-Staat“ der FU Berlin unterstützte diese Fokussierung auf repressive Elemente in der DDR-Historisierung. In der FAZ unterstellte er der 117 Lau, Miriam: Grenzen der Schockpädagogik. Expertengutachten vorgestellt: Die Aufarbeitung der DDR-Diktatur soll breiter gefächert werden – Debatte um Konzepte der Gedenkstätten in vollem Gange. In: Sabrow u.a. 2007, S. 229ff. 118 Vgl. Reuth, Ralf Georg: „Die Stasi war eine kriminelle Vereinigung“. Die Bürgerrechtlerin Freya Klier übt Kritik an den Plänen zum neuen Umgang mit der SED-Diktatur. In: Sabrow u.a. 2007, S. 220f. Darin sagte Klier: „Durch meine langjährige Erfahrung an Schulen weiß ich, daß man jungen Leuten Diktatur nur näherbringen kann, indem man sie personalisiert. Es sind die menschlichen Schicksale, die zuhören lassen. […] Akademische Abstraktionen, wie sie von der Kommission favorisiert werden, rauschen an der jungen Generation vorbei.“ 119 Vgl. Peitz, Christiane: Geteilte Erinnerung. Der Historiker Ulrich Herbert über die jüngsten Vorschläge zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte. In: Sabrow u.a. 2007, S. 256ff.
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„linksorientierten“ Kommission einen „Selbstbedienungsdrang“ und nannte sie daher auch „Expertenlobby“. Viele Kommissionsmitglieder zögen „seit Jahren gegen Kennzeichnungen der DDR als totalitäre Diktatur zu Felde“, was selbst „in der Kommission vertretene ehemalige DDR-Bürgerrechtler“ nicht gutheißen (gemeint war wohl Freya Klier). 120 Damit lokalisierte Staadt Unterstützer seiner Kritik schon innerhalb der Kommission selbst, die dadurch in seinen Augen delegitimiert sei – nicht nur paradigmatisch und politisch (indem Staadt die Kommission als „Lobby“ bezeichnete), sondern schon in ihrer Zusammensetzung. Eine andere Kritik der Professionalisierung, wie die Kommission sie vorschlug, äußerte das „Bürgerbüro e.V.“, ein Verein, der 1996 von ehemaligen DDROppositionellen gegründet wurde und sich als Vertreter von Opfern der SED versteht. Laut dessen Kritik „würden drei bürokratische Monster entstehen“, und damit „komplizierte Verwaltungseinheiten, die sich mehr mit sich selbst, als mit ihren Aufgaben beschäftigen würden“, hieß es in einer Presseerklärung vom 15. Mai 2006.121 Das „Bürgerkomitee Leipzig e.V.“, Betreiber der Stasi-Gedenkstätte „Runde Ecke“ in Leipzig, sah darin schon das von Knabe befürchtete „Aufarbeitungskombinat“ heraufziehen. Es gehe der Kommission um „die Schaffung von drei neuen ‚Leiteinrichtungen‘“, die „nichts anderes als staatliche Zentralisierung“ bedeuten würden.122 Die zweite Ebene der Kontroverse war eine epistemologische. Die Frage lautete nicht mehr nur, wie viel Distanz zu dem Geschichtsgegenstand DDR zu wahren und ethisch vertretbar sei, um eine „gute“ Vermittlung zu erzeugen. Auf der paradigmatischen Ebene ging es auch darum, welche Art des Erkennens, Erfassens, Beschreibens und Verstehens der DDR zu vertreten sei. Diese epistemologische Kontroverse beherrschte die Geschichtspolitik zur DDR schon vor 1989. Wie an der Potsdamer Tagung von 1993 illustriert wurde, nahm die DDR-Forschung nach 1989/90 eine radikal historisierende Wende, deren inhaltliche Spektren zwischen sozial-, kultur-, politik- und alltagsgeschichtlichen Fokussierungen oszillierten. Knabes und Staadts Vorwurf, die Expertenkommission blende totalitäre Strukturen der DDR willentlich aus, um sie in einer alltags- und sozialgeschichtlich fundierten Narration „weichzuspülen“, bemühte ebendiese Kontroverse aus den frühen Tagen der DDR-Forschung nach 1989. Dieser Vorwurf verdichtete sich in dem Schlagwort „Ostalgie“, das ein unzureichendes Bewusstsein gegenüber der DDR als totalitärer Staat kennzeichne120 Staadt, Jochen: Kollision der Fachleute. Die Einrichtungen zur DDR-Aufarbeitung sollen neu geordnet werden. In: Sabrow u.a. 2007, S. 212ff. 121 Bürgerbüro e.V. Presseerklärung: Expertenkommission „Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 225f. 122 Bürgerkomitee Leipzig e.V. Presseerklärung: Experten-Empfehlung für Zukunft der bundesdeutschen Gedenk- und Erinnerungslandschaft als Arbeitsgrundlage ungeeignet. In: Sabrow u.a. 2007, S.228.
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te. „Ostalgie“ stand symptomatisch für ein epistemisches Defizit, in dem die DDR durch falsche, verfälschte und beschönigende Erinnerungen, nicht zuletzt aus dem individuellen und alltäglichen Gedächtnisfundus, verzerrt erschien. Da sich „ostalgische“ Erinnerungen an die DDR größtenteils aus dem Alltagsbereich rekrutieren, ließen sich Alltagsgeschichte und „Ostalgie“, wie bei Knabe und Staadt, dementsprechend leicht verknüpfen. Aus dem Gegensatz Professionalisierung versus Emotionalisierung wurde in der paradigmatischen Perspektive dann Differenzierung versus Totalisierung der DDR. Dabei wird oft ein narrativer und ethischer Konsens übersehen, der diese nur vordergründig unterschiedlichen Positionen einte: Sie beschrieben und kritisierten beide jeweils totalitäre Strukturen; der Unterschied lag lediglich in den Erklärungszusammenhängen. Zudem wollten beide Positionen auf ihre Art der grassierenden Verklärung und „Ostalgie“ entgegenwirken. Stephan Hebel verteidigte dann auch den alltagsgeschichtlichen Impetus des Expertenvotums in der Frankfurter Rundschau. Alltagsgeschichte würde das „reale Leben in der DDR jenseits von Anpassung und Widerstand intensiver“ beleuchten und die beiden Mythen vom „angepassten Volk“ einerseits und „den 17 Millionen Mutigen, die sich 1989 mit revolutionärem Elan von den Fesseln des Kommunismus befreiten“ andererseits einer „historischen Wahrheit“ zuführen, die „dazwischen liegen“ dürfe.123 Den „Ostalgie“-Begriff und die darin implizite Kritik der DDR-Erinnerungskultur kritisierte wiederum Lutz Niethammer in einem Interview mit der Tageszeitung: „Wer darin [d.h. die „Ostalgiewelle“] verbissen die Rückkehr der Blauhemden wahrnimmt, übersieht das Ironische, Zitierende. Es handelt sich um eine Wiederaneignung von Alltagsgegenständen, die zu Teufelszeug erklärt wurden.“124 Schuld an dem Aufstieg des Phänomens „Ostalgie“ sei laut Niethammer auch eine Diskrepanz von historischer Darstellung und individueller Erinnerung sowie deren Weitergabe an nachfolgende Generationen. Letztere habe es nun mit einem kulturellen, historischen und individuellen Erbe zu tun, dem sie als zitierbares RetroPhänomen begegne – womit Niethammer die „Ostalgie“ implizit in den zitierenden, ironisierend auf „Retro“ setzenden popkulturellen Zusammenhang des westlichen 21. Jahrhunderts, Simon Reynolds’ „Retromania“, einbettete.125 Die Angst, es könnte sich bei der „Ostalgie“ um eine Wiederkehr, einen Anachronismus oder gar eine Heimsuchung der Gegenwart durch die Vergangenheit „DDR“ handeln, griff erneut das hantologische Problem Derridas auf: The time is out of joint – die Gegenwart ist
123 Hebel, Stephan: Die Debatten über die DDR-Historie bleiben hinter der Komplexität des Geschehens zurück. In: Sabrow u.a. 2007, S. 233ff. 124 Reinecke, Stefan: „Ostpartys glorifizieren nichts“. Die Tageszeitung am 12.5.2006. 125 Vgl. Reynolds 2012. Zur Ironie in der Retro-Popkultur des 21. Jahrhunderts vgl. Greif, Mark (Hrsg.): Hipster. Eine transatlantische Diskussion. Berlin: Suhrkamp 2012.
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sich selbst nicht mehr gegenwärtig. 126 Niethammer sah in der „Ostalgie“ lediglich einen produktiven Umgang mit diesem Erbe durch kulturelle und semantische Aneignung und Neuordnung. Die DDR der „Ostalgie“ war nicht die DDR der Vergangenheit. Ebendies konnte, wie bei Niethammer, zur differenzierenden Beschwichtigung führen, oder, wie bei Klier, zu einer alarmierenden Haltung. Differenzierung hieß demnach auch für die Vertreter dieses Paradigmas das Aufzeichnen und Aushalten von Diskrepanzen und Widersprüchen, sowohl innerhalb der DDR als historisierter Gegenstand, als auch im erinnerungskulturellen Umgang mit ihr. So erläuterte Martin Sabrow im Deutschlandradio Kultur: „Was wir meinen ist, dass die Widersprüchlichkeit der DDR-Gesellschaft miteinbezogen werden muss und dass es unabdingbar ist, die repressiven, teils terroristischen Prägungen dieses Staates zu erörtern, zu definieren[.] [...] Und wir müssen das tun, um einer späteren Generation, die keine Erlebnisgeneration mehr ist, einen Eindruck zu vermitteln, von den tatsächlichen Wirkungskräften dieses katastrophischen 20. Jahrhunderts, das von zwei großen Diktaturen in Deutschland und nicht nur in Deutschland gekennzeichnet war.“ 127
Sabrow und die von ihm geleitete Kommission sahen, genauso wie Klier und Knabe, die prekäre Situation der DDR-Erinnerung, die zukünftig nur noch mittelbar, vermittelt und übersetzt erlebt werden könne. Daher auch die geschichtspolitische Frage nach ihrer zukünftigen Erscheinung, die diese Lücke zwischen Vermittlung und zu Vermittelndem und den Raum für die paradigmatische Kontroverse erst ermöglichte. Solange die Frage ungeklärt blieb, wie dieser Übergang von vergangener zu historisierender, unmittelbar erlebter zu vermittelt erfahrener DDR gestaltet werden sollte, ließ und lässt sich die geschichtspolitische Kontroverse um die DDR nicht beenden. Dies brachte Ulrich Herbert in einem Interview mit dem Tagesspiegel auf den Punkt: „Es bedarf also auch einer Diskussion um die Relationen der Erinnerung: Wie präsent sollen die Diktaturen in unserer Gegenwart sein, und wie vermeiden wir, dass die Allgegenwart der Geschichte uns in ihr befangen sein lässt?“128 Die paradigmatische Frage war in ihrem Kern eine Frage der Relationen, des Umgangs mit Widersprüchen, Diskrepanzen und Paradoxien. Sie war eine Frage der Vermittlung, der Ästhetik des Erscheinens und der Präsenz – und damit eine Frage der Kosmopolitik.
126 Derrida 2004, S. 62. 127 Wuttke, Gabi: Sabrow weist Vorwurf der Weichzeichnung des SED-Unrechts zurück. Leiter der Expertenkommission macht sich für den Erhalt der Birthler Behörde stark. In: Sabrow u.a. 2007, S. 247. 128 Peitz, Christiane: Geteilte Erinnerung. Der Historiker Ulrich Herbert über die jüngsten Vorschläge zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte. In: Sabrow u.a. 2007, S. 258.
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Damit verknüpfte sich die dritte Ebene der Kontroverse, die Ebene der Mobilisierung. Hier ging es um die Frage der Vernetzung, Verknüpfung und Institutionalisierung, welche Formen der Relationen hergestellt werden sollten und welche paradigmatischen und ethischen Positionen in welche politische Form überführt werden könnten. So, wie die Bundesbeauftragte für Kunst und Medien eine Expertenkommission aus Historikern, Gutachtern, Zeitzeugen, Umfragebögen und Museumsdirektoren mobilisierte, so rangen die verschiedenen Positionen ebenfalls um Unterstützung. Um ein Paradigma oder eine Ethik der DDR-Erinnerung durchzusetzen wurden Allianzen benötigt. Allein deshalb reichte es nicht, die Interessen der Beteiligten an Geld, Posten oder gar Macht als alleinige Erklärung für einen geschichtspolitischen Vorgang wie die Kontroverse um die DDR-Erinnerung in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Sicherlich waren diese Interessen vorhanden und ausgeprägt, wurden artikuliert und motivierten die beteiligten Akteure. Es reicht jedoch nicht, eine Idee oder ein Interesse allein zu haben, wenn nicht die nötige Überzeugungsarbeit geleistet werden kann, diese zu unterstützen. So beschreibt Bruno Latour Macht und Allianzen auch als etwas Relationales, etwas Herzustellendes: eine Wirkung, nicht eine Ursache.129 Wer und was wurde also in dieser Kontroverse mobilisiert? Auf Seiten der von Klier und Knabe vertretenen Position waren das zunächst die „ehemaligen Nomenklaturen“ (Klier) von SED und MfS. Im März 2006 kam es in Hohenschönhausen während einer Podiumsdiskussion zu einem Eklat, der ein entsprechendes PresseEcho auslöste. Dieser Vorfall, bei dem ca. 200 ehemalige MfS-Mitarbeiter, darunter augenscheinlich auch höhere Offiziersgrade, die Podiumsdiskussion störten und die Opfer des SED-Regimes aggressiv denunzierten, wurde besonders für den auf dem Podium anwesenden Berliner Kultursenator und Mitglied der damaligen SEDNachfolgepartei PDS (heute „Die Linke“), Thomas Flierl, zur geschichtspolitischen Zerreißprobe. Flierl reagierte für viele Anwesende zu zögerlich auf diese geschichtsrevisionistischen Interventionen.130 Viele Kritiker bemühten nun mehr oder weniger implizit diese 200 Denunzianten in der Kontroverse um das Expertenvotum 131, nicht zuletzt Staatsminister Bernd 129 Vgl. die Kritik Latours an Erklärungen durch „Macht“: Latour, Bruno: Die Macht der Assoziationen. In: Belliger/Krieger 2006, S. 195-212. 130 Vgl. dazu unter anderem: Nolte, Barbara: Die Stasi-Rentner. Die Zeit 30/2006; Siepmann, Edith: Stasi-Debatte: „Alles verlogen, Flierl muss weg!“ auf Spiegel Online am 5.4.2006 (URL: http://goo.gl/Hfxs7 [18.7.2013]) und Schomaker, Gilbert: Flierl räumt Fehler bei Stasi-Eklat ein. Erschienen auf Welt Online am 21.3.2006 (URL: http:// goo.gl/Jc16I [18.7.2013]). 131 So auch Rainer Blasius in der FAZ. Vgl. Blasius, Rainer: Die Rentner der Stasi – Verfolger verhöhnen Opfer und wollen das MfS rehabilitieren. In: Sabrow u.a. 2007, S. 262ff.
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Neumann132 selbst. Das Votum fördere demnach durch ihren distanzierten und zu differenzierten Blick auf die DDR eine solche Entwicklung, wie in Hohenschönhausen zu beobachten war. Klier weitete dieses Wiedererscheinen der ehemaligen SED- und MfS-Nomenklaturen auf Bundestag, Schulen und die „vielfältigen Gremien unserer Demokratie“ aus. Hinzu komme eine ganze Generation von Heranwachsenden, denen die DDR als historisches Objekt vollkommen fremd sei, die laut Klier „komplett reizüberfluteten“ Lebenswelten ausgesetzt sind und über verzerrtes oder gar kein Wissen von der DDR, besonders ihren repressiven Strukturen, verfügen.133 Knabe addierte dem noch „[m]illionen Ostdeutsche“ hinzu, welche „die Schrecken des Regimes vergessen“ hätten. Diese „verklären zunehmend die Vergangenheit“, woraus sich schließlich die „Ostalgie“ ableite, die das Expertenvotum durch seinen ethischen und paradigmatischen Ansatz, gestützt von „linken“ Politikern und Historikern, „staatlich fördert“.134 Klaus Schroeder vom „Forschungsverbund SED-Staat“ fügte dem eine „Befragung von über 2000 Berliner Schülern“ zu, von denen jeder zweite die DDR als „keine Diktatur“ bezeichnen würde. Zwei Drittel meinten gar, der Alltag der DDR wäre nicht „durch Diktatur und Überwachung geprägt“ gewesen.135 Dieser Entwicklung hielt Knabe „mittlerweile 150.000 Besucher pro Jahr“ in Hohenschönhausen entgegen, die der dortige Besuch und besonders „die Begegnung mit einem Zeitzeugen beeindruckt hat“.136 Darüber hinaus stellte Knabe fest, dass einige Themenbereiche „in Einklang mit den Vorstellungen von Berlins Kultursenator Thomas Flierl (PDS)“ stünden – jenem Politiker, der zuvor in vielen Augen nicht gerade einen konsequenten Umgang mit aktiven SED- und MfS-Kadern gefunden hatte. Demgegenüber bemühte Knabe den „erfahrene[n] Kulturpolitiker [Bernd] Neumann“, der als Bundesbeauftragter für Kultur und Medien über das Expertenvotum institutionell verfügen konnte. Dass Neumann die von der Kommission eingereich-
132 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: „Konsequente und differenzierte Aufarbeitung der SED-Diktatur ist und bleibt ein zentrales Anliegen der Bundesregierung“. Pressemitteilung Nr. 138, 12.5.2006. 133 Zu Kliers Position vgl. weiterhin ihr Sondervotum in: Die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 44f. Sowie ein Interview mit Freya Klier in Welt am Sonntag vom 14.5.2006. 134 Zu Knabes Position s. Knabe, Hubertus: Das Aufarbeitungskombinat. Merkwürdige Vorschläge zur Neuorganisation des DDR-Gedenkens. In: Sabrow u.a. 2007, S. 189ff. 135 Schroeder, Klaus: Positionen: Was wir vergessen, das war nicht. Auch in der DDR gab’s Alltag, aber der war nicht entscheidend. In: Sabrow u.a. 2007, S. 272ff. 136 Knabe, Hubertus: Die Stasi ist nicht tot. In: Sabrow u.a. 2007, S. 271f.
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ten Vorschläge umsetze, hielt Knabe dann auch für „schwer vorstellbar“. 137 Neumann und sein Stellvertreter Hermann Schäfer distanzierten sich dann auch auf einer Pressekonferenz am 15. Mai 2006 von dem Expertenvotum. Neumann erklärte, die Expertenkommission sei „nicht seine“ und würdigte das Votum lediglich als „Denkanstoß“. Schäfer zählte im Anschluss 13 Kritikpunkte auf, die vom BKM an dem Votum festgestellt wurden.138 Ein „Paradigmenwechsel“ hin zur Alltags- und Sozialgeschichte der DDR, wie ihn das Votum vorschlug, wurde explizit abgelehnt.139 Was dies für das Expertenvotum bedeuten konnte, verdeutlichte wiederum Klaus Schroeder: „Durch den Regierungswechsel ist den Experten der Auftraggeber verloren gegangen, der für die politische Umsetzung der Empfehlungen sorgen wollte. Das ist ein Glücksfall für die zukünftige Aufarbeitung der DDR.“140 Es handelte sich dabei um mehr als bloß ideologisierte Machtpositionen und Interessen. Die Ebene der Mobilisierung verknüpfte mehr Elemente, mehr Akteure, mehr Propositionen über die Beschaffenheit der DDR-Erinnerung. Tabelle I: Die Mobilisierung der Kritik Propositionen des Expertenvotums
Mobilisierung der Kritik
Die DDR soll als Diktatur wahrgenommen werden?
Hier sind Millionen Ostdeutsche mit „ostalgischen“ Erinnerungen.
Die DDR soll für Jugendliche analytisch nachvollziehbar sein?
Hier ist eine der Reizüberflutung ausgelieferte Jugend ohne direkt vermittelten Bezug zur DDR als Geschichte, die nur emotional anzusprechen ist.
Die DDR soll historisiert werden?
Hier sind mindestens 200 aktive MfS- und SEDLeute, die in der Gegenwart alles andere als historisch operieren und zentrale Positionen unserer Demokratie besetzen.
137 Knabe, Hubertus: Das Aufarbeitungskombinat. Merkwürdige Vorschläge zur Neuorganisation des DDR-Gedenkens. In: Sabrow u.a. 2007, S. 189ff. 138 Mönch, Regina: Weichspüler der Geschichte. Deutungshoheit über die DDR: Der Kulturstaatsminister watscht seine Gutachter ab. In: Sabrow u.a. 2007, S. 265f. 139 Schlegel, Matthias: Streitbare Zukunft der Vergangenheit. Kommission stellt Empfehlungen zur „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ vor. In: Sabrow u.a. 2007, S. 254ff. 140 Schroeder, Klaus: „Wir vergessen nichts“ – Zur Diskussion um Aufarbeitung der SEDDiktatur. In: Sabrow u.a. 2007, S. 279ff.
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Der Diktaturcharakter der DDR soll aus ihrem Alltag heraus erklärt werden?
Hier ist eine wissenschaftliche Umfrage unter über 2000 Jugendlichen, von denen eine Mehrheit den DDR-Alltag als nicht-diktatorisch beschrieb.
Hohenschönhausen soll marginalisiert werden und arbeitet unprofessionell?
Hier sind 150.000 Besucher jährlich, die von der Gedenkstätte und ihrer Arbeit beeindruckt sind.
Das Votum soll inhaltlich überzeugen?
Hier sind mindestens 13 Widersprüche in dem Papier, die der Auftraggeber bemängelt.
Das Expertenvotum soll politisch gestützt werden?
Das Expertenvotum ist ideologisch zu „links“, hat keinen Auftraggeber mehr, der sie unterstützt, tagt undemokratisch als „Expertenlobby“ unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ist darüber hinaus mindestens inhaltlich mit einem politisch fragwürdigen Berliner Kultursenator verbunden. Im Gegensatz dazu wird unsere Position von einem erfahrenen Kulturpolitiker unterstützt, der letztlich entscheidet, wie mit dem Expertenvotum verfahren werden soll.
Hier wurden Tatsachen, Heuristiken, Empiriken, politische Positionen, Ideen und Ressourcen, Paradigmen, Menschenmassen, Generationen und Befragungstechniken zu einem Netzwerk verknüpft, aus dem sich erst die relativ starke Position der Kritiker des Expertenvotums herleitete, die zudem Rückendeckung durch viele zivilgesellschaftliche Opferverbände oder Vereine wie dem „Bürgerbüro e.V.“ erhielt. Was hatten die Kritiker der Kritiker und die Befürworter des Expertenvotums dem entgegenzusetzen? Der erste Einwand, von Regina Mönch in der FAZ geäußert, legitimierte die Expertenkommission als demokratisch, die „von der rotgrünen Regierung mit Zustimmung aller Fraktionen im Bundestag“ eingesetzt wurde.141 Andererseits wurden Hubertus Knabe und der Gedenkstätte Höhenschönhausen ein Mangel an Professionalität zugeschrieben: Die dort angebotene Historisierung sei einseitig und ihre Objektivität dadurch mindestens fragwürdig – im Gegensatz zur aus Historikern und ehemaligen Verfolgten zusammengesetzten Kommis141 Mönch, Regina: Meine DDR. Vorab zerpflückt: Das Gedenkstätten-Gutachten. In: Sabrow u.a. 2007, S. 196ff.
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sion, die differenziert und multiperspektivisch gearbeitet habe. 142 Auch die Befürworter des Votums erkannten das Problem geschichtsrevisionistischer Positionen und aggressiv auftretender ehemaliger MfS-Offiziere an. Auch das Problem „Ostalgie“ wurde aufgenommen, lediglich anders hergeleitet: Es erklärte sich, wie bei Niethammer, aus einer Erfahrungsdiskrepanz von Historisierung und individueller Erinnerung. Zielgruppe waren auch für die Befürworter des Expertenvotums nachkommende Generationen. Der Konsens über die Beschreibung der DDR als Diktatur stand während der Diskussion um das Expertenvotum zu keiner Zeit zur Debatte. Was den Vertretern des alltagsgeschichtlichen Paradigmas schwer fiel, war die Mobilisierung von Tatsachen, die ebendieses Paradigma stützen. Die Argumente für das Alltagsparadigma lauteten, dass eine solche Sicht auf die DDR sowohl die Diskrepanz zwischen Historisierung und individueller Erfahrung überbrücke, als auch eine ansprechende und gleichzeitig differenzierte Vermittlung repressiver Elemente der DDR als Gesellschaft und politisches System für nachfolgende Generationen geleistet werden könne.143 Dadurch wurde zumindest der Vorwurf entkräftet, das Expertenvotum betreibe aktiv Verharmlosung. Damit verwies diese Position allerdings auch nur wieder auf die paradigmatische Ebene der Kontroverse, ohne einen ähnlichen Mobilisierungsgrad wie ihre Kritiker zu erreichen. Neben der Rückendeckung durch einige Journalisten und Fachkollegen wie Regina Mönch, Franziska Augstein, Lutz Niethammer oder Ulrich Herbert veröffentlichten mit der BStU und der „Stiftung Aufarbeitung“ immerhin zwei etablierte Institutionen positiv gestimmte, wenngleich nicht vollständig unkritische Pressemitteilungen, in denen sie die Arbeit der Kommission und deren Votum öffentlich unterstützten.144 Allerdings konnten die Kritiker des Votums ebenfalls auf Unterstützung durch Journalisten, Fachkollegen und zivilgesellschaftliche Verbände zählen. Nicht zuletzt entscheidend für den ersten „Misserfolg“ des Expertenvotums mag gewesen sein, dass Bernd Neumann, als verantwortlicher Staatsminister, das Votum nur als „Denkbaustein“ einschätzte – was blieb den Kommissionsvertretern anderes übrig, als diese Einschätzung als Würdigung ihrer Arbeit zu begrüßen?145 142 Vgl. besonders Augstein, Franziska: Im Garten der Erinnerung. Der Bericht der Kommission: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Sabrow u.a. 2007, S. 204ff. 143 Vgl. dazu Regina Mönchs Interview mit Martin Sabrow in der FAZ: SED-Bewältigung braucht einen Ort. In: Sabrow u.a. 2007, S. 281ff. 144 Birthler, Marianne: Presseerklärung der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler. In: Sabrow u.a. 2007, S. 222f und Pressemitteilung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu den Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. In: Sabrow u.a. 2007, S. 223f. 145 Die öffentliche Anhörung vom 6.6.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 164ff.
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Erstaunlich erschien allerdings, dass in einem Interview mit der Berliner Zeitung der zuvor eher distanzierte Staatsminister Bernd Neumann eine alltagsgeschichtliche Dimension der DDR-Erinnerung im Sinne des Expertenvotums ausdrücklich begrüßte. Bezeichnenderweise lautete der letzte Satz Neumanns: „Entscheiden wird das Parlament“.146 Bisher war das Expertenvotum noch nicht gescheitert, die Kritik schien allerdings breiter aufgestellt und mobilisiert zu sein. Das nunmehr in der Schwebe stehende Expertenvotum musste Antworten auf viele Fragen finden: Wie konnte es sich gegenüber seinen Kritikern behaupten? Wie konnten Propositionen zu Gunsten des Votums gestärkt, stabilere Netzwerke geknüpft, Argumente mit Tatsachen besser gestützt werden? Kurz: Wie konnte das Parlament dazu gebracht werden, das Expertenvotum anzunehmen und umzusetzen? Die Antwort war: Indem das Expertenvotum seine Mobilisierung forcierte, die Akteure und Sprecher vermehrte, in Zusammenhang brachte, verknüpfte, vernetzte und Propositionen übersetzte – indem es also selbst zu einem kosmopolitischen Parlament wurde.
D AS P ARLAMENT DER DDR-E RINNERUNG – Z UR ÖFFENTLICHEN ANHÖRUNG DER E XPERTENKOMMISSION Eine öffentliche Anhörung war schon im Auftrag der Expertenkommission vorgesehen. Diese fand am 6. Juni 2006 in Berlin statt und führte mehr als einhundert an der Geschichtspolitik zur DDR beteiligte Akteure zusammen. Es ging um das Expertenvotum einerseits; andererseits ging es erneut um die Frage, wie die DDR in Zukunft zu vermitteln sei. Innerhalb dieser direkten Form des Verhandelns, das zuvor nur mittelbar geschah, verdichtete sich die Debatte um eine gelungene DDRErinnerung und ist von daher eine eigenständige Darstellung wert. Der Ablauf der Veranstaltung sah vor, dass zunächst fünf externe Gutachter ihre Stellungnahme zu dem Expertenvotum vortragen und im Anschluss daran eine offene Diskussionsrunde stattfinden wird. Martin Sabrow betonte, es handele sich bei den Empfehlungen der Kommission nicht um einen „Schlussstein“, sondern um einen „Baustein“, der eine „Diskussion auslösen“ solle.147 Diskutiert werden sollten insbesondere folgende Punkte, die sich auch in der bisherigen Kontroverse wiederfanden: Wie ist die DDR-Erinnerung zu organisieren (zentral/dezentral)? Wie ist sie
146 „DDR-Alltag – das war nicht nur die private Idylle“. Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) über die umstrittenen Expertenvorschläge zur Aufarbeitung. In: Sabrow u.a. 2007, S. 286ff. 147 Die öffentliche Anhörung vom 6.6.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 47f.
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paradigmatisch zu gestalten (historische, analytische und politische Verortung der DDR)? Inwiefern waren die Vorschläge umsetzbar? 148 Was an dieser Stelle besonders interessiert, ist vor allem die Bezugnahme auf die Kontroversen, die im vorigen Abschnitt rekonstruiert wurden. Auch auf der öffentlichen Anhörung ging es um die Frage von Professionalisierung und Emotionalisierung, der epistemologischen Ausrichtung von Paradigmen wie Alltagsgeschichte versus Politikgeschichte – und nicht zuletzt um die Art der Mobilisierung, die stattfand, um der eigenen Position Stabilität und Wirkungsmacht zu verleihen und Allianzen bei der Herausbildung von Propositionen über die zukünftige Geschichtspolitik zur DDR zu gestalten. Dabei traten, wie auch in der vorangehenden Diskussion, strukturelle und inhaltliche Kontroversen um die DDR-Erinnerung vordergründig zunächst getrennt auf. So kritisierte Horst Möller vom Münchner „Institut für Zeitgeschichte“ (IfZ) als einer der externen Gutachter zunächst die Zusammensetzung der Kommission, die schon rein wissenschaftspolitisch nicht repräsentativ für die DDR-Forschung sei. Daraus leitete Möller maßgebliche „geschichtspolitische Zielsetzungen und Interessen“ ab, die hinter dem Expertenvotum stünden. Damit griff er die vorangehende Kritik der ideologischen Aufladung einerseits, der undemokratischen Aushandlung innerhalb der Kommission andererseits auf. Für wen sprach die Kommission? Folgt man Möller, so sprach sie anscheinend nur für sich, oder schlimmer: für eine bestimmte ideologische Richtung der DDR-Erinnerung.149 Zweifel an der Legitimität der Expertenkommission drückte auch Reinhard Rürup aus, besonders im Hinblick auf die geschichtspolitische Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte. Eine von der Politik eingesetzte Kommission könne dabei nicht die gesamte, vor allem wissenschaftliche, „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ leisten. Diese finde „in universitären und außeruniversitären Einrichtungen“ statt und sei ansonsten „Aufgabe der Politik und der Bürgergesellschaft“.150 So trennte Rürup Wissenschaft und Politik, um sie unter der Hand wieder zu verbinden – eine ähnliche Auslegung von Geschichtspolitik also, wie Wolfrum sie vorschlägt. Die Expertenkommission als Hybrid aus Politik und Wissenschaft, Analyseund Handlungsebene stellte eben ein solch widersprüchliches Gebilde dar, das weder rein politisch noch rein wissenschaftlich arbeitete – und deshalb nicht anders als kosmopolitisch bezeichnet werden kann. Was Möller und Rürup übersahen war, dass sie bereits als Experten Teil dieser Kosmopolitik waren, dass sie bereits innerhalb dieses Hybriden aus Wissenschaft und Politik sprachen und handelten, wenn sie dies auf der öffentlichen Anhörung taten.
148 Ebd., S. 49. 149 Ebd., S. 51f. und 58f. 150 Ebd., S. 60.
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Joachim Gauck betonte im Anschluss an diese Positionen der Wissenschaft die Wichtigkeit, durch „Parlament und Regierung die Aufarbeitung der zweiten Diktatur in Deutschland [zu] sichern, fördern und optimieren“. In diesem Sinne verstand Gauck die Arbeit der Expertenkommission als legitim und durchaus politisch. 151 Interessanterweise trennten sich einige Kommissionsmitglieder in ihren Statements von den wissenschaftspolitischen Implikationen der Expertenkommission. „Die DDR-Forschung war überhaupt nicht unser Thema“, hieß es beispielsweise von Martin Sabrows Seite.152 Dem schlossen sich Ulrike Poppe und auch Klaus-Dietmar Henke an.153 Den Vorwurf der Kritiker, die Kommission betreibe eine illegitime Vermischung von Wissenschaft und Politik, wiesen sie mit dem Hinweis darauf zurück, dass diese gar nicht primär wissenschaftlich handeln sollte und wollte, sondern rein politisch – das heißt institutionell und strukturell. Auch hier wurde, absichtlich oder nicht, jegliche Vermischung, jede kosmopolitische Formation übersehen, die mit der Kommissionsarbeit verbunden war. Allerdings wirkte diese Trennung nicht erst seit dem Moment künstlich, da die Kontroverse auf eine paradigmatische Ebene geführt wurde. Die epistemologische Frage „Was war die DDR?“ beinhaltete eine wissenschaftspolitische Dimension, die kaum zu leugnen war. Und da Wissenschaft in erster Linie Tatsachen herstellt und diese meist nicht im wörtlichen Sinne für sich sprechen, sprach die Kommission dann für die „Tatsache DDR“? Den Anfang in der paradigmatischen Frage machte erneut Horst Möller, indem er auf „teils abenteuerliche Begriffsverbindungen“ zur DDR als Diktatur einging, die „den Diktaturcharakter der DDR verwischen“: „[O]b man nun von ‚durchherrschter Gesellschaft’ (J. Kocka) redet, ob man von ‚Fürsorgediktatur’ (K. Jarausch) oder, wie Herr Sabrow, von ‚Wirklichkeitsdiktatur’ redet, und manche sagen in der Öffentlichkeit sogar ‚Konsensdiktatur’. Ich weiß wirklich nicht, was solche Begriffsverwirrung beiträgt. Warum die DDR nicht einfach nennen, was sie war, die SEDDiktatur? Da Begriffe den Kern der Interpretation bilden, handelt es sich nicht um eine marginale, sondern um eine zentrale Problematik.“154
Der Frage, ob eine alltagsgeschichtliche Perspektive in den Fokus der DDRErinnerung rücken sollte, begegnete Möller mit dem Hinweis: „In meinen Augen ist
151 Ebd., S. 76ff. 152 Ebd., S. 87. 153 Ebd., S. 88 Henke verteidigte auch die „monochrome“ Zusammensetzung der Kommission unter Verweis auf ähnlich besetze Gremien in den Achtziger und Neunziger Jahren, die „trotzdem gute Ergebnisse gehabt“ hätten. 154 Ebd., S. 55.
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der Staatssicherheitsdienst charakteristischer für die DDR als die Kinderkrippen.“155 Eine alltagsgeschichtliche Fokussierung liefe Gefahr, „das Nichtspezifische der Diktatur in den Blick“ zu nehmen. Zentral sei die Feststellung, „[z]um Alltag in der Diktatur gehörten Repression und Überwachung“.156 Reinhard Rürup sprach die Kommission zumindest von dem Vorwurf frei, eine „weichgezeichnete“ DDR geschichtspolitisch verankern zu wollen – ein Vorwurf, der zuvor paradigmatisch mit Alltagsnarrativen verknüpft wurde.157 Dem schlossen sich Richard Schröder158 und Joachim Gauck159 an. Gauck zählte dazu einige Tatsachen160 auf, die das Alltagsparadigma stützen sollten: „[D]as Erziehungs- und Bildungssystem mit seinen frühen Einübungen in Gehorsam und den Tendenzen zur Entindividualisierung der Schüler, die Rolle der Pionier- und FDJOrganisation, die Kaderpolitik einschließlich des neuen sozialistischen Adels der Nomenklaturkader, die Gewerkschaften [...]. Dazu zählen auch das unterentwickelte, weil überkontrollierte Vereinswesen und damit die totale Verarmung einer Existenz des verantwortungsbewusst in seine Nachbarschaft eingreifenden Bürgers oder die Vernichtung von jahrhundertealtem Kulturgut […]. Andere wesentliche Dinge, wie das Recht, schon das Zivilrecht oder die nicht stattfindende Herrschaft des Rechts, der Mangel als Wirtschaftsprinzip und sämtliche Strategien, mit diesem Mangel umzugehen, ließen sich hier als weitere Beispiele anführen. Jeder dieser Punkte zeigt Ihnen, den Kritikern, doch, was wir aus unserem Alltag herauslesen können, wie in diesem Alltag die Ohnmacht der Ohnmächtigen gefördert und die Macht der Mächtigen befestigt wurde.“161
Zum ersten Mal in der paradigmatischen Debatte wurden Tatsachen für das Alltagsnarrativ mobilisiert. Gauck wendete sich auch direkt an alle Kritiker dieses Paradigmas. Diese Dinge des repressiven Alltags, so Gauck weiter, „kann man eben nicht alleine mit Gedenkorten und Gefängnissen und ähnlichen Dingen zureichend darstellen. Ganz besonders kann man es nicht für die, die das alles nicht erlebt haben.“162
155 Ebd., S. 56. 156 Ebd., S. 58. 157 Ebd., S. 63f. 158 Ebd., S. 70. 159 Ebd., S. 79f. 160 Tatsachen sind hier gemeint im Sinne von hergestellten Fakten, vgl. Fleck 1980. 161 Die öffentliche Anhörung vom 6.6.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 79f. (Hervorhebungen von mir). 162 Ebd., S. 80, vgl. dazu auch Ulrike Poppes Stellungnahme zu Zeitzeugenschaft und Alltagsgeschichte als Quelle der DDR-Diktaturgeschichte in ebd., S. 88.
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Damit mobilisierte Gauck nicht nur eine ganze Reihe an Tatsachen, gegen die sich seine Kritiker behaupten müssten, sondern auch die dazu passende Kritik an der bisher geforderten Vermittlung und ihrer Zielgruppe. Gauck führte weiter aus, dass es gerade auch die Alltagserlebnisse in den totalitären Strukturen seien, die es ihm im Westen Deutschlands ermöglichten, eine Idee der DDR als Diktatur zu vermitteln.163 Damit überzeugte Gauck auch potentielle Kritiker wie Manfred Wilke vom „Forschungsverbund SED-Staat“, der sich letztlich zustimmend zu dieser Vermittlungsform äußerte.164 Generell wurde sich während der gesamten Anhörung kaum mehr gegen eine Alltagsperspektive zur DDR ausgesprochen – zur Verwunderung des Kommissionsvorsitzenden Martin Sabrow165, war dieses doch in der vorangehenden Kontroverse ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung. Sabrow fasste diesen neuen paradigmatischen Konsens wie folgt zusammen: „Es geht um Alltag in der Diktatur, nicht neben der Diktatur. Wir dürfen den Alltag auch nicht ‚den anderen’ überlassen[.] Wir müssen ihn kontextualisieren, um ihn aus der ostalgischen Nutzbarkeit herauszulösen und als Ort verstehen, an dem die Diktatur in der Interaktion von Herrschaft und Gesellschaft ihre Stabilität ja erst gewann – und auch einbüßte. Erst wenn diese tagtägliche Wiederherstellung diktatorischer Herrschaft fassbar wird, lässt sich auch die Verantwortung des Einzelnen bestimmen, lassen sich Abwehr, Widerstand, Opposition, Immunität von Anpassung, Unterstützung, Resignation und Mitmachen abheben.“166
Damit wurde die Alltagsgeschichte bei Sabrow zu einem geeigneten Mittel gegen revisionistische, vereinfachende und beschönigende Darstellungen mit „ostalgischer“ Neigung. Dieses Argument wurde zwar schon vor der öffentlichen Anhörung angeführt, um das Alltagsparadigma zu stützen, allerdings nicht ohne Widerspruch. Dieser blieb während der Anhörung größtenteils aus und wurde auch später kaum mehr gegen das Expertenvotum vorgebracht. Was allerdings weiterhin im Raum stand war die Frage, ob eine Historisierung der DDR die beste Form der Vermittlung sei, auch gerade für nachfolgende Generationen. Der Einwand tauchte zuvor besonders in Freya Kliers Sondervotum auf und wurde von ihr auch während der Anhörung wiederholt, einschließlich der Zeitdiagnose, dass „die Träger des alten Systems“ sich „neu und geschickt positioniert“ haben und die bundesrepublikanische Demokratie unterwandern.167 Bis auf wenige
163 Ebd., S. 80. 164 Ebd., S. 84. 165 Ebd., S. 86. 166 Ebd., S. 96 (Hervorhebungen im Original). 167 Ebd., S. 92f.
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Ausnahmen168 wurde während der Anhörung jedoch nicht angenommen, dass eine Historisierung der DDR ihre Ausgrenzung aus dem Wissen und Leben derer bedeute, die nicht zur „Erfahrungsgeneration“ gehören. Im Gegenteil: Mehrfach wurde betont, es handele sich um einen „selbstverständlichen“ Prozess, wenn Dinge historisch verstanden und als solche auch vermittelt werden.169 Es sei gerade der Punkt der Vermittlung, der geklärt werden sollte. Denn gerade durch Vermittlung werde die DDR zwar als historisch darstellbar, jedoch nicht gleichzeitig als „abgeschlossen“ verstanden. Das Gegenteil trete ein. Damit konnte während der Anhörung der zuvor angezweifelte „Historisierungskonsens“ gegenüber der DDR wieder hergestellt werden. Einmal mehr brachte an diesem Tag der öffentlichen Anhörung Martin Sabrow den wiederhergestellten Konsens zur Historisierung programmatisch zum Ausdruck: „Wir sind uns doch auch in diesem Raum, denke ich, zumindest in einem Punkt einig, dass nämlich die Zukunft einer unserer Zeit angemessenen Aufarbeitung der DDR die politische und moralische Wertbindung an die Grundwerte unserer freiheitlichen Gesellschaft ebenso braucht wie die Distanz der wissenschaftlichen Erklärung. Gegenwartsbezogenes Bekenntnis und vergangenheitsbezogene Erkenntnis gehören zusammen.“170
Damit war ein weiterer Schritt getan, die DDR als historisch zu vermittelnde Tatsache zu verstehen – gerade im Angesicht gegenwärtiger politischer Aufgaben, an denen im oben geäußerten Sinne nun die Geschichtspolitik ihren Anteil hat. Wie wird die DDR zukunftsfähig gemacht? Wie schafft man es, sie gerade nicht dem Vergessen oder dem ideologischen Revisionismus zu überlassen, sondern in eine stabile und permanente Übertragung und Übersetzung zu verwandeln? Welche politischen Aufgaben können, welche sollten dadurch bewältigt werden? Diese Fragen waren geschichtspolitische Fragen. Als politische Aufgaben ließen sich zwei zentrale Punkte ausmachen: Die Schaffung eines antitotalitären Konsens bei nachfolgenden Generationen 171 und die Etablierung eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins zwischen Ost und West, worunter sowohl ein spezifisch deutsches als auch ein gesamteuropäisches Geschichtsbewusstsein gefasst sein konnte. Beides hängt nicht selten zusammen, wird doch meist ein solches gemeinsames europäisches Gedächtnis unter antitotalitären 168 Unter anderem durch Horst Schüler von der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. (UOKG), ebd., S. 126f. So auch Siegfried Reiprich, angereist als Vertreter von Hubertus Knabe für die Gedenkstätte Hohenschönhausen, ebd., S. 110f. 169 Ebd., S. 73 und 91. 170 Ebd., S. 97f. (Hervorhebungen im Original). 171 Ebd., S. 141.
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Vorzeichen zu gestalten versucht.172 Wichtig war zudem eine die Opfer von Unrecht rehabilitierende Erinnerung, um die es sowohl der Expertenkommission als auch ihren Kritikern ging. Der letzte kontroverse Punkt drehte sich um die eigentliche Aufgabe der Kommission: Die Neustrukturierung bestehender Erinnerungsorte und Institutionen. Ursprünglich war vorgesehen, keine neuen Institutionen zu schaffen und lediglich eine Professionalisierung und Effizienzsteigerung durch Vernetzung zu erreichen. Dass die Expertenkommission sich daran gehalten hat, sahen nicht alle Teilnehmer so. Ob es sich bei einer stärkeren Vernetzung auch gleichzeitig um eine neue Institution handelte, wurde nicht abschließend geklärt. In diesem Punkt blieb auch das Expertenvotum selbst eher vage, sodass es kaum wundert, wenn aus dem Votum – im Gegensatz beispielsweise zur zweiten Enquetekommission, die immerhin die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ hervorbrachte – zunächst keine neuen Einrichtungen oder andere nennenswerten geschichtspolitischen Handlungen hervorgingen. Auch einer der größten Streitpunkte, die Zukunft der BStU und des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG), konnte nicht geklärt werden. Dies hatte mehrere Gründe: Einerseits wurde betont, dass die damals noch nach ihrer Vorsitzenden Marianne Birthler benannte „Birthler-Behörde“ ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen habe. Diese besteht bis heute in erster Linie darin, erstens von MfS-Unrecht Betroffenen Informationen über das Ausmaß ihrer Betroffenheit zur Verfügung zu stellen, dieses Unrecht zu dokumentieren und zu archivieren, und zweitens die Öffentlichkeit über Geschichte und Methoden des MfS aufzuklären. 173 Dies würde, so einige Bedenken, durch eine Überführung der MfS-Unterlagen in ein anderes Archiv ohne diesen Sonderauftrag erschwert werden. Andererseits stelle die BStU ein Monument der Friedlichen Revolution dar, das in den ehemaligen sozialistischen Staaten ohne Beispiel sei. Das Ende dieses Sonderstatus sei auch das Ende dieses Monuments. Der Sonderstatus der BStU wurde nur perspektivisch in Frage gestellt, da es dem parlamentarischen Willen nach nicht klar war, ob aus ihr eine permanente Institution werden sollte oder nicht – eine Frage, die die „Sabrow-Kommission“ eigentlich zu klären hatte und mit dem „Dokumentationszentrum Diktatur und Geheimpolizei“ in ihrem Votum beantwortet sah. 172 In jüngster Zeit: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta 2010; Maier, Christian: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München: Siedler 2010; Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München: Beck 2011 und Knigge, Volkhard (Hrsg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung. Köln u.a.: Böhlau 2011. 173 Zum Selbstverständnis der BStU vgl. deren Online-Eintrag unter N.N.: „Aufgaben, Geschichte und Struktur“ auf bstu.bund.de (URL: http://goo.gl/jrHHS [18. 7. 2013]).
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Marianne Birthler hatte sich zuvor in einer Presseerklärung positiv gegenüber dem Expertenvotum und den darin vorgeschlagenen Themenkomplexen geäußert. Auch am Tag der öffentlichen Anhörung sah sie den „gesetzliche[n] Auftrag der BStU, die Öffentlichkeit über Strukturen, Methoden und Wirkungsweise des MfS zu unterrichten“ in dem Expertenvotum realisiert und sprach sich für eine Umsetzung der Vorschläge im Haus 1 der Berliner Normannenstraße aus, da eine gelungene Erinnerung „den authentischen Ort“ bräuchte.174 Das Haus 1 in der Normannenstraße wurde bereits in dem Expertenvotum als ein solcher „authentischer Ort“ vorgeschlagen, handelte es sich dabei doch um die ehemalige MfS-Zentrale Ostberlins.175 Des Weiteren befürwortete Birthler, den Zeithorizont der Auflösung ihrer Behörde selbst zu überlassen, da nicht von außen bestimmt werden sollte, wann deren Arbeit getan ist. Hartmut Weber vom Bundesarchiv betonte im Anschluss an Birthler, dass der Übergang der Stasi-Unterlagen in den Bestand des Bundesarchivs bereits im Einigungsvertrag festgelegt und der Zeitpunkt „von der Politik zu bestimmen“ sei, sich jedoch „an der Erfüllung der Kernaufgaben der BStU zu orientieren hat“. Auch sollten nach Weber die „Stasi-Unterlagen zentraler Provenienz […] in Berlin zugänglich“ gemacht werden und einen eigenen Bestandskörper bilden.176 Neben dieser Frage des Archivs war weiterhin die Frage der Vernetzung virulent. Zumindest aus Sicht der Gedenkstätte Hohenschönhausen war eine ausreichende Vernetzung auch mit der BStU bereits in vollem Umfang gegeben, sofern eine solche Kooperation für sinnvoll erachtet wurde.177 Vertreter zivilgesellschaftlich geführter Gedenkstätten außerhalb Berlins verlautbarten, dass eine Berlinzentriertheit, wie sie das Expertenvotum vorschlug, nicht zwangsläufig sinnvoll sei. Dazu wünschten sich viele der Angereisten eine stärkere Einbeziehung gerade in den subventionierten Bereich der Gedenkstättenförderung. 178 In diesem Punkt blieb die Anhörung ohne Kompromiss und ohne direkte Konsequenzen. Bis heute findet sich weder einer der vorgeschlagenen Themenkomplexe in einem Netzwerk wieder, noch wurde ein solcher institutionell in der fortgeschriebenen Gedenkstättenkon-
174 Die öffentliche Anhörung vom 6.6.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 101. 175 „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“. Die öffentliche Anhörung vom 6.6.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 37. 176 Die öffentliche Anhörung vom 6.6.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 102-105. 177 Ebd., S. 114, vgl. auch Rudnick 2011 und den darin geschilderten Kampf um öffentliche Gelder am Beispiel von sechs Gedenkstätten (darunter auch Hohenschönhausen und die „Runde Ecke“ in Leipzig). 178 Die öffentliche Anhörung vom 6.6.2006. In: Sabrow u.a. 2007, S. 139f., S. 150 und S. 154.
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zeption des Bundes aufgenommen. Eine Restrukturierung der Finanzierungswege im Sinne des Expertenvotums wurde ebenfalls nicht umgesetzt. Was blieb also von dem Expertenvotum? „Der Streit um die DDR-Geschichte […] wird wohl noch mindestens 50 Jahre dauern“, schrieb Evelyn Finger über die öffentliche Anhörung resümierend in der Zeit.179 Darin hieß es weiter: „Er [d.h. der Streit] lässt sich durch keine Expertenkommission verkürzen und durch keinen Geschichtsverbund beenden.“ Diese Bewertung würde wohl auch die Expertenkommission mit all ihren Mitdiskutanten teilen, verstand sie sich doch selbst nicht als „Schlusstein“ der Geschichtspolitik zur DDR. Ihre kosmopolitische Leistung wurde dann auch von Finger gewürdigt: „Sie [d.h. die öffentliche Anhörung] zielte nicht auf faulen Konsens, sondern lebte von jener Vielzahl der Perspektiven, aus denen ein ernst zu nehmendes Geschichtsbild sich zusammensetzt.“180 Der Mobilisierungsgrad des Expertenvotums und der Anhörung war durchaus erstaunlich hoch: Fast sämtliche Repräsentanten der DDR-Erinnerungslandschaft, unterschiedlichste Paradigmen, Politiker und Museumsvertreter, ganze Tatsachen über Alltag und Repression in der DDR, Zeitzeugen aus der DDR-Opposition und Opfer des MfS, weiter wirkende „Nomenklaturkader“, Zielgruppen der nächsten und übernächsten Generation, „authentische“ und „auratische“ Orte, Ost- und Westdeutsche Geschichtsbilder, Archivare, Gutachten und Historiker unterschiedlichster Denkstile. Nun wurden die Empfehlungen der Kommission „an die Politik“ weitergereicht. Nach dem kosmopolitischen Parlament der öffentlichen Kontroverse folgte die Entscheidung im institutionellen Parlament des Deutschen Bundestages. Es wäre jedoch vereinfacht zu behaupten, dass dort Geschichtspolitik entschieden würde. Dort verhandelte man über die Verteilung von Ressourcen und verknüpfte diese mit unterstützenswerten Konzepten, die nicht zuletzt im 2008 fortgeschriebenen Gedenkstättenkonzept des Bundes formuliert wurden. Dass Geschichtspolitik als Kosmopolitik darüber hinaus geht, dass es sich vielmehr um eine Kontroverse handelt, die ebenso öffentlich und öffentlichkeitswirksam wie fachlich ausgetragen wird, dass sie durch kein Konzeptpapier und keine Parlamentsabstimmung beendet wird liegt daran, dass Geschichtspolitik eben nicht nur mit und von Politikern betrieben wird, sondern ebenso mit und von Wissenschaftlern, Zeitzeugen, Radiosendern, Zeitungen, Zeitschriften und anderen Mittlern des historischen Wissens. Was die DDR war und sein wird, ist keine reine Frage der Abstimmung oder der Verteilung von Geldern. Was die Kontroverse über die „Sabrow-Kommission“ vielmehr gezeigt hat ist, dass Geschichtspolitik dann ihre Tatsachen herstellt, 179 Finger, Evelyn: DDR und kein Ende. Die Opfer des Stalinismus müssen endlich anerkannt werden. In: Sabrow u.a. 2007, S. 300f. 180 Ebd.
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wenn sie die Geschichte nicht zu einem realpolitisch normierten Matter of Fact, sondern zu einem kosmopolitischen Matter of Concern, einem „Ding von Belang“ erklärt. Warum war die DDR ein „Ding von Belang“? Weil sie keine abgeschlossene Tatsache war. Sie musste, wie jede Tatsache, zunächst hergestellt, fabriziert, gestaltet und geformt werden. Und genau darin besteht die politische Epistemologie der Geschichtspolitik, die eben nicht versucht, ihren Gegenstand zu homogenisieren und den Prozess ihrer Herstellung als Tatsache zu beenden, sei es durch einen institutionellen Parlamentsbeschluss oder gar ein Dekret (wenngleich dies sicherlich im Interesse einiger Akteure lag und liegt). Im Gegenteil: Erst dadurch, dass die DDR als Tatsache kontrovers gehalten wurde, formbar blieb und als unabgeschlossen gedacht wurde, konnte sie zum Gegenstand von Geschichtspolitik werden. Ein „Schlussstrich“ unter die DDR als Geschichtsobjekt zu setzen hieße, sie jedem politischen Zugriff zu entziehen und damit das Handlungsfeld Geschichtspolitik zum Schweigen und Erlahmen zu bringen. Die Realität der DDR, ihre Gegenwärtigkeit, ist bedingt durch ihre riskante Präsenz, die sich einerseits hantologisch begründet, indem sie die Gegenwart mit ihrer Vergangenheit vermischt und dadurch ein paradoxes Zeiterleben hervorruft, das politisch und ästhetisch gestaltet werden muss; andererseits epistemologisch, indem nicht immer klar, jedoch zu klären ist, was die DDR war, und wie sie zu verstehen, zu erklären, zu zeigen sei. Die DDR ist unter diesen Bedingungen ein Hybrid aus Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft, da sie für die Geschichtspolitik gleichzeitig zu jeder dieser Zeiteinheiten gehört und, darin besteht das geschichtspolitische Handeln, mit diesen in Einklang gebracht werden soll. Das ist vielleicht die in diesem Zusammenhang interessanteste Bedeutung des Wortes „repräsentieren“: den Dingen wieder eine Präsenz zu verschaffen, sie ins Präsens zu setzen. Wodurch geschieht dies? Wie sieht diese Präsenz aus? Wie kann etwas präsent sein, das nicht mehr da ist? Die Befürchtung einiger Kritiker des Expertenvotums, mit einer Historisierung sei die Absenz epistemologisch besiegelt, die DDR aus der Gegenwart ausgeklammert, beharrte aus gutem Grund auf der Annahme, dass die DDR in Gestalt ehemaliger MfS- und SED-Kader weiterhin existiere, dass die totalitäre DDR nie eine historische Abwesenheit erlebt habe und auch in Zukunft nicht damit zu rechnen sei. Dadurch, dass diese Position die Absenz leugnet, erklärt sie die Präsenz der DDR. Was also war die DDR? Wie soll sie vermittelt werden? Wer soll über, wer für sie sprechen dürfen? Welches Sprechen ist auszuschließen? Welche Ressourcen sind zu verteilen? Welche Räume sind gestaltbar und als Vermittler geeignet? Die Kontroverse um die „Sabrow-Kommission“ lieferte zu diesen Fragen eine Fülle von möglichen Antworten, jedoch keine endgültige Festlegung. Sie illustrierte vielmehr ein Panorama an Möglichkeiten und Problemen der DDR als Erinnerung, als Geschichte, als Politikum und als Tatsache. Und gerade deshalb ist die Kontroverse
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um das Expertenvotum so interessant für das „Erinnerungsjahr“ 2009. Die DDR kontrovers zu halten, eben keine abschließenden Antworten zu finden, sondern die Fragen und Probleme ihrer Historisierung, Epistemologisierung und Politisierung offen zu lassen, kurz: Die DDR eben geschichtspolitisch als riskant und prekär zu verstehen, sicherte ihren Stellenwert als Gegenstand von Geschichtspolitik. Das „Erinnerungsjahr 2009“ war vor dem Hintergrund dieser Kontroverse ein erneuter und groß angelegter Versuch, die DDR geschichtspolitisch weiter zu verankern. Wie gezeigt werden wird, tauchten dabei nahezu die gleichen Kontroversen wieder auf, die rund um die „Sabrow-Kommission“ geführt wurden. Das Besondere am „Erinnerungsjahr“ war, dass 2009 der Ausgangspunkt der Geschichtspolitik klar definiert wurde, und zwar von den anstehenden Jubiläen von Friedlicher Revolution und Mauerfall her, die sich beide zum zwanzigsten Mal jährten. Dadurch wurde eine nahezu teleologische Sicht auf die DDR evoziert, die auf den Zeitraum ihres Endes, ihres Verschwindens und Untergehens fokussierte. Die DDR aus diesem Blickwinkel zu historisieren, zu ästhetisieren und zu politisieren führte zu einigen Verschiebungen in der Kontroverse, die nun ihre Konturen zeigten.
Drittes Kapitel Die DDR in der Geschichtspolitik des „Erinnerungsjahres 2009“
Zu Beginn ein kurzes Gedankenspiel: Man stelle sich vor, ein Archäologe stünde vor der Aufgabe, die Zeitschicht des „Erinnerungsjahres 2009“ freizulegen und zu klassifizieren. Was würde er entdecken? Diese archäologische Aufgabe, die sich im folgenden Kapitel stellt, ist die Freilegung des Verständnisses von Geschichte und Politik im „Erinnerungsjahr 2009“. Allerdings liegt kaum eine archäologische Schicht in klassifizierten und wohlgeordneten Bereichen vor. Vielmehr erwartet den Archäologen ein Durcheinander von Artefakten, deren Sinn und Zweck innerhalb dieser Schicht und deren Beziehungen zueinander noch fragmentiert erscheinen. Erst der archäologische Blick wird diese Beziehungen, Sinne und Zwecke herstellen. Diese Methode ist theoretisch immer die gleiche, unabhängig davon, ob die Zeitschicht auf 2009, 1909 oder 9 nach Christus datiert wird. Der Unterschied liegt lediglich in den Phänomenen und Artefakten, die sie entdeckt, da diese jeweils anderen Zeitschichten zugehören. Aus diesem Grund wird das folgende Kapitel eine zeitgeschichtliche Archäologie vornehmen. Widmete sich das vorangegangene Kapitel einer diachronen Tiefenzeit1 der Geschichtspolitik zur DDR seit 1989, wird sich diese Untersuchung im Folgenden der synchronen Zeitschicht 2009 zuwenden. Dabei soll untersucht werden, wie sich diese Zeitschicht ordnen lässt, welche Reihe von Phänomenen sich in der Geschichtspolitik dieser Zeitschicht finden, wie sich ihre Verknüpfungen zuei1
Der Begriff „Tiefenzeit“ geht auf den schottischen Geologen James Hutton zurück, der im 18. Jahrhundert die Vorstellung einer sich entwickelten Erde entwarf, die Schichtablagerungen anhäufte, an denen die Erdzeitalter abgelesen werden konnten. Hutton verwarf damit die zuvor populäre Vorstellung einer zyklischen und katastrophischen Zeit zu Gunsten eines prozessualen Werdens der Erde. Vgl. Repcheck, Jack: The man who found time. James Hutton and the discovery of earth’s antiquity. New York: Basic Books 2009.
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nander darstellen und, schließlich, welche Reihen an Artefakten und Aussagen sich zu 1989 darin ausmachen lassen. Die Archäologie, die dabei betrieben wird, ähnelt der „Archäologie des Wissens“2, wie sie Michel Foucault vorgeschlagen hat. Dass Foucault dabei eine nicht nur etymologische, sondern auch methodische Verknüpfung von Archäologie und Archiv vorgenommen hat, kommt den hier vorgeschlagenen Analysen für das Verhältnis von Geschichte, Gedächtnis und Politik zugute, denn alle drei Begriffe lassen sich im griechischen arché fassen, das sowohl „Ursprung“ als auch „Herrschaft“ bedeuten kann. Wenngleich beide Begriffe, Ursprung und Herrschaft, philosophisch mehr als problematisch sind 3, verweisen sie doch in ein und demselben Wortstamm auf die Verbindung von Vergangenheit und Politik – oder kurz: Geschichtspolitik. Foucaults Idee war es, eine Archäologie zu betreiben, die Dokumente einer Zeit- oder Tiefenschicht zu Monumenten des Denkens und Handelns, Wissens und Sprechens ordnet. Dies ist, was Foucault letztlich Diskursanalyse nennt.4 Im Folgenden wird es also darum gehen, die Serien von Aussagen zu sammeln und zu analysieren, die das Jahr 2009 als „Erinnerungsjahr“ kennzeichnen. Die Frage, wie um 2009 Erinnerung und Historisierung als politische Praxis verstanden, begriffen und umgesetzt wurden, steht dabei ebenso im Fokus wie die Frage, welche Möglichkeiten der Bezugnahme und Assoziation sich in diesem Diskurs über Erinnerung, Historisierung und Politik ergaben. Kurz: Was war das Spezifische des Erinnerns, der Historisierung und der Geschichtspolitik in 2009? In einem zweiten Schritt wird anhand der sogenannten „Unrechtsstaatsdebatte“ untersucht, auf welche Art und Weise in diesem spezifischen Kontext das Sprechen über die DDR möglich war, um letztlich, zu Derrida zurückkehrend, die Frage nach dem „Spuk“ zu stellen, der die DDR-Erinnerung um 2009 heimsuchte.
2 3
Vgl. Focault 1981. Foucault selbst weist darauf mehrfach hin. In der „Archäologie des Wissens“ wird allerdings in erster Linie eine Vorstellung von positivistischer Ursprünglichkeit problematisiert, vgl. ebd., S. 199f. Zur Problematik eines hierarchischen Machtbegriffs, vgl. vor allem Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 93-102.
4
Foucault 1981, S. 14ff.
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D IE AUSWEITUNG DER G ESCHICHTSZONE – 2009 ALS J AHR DES E RINNERNS „2009 ist in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Jahr“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede zum Empfang des deutschen Wissenschaftsrats am 29. Januar 2009.5 Die Gründe dafür waren laut Merkel folgende: „[E]rstens wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, zweitens wegen der vielen Wahlen [...] und drittens, weil die Bundesregierung 60 Jahre alt wird und die Mauer am 9. November vor 20 Jahren gefallen ist.“6
Aus Sicht der Regierungschefin handelte es sich bei 2009 also zunächst nicht um ein reines „Erinnerungsjahr“. Vielmehr wurde dieses flankiert von der seit 2008 anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise, die mit der Insolvenz der amerikanischen Investmentbank „Lehman Brothers“ im September 2008 ihren ersten Tiefpunkt erreichte, sowie dem „Superwahljahr 2009“, in dem nicht nur eine Europa-, Bundestags- und Bundespräsidentenwahl, sondern auch etliche Landtags- und Kommunalwahlen7 anstanden. Wenn es nun im Folgenden darum geht, die politische Rolle des Erinnerns und Historisierens im Kontext des „Erinnerungsjahres 2009“ genauer zu beleuchten, dann in dem Bewusstsein, dass diese Geschichtspolitik wiederum selbst im Kontext anderer Politiken stattfand. Die kontextuelle Verknüpfung zwischen „Erinnerungsjahr“, „Superwahljahr“ und Wirtschaftskrise, die von Merkel in obigem Zitat geleistet wurde, wäre schon eine beispielhafte geschichtspolitische Assoziation, deren Möglichkeiten dadurch bei weitem noch nicht ausgeschöpft waren. In dieser Verknüpfung war Geschichtspolitik, war das Jubiläum zum Mauerfall nicht ohne Finanzkrise, „60 Jahre Grundgesetz“ und Wahlurnengänge zu haben. Dass aus diesen Assoziationen eine eigene geschichtspolitische Semantik und Praxis zur DDR und zu 1989 entstand, machte die Spezifik des „Erinnerungsjahres 2009“ aus:
5
Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Empfang der Mitglieder des Wissenschaftsrats am 29. Januar 2009 in Berlin. Nr. 14-2 vom 31. Januar 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
6 7
Ebd. Landtagswahlen fanden in Hessen, Sachsen, Thüringen, Saarland, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern statt, Kommunalwahlen in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Vgl. Sattar, Majid: Der Wahlkampf hat begonnen. FAZ am 28.5.2008.
108 | 1989 UND WIR „2009 versprach ein Jahr der geschichtspolitischen Erregungen und Auseinandersetzungen zu werden. Denn wann fallen schon ein Superwahljahr und ein Supergedenkjahr zusammen. […] Doch über nahezu allen geschichtspolitischen Wipfeln ist Ruh. […] Warum, so ist vor diesem Hintergrund zu fragen, kam es bislang nicht zu dem befürchteten ‚absoluten Erinnerungsernstfall’? Warum greift bis heute keine ‚Geschichtsseligkeit’ […] um sich, wo doch Film und Fernsehen uns auf geschichtsträchtige Feiern und geschichtspolitische Reden in der letzten Zeit so eingestimmt haben?“8
Diese zwischen Empörung und Perplexität rangierende Diagnose zur geschichtspolitischen Lage des „Erinnerungsjahres 2009“ stammte von dem Historiker und damaligen Landtagsabgeordneten der SPD im Nordrheinwestfälischen Landtag Karsten Rudolph und wurde unter dem Titel „1949-1989-1929 – Gedenken im Zeichen der Krise“ veröffentlicht. Rudolph beantwortete die von ihm gestellte Frage nach den Gründen des Ausbleibens eines „absoluten Erinnerungsernstfalls“ gleich selbst: „Der erste Grund ist, dass es für die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger immer noch zwei deutsche Geschichten gibt. Die Ostdeutschen sind natürlich herzlich eingeladen, der westdeutschen Staatsgründungfeier beizutreten, doch ebenso klar bleibt: Bonn war nicht Ostberlin! Mit der doppelten Staatsgründung trennten sich die Wege. Die demokratische Revolution in der DDR war hingegen nicht das Werk westdeutscher Regierungskunst sondern ostdeutschen Mutes. […] Der zweite Grund für die gedämpfte Erinnerung an runde Jubiläen liegt in dem historisch-politischen Komplex begründet, in dem Wissenschaft, Gedenkpolitik und Erinnerungskultur […] längst verschmolzen sind. Dieser eigenständige Komplex entzieht sich offenbar der leichten parteipolitischen Beeinflussung und beugte der Instrumentalisierung von Jubiläen zu geschichtspolitischen Zwecken vor.“ 9
Mit seinem Essay-Titel „1949-1989-1929“ schloss sich Rudolph wiederum der oben zitierten Kennzeichnung des „Erinnerungsjahres 2009“ durch Angela Merkel an. Wie kam es zu dieser Assoziation, die Rudolph in seiner titelgebenden anachronistischen Verkettung der Jahreszahlen („1949-1989-1929“) prägnant verkürzend darstellte? Und welche Erwartungen waren es, die Rudolph dazu veranlassten, von einer „gedämpfte[n] Erinnerung“ zu sprechen, wo doch scheinbar das „Erinnerungsjahr 2009“ so übervoll an Historisierung und Erinnerung zu sein schien? Ungeachtet der Frage, ob sich Rudolphs Analyse empirisch halten lässt, kennzeichnete sie zumindest eine klare Idee von Geschichtspolitik: Einerseits sollte ein Erinnerungsjahr politische Kontroversen über Geschichte und Erinnerung produzieren, andererseits sollte Erinnerung in der aktuellen Politik des Wahljahres aufgehen. 8
Rudolph, Karsten: 1949-1989-1929. Gedenken im Zeichen der Krise. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 5/2009, S. 28.
9
Ebd., S. 28f.
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Laut Rudolph konnte beides zum Zeitpunkt der Diagnosestellung (der Text wurde im Mai 2009 veröffentlicht) noch nicht festgestellt werden. Die Gründe dafür, eine getrennte Erinnerung und eine komplexere Geschichtspolitik, muten dabei nicht zwingend schlüssig an – zumal seit 1989 die DDR-Erinnerung und die daran angeschlossene Geschichtspolitik alles andere als konsensual war, wie nicht zuletzt die Geschichte der „Sabrow-Kommission“ zeigte. Die geteilte Erinnerung (1949 im Westen, 1989 im Osten) müsste im Grunde gerade diese Kontroverse produzieren können, zumal in der Geschichtspolitik seit 1989 der Topos der „inneren Einheit“ in einer, im anderen Wortsinn, geteilten (sprich: gemeinsamen, vermittelten) Erinnerung besonders gut zur Entfaltung gelangen sollte. Laut Rudolph war jedoch das Gegenteil der Fall: Erinnerung schafft keine Vergemeinschaftung, sondern ist in ihrer regionalen Geteiltheit Symptom dieser Differenz, die sie weiterhin politisch produziert. Interessanterweise weitet Rudolph diese Diagnose in seiner zweiten Begründung zusätzlich auf den Anteil der Wissenschaft an der Geschichtspolitik aus. Dieser „historisch-politische Komplex“, der zudem gegenüber der parteilichen Politik „eigenständig“ sei, verhindere eine kontroverse Geschichtspolitik, indem er das Historische von jeder Instrumentalisierung ausnehme. Ohne dass Rudolph greifbare analytische Komponenten dieses Komplexes benennen würde, hat dieser prinzipiell große Ähnlichkeit mit dem, was in den vorangegangenen Kapiteln als Kosmopolitik bezeichnet wurde. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass die Kosmopolitik gerade in der Lage ist, Kontroversen hervorzubringen und in eine politische Epistemologie umzuwandeln. Für Rudolph schien es jedoch keine politische Epistemologie zu geben, da diese Vermischung von Wissenschaft und Politik nicht Beredtheit, sondern Schweigen über ihre Matters of Concern hervorbringe, diese also gar nicht als politische Dinge begreife. Das „Erinnerungsjahr 2009“ war demnach aus Rudolphs Sicht nicht ursächlich politisch. Wenn aber nicht das „Erinnerungsjahr“ selbst politisch war, wie konnte es dann politisiert werden? Hier brachte Rudolph, wie auch Merkel, den Kontext ins Spiel, der neben dem Politischen (z. B. Wahlen) und der geteilten Erinnerung für 2009 geltend gemacht werden konnte: „Der dritte und wichtigste Grund ist jedoch: Nicht das Superwahljahr formt das Supergedenkjahr (oder umgekehrt). Das Superkrisenjahr macht Geschichte und gibt die Themen für das lange Wahljahr vor. […] Der Blick senkt sich auf 1929 nicht auf 1949 oder 1989. […] Zu befürchten steht, dass die republikanische Großerzählung deshalb wieder nicht gelingen wird. Gerade sie könnte zu einem wachen historischen Interesse, zu einem vitalen politischen Selbstverständnis und einem demokratischen Selbstbewusstsein der Deutschen beitragen, und es unabhängiger von den wirtschaftlichen Zeitläufen machen.“10 10
Ebd., S. 29f.
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1929 war das andere Chiffre des „Erinnerungsjahres 2009“, da sich dort Gedenken und Historisierung der Weltwirtschaftskrise 1929 mit der aktuellen Lage der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 kreuzten. Laut Rudolph dominierte dieses Krisenchiffre den politischen Diskurs des „Erinnerungsjahres“ – und damit auch den der Geschichtspolitik. Denn die Weltwirtschaftskrise verhindere die „republikanische Großerzählung“ und, im Anschluss daran, eine politische Historisierung und tatsächlich geteilte Erinnerung. Nun muss der Essay von Karsten Rudolph nicht zwangsläufig als Schlüsseltext geschichtspolitischer Diagnostik im „Erinnerungsjahr 2009“ gelten. Allerdings klangen in ihm nochmals die Verknüpfungen von Wahlkampf, Finanzkrise und Erinnerungskultur nach, die bereits Angela Merkel im eingangs zitierten Redebeitrag geleistet hat, sodass von einer latenten Diskursformation ausgegangen werden kann, von der sich die hier angeführten Gewährsleute einige Resonanz versprachen. Diese Diskursformation wiederum konnte als kennzeichnend für das „Erinnerungsjahr 2009“ gelten. Wie ist es also zu erklären, dass eine gegenwärtig Empfundene Krise sich mit einer historisierenden Erinnerung verknüpfte? Wie standen ökonomische Verhältnisse zu „republikanischen Großerzählungen“? Wie verteilte sich dieser Diskurs auf die massenhafte Produktion von Politik im Wahlkampf? Die Antwort liegt – und das ist auch das Prototypische an Rudolphs Beitrag zur Geschichtspolitik 2009 – in der Art, wie Erinnerung politisiert werden konnte. In den vorangegangenen Kapiteln ging es darum, Geschichtspolitik als einen Modus von Politik zu bestimmen. Daraus ergab sich wiederum eine bestimmte Art, die DDR und 1989 als geschichtspolitisch zu begreifen. Dabei zeigte sich, dass sich im kosmopolitischen Begriff von Geschichtspolitik Historizität auf mehr Bereiche ausweitet als bloß institutionell-politische oder -wissenschaftliche. Es zeigte sich auch, dass die Meinungen und Propositionen sowie Akteure mit Bezug zu den historisierten Gegenständen nicht weniger, sondern mehr werden. Eine effiziente Geschichtspolitik erweitert ihren Skopus, forciert soziale, semantische und technische Mobilisierung. Sie schafft Verknüpfungen, Relationen, Referenten. Oder wie Jacques Rancière es prägnant ausdrückt: „Die Politik ist nicht aus Machtverhältnissen, sie ist aus Weltverhältnissen gemacht.“11 Wenn sich also der Themenband der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte im Mai 2009 unter dem Titel „Geschichte.Macht.Politik“ dem „Jahr der Jubiläen“12 widmete, verfehlte er mit diesem beliebten, aber analytisch stark verkürzenden Wortspiel das Eigentliche der Geschichtspolitik. 11 12
Rancière 2002, S. 54. Vgl. Editorial. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 5/2009, S. 1. Allerdings lieferte die gesamte Ausgabe keine Erklärung, wie das Verhältnis von Geschichte, Macht und Politik begrifflich wie praktisch aussehen könnte.
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Was heißt es, wenn Geschichte Politik „macht“? Bei Rudolph klang eine Antwort schon an: Sie schafft Vergemeinschaftung. Geschichtspolitik ist keine Arena des Kampfes, Geschichte keine „Waffe“, Politik kein Krieg gegen den „Anderen“. Diese agonale Struktur des Politischen denkt asymmetrisch, hierarchisch und klassifizierend: Sie schafft Inkommensurabilitäten. Darum ging es 2009 nicht, wenn es um das Politische des Erinnerns zu tun war. Die Ausweitung der Zone der Geschichtspolitik war, frei nach Michel Houllebecq, keine „Ausweitung der Kampfzone“13. Es ging vielmehr darum alte, teils historisch gewachsene Inkommensurabilitäten auszuräumen. Gerade das ist es, was mit der großen „republikanischen Erzählung“ Rudolphs gemeint war: Ein Identifikation stiftendes Moment des Erinnerns. 1949 und 1989 waren in dieser Hinsicht keine Konkurrenten, sondern bezogen sich aufeinander. Gleiches galt für die Assoziation 1929/2009. „Weltkrisen 1929/2009 – Wiederholt sich die Geschichte doch?“14 titelte der Spiegel im April 2009 – und schürte damit sogleich die moderne Angst vor dem zyklischen Geschichtsverlauf. Begleitet wurde diese Titelstory von einer Fotografieserie, die Ereignisse aus 1929 und 2009 parallel montierte, um ihre Symmetrie zu beleuchten.15 Die Überschrift des Titels lautete dann auch „Unheimliche Parallelen“.16 Im modernen Chronotop mussten diese Parallelen geradezu unheimlich, ja gespenstisch erscheinen – und damit als Derridas hantologisches Problem der Wiederholung und Wiederkehr in den Erinnerungsdiskurs eingehen: „Frage der Wiederholung: Ein Gespenst ist immer ein Wiedergänger. Man kann sein Kommen und gehen nicht kontrollieren, weil es mit der Wiederkehr beginnt.“17 Geschichtspolitik, wie sie oben definiert wurde, ist der Versuch, diese Wiederkehr zu organisieren und sorgt dafür, dass die Gegenwart sich gegenwärtig bleibt. Dieser Gedanke stellt implizit das philosophische Substrat der Verknüpfung von Geschichte als vergemeinschaftende Erzählung und der Ökonomiekrise von 2009 dar, das der Gefahr einer Wiederholung von 1929 – und sei es nur als historisches Chiffre und nicht als faktisch gleiches Ereignis – entgegen gehalten werden sollte. 13
Vgl. Houllebecq, Michel: Die Ausweitung der Kampfzone. Hamburg: Rowohlt 2000.
14
Vgl. Der Spiegel 18/2009, Titelbild.
15
Als Parallelmontagen zu sehen waren dort u.a. streikende Arbeiter von Opel (2009) und Arbeitssuchende US-Bürger (1933), die US-Präsidenten Roosevelt (1933) und Obama (2009) oder Geschäftsauflösungen 2009 und im Berlin der Zwanziger Jahre, vgl. Dettmer, Markus/Falksohn, Rüdiger/Jung, Alexander/Neubacher, Alexander/Schmitz, Gregor Peter/Stark, Holger/Steingart, Gabor: Unheimliche Parallelen. Der Spiegel 18/2009
16 17
Ebd. Derrida 2004, S. 26 (Hervorhebungen im Original). Dass es sich bei Derrida gerade um „Marx’ Gespenster“, also das „Gespenst des Kommunismus“ wider den Kapitalismus handelt, ist eine bemerkenswerte Koinzidenz.
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So konstatierte auch der damalige Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede zu den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze am 27. Juni 2009 in Budapest: „Die Krise [d.h. Finanz- und Wirtschaftskrise] testet unsere Kraft, unseren Willen zur Eigenanstrengung und unseren Gemeinschaftsgeist. Sie stellt uns alle vor Aufgaben, die keiner uns abnimmt. Aber ich bin überzeugt: Wir können und werden die Probe bestehen und dadurch Europa stärker zusammenbringen.“18
Köhler ging dabei sogar einen Schritt weiter als zuvor beispielsweise Rudolph. Denn die Erzählung, die Köhler vorschwebte, war keine „republikanische Großerzählung“ im Sinne einer bundesrepublikanischen Perspektivnahme, sondern richtete sich auf ein europäisches Erinnern – und damit auf eine europäische Vergemeinschaftung. Wenn Köhler also auf einer Gedenkveranstaltung zum zwanzigsten Jahrestag der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze davon sprach, dass die Krise der Ökonomie „unseren Gemeinschaftsgeist“ teste, dann meinte er einen dezidiert europäischen Gemeinschaftsgeist. Auch hier wurde die Verknüpfung von ökonomischer Krise der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit mit zukünftigen Formen der Vergemeinschaftung verbunden. Köhler wiederholte diese Assoziation in seiner mit „Die Verfassung der Freiheit“ überschriebenen Rede zum Staatsakt des sechzigjährigen Jubiläums der Bundesrepublik am 22. Mai 2009 in Berlin: „Wir sind eine freie, geeinte Nation, und wir sind glücklich darüber. Dabei wissen wir: Ohne unsere Freunde in Europa, ohne die europäische Friedensordnung und den Gemeinsamen [sic] Markt hätten wir vieles nicht erreicht. Deshalb stehen wir zu unserer Verantwortung als Motor der europäischen Einigung. Deshalb liegt uns am Herzen, was aus Europa wird. Und deshalb sollten wir alle am 7. Juni zur Europawahl gehen und damit ein Zeichen setzen. Auch da entscheidet sich unsere Zukunft.“19
Auch hier tauchten Europa, Markt und Wahlen im Kontext einer Gedenkveranstaltung auf, die in ihrer Assoziation von Köhler als zukunftsweisend deklariert wur18
Köhler, Horst: Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Öffnung der ungarisch österreichischen Grenze am 27. Juni 2009 in Budapest. Nr. 77-1 vom 29. Juni 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
19
Köhler, Horst: Festansprache von Bundespräsident Horst Köhler beim Staatsakt zum 60-jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland am 22. Mai 2009 in Berlin. Nr. 61-1 vom 22. Mai 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
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den. Darin enthalten war auch ein Hinweis auf das mögliche Selbstverständnis der Bundesrepublik als „Motor der europäischen Einigung“: Eine historisch gewachsene Verantwortung, die in der Erinnerung an die Geschichte gerade des 20. Jahrhunderts aufrechterhalten werden sollte.20 Die Schaffung einer europäischen Integration durch Erinnerung transzendierte dadurch gewissermaßen den Tellerrand einer „republikanischen Großerzählung“, wie sie aus dem „Erinnerungsjahr 2009“ mühelos hätte gemacht werden können. Auch in dieser Hinsicht erwies sich das „Erinnerungsjahr“ als Ausweitung des Historischen – in diesem Fall über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus mit Blick auf Europa und einem Gespür für Globalität (eben jene „Weltverhältnisse“, von denen Rancière allerdings noch in einer philosophischen und nicht topographischen Idee von „Welt“ spricht). 21 Dabei trat Europa allerdings nicht als stabile Konstante, sondern als „Aufgabe“ für die Zukunft auf: „Nehmen wir die Aufgabe [d.h. die europäische Einigung] an, in unseren Heimatstaaten und auf europäischer Ebene. Das liegt im Interesse unserer Kinder und Enkel, unserer Völker und ganz Europas. Es dient zugleich dem guten Miteinander in unserer Einen Welt. Nehmen wir die Aufgabe an! Ich gehe noch weiter: Wir sind diese Anstrengung und diese Bewährung schuldig. Wir schulden sie uns selbst als Patrioten und Bürger der Europäischen Union; wir schulden sie der Ehre der Gegner und Opfer der Unterdrückung; und wir schulden sie der großen Freiheitsbewegung, die vor 20 Jahren Europa den Weg ins Offene gebahnt und uns
20
Wie auch Helmut Kohl nicht müde wurde in seinen Memoiren an 1989/90 zu betonen, verstand er die deutsche und europäische Einheit als „zwei Seiten derselben Medaille“ und als Grundidee des „gemeinsamen Haus Europa“. Vgl. Kohl, Helmut: Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen. München: Knaur 2009, S. 14. Diese dialektische Medaillen-Metapher griff auch Angela Merkel wieder auf: „Ich glaube, wenn man sich einmal überlegt, dass wir in diesen Tagen an 60 Jahre Grundgesetz und an 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland denken, dann haben wir wirklich einen Grund zur Dankbarkeit dafür, dass wir in Einigkeit und Recht und Freiheit seit nunmehr fast 20 Jahren leben dürfen und dass schon seit 60 Jahren immerhin ein Teil Deutschlands in Recht und Freiheit leben darf, dass die europäische Einigung und das Bekenntnis zur eigenen Nation keine Gegensätze mehr sind, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille.“ Vgl. Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung der Ausstellung „MYTHOS“ des Lippischen Landesmuseums am 15. Mai 2009 in Detmold. Nr. 58-4 vom 15. Mai 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
21
Für eine jüngere Philosophie der Weltverhältnisse in Form von Globen vgl. Sloterdijk, Peter: Globen. Sphären Band 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004 und Serres, Michel: Atlas. Berlin: Merve 2005.
114 | 1989 UND WIR allen einen neuen, gemeinsamen Horizont erschlossen hat. [...] Blicken wir heute dankbar zurück – und gehen wir morgen weiter gemeinsam voran!“22
Europa als Matter of Concern, als möglicherweise „Kommende Gemeinschaft“, wurde 2009 bereits als Erinnerungskollektiv verstanden. Die Ausweitung des Geschichtlichen betraf jedoch nicht nur die politische bzw. geographische Landkarte sondern auch andere Zeitschichten. Schon bei Karsten Rudolph fand sich die Verknüpfung „1949-1989-1929“. Auch darin war die Globalität der Ereignisse, die sich mit dem Chiffre „Weltwirtschaftskrise“ verbinden ließen, bereits enthalten und implizierte zugleich eine geschichtliche Tiefenzeit dieser Bezugnahme. Dass Europa seine kollektive Erinnerung allerdings nicht nur aus dem 20. Jahrhundert speist, ließ sich an Angela Merkels Redebeitrag zur Ausstellung „Imperium Konflikt Mythos – 2000 Jahre Varusschlacht“ vom 15. Mai 2009 ablesen: „Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass wir heute glücklicherweise in einer friedlichen Zeit leben. Allerdings haben wir das als Germanen eben auch nicht aus eigener Kraft geschafft, sondern es hat des europäischen Gedankens bedurft. Von den Fragen an die Geschichte klingen einige immer noch sehr aktuell. Denn die Welt vor 2.000 Jahren ist zwar mit der heutigen kaum zu vergleichen, aber Kriege gehören eben immer noch zum Alltag. Die Vergangenheit bietet sicherlich keine Lösungen, die einfach auf das Heute zu übertragen sind. Aber sie zeigt anhand einer Fülle von Fallbeispielen, an denen sich der Verlauf der Ereignisse aus sicherem Abstand nachverfolgen lässt, was man aus der Geschichte lernen kann. Deshalb erscheint uns, wenn wir uns mit der Geschichte auseinandersetzen, dann auch manches in unserer Gegenwart in einem klareren Licht. Deshalb freue ich mich sehr, dass hier in Kalkriese die Erkenntnisse über diese Vergangenheit in Europa so umfassend genutzt werden können. [...] Die europäischen Wurzeln werden hier erforscht. Gemeinsam soll aus der Geschichte gelernt werden.“23
Die Kette der historischen Tiefenzeit ließe sich also auch um „9 n. Chr.“ erweitern, ebenso wie 1789, 1848/49, 1919, 1939 und viele Beispiele mehr, die für die Ausweitung der Erinnerung in Raum und Zeit für das „Erinnerungsjahr 2009“ kennzeichnend waren. Möchte man also über die Rolle des Erinnerns als politische Pra22
Köhler, Horst: Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Öffnung der ungarisch österreichischen Grenze am 27. Juni 2009 in Budapest. Nr. 77-1 vom 29. Juni 2009. In. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
23
Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung der Ausstellung „IMPERIUM KONFLIKT MYTHOS. 2000 Jahre Varusschlacht“ am 15. Mai 2009 in Kalkriese. Nr. 58-3 vom 15. Mai 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
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xis in 2009 sprechen, ist die Funktion der Ausweitung des Historischen und Historisierenden in Raum und Zeit, sowie die Verknüpfung der Geschichtspolitik mit anderen Politikfeldern (Ökonomie, demokratische Wahlen und Wahlkampf, Europäische Gemeinschaft, etc.) zu berücksichtigen. Geschichte und Erinnerungen stellen diese Netzwerke her, füllen den Raum zwischen den einzelnen Elementen und verknüpfen, verflechten und verbinden.24 Zwar unterschied Merkel noch die damalige Zeit der Varusschlacht von der heutigen – damalige Probleme und Lösungen seien nicht einfach in die Gegenwart „zu übertragen“ – was dort jedoch schon als Ereignissubstrat vorhanden und daher erinnernswert war, sei der „europäische Gedanke“ der Germanen gewesen. Die Vergangenheit erschien in diesem Abschnitt als ein Inventar von Exempeln, an denen sich gegenwärtige Politiken in 2009 orientieren, aus denen sie „lernen“ könnten. Ein derartiges „gemeinsames lernen“ schaffe ein Erinnerungskollektiv unter dem Dach des „europäischen Gedankens“. Der Topos historia magistra vitae, die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens, hat sich auch in der Geschichtspolitik von 2009 festgesetzt und in das Erinnern als Leitmotiv eingeschrieben. Dies fand sich auch, gerade im Hinblick auf die Schaffung einer europäischen Gemeinschaft im Schatten der Finanzkrise, in Angela Merkels „Humboldt-Rede zu Europa“ am 27. Mai 2009: „Gerade in unserem Jubiläumsjahr – 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall – sollten wir uns noch einmal vor Augen führen, weil wir daraus lernen können und erfahren haben: Wandel und Veränderung zum Guten sind möglich. Das ist für uns Realität geworden. Wandel wird von mutigen Menschen gemacht. Die Kraft der Freiheit ist ihr Antrieb. So war es auch am Beginn der europäischen Einigung. Mutige Menschen haben tiefe Gräben, tiefste Gräben, überwunden und eine friedliche neue Ordnung aufgebaut. Wenn man sich jetzt – im zeitlichen Umfeld des 60. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik – noch einmal Bilder von damals anschaut und sich vergegenwärtigt, [...] dann will man dafür sorgen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Deshalb liegt für mich das eigentlich Verbindende der Europäischen Union in den gemeinsamen Grundwerten,
24
Diese Ausdehnung des Geschichtlichen als Matter of Concern in der Geschichtspolitik vermehrte nicht nur den Skopus der Kollektivität als Gedächtnisgemeinschaft, sondern auch die daran beteiligten Akteure menschlicher und nicht-menschlicher Art. Da dieser Art von Mobilisierung der gesamte zweite Teil dieser Dissertation anhand mehrerer Fallbeispiele im Zentrum der Untersuchung steht, wurde an dieser Stelle nicht nochmals extra darauf hingewiesen.
116 | 1989 UND WIR in einer verlässlichen Rechtsordnung und dem Streben danach, dass Wohlstand für alle geschaffen werden kann.“25
Was Merkel hier in Bezug auf das Erinnerungskollektiv Europa aus dem „Erinnerungsjahr 2009“ ableitete ist nahezu das vollständige Inventar moderner Geschichtsvorstellung: Lernen aus Erfahrung, Wandel und Veränderung als positiver Fortschritt „zum Guten“, der Mensch als treibende Kraft, die Entfaltung hin zur „Freiheit“ und schließlich das Verdikt einer sich wiederholenden Geschichte. Die euklidische Zeit des linearen Pfeils kennt noch einen Endpunkt, ein Telos, eine Utopie, einen noch nicht existierenden Ort der „kommenden Gemeinschaft“: Ein Kollektiv „Europa“, gegründet auf gemeinsame Erinnerung, und daraus erwachsende „Grundwerte“. Dieses Argument griff auch der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert auf: „Wenn Europa heute wieder verstärkt als eine Kultur- und Wertegemeinschaft verstanden wird, dann auch deshalb, weil es ein gemeinsames Gedächtnis gibt. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 ist der Osten in den europäischen Erinnerungshorizont zurückgekehrt – mit Folgen übrigens auch für das nationale deutsche Gedächtnis. […] In der Verbindung der revolutionären Ereignisse von 1989 mit der Erinnerung an 1789 und seiner Ideale lässt sich die wechselvolle Freiheitsgeschichte unseres Kontinents in Ost und West erzählen. Das Gedenkjahr 2009 lädt uns gerade als Europäer dazu ein, nicht nur auf der Basis der leidvollen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern auch und vor allem der erfolgreichen Verbindung von Einheit und Freiheit weiter an unserem gemeinsamen Gedächtnis zu arbeiten und an unserer gemeinsame Zukunft.“26
Dieses Paradigma der Theorie kollektiver Erinnerung fand sich auch in einem Gemeinschaftsbeitrag der Schriftstellerin Elfriede Müller und des ehemaligen Berliner Kultursenators Thomas Flierl für die Vortragsreihe „Politik und Kultur der Erinnerung“ des Kulturforums der Rosa-Luxemburg-Stiftung: „[Eine] Gruppe definiert sich darüber, dass ihre Mitglieder über Gemeinsamkeiten verfügen, die aus vergangenen Erfahrungen, aktuellen Überzeugungen und Analysen resultieren. […]
25
Merkel, Angela: „Humboldt-Rede zu Europa“ von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 27. Mai 2009 in Berlin. Nr. 63-1 vom 27. Mai 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
26
Lammert, Norbert: Bikini-Verkäufer am FKK-Strand? Der Staat und die Erinnerungskultur. In: Wagner, Bernd (Hrsg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2009. Band 9. Thema: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik. Essen: Klartext 2009, S. 38f.
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Das kulturelle Gedächtnis umfasst die Vergegenwärtigung der Vergangenheit und bezieht sich auf Fixpunkte des kollektiv Erlebten.“27
Die Herstellung von Gemeinschaft, von Kollektivität durch Geschichtspolitik folgte, ob auf republikanischer oder europäischer Ebene, genau dieser Logik. Die Annahme, es ließe sich durch eine geteilte, kanonisierte Erzählung28 jede Form ideologischer, mentaler oder topographischer Teilung aufheben und zugleich Identitäten produzieren, bildet nicht selten das Supplement geschichtspolitischer Theorie und Praxis. Diese Art von Vergemeinschaftung wurde jedoch auch mit guten Gründen kritisiert: „[D]ie Beschränkung der Diskussion auf Fragen des Kanons verstellt den Blick auf zentrale Probleme und Reflexionsherausforderungen. Zunächst geht es um die Frage, ob es kollektive Erinnerung tatsächlich gibt. Zweitens müsste ernst genommen werden, dass aus der Tatsache einer europäischen Geschichte nicht automatisch folgt, dass diese in gleicher Weise erfahren wurde und erinnert wird. Drittens kann nicht übergangen werden, dass nicht alle Formen historischen Erinnerns Friedfertigkeit, Zivilität, humane Gesittung und demokratischmenschenrechtliche Kultur fördern. Und – viertens – bleibt deshalb zu bedenken, in welcher Form historisches Erinnern aufklärerisch-emanzipatorischen, kritisch-selbstreflexiven Gehalt gewinnt und behält; sich auch nicht auf die […] kompensatorischen Funktionen verkürzt bzw. geschichtspolitisch verkürzen lässt.“29
Diese Kritik Volkhard Knigges am Denkmodell einer kollektiven Erinnerungsgemeinschaft Europa fußte auf der ähnlich gelagerten Kritik Reinhart Kosellecks an den Theorien eines kollektiven Gedächtnisses, die dahinter einen ausufernden Sozialkonstruktivismus vermutete, der sich empirisch nur schwer belegen lasse und auch keinen Referenten außer eben das mystische „Kollektiv“ habe. 30 Ein kollektives Gedächtnis ließe sich laut Koselleck allein deshalb nicht herstellen, da sich Erfahrungen nicht einfach vermitteln, übertragen und vererben lassen können. Man muss dabei nicht, wie Knigge, so weit gehen, hinter der Konstruktion eines Erinne-
27
Flierl, Thomas/Müller, Elfriede: Kritische Erinnerungskultur. In: Dies.: (Hg.): Vom kritischen Gebrauch der Erinnerung. Berlin: Karl Dietz Verlag 2009, S. 22.
28
Zur Rolle des Kanons bei der Herstellung kollektiver Erinnerung vgl. Assmann 1992, S. 93ff.
29
Knigge, Volkhard: Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung. In: Flierl/Müller 2009, S. 72.
30
Koselleck, Reinhart: Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte. In: von Thadden, Rudolf/Kaudelka, Steffen (Hg.): 60 Jahre nach dem Mai 1945. Göttingen: Wallstein 2006, S. 13-22.
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rungskollektivs im Zweifel einen „totalitären Charakter“ zu vermuten.31 Indes ist erstens zu bezweifeln, ob es so etwas wie eine homogene Erinnerung in einer Gemeinschaft überhaupt geben kann und, zweitens, ob es wirklich Instanzen gibt, die eine solche Kollektivität machtvoll verordnen können. Auch wenn gerne darauf hingewiesen wird, dass demokratische und totalitäre Geschichtspolitiken sich vor allem dadurch unterscheiden, dass erstere plural, zweitere präskriptiv entstehen 32, heißt dies nicht, dass ein Geschichtsbild überhaupt verordnet, eine Gemeinschaft gewaltsam oder total kollektiviert werden kann. Diese Vorstellung von Geschichtspolitik geht erneut davon aus, dass es ein Zentrum der Macht gibt, die eben jene Macht besitzt, Geschichte zu produzieren und Erzählungen aufzuzwingen. Dass Macht allerdings eine Wirkung und keine Ursache ist, dass Macht nicht etwas ist was man besitzt, sondern was hergestellt wird, dass bei dieser Herstellung nicht einfach wenige Eliten, sondern ganze Dispositivkomplexe beteiligt sind – dass also Vergemeinschaftung, sei sie demokratisch oder totalitär organisiert, nicht verordnet werden kann, wurde bereits dargelegt. 33 Auch Knigge bezweifelte letztlich die Realität einer stabilen Kollektivität: „Schlussendlich drohte die von wem auch immer gesetzte verbindliche Erinnerung, Vergangenheit nach ihrem Bilde zu formen und würde dadurch endgültig die kritische Reflexionsprozesse anspornende Spannung zwischen Geschichte und Erinnerung in einem affirmativen Zirkel auflösen. Die aus diesem hermetischen Kurzschluss von Erinnerung hervorgehenden Vergangenheitsinterpretationen wären absolut, unterschlügen, dass Geschichte immer mehr und anders war, als gedacht und behauptet, weil sie in einer Repräsentation nicht aufgehen kann.“34
Diese Kritik an einem Erinnerungskollektiv sowie dessen politisch intendierte Ausdehnung auf Europa, die daraus entstehende Geschichtspolitik liefe Gefahr, in ihrer Absolutheit, in ihrer uniform gedachten Großerzählung eine fast postdemokratische Repräsentation ohne Repräsentanten zu erschaffen, entzieht dem Kollektivierungsgedanken den Boden. Und trotz dieser Kritik schien im „Erinnerungsjahr 2009“ das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses und die dadurch mögliche Vergemeinschaftung zur theoretischen Grundierung von Geschichtspolitik zu dienen. Auch wurde das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bezüglich Erinnerung und 31
Knigge in: Flierl/Müller 2009, S. 75.
32
Winkler, Heinrich August: Einleitung. In: Ders. 2004, S. 10 oder Wagner, Bernd: Deutsche Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik nach 1945. In: Ders. 2009, S. 22.
33
Vgl. einmal mehr Bruno Latours Kritik des Machtbegriffs moderner Soziologie in Latour 2010a, S. 428ff. und Latour, Bruno: Factures/fractures. From the concept of network to the concept of attachment. In: Res 36 Autumn 1999, S. 20-31.
34
Knigge in: Flierl/Müller 2009, S. 75.
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Erfahrung nicht zwangsläufig als schismatisch, sondern teils sogar als konnektiv 35 empfunden. So hieß es beispielsweise im vom Institut für Kulturpolitik herausgegebenen „Jahrbuch für Kulturpolitik“, das sich für das Jahr 2009 dem Thema „Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik“ widmete, konträr zu Kosellecks und Knigges Kritik im Vorwort: „Der Einzelne und die Gemeinschaft werden in ihrem Handeln und ihrer Identität von Geschichte und Gedächtnis geleitet. Dabei haben eine Stadt, eine Region ein Land und auch die Bundesrepublik Deutschland nicht einfach ein ‚kollektives Gedächtnis’. Vielmehr gestalten sie dieses mit Hilfe von Zeichen, Symbolen und Bauwerken. So wird auch eine ‚WirIdentität’ mitgeprägt. Das ‚kollektive Gedächtnis’ hat seine Entsprechung im ‚individuellen Gedächtnis’, das auf der Erinnerungsfähigkeit des Menschen basiert und sich aus Erfahrungen und Wahrnehmungen speist […]. Individuelles und kollektives Gedächtnis stehen in Wechselwirkung und Wechselbezug zueinander.“36
Auch hier war ein phänomenologischer Sozialkonstruktivismus, wie er im 20. Jahrhundert von Soziologen wie Maurice Halbwachs 37, Peter Berger oder Thomas Luckmann38 vertreten wurde, der theoretische Leitfaden geschichtspolitischer Grundannahmen. Begriffe wie Identität, Erfahrung und Wahrnehmung, die Setzung eines konstruktiven Verhältnisses von Individuum und Kollektiv und die sich daraus ableitende „Wir-Identität“ kollektiver Erinnerungsgemeinschaften schienen 2009 die Spur geschichtspolitischer Praxis zu bilden und wurden, trotz vereinzelter Kritik gerade aus fachwissenschaftlicher Richtung, auch kaum hinterfragt. Die sich daraus ergebende Spannung zwischen einem pluralen Geschichtspolitikverständnis einerseits und einer kollektiven „Wir-Identität“, die Knigge und Koselleck schon angemahnt hatten, wurde dabei so gut wie gar nicht problematisiert. Ebenso wurde nicht geklärt, was für ein Begriff von Identität aus dieser Geschichtspolitik hervorgehen solle. Wäre es tatsächlich darum gegangen, eine „Wir-Identität“ mit einem symbolischen und semantischen Inventar zu versehen, so wurde in diesem Denken Identität mit Zugehörigkeit verwechselt.39 35
Dieser Begriff wurde explizit von Bernd Wagner, dem Herausgeber des „Jahrbuchs für Kulturpolitik“ verwendet s. Wagner in: Ders. 2009, S. 22.
36
Scheytt, Oliver: Vorwort. In: Wagner 2009, S. 13.
37
Vgl. Halbwachs 1985.
38
Berger, Peter/Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer 2007.
39
Dass Identität als Phänomen oder Ontologie ein klassisches philosophisches Problem darstellt und von daher nicht leichtfertig in einen Diskurs eingebracht werden sollte, gerade wenn er sich als politisch versteht, ohne seine Konsequenzen zu bedenken, darauf weist Michel Serres hin, s. Serres, Michel: Kleine Chroniken. Sonntagsgespräche
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Dass sich diese Identität auch immer auf ein bestimmtes verfügbares Wissen bezieht, trat schon in der Debatte um die „Sabrow-Kommission“ zutage, in der Zukunft und Geschichtswissen, besonders von Freya Klier, moralisch zusammengebracht wurden. Versteht man Politik auch als ethisches Geschäft, wie es 2009 oft der Fall war, erhält Erinnerung gerade unter dem Gesichtspunkt einer gelingenden Vergemeinschaftung eine moralische Komponente. So schrieb beispielsweise Wolfgang Thierse: „Wir müssen […] dem Verlust an geschichtlichem Gedächtnis und Wissen entgegenwirken. Es gibt keine individuelle oder kollektive Identität ohne geschichtliches und kulturelles Herkunftswissen, dessen Abnahme aber ist unbestritten. […] Es geht um das Ganze deutscher und europäischer Kultur [...]. Denn man versteht nichts von der Welt, wenn man nichts von der eigenen Geschichte weiß.“40
Auch bei Thierse wurde Geschichtspolitik als Herstellung eines Weltverhältnisses durch historisches Wissen verstanden, Epistemologie und Ethik in ein und dieselbe Politikform einbezogen. Auch Europa als Aufgabe tauchte wieder auf. „Zukunft braucht Herkunft“41 lautet der zum geläufigen Wort gewordenen Titel eines Aufsatzbandes des Philosophen Odo Marquard. Auch dieser Leitspruch schien 2009 zu einem Gemeinplatz geschichtspolitischen Denkens geworden zu sein. Dieser Verweis des Zusammenhangs von dem Erfahrungsraum Erinnerung und dem Möglichkeitsraum Zukunft wurde, um eine ethische Haltung erweitert, zum Politikum. Wenn die damalige Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag, Monika Grütters, also davon sprach, dass die Erinnerungskultur „eine der großen moralischen, politischen und gesellschaftlichen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland“ sei, Geschichte die „Voraussetzung der Gegenwart“ und „der Umgang mit unserer Geschichte […] auch die Zukunft unserer Gesellschaft“ präge, „die Bewahrung der Erinnerung, das nationale Gedächtnis“ eben deshalb „eine politische, also eine gemeinsame Aufgabe“ sei, so stellte sie genau diese Verknüpfung her, die Geschichte, Erinnerung, Moral und Politik als Form der Vergemeinschaftung und zukunftsbildende Maßnahme – allerdings erweitert um
mit Michel Polacco. Berlin: Merve 2012, S. 34-39. Vgl. Zum politischen Problem von Identität auch Rancière 2002, S. 132f. 40
Thierse, Wolfgang: Kulturnation des Erinnerns und der Orientierung. In: Wagner 2009, S. 43.
41
Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam 2003.
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eine nicht unbedingt von allen Propositionen geteilte „nationale“ Gedächtniskomponente – im „Erinnerungsjahr 2009“ erscheinen ließen.42 Zusammenfassend stellte sich das „Erinnerungsjahr 2009“ als eine extensive Ausweitung des Historischen dar: Die zeitliche Verknüpfung der gegenwärtigen Gesellschaft mit mehreren, teils als Jubiläen begangenen Ereignissen (bis zurück zu 9 n. Chr.), mit dem Zukunftsentwurf einer auf Erinnerung gegründeten „Kommenden Gemeinschaft“ namens „Europa“, die zugleich auch eine topographische Ausdehnung geschichtspolitischen Denkens darstellte, war die eine Seite. Vertikal darüber lag wiederum die Festigung eines Paradigmas, das Vorstellungen von kollektiver Erinnerung mit Identitätsbildung, Subjektivierung, Aufklärung und Ethik in Verbindung brachte, den Zusammenhang von Erinnerung und Vergemeinschaftung weitestgehend als Matter of Fact darstellte, diesen unter der Hand gleichzeitig zu einer res publica, einer öffentlichen Angelegenheit machte – und somit dezidiert politisch wurde. In dieser Denkkonstellation stellte Erinnerung das Gerüst des Politischen dar und machte bestimmte Politik im Sinne von Vergemeinschaftung erst möglich und effizient. Geschichtspolitik blieb also nicht allein auf den Bereich eines deutenden Umgangs mit Geschichte beschränkt sondern erfasste mehrere Bereiche, die der Politik zugezählt werden: Ökonomie, Sozialisation, Bildung, Wahlkabinen, Architekturen, Argumentationsstränge, Demokratie und Parlamente. Erinnerung bildete so 2009 in vielerlei Hinsicht die diskursive Bedingung des Politischen. Dass aus dieser Konstellation leicht auch eine conditio humana, Erinnerung und Historisierung als eine anthropologische Konstante erwachsen konnte, die sich jede Geschichtspolitik, die in modernen Kategorien denkt, paradigmatisch zu eigen machen kann, zeigte sich nicht zuletzt in dem Geschichtsverständnis der Bundeskanzlerin: „Es ist also ein ureigenes menschliches Bedürfnis, sich ein möglichst vollständiges und wahrhaftiges Bild der geschichtlichen Wurzeln zu machen. Das ist die Vergewisserung dessen, was uns ausmacht. So können wir, aufbauend auf diesem Wissen, unsere Zukunft verantwortungsvoll gestalten. Das ist sozusagen die Hoffnung in die Zukunft hinein, für die wir ja heute verantwortlich sind. Deshalb verlangt verantwortungsvolle Politik auch immer, sich zu erinnern, die Erinnerung zu reflektieren und die Schlüsse aus dieser Reflexion in die politische Diskussion für das Heute und Morgen einzubringen. Dann kann man erst von einer Erinnerungskultur sprechen, die diesen Namen auch wirklich verdient.“ 43
42
Grütters, Monika: Das Gedächtnis der Deutschen. Erinnerungsarbeit – zentral für das Selbstverständnis deutscher Kulturpolitik. In: Wagner 2009, S. 72.
43
Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf dem Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Wandel durch Erinnerung“ am 18. März 2009 in
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Im März 2008 veröffentlichte die Super Illu auf ihrer Homepage einen Essay des Schauspielers Herbert Köfer mit der Überschrift „Ich war gerne DDR-Bürger“44. Darin äußerte Köfer seine Meinung über die Verwendung des Begriffs „Unrechtsstaat“ in Bezug auf die DDR: „Ich habe 1990 einmal auf die Frage eines Reporters ‚Wie fühlen Sie sich jetzt, nach der Wende?’ geantwortet: ‚Ich fühle mich gut. Es ist leichter, ein Interview zu geben, denn man muss seine Antworten nicht zehnmal filtern wie in der Vergangenheit. Der Zensor im Kopf ist weg!’ Aber heute? WENN GESAGT WIRD, DIE DDR WAR EIN UNRECHTSSTAAT, WERDE ICH IMMER DARAUF ENTGEGNEN: DIE DDR WAR EIN STAAT, IN DEM AUCH UNRECHT GESCHAH. Wer daraus einen ‚Unrechtsstaat’ macht, soll es tun. ICH MÖCHTE ABER – WIE MILLIONEN MENSCHEN AUS DER DDR – MIR NICHT SAGEN LASSEN MÜSSEN, JAHRZEHNTE LANG IN EINEM UNRECHTSSTAAT GELEBT ZU HABEN. Immerhin war die DDR von mehr als 100 Ländern der Welt völkerrechtlich anerkannt.“45
Köfer führte weiter aus: „Es geht mir nicht in erster Linie um den Staat DDR, sondern um die Menschen in der DDR. Die haben es nicht verdient, immer und immer wieder mit dem Begriff Unrecht in Verbindung gebracht zu werden.WIR HATTEN IN DER DDR AUCH ANLASS, STOLZ ZU SEIN. […] ICH WILL DIE DDR NICHT ZURÜCKHABEN, ABER WENN ICH MICH AN MEINE VERGANGENHEIT ERINNERE, MÖCHTE ICH GERN UNGESTRAFT AN DIE POSITIVEN SEITEN DIESES LANDES ZURÜCKDENKEN DÜRFEN.“46 Die Super Illu richtete daraufhin ein Forum47 ein, in dem Leser und prominente Ostdeutsche ihre Meinung zu Köfers Kritik an der mit dem Begriff „Unrechtsstaat“
Berlin. Nr. 33-1 vom 18. März 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009. 44
Köfer, Herbert: „Ich war gerne DDR-Bürger“. Super Illu Online (URL: http://goo.gl/ RmGzc [18.7.2013]).
45
Ebd. (Hervorhebungen im Original).
46
Ebd. (Hervorhebungen im Original).
47
Vgl. die Website http://www.superillu.de/leute/_high_Forum_Waren_Sie_gerne_DDRBuerger__604819.html [19.4.2012]. Das Forum ist mittlerweile geschlossen und nicht mehr abrufbar. Auszüge und einige der folgenden Zitate sind weiterhin zu finden bei Köfer, Herbert: „Ich war gerne DDR-Bürger“. Super Illu Online (URL: http://goo.
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verbundenen Geschichtspolitik zur DDR äußern konnten. Der Tenor war größtenteils gemischt und abwägend gehalten, gänzlich ablehnende Haltungen wie von Dieter A., nach dessen Meinung man „Leute wie Köfer [...] in Ecken stecken [sollte], die noch nach DDR riechen“, bildeten eher die Ausnahme. Zwar stimmten in einer Online-Umfrage derselben Zeitschrift 68% von 8650 Nutzern mit „Nein“ auf die Frage, ob sie gerne DDR-Bürger waren; der Großteil der abgedruckten Leserzuschriften beantwortete diese Frage allerdings positiv.48 Die meisten Leser wehrten sich gegen den impliziten Vorwurf, mit Adorno gesprochen, kein „richtiges Leben im falschen“49 gelebt zu haben. Das „falsche Leben“ entsprach in dieser Logik dem „falschen“ Staat, – dem „Unrechtsstaat“ DDR. Was in dieser Diskussion in Kontrast zueinander gesetzt, bzw. auf ihren Zusammenhang überprüft wurde, war die Verbindung von „Leben“ und „Staat“, die bei Adorno nicht aufzuheben war. Die „Unrechtstaatsdebatte“, welche die DDR-Erinnerung seit längerem begleitete, konnte in dieser Hinsicht in mehrfacher Weise als „Politikum“50 gelesen werden: Einerseits stand zur Debatte, wie sich Staat und Lebenswelt in der DDR zueinander verhielten; andererseits stand die Deutung der DDR als Geschichtsobjekt erneut auf dem Spiel. Letzteres war wiederum eine Frage politischer Epistemologie: Konnte „Unrechtsstaat“ eine analytische Kategorie des Sprechens über die DDR werden? Ein Jahr nach der Diskussion in der Super Illu wurde die Debatte darüber, ob und inwiefern die DDR als „Unrechtsstaat“ bezeichnet werden darf, kann und soll, erneut virulent. Den Beginn machte der damalige Ministerpräsident MecklenburgVorpommerns, Erwin Sellering, mit einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im März 2009. Darin äußerte sich Sellering auf die Frage, ob die DDR eine Diktatur gewesen sei, wie folgt:
gl/RmGzc [18.7.2013]). Die nachfolgenden Zitate entstammen dem Abrufdatum [19.4.2012]. 48
Forum „Waren Sie gerne DDR-Bürger?“ auf Super Illu Online (URL: http://www. superillu.de/aktuell/Koefer-Biografie_613411.html [19. 4. 2012]). Mittlerweile [Stand 18.7.2013] sind die Daten nicht mehr einsehbar. Lediglich einige Zuschriften werden unter Köfer, Herbert: „Ich war gerne DDR-Bürger“. Super Illu Online (URL: http://goo. gl/RmGzc [18.7.2013]) zitiert.
49
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 59.
50
Als Politikum verstehe ich hier im weitesten Sinne das, was Latour „Matter of Concern“ nennt: Ein Gegenstand (hier: die vermeintlich analytische Etikettierung eines historischen Gegenstandes), der zum Mittelpunkt einer Debatte wird und dadurch Akteure mobilisiert, die in seinem Interesse handeln, bzw. sich für diesen zu interessieren beginnen. In die hier verwendete Diktion übersetzt: ein Kosmopolitikum.
124 | 1989 UND WIR „Sie [d.h. die DDR] war gewiss kein Rechtsstaat. Ich verwahre mich aber dagegen, die DDR als den totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bisschen Gutes gab. Allerdings stimmt: Der Staat machte vielfach, was er wollte. Es gab keine Kontrolle durch unabhängige Gerichte. Insofern hat zur DDR immer auch ein Schuss Willkür und Abhängigkeit gehört. […] Zu verharmlosen liegt mir fern. Aber wir leben heute in einem Staat zusammen. Deswegen habe ich Bedenken vor Diskussionen, die sich nur auf die DDR beziehen. Es ist ja nicht so, dass ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat stieß. Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken.“ 51
Auf die Nachfrage, welche Stärken Sellering in der DDR ausmachen könne, antwortete dieser: „Viele Leute sagen mir immer wieder: Was ihr in den Kitas macht oder was nach dem Vorbild Finnlands in den Schulen getan wird, das kennen wir schon. Dinge, die wir jetzt zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung einführen, gab es schon in der DDR. Auch als überzeugter Anhänger unseres sozialen Rechtsstaates sage ich: Das eine war nicht völlig schwarz, das andere ist nicht völlig weiß.“ 52
Sellerings Argumentation in diesem Zusammenhang war bemerkenswert, ging es ihm doch in erster Linie um die Schaffung einer „inneren Einheit“, einer noch fälligen Vergemeinschaftung. Wenn er davon sprach, dass wir „heute in einem Staat zusammen [leben]“, er aus diesem Grund „Bedenken vor Diskussionen, die sich nur auf die DDR beziehen“ habe, stand ebendiese Vergemeinschaftung zwischen Ostund Westdeutschland auf dem Spiel, sobald über die DDR diskutiert wird. Dass sich Sellering darauf berief ein „überzeugter Anhänger unseres sozialen Rechtsstaates“ zu sein und dennoch eine differenzierende Sicht auf die DDR zu entwickeln suchte, setzte schon den Widerspruch voraus, den diese Argumentation schließlich auch erfahren sollte: Dass Differenzierung es unmöglich mache, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen – und demnach auch keine legitime Position einer sich als rechtsstaatlich verstehenden Politik sein könne. Seine Argumente, inklusive dem Hinweis auf das Bildungssystem der DDR, wiederholte Sellering nochmals einen Monat später auf dem Landesparteitag der SPD in Salem. 53 Mit seinem Interview löste der Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns eine erneute Debatte darüber aus, ob es legitim sei, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen. Schnell stellte sich dabei heraus, dass der Begriff „Unrechtsstaat“ mehr 51
Pergande, Frank/Wehner, Markus: „DDR war kein totaler Unrechtsstaat“. FAZ Online am 22.3.2009 (URL: http://www.faz.net/-gpg-158mg [18.7.2013].
52
Ebd.
53
N.N.: „Die DDR hatte ihre Stärken“. FAZ Online am 26.4.2009 (URL: http://www.faz. net/-1v1-12eb5 [18.7.2013]).
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als problematisch war, da sich mit ihm zu viele Fragen verknüpften: Wie ist „Unrechtsstaat“ juristisch zu definieren? Handelt es sich dabei um eine abqualifizierende Bezeichnung nur für eine Staatsform oder auch für die in dem Staat lebenden Bürger? Passt die Kategorie „Unrechtsstaat“ historisch auf die DDR? Oder verbirgt sich hinter dem Begriff nicht mehr als eine Polemik ohne analytische Substanz?54 Um die Frage zu klären, wann juristisch von einem „Unrechtsstaat“ gesprochen werden kann (vor allem in Abgrenzung zu einem „Rechtsstaat“), wurden mehrere juristische Meinungen mobilisiert. So meldete sich beispielsweise im April 2009 der Jurist und damalige Chef der Staatskanzlei Sachsen-Anhalts, Rainer Robra, zu Wort. Robra lieferte in seiner Rede „Warum die DDR ein Unrechtsstaat ist [sic!] – Beitrag zur aktuellen Debatte“ zunächst einen historischen Abriss über die juristische Begriffsklärung des „Unrechtsstaates“ bezüglich der DDR. Dabei bezog sich Robra explizit auf Sellerings Äußerungen: „Zu den Wiedergängern der Deutschlandpolitik gehört die Kontroverse über die DDR als Unrechtsstaat. Erstaunlich ist daher, dass sie nach bagatellisierenden Bemerkungen des ehemaligen Verwaltungsrichters Erwin Sellering, der heute als Ministerpräsident in Mecklenburg-Vorpommern um Bekanntheit ringt, so hitzig entflammte, als werde sie erst jetzt, fast zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution, ernsthaft aufgenommen. Tatsächlich gab es schon 1991 eine heftige Auseinandersetzung über den Unrechtscharakter der DDR, an der sich Juristen aus Ost und West beteiligten.“55
Robra berief sich dabei auf einen Beitrag in dem ehemaligen juristischen Publikationsorgan der DDR, die „Neue Justiz“, in dem der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, Horst Sendler, die DDR juristisch als „Unrechtsstaat bezeichnete.56 Robra führte weiter aus, dass die Rechtsstaatlichkeit der DDR gerade im Vergleich mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Bundesrepublik nicht gegeben war. Grund dafür sei, dass das „sozialistische Recht“ nicht auf Durchsetzung des Rechts abzielte, sondern „als Instrument der herrschenden Klasse [i.e. die Arbeiterklasse] parteilich zu sein“ hatte. Das sozialistische Recht bestünde demnach nicht aus einem rechtsstaatlichen Prinzip heraus und könne auch nicht als Argument 54
Vielen dieser Fragen widmete sich eine Tagung in Wittenberg mit dem Titel „Wie war die DDR?“. Vgl. den Tagungsbericht in der Süddeutschen Zeitung: Kohl, Christiane: „Ein glatter Unrechtsstaat“. Sueddeutsche.de am 17.5.2010 (URL: http://sz.de/1.406989 [18.7.2013]) und den dazugehörigen Publikationsband der Staatskanzlei des Landes Sachsen (Hg.): Wie war die DDR? Suche nach der Wahrheit. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2009.
55
Robra, Rainer: Warum die DDR ein Unrechtsstaat ist. Beitrag zur aktuellen Debatte (April 2009) auf Sachsen-Anhalt.de (URL: http://goo.gl/eituO [18.7.2013]).
56
Ebd.
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für eine Rechtsstaatlichkeit der DDR herhalten.57 Die Verwirklichung des „sozialistischen Rechts“ sei dann auch eine „offensichtliche Einbruchstelle für Willkür“58 gewesen, von der auch Sellering in milderer Form gesprochen hatte. Robra schloss mit einer eindeutigen Diagnose: „In tausenden von Entscheidungen ist der Unrechtscharakter der DDR in bedrückender Weise dokumentiert. Jeder kann sie nachlesen. Das rechtfertigt es, die DDR als das zu bezeichnen, was sie war und der Bundesgerichtshof schon 1994 ausgesprochen hat: ein Unrechtsstaat“59
Auch der Rechtswissenschaftler Gerd Roellecke befürwortete in einem Beitrag 60 für die FAZ im Juni 2009 aus juristischen Gründen die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für die DDR. Roellecke verwies darauf, dass schon Artikel 17 des Einigungsvertrages von 1990 von einem „SED-Unrechts-Regime“ sprach, das sich aus dem Führungsanspruch der SED speiste, der sich in Artikel 1, Absatz 1, Satz 2 der DDRVerfassung eingeschrieben hatte.61 Im gleichen Atemzug fügte Roellecke noch einen Vergleich des „SED-Unrechts-Regimes“ mit dem „NS-Unrechts-Regime“ hinzu, da beide, juristisch gesehen, gerade im Hinblick auf die Frage nach der „(Un)Rechtsstaatlichkeit“ durchaus Analogien aufwiesen. Roellecke rechtfertigte sogleich diese Vergleichsstrategie: „Diesen Vergleich mit der Begründung zurückzuweisen, die DDR habe weder Juden verfolgt noch einen Weltkrieg entfesselt, ist so ungereimt wie es eine Verteidigung des NS-UnrechtsRegimes mit dem wahren Hinweis wäre, das Regime habe keine Galeerensklaven gekannt. Nach dem Massenmord an den Juden und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die DDR gar nicht mehr die Möglichkeit, Juden zu verfolgen oder einen Krieg zu beginnen. Das verbot ihr nicht nur die Weltöffentlichkeit, sondern auch ihr eigener Antifaschismus.“ 62
Damit erweiterte Roellecke die Argumentation für den Begriff „Unrechtsstaat“ um weitere Komponenten: Auch der juristisch-historische Vergleich mit dem NS-Staat sowie der Sklavenhaltung wurde argumentativ, zusammen mit dem Einigungsver-
57
Ebd.
58
Ebd.
59
Ebd.
60
Roellecke, Gerd: War die DDR ein Unrechtsstaat? FAZ Online am 15.6.2009 (URL: http://www.faz.net/-gsf-12v2k [18.7.2013]).
61
Vgl. die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6.4.1968 (Fassung vom 7.10.1974).
62
Roellecke, Gerd: War die DDR ein Unrechtsstaat? FAZ Online am 15.6.2009 (URL: http://www.faz.net/-gsf-12v2k [18.7.2013]).
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trag und der Verfassung der DDR, der Diskussion hinzugefügt. Roellecke führte diese Argumentation weiter: „So entsetzlich die Folgen des NS-Regimes waren, wenn man die Folgen in Zukunft vermeiden will, muss man wissen, wie sie in der Vergangenheit entstanden sind. Zu den Gründen von Judenverfolgung und Krieg gehörte aber das Fehlen aller rechtlichen Sicherungen gegen den Missbrauch politischer Macht. In dieser Sicht ähneln sich NS- und SED-Regime offenkundig. Hier wie dort Ablehnung der Gewaltenteilung, Massenveranstaltungen, Denaturierung des Parlaments und Personenkult.“63
Der Jurist ging in seiner Herleitung des „Unrechtsstaates“ noch weiter in der Geschichte zurück bis ins Preußen, Baden und Frankreich des 18. Jahrhunderts. Auch diese Staaten hätten Gewaltenteilung abgelehnt, die „Landtage absterben“ lassen, „uniformierte Massen“ mobilisiert und Personenkult betrieben. Laut Roellecke waren diese Staaten jedoch eher „Nichtrechtsstaaten“ als „Unrechtsstaaten“, aus einem entscheidenden Grund: „[W]eil sie nach dem Stande der historischen Entwicklung nicht Rechtsstaaten sein konnten.“64 Damit entfaltete Roellecke ein anachronistisches wie auch begriffliches Argument: Nach seiner Darstellung gäbe es eine eindeutige historische Zeit, in der Rechtsstaatlichkeit verortet werden könnte (aus der die Politik des 18. Jahrhunderts anscheinend herausfiel) und eine eindeutig ausdifferenzierte Begrifflichkeit von „Rechtsstaat“, deren negative Differenz dann der „Unrechtsstaat“ wäre. Roellecke leitete so den Rechtsstaatsbegriff ideengeschichtlich her: „Rechtsstaat ist nicht ein gerechter Staat. Der Rechtsstaat weiß sogar besonders gut, wie viel Unrecht, auch staatliches, in seinem Einflussbereich geschieht, weil er offen versucht, es zu bekämpfen. Am leichtesten kann man ihn historisch erklären. Der Rechtsstaat ist entstanden als Folge der rigorosen Entkoppelung von Religion, Recht und Politik nach der Reformation. Die Entkoppelung schnitt jede Möglichkeit ab, Recht religiös, mit der Berufung auf die Natur, politisch-ideologisch oder auch nur mit tatsächlicher Macht zu rechtfertigen. Sie zwang das Recht, seine eigene Stabilität und Regeneration selbst zu regeln. […] Für die Politik wurde das Recht Grund, Instrument und Grenze ihres Handelns.“ 65
Dieser ideengeschichtliche Übergang der Rechtsstaatlichkeit hin zu einem politischen Handlungs- und Entscheidungsraum entsprang nach Roellecke also der Entsagung des Juristischen an einen metaphysischen Grund und Ursprung, der mit der Reformation einsetzte. Warum in dieser historischen Herleitung allerdings die Poli63
Ebd.
64
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65
Ebd.
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tik des 18. Jahrhunderts mit einer solchen Rechtsvorstellung nicht bekannt gewesen sein sollte, bleibt in Roelleckes Ausführungen ein ungelöster Widerspruch, fällt die Politik Preußens, Badens oder Frankreichs im 18. Jahrhundert doch genau in diesen ideengeschichtlichen Zusammenhang von Humanismus und Säkularisierung, der für Roellecke die Idee des Rechtsstaates fundierte. Die Absage an sowohl den Humanismus, die Stellung des Menschen als Subjekt in der Welt, als auch die Rechtsordnung der Moderne stellte für Roellecke schließlich den entscheidenden Bruch sowohl des Nationalsozialismus als auch der DDR mit dem Rechtsstaatsprinzip dar: „Ordnet man NS- und SED-Regime in dieses Konzept ein, sieht man sofort, an welcher Stelle beide Regime aus der Entwicklung der Moderne herausfallen. Sie setzen nicht die Gleichheit aller Menschen voraus, wie es die moderne Funktionsorientierung verlangt, sondern halten Arbeiterklasse beziehungsweise arische Rasse für von der Natur herausgehobene Gruppen und Kapitalisten beziehungsweise Juden für von Natur aus minderwertig. Das war ein verheerender kultureller Rückschritt, der es rechtfertigt, beide Regime in gleichem Sinne UnrechtsRegime zu nennen.“66
Damit erweiterte Roellecke die Diskussion über die Frage ob und inwiefern die DDR ein „Unrechtsstaat“ gewesen sei um eine ideengeschichtliche Tiefendimension, die sich bis zur Reformation erstreckte und von dieser auch das Prinzip „Rechtsstatlichkeit“ herleitete. Der Bruch mit der Moderne, die Außerkraftsetzung der Gleichstellung des Menschen, die Absage an Gewaltenteilung und Hinwendung zu Massenpolitik und Personenkult stellten dann auch Nationalsozialismus wie die Politik der SED gleichermaßen kategorisch unter den Begriff des „Unrechtsstaates“ – und damit theoretisch auf eine Stufe. Eine andere Art der Mobilisierung von Juristen in der Frage, ob die DDR ein „Unrechtsstaat“ genannt werden kann und darf, widerfuhr im April 2009 der Südthüringer Zeitung in Form eines Unterlassungsbegehrens des Rechtsanwaltes Johannes Eisenberg im Auftrag des Thüringer Landtagsabgeordneten und Ministerpräsidentschaftskandidaten der „Linken“, Bodo Ramelow. 67 Die Südthüringer Zeitung hatte am 26. Februar 2009 ein Interview mit Ramelow mit der Überschrift „Die DDR war kein Unrechtsstaat“ abgedruckt 68. In diesem Interview antwortete Ramelow auf die Frage ob er meine, dass die DDR ein Unrechtsstaat sei: 66
Ebd.
67
Eisenberg, Johannes u.a.: Unterlassungsbegehren zu Interview in „stz“ vom 26. 2. 2009 „Die DDR war kein Unrechtsstaat“. Auf Bodo-Ramelow.de (URL: http://goo.gl/js5Ta [18.7.2013]).
68
Das Interview im Wortlaut findet sich auf Ramelows Homepage: Interview mit der Südthüringer Zeitung auf Bodo-Ramelow.de am 2.3.2009 (URL: http://goo.gl/0dIvv [18.7.2013]).
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„Die Definition, was der Begriff ‚Unrechtsstaat’ aussagen soll, ist schwer fassbar. [...] Er ist wohl eher ein politischer Begriff und lässt sich mit juristischen Definitionen nicht fassen. Ich habe in meinem letzten Schriftsatz beim Oberverwaltungsgericht Köln darauf hingewiesen, dass ich die DDR nach meinem Verständnis nicht für einen Rechtsstaat gehalten habe. Aber dass ich den politischen Begriff ‚Unrechtsstaat’ nicht verwenden würde.“69
Zuvor hatte Gesine Lötzsch, damals stellvertretende Vorsitzende der „Linken“ im Bundestag, Ende 2008 eine Anfrage an den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages gestellt, ob dieser den Begriff „Unrechtsstaat“ definieren könne, nachdem eine Anfrage an die damalige Bundesregierung, welche Staaten aus ihrer Sicht „Unrechtsstaaten“ seien, zur Antwort bekam, dass dieser Begriff im Völkerrecht nicht existiere.70 Lötzsch zitierte in ihrem Artikel über dieses Verfahren im Neuen Deutschland: „Hier ein Auszug aus dem Gutachten: ‚Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs ‚Unrechtsstaat’ gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften.’ und weiter ‚… es (geht) zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturierten System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren.’ Das sind klare Worte.“71
„War denn wirklich nur die DDR ein Unrechtsstaat?“, war dann auch die geschichtspolitische Definitionsfrage, die Lötzsch umtrieb. Und weiter: „Die CDU [als damalige Regierungspartei in einer „Großen Koalition“ mit der SPD] hat [...] Schwierigkeiten mit ihrem Schlüsselbegriff zur Beschreibung der DDR. Der ‚Unrechtsstaat’ ist ein propagandistischer Kampfbegriff, der nicht aufklären, sondern brandmarken soll. Wenn wir in der Bewertung der DDR weiterkommen wollen, dann brauchen wir eine neue Sachlichkeit im Umgang mit der DDR-Geschichte und mit ihren Bürgerinnen und Bürgern. Ich werde weiter das verordnete DDR-Geschichtsbild hinterfragen und zunehmend habe ich auch Spaß daran.“72
Ramelow berief sich auf diese Anfrage Lötzschs und die darin zutage tretenden Komponenten des Begriffs „Unrechtsstaat“ als einerseits nicht klar definiert und andererseits polemischer „Kampfbegriff“, weshalb er die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für die DDR ablehne. Die Bezeichnung „Rechtsstaat“ hatte Ramelow zuvor 69
Interview mit der Südthüringer Zeitung auf Bodo-Ramelow.de am 2.3.2009 (URL: http://goo.gl/0dIvv [18.7.2013]).
70
Lötzsch, Gesine: Unrechtsstaat. Neues Deutschland vom 6.12.2008.
71
Ebd.
72
Ebd.
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für die DDR ebenfalls verworfen. Ramelows Äußerungen lösten, ebenso wie später die Erwin Sellerings, eine Debatte um die Legitimität dieser Differenzierung und der Begrifflichkeit „Unrechtsstaat“ aus, weshalb das Interview mit der Südthüringer Zeitung mitsamt der ein Zitat suggerierenden Überschrift „Die DDR war kein Unrechtsstaat“ schnell an Bekanntheit und Brisanz gewann. Schon einen Tag nach Erscheinen des Interviews distanzierte sich Ramelow von der Überschrift. Auf Welt Online verlautbarte er, die Überschrift per Anführungszeichen als Zitat zu kennzeichnen sei eine „plumpe Fälschung“.73 Er habe „deutlich gesagt, dass die DDR kein Rechtsstaat war, aber eben auch kein Unrechtsstaat“. Tatsächlich ließ sich die Interview-Überschrift so nicht wörtlich im Text finden, vielmehr lieferte Ramelow darin Argumente für das Fehlen rechtsstaatlicher Prinzipien in der DDR, die auch Rainer Robra angemerkt hatte: „Zum Beispiel hat die DDR keine justitiablen Wege geöffnet, wie der Staatsbürger der DDR sich gegen Entscheidungen von Behörden oder Verwaltungen hätte juristisch wehren können. Also das klassische Verwaltungsrecht. Dafür hat man aber die Eingabeverordnung der DDR erlassen. Dies halte ich für keinen rechtsstaatlich adäquaten Ersatz.“74
Ähnlich wie auch Erwin Sellering wagte Ramelow einen eher abwägenden Vergleich von Rechtsprinzipien in DDR und Bundesrepublik: „Aber das Arbeitsgesetzbuch der DDR war als Gesetzestext in seiner Gesetzeslogik wesentlich besser und schlüssiger als die entsprechenden, völlig unübersichtlichen Vorschriften aus Westdeutschland. Das sagt nichts über die Anwendungspraxis des AGB in den DDRBetrieben. Aber die Gesetzestexte kann man sehr wohl nebeneinander stellen, prüfen und feststellen, dass es im AGB oder im ZGB ja sogar im Baugesetzbuch der DDR wesentlich stringentere Gesetzestexte gab wie die entsprechenden aus der BRD, die heute gelten.“ 75
In einer Stellungnahme vom 28. Februar 2009 räumte die Südthüringer Zeitung dann auch ein, dass Ramelow „den Satz ‚Die DDR war kein Unrechtsstaat’ im stzInterview nicht wörtlich gesagt“ und die Redaktion diesen als Überschrift gewählt habe, man „sich also ein paar Tage nach Aschermittwoch Asche aufs redaktionelle Haupt streuen“ könne.76 Dennoch ging am 21. April 2009 bei der Redaktion der 73
Alexander, Robin: Linken-Politiker erklärt seine DDR-Interpretation. Welt Online am 27.2.2009 (URL: http://goo.gl/lCuim [18.7.2013]).
74
Interview mit der Südthüringer Zeitung auf Bodo-Ramelow.de am 2.3.2009 (URL: http: //goo.gl/0dIvv [18.7.2013]).
75 76
Ebd. Witzel, Christoph: Asche? Fragen! Südthüringer Zeitung Online am 28.2.2009 (URL: http://goo.gl/4LWES [18.7.2013]).
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Südthüringer Zeitung das Unterlassungsbegehren der Rechtsanwaltskanzelei Eisenberg im Auftrag ihres Mandanten Bodo Ramelow ein. In dem Schreiben hieß es: „Sie schreiben dem Mandanten [Bodo Ramelow] eine Aussage zu, die er nicht gemacht hat und nicht machen will. Die rechtswidrige Veröffentlichung begründet die Wiederholungsgefahr. Ich habe Sie daher aufzufordern, zur Vermeidung der Inanspruchnahme der Gerichte hier eingehend bis zum 22. 4. 2009, 16.00 Uhr zu erklären, sich strafbewehrt unter Versprechen einer für jeden Fall der Zuwiderhandlung an unseren Mandanten zu zahlenden Vertragsstrafe von 10.000,00 € zu verpflichten, es künftig zu unterlassen, wörtlich oder sinngemäß zu äußern und/oder zu verbreiten, der Mandant habe geäußert ‚Die DDR war kein Unrechtsstaat’. Sie haben auch dafür zu sorgen, daß Google deren [sic] Schlagzeile aus deren Findesystem herausnimmt, indem Sie Google davon unterrichten, daß diese Überschrift rechtswidrig war.“77
Die Bemühungen von Lötzsch und Ramelow, den Begriff „Unrechtsstaat“ im Zusammenhang mit der DDR zu kritisieren, zu hinterfragen und letztlich abzuschaffen, mobilisierten nicht nur Zeitungen und Stimmen aus politischen Konkurrenzgruppen78, sondern auch das Politikverständnis der Bundesregierung, den Wissenschaftsrat des Bundes, Anwälte, Verfahrenskosten und sogar Übereinkünfte mit Betreibern einschlägiger Suchmaschinen. Spätestens hier wurde klar, dass es sich bei der Debatte um den „Unrechtsstaat“ DDR nicht mehr bloß um eine Begriffsdefinition handelte. Ob die DDR ein „Unrechtsstaat“ war, mobilisierte weit mehr Instanzen: vom Wahlkämpfer zur Suchmaschine, von Bußgeldern zu Lesern von Illustrierten, vom Rechtsverständnis des 18. Jahrhunderts zum Finnischen Schulsystem. Es ging vielleicht vordergründig darum, aus der Bezeichnung „Unrechtsstaat“ als Kategorie des Sprechens über die DDR ein Matter of Fact zu machen. Letztlich zeigte sich jedoch, dass dieser Begriff weniger ein realpolitisches Faktum als viel-
77
Eisenberg, Johannes u.a.: Unterlassungsbegehren zu Interview in „stz“ vom 26. 2. 2009 „Die DDR war kein Unrechtsstaat“. Auf Bodo-Ramelow.de (URL: http://goo.gl/ js5Ta [18.7.2013])
78
Überblicke zu den Reaktionen auf die Interviews von Sellering und Ramelow finden sich unter anderem hier: N.N.: „DDR war kein totaler Unrechtsstaat“. Focus Online am 22.3.2009 (URL: http://goo.gl/XQQ8j [18.7.2013]); N.N.: Für Ramelow war die DDR kein Unrechtsstaat. Welt Online am 27.2.2009 (URL: http://goo.gl/R5yay [18.7.2013]); N.N.: „Das Falsche zur falschen Zeit gesagt“. FAZ Online am 24.3.2009 (URL: http:// www.faz.net/-gpg-11vik [18.7.2013]); N.N.: „Kein totaler Unrechtsstaat“: DDR-Äußerungen bringen Ministerpräsident in Bedrängnis. Spiegel Online am 22.3.2009 (URL: http://goo.gl/qzvuy [18.7.2013]) und N.N.: „Die Freiheit mit Füßen getreten“. FAZ Online am 29.3.2009 (URL: http://www.faz.net/-gpg-120ep [18.7.2013]).
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mehr ein „Ding von Belang“, ein Matter of Concern wurde – und Geschichtspolitik erneut zur Kosmopolitik machte. In dem Welt-Online-Artikel über sein Interview wurde Bodo Ramelow weiterhin zitiert mit den Worten: „Es gab die Stasi. Aber Millionen Menschen haben die DDR dennoch anders empfunden: Die fühlten sich nicht bespitzelt. 16 Millionen ehemaligen DDR-Bürgern heute zu sagen, sie hätten in einem Unrechtsstaat gelebt, heißt, diesen Menschen ihre Erinnerung umzudeuten.“ 79
Was Ramelow hier mobilisierte um den Begriff „Unrechtsstaat“ zu diskreditieren waren keine Juristen, keine Parteiprogramme und keine historischen Rechtsverständnisse, sondern die Gefühle von „16 Millionen ehemaligen DDR-Bürgern“. Damit leitete Ramelow zu einem Diskurs über, der, wie schon bei Köfers Abwägungen, individuelles Leben und Erleben gegen eine historische, politische und juristische Kategorie namens „Unrechtsstaat DDR“ in Stellung bringen sollte. Es war auch diese Argumentationsstruktur, die Gesine Schwan, 2009 Bundespräsidentschaftskandidatin der SPD, gegen den Begriff „Unrechtsstaat“ anbrachte. Schwan veröffentlichte am 25.6.2009 in der Zeit einen Essay mit dem Titel „In der Falle des Totalitarismus“ und der These: „Wer die DDR einen ‚Unrechtsstaat’ nennt, stellt ihre ehemaligen Bürger unter einen moralischen Generalverdacht“. 80 Schwan brachte in ihrem Text zunächst die Kritik an einer Differenzierung des „Unrechtsstaat“-Begriffs im Hinblick auf die DDR mit einer Kritik demokratischer Grundwerte zusammen: „Wer heute das Bekenntnis zum Satz ‚Die DDR war ein Unrechtsstaat’ als Lackmustest für eine demokratische Gesinnung erzwingen will, steht in der Nachfolge der Erpressung mit der einzigen Alternative. Denn wer dagegen differenzierter argumentieren und die historische Wirklichkeit in den Blick nehmen will, steht sofort unter Verdacht, das DDR-Unrecht zu bagatellisieren. Diese Erpressung ist mit den normativen Grundlagen unserer rechtsstaatlichen pluralistischen Demokratie unvereinbar. Diese muss um ihrer existenziellen Freiheit willen verteidigen, dass es zu politischen Fragen legitimerweise unterschiedliche Antworten geben kann. Dass man nachdenken und differenzieren darf, ohne des Verrats an Freiheit und Moral verdächtigt zu werden.“81
Damit führte Schwan die Diskussion auf eine Metaebene: Wie sollen wir darüber Debattieren, ob die DDR ein „Unrechtsstaat“ war? Schwans Antwort befürwortete 79
Alexander, Robin: Linken-Politiker erklärt seine DDR-Interpretation. Welt Online am 27.2.2009 (URL: http://goo.gl/lCuim [18.7.2013]).
80
Schwan, Gesine: In der Falle des Totalitarismus. Die Zeit 27/2009.
81
Ebd.
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im Grunde, dass es überhaupt eine Debatte darüber geben sollte und kein Verbot einer bestimmten Position. Denn in diesem Falle würden diejenigen, die eine solche Debatte unterbinden und die Meinung „Die DDR war kein Unrechtsstaat“ als demokratiegefährdend delegitimieren selbst zu Gefährdern demokratischer Grundprinzipien wie Pluralismus und Meinungsfreiheit. So stand, folgte man dieser Argumentation, mit der Debatte über den „Unrechtsstaat“ DDR auch die gegenwärtige Demokratiekultur und ihr Anteil an der Geschichtspolitik auf dem Spiel. Schwan kehrte dann von der Metaebene auf die Sachebene zurück und widmete sich dem Begriff selbst: „Deshalb wende ich mich gegen eine monopolistische Deutung der DDR als ‚Unrechtsstaat’. Dabei verstehe ich die Gründe, warum andere sie so bezeichnen, durchaus: fehlende Menschen- und Bürgerrechte, keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Justiz, keine freien Wahlen. Ich habe das Regime der DDR selbst unzählige Male so oder ganz ähnlich kritisiert, die DDR als Diktatur bezeichnet und öffentlich hinzugefügt, dass deswegen zum Beispiel auch die ‚Errungenschaften’ im Kindergarten- oder Schulsystem immer unter diesem fundamental einschränkenden Vorzeichen gesehen werden müssen.“82
Das Problem lag laut Schwan also nicht darin, ob man die DDR einen „Unrechtsstaat“ nennen kann oder nicht; auch sprach sich Schwan selbst als Akteurin davon frei, den Diktaturcharakter der DDR leugnen zu wollen, selbst die beispielsweise von Erwin Sellering angemahnten „Errungenschaften“ der DDR würde Schwan diesem Diktaturcharakter unterordnen. Vielmehr kritisierte Schwan den Begriff als Begriff. Diesem hafte ihrer Argumentation nach etwas kategorisch Totales an und schaffe keine analytische Differenzierung.83 Das Problem dieser totalen Kategorie liege laut Schwan darin, mit dem Unrecht des Staates und seiner Regierung und Politik auch die daran angeschlossene Gesellschaft mitsamt der ihr zugehörigen Individuen einzuschließen: „Wer nun [...] auf der totalisierenden Bezeichnung ‚Unrechtsstaat’ besteht, muss mehr wollen und schließt de facto auch mehr ein. Denn das totalisierende Wort ‚Unrechtsstaat’ verweist auf die Gestalt der gesamten ostdeutschen Lebenswirklichkeit. […] Der Staat ist keine separate Organisation innerhalb oder neben der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft in ihrer poli-
82
Ebd.
83
Schwan schlug stattdessen vor, Ernst Fraenkels Theorie des „Doppelstaates“ zu übernehmen, der funktional in „Normenstaat“ und „Maßnahmenstaat“ differenziert werden konnte, wie Fraenkel für den Nationalsozialismus ausführte. Mit dieser Kategorie ließe sich laut Schwan auch die DDR bzw. die Politik der SED besser beschreiben als mit dem Begriff „Unrechtsstaat“.Vgl. ebd.
134 | 1989 UND WIR tischen Verfasstheit. Wird der Staat pauschal zum ‚Unrechtsstaat’ gemacht, folgen daraus auch Wertungen für die Lebenswirklichkeit der Menschen.“ 84
Damit ist Schwan bei der Argumentation Ramelows und Köfers angelangt, die genau diese Gefahr sahen, über den Begriff „Unrechtsstaat“ nicht nur ein mehr oder minder abstraktes Herrschaftsgefüge (sprich: Staat), sondern gleichzeitig auch individuelle Lebenswelten und Biographien zu disqualifizieren. In diesem „totalisierenden“ Verständnis von „Unrechtsstaat“ „konnte es kein ‚richtiges’ Leben im ‚falschen’ geben“.85 In diesem Sinne forderte Gesine Schwan eine „Unterscheidung zwischen den Menschen und dem politischen System, unter dem sie leben mussten. […] Genau diese Unterscheidung spüren die meisten Menschen in Ostdeutschland genau. Wenn man sich im Alltag mit ihnen unterhält, hat der oft rhetorisch geforderte Dialog zwischen Ost- und Westdeutschen Konsequenzen.“86 Es ginge eben darum, kein moralisches Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland aufkommen zu lassen. Aus diesem Grund würden auch viele Bürgerrechtler den Begriff meiden, da er eine „Entwertung ihres persönlichen Muts, ihrer Opferbereitschaft und ihres Leids“ mit sich brächte und damit weder individuelle Lebensentwürfe innerhalb der DDR, noch oppositionelles Engagement oder Widerstand würdigen könnte. Schwan ging es also darum einen Begriff zu diskreditieren, da die Logik, die dieser mit sich brächte, politisch bedenkliche Denkweisen begünstige, die genau das Gegenteil von Vergemeinschaftung schaffen würden. Wenn Staat und Individuum gleichgesetzt werden, wie Schwan dem Begriff „Unrechtsstaat“ unterstellte, könne es kein Gespräch auf Augenhöhe zwischen Ost und West geben. Daher entschied sich in Schwans Argumentation an dieser Begrifflichkeit auch eine gelungene Geschichtspolitik. Auf Schwans Essay reagierte die damalige Vorsitzende der BStU, Marianne Birthler, mit einer Replik.87 Darin kritisierte Birthler die Vermischung von Staat und Gesellschaft, die Schwan dem Begriff „Unrechtsstaat“ unterstellte: „Gesine Schwans Begründung dafür, den Begriff Unrechtsstaat zu verwerfen, mag die Seele vieler Ostdeutscher streicheln – problematisch ist sie dennoch: Das ‚totalisierende Wort Unrechtsstaat’ verweise auf die gesamte ostdeutsche Lebenswirklichkeit, und deshalb stünden alle Bürger der DDR ‚flächendeckend moralisch unter Verdacht’ und wären ‚alle Lebensbe-
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Birthler, Marianne: Liebe Ossiversteher! Die Zeit 28/2009.
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reiche in der DDR diskreditiert’. Dies erinnert fatal an die von der SED propagierte Einheit von Staat und Volk.“88
Denn der Staat sei laut Birthler „allein das Instrument der führenden Partei [SED]“ gewesen. In Schwans Vermischung von Staat und Gesellschaft der DDR ließe sich demnach das Argument anbringen, die Bürger der DDR seien mit für „Unrecht, das ihnen selbst widerfuhr“ verantwortlich. Da allerdings das Volk nicht der Souverän des Staates DDR war, sondern vielmehr die SED, sei die Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft illegitim.89 Schließlich wendete Birthler auch die Metaebene Schwans gegen deren eigene Argumentation: „Abschließend sei allen Ossiverstehern gesagt: Einen Staat, dessen unrechtmäßiges Zustandekommen und dessen unrechtmäßige Praxis unbestritten sind, nicht Unrechtsstaat nennen zu dürfen oder zu sollen beleidigt den wachen, auch den ostdeutschen Verstand. Wer den Ostdeutschen aus Zartgefühl nicht sagen will, was nun mal über das politische System, in dem sie gelebt und gelitten haben, zu sagen ist, macht sie – wieder einmal – zu unmündigen Empfängern politischer oder auch pädagogischer Fürsorge.“ 90
Im Grunde beruhte Birthlers Entgegnung nur darauf, die Argumente Schwans gegen deren eigene Argumentation zu wenden: Die Begriff „Unrechtsstaat“ sei illegitim, da er pauschal Staat und Gesellschaft gleichermaßen abstempelt? Nach dieser Prämisse verstand auch die SED ihren eigenen Staat! Man dürfe die Verwendung des Begriffs „Unrechtsstaat“ nicht verbieten? Man darf auch das Gegenteil nicht verbieten! Was den Begriff „Unrechtsstaat“ anging, differenzierte Birthler nicht zwischen „Nicht-Rechststaat“ und „Unrechtsstaat“, wie es beispielsweise Roellecke tat. Vielmehr nahm sie die Rechts-Unrechts-Dialektik in ihre Argumentation auf: „Zum einen meint der Begriff [Unrechtsstaat], dass die Prinzipien des Rechtsstaats keine Geltung haben und staatliche Macht nicht rechtmäßig begründet ist. In diesem Sinne war die DDR zweifellos ein Nicht-Rechtsstaat, ein Un-Rechtsstaat.“91
Dass damit der Begriff nicht schärfer, sondern dialektisch negativ definiert war (Unrechtsstaat = Kein Rechtsstaat), führte dann auch nicht zu einer genaueren Bestimmung des Wortes „Unrechtsstaat“ als analytischer Begriff.
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In der Süddeutsche Zeitung hieß es zum so gearteten Stand der Debatte: „20 Jahre nach dem Fall der Mauer streitet Deutschlands politische Klasse nicht über das Wesen eines Staates, sondern die Wahl eines Wortes.“92 Und weiter: „Und wenn es nur ein Wort sein soll, dann bitte dieses: Diktatur. Die SED-Herrschaft fußte auf Unterdrückung, Spitzelei und Entrechtung Andersdenkender. Um dies darzustellen, bedarf es der Vokabel ‚Unrechtsstaat’ nicht.“93
Allerdings ging es bei Schwan nicht nur um ein Wort, sondern um einen analytischen Begriff, der sich mit einer bestimmten Politik und einer bestimmten Denkart in Verbindung bringen ließ. „Unrechtsstaat“ und „Diktatur“ wurden dann auch meist synonym zueinander verwendet, ohne dass sie begrifflich klarer geworden sind. So auch von Schwans Parteikollegen Franz Müntefering in einem Interview mit der Bild im. Mai 2009: „Man muss zwei Dinge auseinanderhalten: Die DDR war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur, es gab einen Schießbefehl, die Menschen waren eingesperrt. Das darf man nicht verniedlichen. Aber die allermeisten Menschen, die in der DDR gelebt haben, hatten keinen Dreck am Stecken. Sie haben versucht, so menschlich zu leben, wie es eben ging. Miteinander, fleißig, engagiert, glücklich. Alles dies. Die Menschen, die dort gelebt haben und sich nichts haben zuschulden kommen lassen, haben ein Recht, stolz zu sein auf das, was sie unter schweren Bedingungen geleistet haben.“94
Schwan und Müntefering wollten totalitäre Strukturen und Alltagsleben nicht symmetrisch zueinander setzen – genau das würde der Begriff „Unrechtsstaat“ allerdings in dieser Argumentation tun. Für die Kritiker dieser Haltung bewegte sich die Weigerung, die DDR einen „Unrechtsstaat“ zu nennen, allerdings in der Nähe der verharmlosenden „Ostalgie“, die schon dem Alltags-Paradigma der „SabrowKommission“ vorgeworfen wurde. Dass „Ostalgie“ jedoch auch dadurch gefördert werden könne, wenn eine pauschale Abwertung der eigenen Biographie und der Erinnerung an die eigene Vergangenheit erfolgt, wie von Schwan, Müntefering, Ramelow und anderen Kritikern des Unrechtsstaatsbegriffs befürchtet, legte Aleida Assmann im Interview mit dem Deutschlandfunk dar:
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Brössler, Daniel: Das U-Wort. Süddeutsche Online am 10.5.2010 (URL: http://sz.de/ 1.458160 [18.7.2013]).
93 94
Ebd. Backhaus, Michael/Hellmann, Angelika: „Ich suche nicht danach“. Bild Online am 29.5.2009 (URL: http://goo.gl/hpc78 [18.7.2013]).
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„Das führt zum Teil auch zu einem Phänomen, das wir benennen mit dem Begriff der ‚Ostalgie’, also der nostalgischen Verklärung. Auf der anderen Seite führt das aber auch zur Spurensuche, zum Versuch, sich zu verständigen für das, was da entschwunden ist. Im Grunde genommen besteht die Gefahr, eine ganze Schicht der Geschichte zu überschreiben, auszutauschen, und denen, die ein Teil der Geschichte sind, auch ihre Erfahrungen zu entziehen. […] Dann kommt es eben zu einem völlig umgelagerten Bild: Die DDR ist dann der Staat, der einen versorgt hat, der für einen da war, der eine Zukunftsgarantie gegeben hat, der eine große Existenzsicherung bereitgestellt hat – alles Dinge, die heute verloren gegangen sind in einer Welt des wirtschaftlichen Niedergangs, aber auch der erhöhten und gesteigerten Wettbewerbsstrukturen.“95
In ihrer Replik auf Gesine Schwan führte Marianne Birthler ähnliche Motive ins Feld, wendete diese allerdings kritisch gegen die „Ostalgie“, indem sie nicht das Verschwinden der DDR als Staat und ihre Transformation in einen Erinnerungsraum, sondern die politischen Strukturen der DDR und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft für die DDR-Nostalgie verantwortlich machte: „Wer sich seinerzeit mit der DDR identifizierte oder – auch das gibt es – erst nach 1990 eine DDR-Identität entwickelte und pflegte, kann und will diesen Unterschied [zwischen Staat und Alltagsleben] nicht machen. Diese Entwicklung ist nicht leicht zu verstehen: Warum identifizieren sich viele Ostdeutsche mit dem System, das sie einst bevormundete, unterdrückte und einsperrte? Eine Art von Stockholm-Syndrom vielleicht. Das Gegenmittel kann aber nicht sein, Menschen in dieser Identifikation zu bestätigen.“ 96
In beiden Fällen griffen Assmann und Birthler die Verknüpfung von Erinnerung und Identität auf, die lediglich in einer moralischen Verwendung von Begriffen wie „Unrechtsstaat“ aus der Praxis des Erinnerns ein Geschichtspolitikum machen konnten. Wenn eben geklärt werden konnte, was und wie die DDR war, ob sie ein „Unrechtsstaat“ war oder nicht, ob diese Kategorie den individuellen Alltag umfasste oder lediglich die totalitären Herrschaftsstrukturen, wenn dieser Begriff mit seinen Kategorien dazu beitragen kann, dass sowohl subjektive Erinnerungen und Biographien sich darin wiederfanden und auch zum Verständnis zwischen Ost- und Westdeutschland beigetragen werden konnte, dann war Geschichtspolitik in der Lage zu leisten, was sie programmatisch im „Erinnerungsjahr 2009“ leisten wollte: Vergemeinschaftung. Denn wie Wolfgang Thierse im März 2009 im Stern die „Unrechtsstaats“-Debatte kommentierte: „Wenn man nur schwarz malt, dann werden 95
Wagner, Thomas: Erinnerungskultur und Verdrängung. Weshalb „Ostalgiker“ an Boden gewinnen. Deutschlandfunk am 26.3.2009. Ein Transkript der Sendung findet sich unter: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/studiozeit-ks/940849/ [19. 4. 2012].
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Birthler, Marianne: Liebe Ossiversteher! Die Zeit 28/2009.
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die allermeisten Ostdeutschen sich dagegen wenden und sagen: Unsere Erinnerung ist anders.“97 Damit stand die Vergemeinschaftung im Zeichen der Erinnerung auf dem Spiel, wenn die eine Erinnerung „anders“ wurde. Deshalb war die Debatte um den „Unrechtsstaat“ DDR ein Politikum, ein „Ding von Belang“ – weil sie sich mit der „anderen“ Erinnerung auf riskante Weise befassen musste. Was bedeutete diese Debatte nun für den Status der DDR im „Erinnerungsjahr 2009“? Wenn im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden konnte, dass es primär darum ging, aus Erinnerung eine Gemeinschaft zu Formen, wenn die Hauptaufgabe von Geschichtspolitik also nicht die Ausübung von Macht war, sondern die Mobilisierung und Verknüpfung mehrerer Akteure zu einer Gemeinschaft (also im wörtlichen Sinne: Assoziation) dann entschied sich das Gelingen dieser geschichtspolitischen Aufgabe nicht nur, aber auch an der Kategorie „Unrechtsstaat“, seiner Begrifflichkeit und seine Legitimität als analytische Vokabel einer geteilten Erinnerung. Die DDR erschien in dieser Debatte weniger als eine historische Tatsache als vielmehr eine Ansammlung von Erinnerungen, individuellen Biographien und Herrschaftspraktiken, deren Verhältnisse zueinander anhand eines Begriffs bzw. seiner Ablehnung oder Verwendung geklärt werden sollte. Dass sowohl Kritiker als auch Befürworter dabei mit moralischen Argumenten arbeiteten, die auf beiden Seiten nahezu deckungsgleich ausfielen, mag kaum überraschen. Ebenso wenig wundert die Tatsache, dass sich beide Seiten dafür einsetzten, demokratische Strukturen zu schützen. Die Frage, ob es gut oder schlecht sei die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, arbeitete von vornherein mit moralischen Kategorien, die schon spätestens aus der Debatte um das Alltags-Paradigma der „SabrowKommission“ bekannt waren. Beiden ging es darum, eine gute Epistemologie zu finden, die auch eine gute Politik ermöglichte: Wie sollen wir die DDR denken? Was hätte das für Konsequenzen für die gegenwärtige und die „Kommende Gemeinschaft“? Diese Fragen der Geschichtspolitik und der politischen Epistemologie koppelten sich 2009 an den Begriff „Unrechtsstaat“.
D ER G EIST DER S TAATSSICHERHEIT UND DAS E RBE DER SED Im April 1993 hielt Jacques Derrida an der Universität von Kalifornien in Riverside einen Vortrag über die „Spectres du Marx“ im Rahmen eines Kolloquiums mit dem zweideutigen Titel „Whither marxism?“ – was gleichzeitig die Frage „Wohin geht
97
Waleczek, Torben: „Anpassung ist ein Lebensrecht“. Stern Online am 23.3.2009 (URL: http://goo.gl/9apGr [18.7.2013]).
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der Marxismus“ als auch „Verschwindet der Marxismus?“ stellte. Nur wenige Jahre nach den Ereignissen von 1989, der Wiedervereinigung Deutschlands und der weitestgehenden Demokratisierung und Unabhängigkeit vieler osteuropäischer und ehemals sowjetischer Staaten stellten sich mehr oder minder emphatisch mit „linken“ Ideen liebäugelnde Intellektuelle wie Derrida die Frage, wie mit dem Marxismus und seinem „Erbe“ nach dessen vermeintlicher Niederlage umzugehen sei. 98 Derrida wählte damals die Figur des Spectre, des Gespenstigen, des Spuks, des Wiederkehrenden (revenant). Die Figur des Gespenstes, das bei Marx das „Gespenst des Kommunismus“ war, das in Europa umher ging, war auch für Derrida gerade nach dem „ableben“ des Kommunismus seit 1989 mit der marxistischen Ideologie verbunden. Das „Gespenst des Kommunismus“ sollte, wie auch zu Marx’ Zeiten, aus der Gegenwart gehalten und, das war nach 1989 neu, in die Vergangenheit verbannt werden, dorthin, wo es einst „lebte“ und eine Zukunft hatte, die es nach 1989 nicht mehr haben durfte – denn genau darin lag das Drohpotential des gespenstigen Kommunismus: „Im Grunde ist das Gespenst die Zukunft, es ist immer zukünftig, es präsentiert sich nur als das, was kommen oder wieder-kommen könnte: In (der) Zukunft, sagten die Mächte des alten Europa im letzten Jahrhundert, darf es sich nicht inkarnieren. […] In (der) Zukunft, hört man heute überall, darf es sich nicht mehr re-inkarnieren: man darf es nicht wiederkommen lassen, weil es vergangen ist.“99
Das Gespenst des kommenden bzw. des vergangenen Marxismus wird, so Derrida, „in beiden Fällen als Bedrohung empfunden“, Bedrohung der Gegenwart und der möglichen Zukunft. Woran sich für Derrida die Frage anschloss, was es heißt, den Marxismus zu erben. „Das Erbe“, so heißt es in „Spectres du Marx“, „ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe.“100 Nun ging es im „Erinnerungsjahr 2009“ vermehrt um die Fragen, die Derrida bereits 1993 stellte. Allerdings nicht so sehr aus der Perspektive einer möglichen Übernahme oder Übersetzung des Marxismus in ein anderes Denken, wie Derrida
98
Vermeintlich deshalb, weil die damals aktuellen Thesen Francis Fukuyamas über die Niederlage des Sozialismus und Marxismus bzw. den Sieg des Liberalismus über den marxistischen Sozialismus – und damit dem Ende dieser Geschichte der ideologischen Konkurrenz – als besonders provokant erschienen und allein deshalb für Philosophen wie Derrida eine Auseinandersetzung wert waren, wie der Marxismus noch bzw. es mit ihm zu halten sei, gerade gegen Fukuyamas Thesen. Vgl. dazu bei Derrida 2004, S. 84ff.
99
Ebd., S. 61.
100 Ebd., S. 81 (Hervorhebungen im Original).
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intendierte.101 Vielmehr stellte sich das Erbe von 1989 als geschichtspolitische Aufgabe. In diesem Kapitel geht es darum, wie sich das Erbe des gespenstigen Kommunismus um 2009 ebenfalls als Bedrohung zeigte – in Form der weiterhin „lebendigen“ Stasi und „Honeckers Erben“ in der Partei PDS/Die Linke. Dabei wird sich zeigen, dass auch im „Erinnerungsjahr“ der Raum der Gegenwart und der Zukunft vor dieser Vergangenheit geschützt werden musste, was dem Aufgabenbereich der Geschichtspolitik102 zufiel. Komplementär zur Öffnung der Zukunft für eine „Kommende Gemeinschaft“ durch das Gedenken an die Friedliche Revolution und den Mauerfall stand also 2009 auch die Verbannung der Überreste von SED und Stasi, sowie deren Gedankengut, in den Raum des Vergangenen – und erklärte sie so zu Anachronismen, die überwunden werden müssten, um eine Zukunft zu haben. Nahezu deckungsgleich zu Derridas Diktion sprachen viele Publikationen zu diesem geschichtspolitischen Problem, wie sich zeigen wird, von gespenstischen Phänomenen, die sie in Zusammenhang mit Termini wie „Erinnerung“ und „Vergessen“ brachten. So setzte sich fort, was Freya Klier in ihrem Sondervotum zum Gutachten der „Sabrow-Kommission“ schon verlautbaren ließ. Klier sah in ihrem Votum von 2006 „seit dem Ende der DDR ein kontinuierliches Weiterwirken ehemaliger Nomenklaturkader“, die „nicht müde [werden], ihren Unrechtsstaat im Nachhinein demokratisch aufzupolieren und in der öffentlichen Erinnerung zu glätten“ und „auf Zukunft“ zielen, was nicht zuletzt meinte, dass sie auch das DDR-Wissen nachrückender Generationen verfälschten.103 Kliers Gewährsleute waren vor allem der Politologe Klaus Schroeder und der Historiker Hubertus Knabe, die sie in ihrer kritischen Haltung nicht nur zur „Sabrow-Kommission“ und deren Expertenvotum
101 Dieser Diskurs war um 2009 eher mit der Finanzkrise und einem Revival marxistischer Theorien verbunden, vgl. Eagleton, Terry: Warum Marx recht hat. Berlin: Ullstein 2012. 102 An dieser Stelle ist erneut der Hinweis angebracht, dass nicht explizit die Rede von Vergangenheitspolitik ist, wenngleich der Begriff seine philosophische Berechtigung hätte, ging es doch in der Auseinandersetzung mit dem Problem des Erbes der SED und Staatssicherheit der DDR in erster Linie darum, politische, diskursive und strukturelle Strategien zu entwickeln, die diese dem Bereich der Vergangenheit ein für alle Mal zuweisen würden – und somit aus Gegenwart und Zukunft zu bannen suchten. Da mit „Vergangenheitspolitik“ jedoch meist die juristische „Aufarbeitung“ vergangener Ereignisse gemeint ist und auch sonst kaum auf dessen oxymoronische Qualität hingewiesen wird, wird der Begriff hier aus Gründen der Klarheit nicht verwendet, bildet aber das latente Moment der Geschichtspolitik, wie sie in diesem Kapitel beschrieben wird. 103 Sabrow u.a. 2007, S. 44.
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stützten, sondern auch in ihrer Diagnose zum Stand der Geschichtspolitik zur DDR und deren Problemen. Sowohl Schroeder als auch Knabe veröffentlichten um 2009 eigene Studien, die ebendiese Haltung vertieften. Klaus Schroeder publizierte 2008 gemeinsam mit Monika Deutz-Schroeder eine vielbeachtete Studie mit dem Titel „Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – Ein Ost-West-Vergleich“104, die im Rahmen des Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin durchgeführt wurde. Die Studie wurde derart kontrovers aufgenommen, dass beide dann 2009 einen Nachfolgeband mit dem auf ein Kinderbuch von Janosch 105 anspielenden Titel „Oh wie schön ist [sic!] die DDR“ 106 herausgaben, in dem die wichtigsten Befunde, Reaktionen und Argumente bezüglich der Studie versammelt waren. Die Ergebnisse der Untersuchung, die an Schulen in vier Bundesländern mit insgesamt 5219 Schülern zwischen 16 und 17 Jahren durchgeführt wurde, zeigten vor allem ein stark defizitäres Wissen der Jugendlichen über die Geschichte der DDR. Darüber hinaus trat eine tendenziell relativierende Haltung der Schüler bei der politischen Bewertung von SED und dem Staatssicherheitsdienst der DDR zutage.107 So behaupteten teils mehr als die Hälfte der Befragten, die DDR sei durch freie Wahlen demokratisch legitimiert gewesen und das MfS ein „normaler“ Geheimdienst. Auf die Unrechtsstaat-Thesen Erwin Sellerings angesprochen, konstatierte Klaus Schroeder in einem Spiegel-Interview im April 2009 unter Bezug auf seine Studienergebnisse: „20 Jahre nach dem Mauerfall erreicht die Verklärung der DDR einen neuen Höhepunkt. Man unterschätzt, wie sehr sich die Menschen noch mit dem Regime identifizieren. Jugendliche bewerten die DDR heute sogar positiver als ihre Eltern. Das zeigen Umfragen aus Thüringen und Sachsen-Anhalt. Diese jungen Leute können und wollen die Schattenseiten der DDR gar nicht kennen. Nicht einmal die Hälfte der ostdeutschen Jugendlichen bezeichnet die DDR als Diktatur. Eine Mehrheit hält die Stasi für einen normalen Geheimdienst. Das sind erschreckende Erkenntnisse.“108
104 Schroeder, Klaus/Deutz-Schroeder, Monika: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern. Ein Ost-West-Vergleich. Stamsried: Vögel 2008. 105 Janosch: Oh, wie schön ist Panama. Die Geschichte, wie der kleine Tiger und der kleine Bär nach Panama reisen. In: Ders.: Ach so schön ist Panama. Alle Tiger und Bär-Geschichten in einem Band. Weinheim: Beltz & Gelberg 2012. 106 Schroeder, Klaus/Deutz-Schroeder, Monika: Oh wie schön ist die DDR. Kommentare und Materialien zu den Ergebnissen einer Studie. Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2009. 107 Schroeder/Deutz-Schroeder 2009, S. 23ff. 108 N.N.: „Mitleid mit den Eltern“. Der Spiegel 18/2009.
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Auf die Frage, wie eine gute Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit aussehen könne, antwortete Schroeder: „In der politischen Debatte darf es keine Rücksicht auf Befindlichkeiten geben. Unrecht muss beim Namen genannt werden. Die Schulen müssen Fakten vermitteln. [...] Die Schüler müssen gegen Gesäusel immunisiert werden, sonst werden sie verführbar, auch für rechtsextremes Gedankengut.“ 109 Wie auch Klier sah Schroeder durch seine Studie eine Gefahr für den zukünftigen Erhalt demokratischer Strukturen, der in dieser Argumentation direkt mit fundamentalen Kenntnissen der DDR-Geschichte und ihrer politisch korrekten Einordnung auf Grundlage des antitotalitären Konsens verbunden war. 110 Das korrelierte mit einem weiteren Befund der Studie, der besagte, dass, je mehr die Schüler über die DDRGeschichtete wussten, sie die DDR und ihre Institutionen auch kritischer einordneten.111 Dass Schroeder offensichtlich nicht das Argument guthieß, dass eine Entwertung des Staates auch eine Entwertung des eigenen Lebens bedeutete, führte zu einer regen Rückmeldung an Schroeder und sein Forscherteam vor allem von denjenigen, die ihre eigene Biographie auf dem Spiel sahen. Die Kommentare zu ihrer Studie lasen Schroeder und Deutz-Schroeder als Symptom einer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Spaltung zwischen Ostund Westdeutschland. Es artikuliere sich in ihren Augen in den meisten Zuschriften eine Mentalität, die vor allem in der „ostdeutschen Teilgesellschaft“ zu bedenklichen Haltungen geführt habe.112 So trat in vielen Zuschriften aus Ostdeutschland entweder die „Geringschätzung einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft“ oder die „Verharmlosung der sozialistischen Diktatur“ zutage, was Schroeder und Deutz-Schroeder als „Warnsignal für den Zustand der ostdeutschen Teilgesellschaft“ werteten.113 Das resultiere vor allem aus „mangelnden Kenntnissen und einseitigen Erinnerungen“ der DDR-Geschichte, weshalb es Aufgabe der Geschichtspolitik sei, diese Lücken zu schließen.114 Das sollte aus Sicht der Autoren interessanterweise dadurch geschehen, dass „die Reduzierung der DDR auf eine ‚Fußnote der Geschichte’“ aufhören sollte, „da sie den SED-Staat und damit die Vergangenheit von Millionen Menschen als Teil der jüngsten Geschichte gleichsam ausklammert“.115 Damit war auch bei Schroeder und Deutz-Schroeder das modernistische Motiv vertreten, das die Geschichtspolitik zur DDR um 2009 beherrschte:
109 Ebd. 110 Schroeder/Deutz-Schroeder 2009, S. 14f. 111 Ebd., S. 30f. 112 Ebd., S. 200. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 200f. 115 Ebd., S. 201.
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Die einschließende Ausschließung116 der DDR im Zeichen von 1989. Damit ist gemeint, dass die Gefahr des Rückfalls in undemokratische Strukturen, wie sie im Sozialismus der DDR zu finden waren, dadurch ausgeschlossen werden sollte, dass die (politisch und wissenschaftlich) „korrekte“ Erinnerung an die DDR in den Aufgabenbereich der Geschichtspolitik eingeschlossen werde.117 Die positive Bewertung der DDR als utopisch verklärter Ort, an den es zurückzukehren lohne, und in dem die Studie von Schroeder und Deutz-Schroeder eine Gefahr der gegenwärtigen Politik ausmachte, sollte so gebannt werden. Eine ähnliche Latenz der DDR machte auch Hubertus Knabe aus. Knabe hatte bereits 2007 ein Buch mit dem Titel „Die Täter sind unter uns“118 veröffentlicht, das, in Anlehnung, an den Titel von Wolfgang Staudtes berühmten (und ersten) DEFA-Film „Die Mörder sind unter uns“, eine Generalabrechnung mit der Geschichtspolitik zur DDR seit 1989 bot. Wie auch Schroeder sah Knabe die Gefahr, dass die DDR-Geschichte immer mehr verklärt und verdrängt werde, und dass sich das Wissen über die Geschichte der DDR immer weiter verflüchtige. Demgegenüber beobachtete er ein Überleben der Strukturen von MfS und SED in anderen Organisationen. Diese Thesen spitzte Knabe in seinem 2009 erschienenen Buch „Honeckers Erben“119 weiter zu, das durchaus mehr war als „ein Munitionsdepot für Diejenigen, die sich in den kommenden Wahlkämpfen mit der Linkspartei – nach Art bekannter Roter-Socken-Kampagnen auseinandersetzen wollen“, wie Deutsch-
116 Diese Doppelfigur hat Giorgio Agamben ausführlich anhand der Figur des Homo Sacer erläutert, die laut Agambens Darstellung im römischen Recht zwar getötet, aber nicht geopfert werden konnte, und an die sich eine politische Idee von Souveränität genealogisch knüpfe. Der Homo Sacer wurde als konstitutiv für Recht und Politik eingeschlossen, allerdings nur durch seinen Ausschluss aus bestimmten sozialen und politischen Sphären (z. B. des religiösen Opfers), vgl. Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Ähnlich verhielt es sich um 2009 mit der Erinnerung an SED und Stasi, die zwar aus der Gegenwart getilgt (im übertragenen Sinn: getötet), aber deren Gedenken mahnend beibehalten (sprich im übertragenen Sinn: nicht der Gegenwart und Zukunft geopfert) werden sollte. 117 Das Motiv kennzeichnete die gesamte Geschichtspolitik zur DDR um 2009, sodass später genauer auf die politische Dimension und Theorie der einschließenden Ausschließung eingegangen wird. 118 Knabe, Hubertus: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur. Berlin: Propyläen 2007. 119 Knabe, Hubertus: Honeckers Erben. Die Wahrheit über Die Linke. Berlin: Propyläen 2009.
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landfunk-Rezensent Günter Hellmich behauptete.120 Knabes Darstellung war vielmehr Symptom eines Diskurses über die Latenz der DDR und ihrer Geschichte um 2009, der sich dem Vokabular der Hantologie bediente. Gleich zu Beginn zitierte Knabe den berühmten Anfang aus Marx’ und Engels’ „Das Kommunistische Manifest“ und adaptierte ihn für Die Linke und die Gegenwart von 2009: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Der berühmte Eingangssatz des Kommunistischen Manifestes […] ist in Deutschland überraschend aktuell geworden. Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR drängt eine Partei an die Macht, die sich die Abschaffung des Kapitalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Sie ist im Bundestag in Fraktionsstärke vertreten und entsendet Abgeordnete in alle ostdeutschen [sic] und viele westdeutsche Landtage […] und wird sich wohl auf längere Zeit im politischen System der Bundesrepublik etablieren.“121
Die Linke fungierte bei Knabe als eine Art Trojanisches Pferd für SED-Kader.122 Zu den Symptomen der Partei zähle es demnach, „[d]urch ständige Umbenennung […] ihre Spuren zu verwischen“, die latent Geschichte, Ideologie, Programm und Strukturen der SED mit sich führen, denn es handelte sich laut Knabe „immer um ein und dieselbe Partei“.123 Diese Spuren der DDR-Geschichte waren für Knabe auf mehreren Ebenen präsent: So hat sich seiner Ansicht nach weder die Ideologie der Partei verändert, noch sind große personelle Wechsel vollzogen worden. Sowohl geistig als auch physisch war so in der Linken die SED weiterhin präsent. „Honeckers Erben“ hatten eine „Aufgabe“: Das Überleben ihrer Partei zu sichern. Der Topos des „Überlebens“124 spielte bei Knabe eine prominente Rolle, vor allem für die Behauptung, dass SED und Stasi „nicht tot“ seien. 125 Dazu passte auch 120 Hellmich, Günter: „Weil diese Geschichte eben noch dampft“. Deutschlandfunk am 16.3.2009, (URL: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/935638/ [21.1.2013]). Auch hier klingt eine Kriegs- und Kampfmetaphorik an, in der geschichtspolitische Prozesse meist beschrieben werden. 121 Knabe 2009, S. 7. 122 Knabe verwendete in einem Cicero-Kommentar zur Landtagswahl in Hessen 2008 genau diese Metapher. Vgl. Knabe, Hubertus: Das Trojanische Pferd. Cicero Online am 20.10.2008 (URL: http://goo.gl/YA2Kg [18.7.2013]). 123 Knabe 2009, S. 11. Knabe führte die Genealogie zwar etwas verkürzt, aber nicht unbedingt falsch auf die KPD unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zurück. Diese Tradition lebe auch heute noch in zahlreichen Reverenzen der Linken um das Gedenken an Liebknecht, Luxemburg und ihr Gedankengut fort. Vgl. ebd., S. 17-28. 124 Teilweise ist sogar vom Kampf der SED „um das nackte Überleben“ die Rede, vgl. ebd., S. 214.
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Knabes Aversion gegen eine fortlaufende Historisierung der DDR als Vergangenes – denn was lebt, was sogar überlebt, ist in dieser Logik eben nicht vergangen, sondern gegenwärtig präsent.126 Der sich daraus ergebende Anachronismus, den die latente Spur der SED in der Präsenz der Linken zeige, war in Knabes Darstellung sogar im Selbstverständnis der Partei offenkundig. So zitierte er Oskar Lafontaine, der in einer Parteitagsrede 2008 erklärte, „dass sie [d.h. Die Linke] eine ‚Partei gegen den Zeitgeist’ sein müsse und ein ‚eigenständiges Profil’ brauche, um zu überleben“.127 Die Linke erschien dort als Zeitkapsel, die diese anachronistischen Ideen und Funktionäre konservieren und in das bundesrepublikanische Parteisystem retten konnte. In ihr „lebte ein kulturelles Milieu weiter, das außerhalb der Partei zusehends ausstarb“.128 Interessanterweise sah Knabe auch einen Zusammenhang zwischen Selbsthistorisierung der SED/PDS/Linken und dem Überleben der Partei. So komme es „[i]m Überlebenskampf der Partei […] vor allem darauf an, die Verantwortung für die Misere [der DDR und ihrer Wirtschaft] nach vierzig Jahren Sozialismus abzustreifen“ und „diese Erblast nun anderen in die Schuhe“ zu schieben – meist der Bundesrepublik und ihrer Wiedervereinigungspolitik, besonders der Treuhand“. 129 Die Geschichtspolitik der jetzigen Linken gehörte demnach zur Überlebenspolitik der SED, deren Erbe zur Last wurde und für die keine politische Verantwortung übernommen werden sollte. Dass die SED unter mehreren Namen „überleben“ konnte lag für Knabe auch immer daran, dass die „Partei 1990 nicht aufgelöst wurde“, was „zu den bleibenden Makeln der jüngsten deutschen Geschichte“ gehöre.130 Dass dadurch auch eine Bedrohung der Gegenwart erwächst, machte Knabe nicht nur an personellen und institutionellen Kontinuitäten der SED in der Geschichte der „Linken“ fest, sondern 125 Seit 1989 ist demnach laut Knabe die „Operation Überleben“ seitens der SED in Gang, zu deren Strategie unter anderem die ständigen Namensänderungen gehörten und deren Mastermind Knabe in Gregor Gysi zu erkennen meinte. Vgl. Knabe 2009, S. 106ff. Dass auch die Stasi „lebt“, legte Knabe in „Die Täter sind unter uns“ ausführlich dar. Vgl. ebd., S. 253ff. 126 Hans Ulrich Gumbrecht nennt dieses Phänomen die „Verbreiterung der Gegenwart“, in der vermeintlich Vergangenes von spurenhafter Latenz in Präsenz übergeht, sich damit aus der Zeit der Vergangenheit löst und in die Zeit des Gegenwärtigen eintritt. Vgl. Gumbrecht 2010. Diese Logik schien Knabe, allerdings eher latent, übernommen zu haben, wenn die Latenz der DDR-Geschichte in seiner Argumentation in der Präsenz der Linken als weiterhin verwirklicht erscheint. 127 Knabe 2009, S. 140. 128 Ebd., S. 146. 129 Ebd., S. 148. 130 Ebd., S. 390.
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auch am Fortbestand der Ideologie, die, durch das Personal verkörpert, mitgetragen und tradiert wurde.131 „Zwanzig Jahre nach dem Ende des Kommunismus drängen die Erben der SED erneut an die Macht“132, beschrieb Knabe sein Bedrohungsszenario für das „Erinnerungsjahr 2009“. Und weiter: „Verstärkt durch westdeutsche Sektierer [in Form der WASG] und gescheiterte Linkssozialdemokraten wollen sie Deutschland noch einmal zum Sozialismus führen.“133 Knabe machte dies vor allem an der Rhetorik der „Systemfrage“ fest, die von der Linken weiterhin gestellt werde. Indem sie das „System“ (meist: der marktliberale Kapitalismus) in Frage stellte, halte sie die ideologische Tradition der KPD im Sinne Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und Ernst Thälmanns wach. Jene hätten schon die Demokratie der Weimarer Republik in eine existenzielle Krise gestürzt und letztlich beendet. 134 Dass die Linke die kommunistische „Systemfrage“ programmatisch übernommen hat, wertete Knabe als Beleg dafür, dass die Partei ideologisch anachronistisch zu bewerten sei. Damit gefährde sie die Gegenwart der bundesrepublikanischen Demokratie135 in einer Weise, wie die KPD einst die Weimarer Demokratie gefährdete. Knabe verbannte die Linke dadurch einmal mehr in die Vergangenheit: „In der Zeit der Globalisierung wirken freilich nicht nur ihre politischen Konzepte wie aus einer weit entfernten Vergangenheit, auch sie selbst [d.h. die Politiker der Linken] erscheinen wie Überbleibsel aus einer anderen Zeit.“136 Und so erwuchs aus dieser Bedrohung durch die latente Vergangenheit in Präsenz der Linken die Aufgabe der modernen, verantwortungsvollen Geschichtspolitik im Sinne Knabes: Die Gespenster der SED und des MfS seien zu „verscheuchen“ – auf den „Müllhaufen der Geschichte“: „Es wird nicht leicht sein, das Gespenst des Kommunismus wieder zu verscheuchen. Alle, denen die Demokratie am Herzen liegt, tragen dafür eine Mitverantwortung. […] Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich, dass die Ewiggestrigen von links genauso klar in die Schranken verwiesen werden wie die von rechts. Dann gibt es durchaus eine Chance, Honeckers Erben auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern, auf dem die DDR zu Recht gelandet ist.“137
131 Auf das Personal der SED/PDS/Linken und der WASG geht Knabe am ausführlichsten ein, vgl. ebd., S. 293-379. 132 Ebd., S. 390. 133 Ebd. 134 Knabe nannte Thälmann gar den „Totengräber von Weimar“, vgl. ebd., S. 28-42. 135 Ebd., S. 391. 136 Ebd., S. 379. 137 Ebd., S. 392.
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Interessanterweise benutzte Knabe eine ähnliche Geschichtsphilosophie wie Jean Baudrillard, der seine Posthistoire-Theorie, ähnlich wie Derrida, auch am Umbruch 1989/90 und dem Ende des Kommunismus festmachte – und in diesem Zusammenhang ebenfalls die Metapher des „Geschichtsmülls“ heranzog. Baudrillard lieferte dabei Ansätze, die erklären könnten, warum Parteien und Strukturen wie die der Linken weiterhin existieren. Denn es gibt in Zeiten der Posthistoire, wie Baudrillard sie in „Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse“ beschreibt, gar keine Müllhalden mehr: „Das Ende der Geschichte bedeutet auch das Ende der Mülleimer der Geschichte. Es gibt nicht einmal mehr Mülleimer, um die alten Ideologien, die alten Regime und die alten Werte zu entsorgen. Wohin sollen wir den Marxismus werfen, der ja die Müllhalde der Geschichte erfunden hat? […] Schlussfolgerung: es gibt keine Mülleimer der Geschichte mehr weil die Geschichte selber zum Mülleimer geworden ist.“138
Baudrillard argumentiert in erster Linie philosophisch und weniger exakt historisch, was gerade in der schlicht postulierten Posthistoire-Diagnose offenkundig wird.139 Dennoch fanden sich im „Erinnerungsjahr 2009“ seine Motive auch in geschichtspolitischen Diskursen wieder. Gerade wenn es darum ging, sich mit der anachronistischen Wiederkehr oder Fortexistenz historisch überholter Präsenzen auseinanderzusetzen. Für Baudrillard, der die Müll-Metapher konsequent weiterdenkt, ist dieses Motiv stark an das ökologische Problem des Recyclings gekoppelt: „Die ökologische Forderung lautet, daß alle Abfälle wiederaufbereitet werden müssen. […] Was mit der Geschichte geschieht, ist die Andeutung des folgenden Dilemmas: Entweder krepieren an den nicht abbaubaren Abfällen der großen Imperien, der großen Erzählungen und der großen Systeme, die an ihrem Gigantismus zerbrochen sind. Oder aber all diese Abfälle in der synthetischen Form einer anders gearteten Geschichte wiederaufbereiten, so wie 138 Baudrillard, Jean: Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse. Berlin: Merve 1994, S. 48. Es liegt natürlich einige Ironie in der Feststellung, dass der Marxismus, wie ja auch Knabe forderte, auf den modernen Geschichtsmüllhalden entsorgt werden sollte, wenn dieser selbst für die Existenz solcher „Müllhalden“ verantwortlich ist. 139 Es verwundert nicht, dass auch Derrida in „Marx’ Gespenster“ eine Auseinandersetzung mit dem Posthistoire-Denken suchte. Der größte Unterschied zu Baudrillards Thesen liegt wohl darin, dass es Derrida nicht darum geht, sich der Posthistoire zu fügen, sondern diese für ein neues Denken (womöglich in Form der deconstruction) in der Figur der messianischen Zeit, die ja auch die Zeit des wiederkehrenden (revenant) Gespenstes sein kann, philosophisch fruchtbar zu machen. Zur Differenz von Spectre und Simulakrum vgl. Abbinnett, Rose: The Spectre and the Simulacrum. History after Baudrillard. In: Theory, Culture & Society 25/2008, S. 69-87.
148 | 1989 UND WIR wir es heute im Zeichen der Demokratie und der Menschenrechte machen[.] […] Es ist unglaublich, daß nichts von dem, was man geschichtlich für überholt hielt, wirklich verschwunden ist, alles ist da, bereit zur Wiederauferstehung, alle archaischen, anachronistischen Formen sind unversehrt und zeitlos vorhanden wie Viren im Inneren des Körpers. Die Geschichte wurde nur aus der zyklischen Zeit herausgerissen, um dem Recycling zu verfallen.“ 140
Auch hier tauchten viele um 2009 aktuelle geschichtspolitische Motive auf: So auch die gefährdete Demokratie als das Andere des anachronistischen Kommunismus, dessen virenhafte Gefahr gebannt werden musste, indem man ihn auf den Müllhaufen der Geschichte verwies. Baudrillard hatte sicher Recht, dass der größte Bruch mit der Moderne darin bestehe, deren zyklische Zeit von Aufstieg und Fall durch das Recycling zu ersetzen. Eine Politik im Zeichen der Demokratie, wie auch Knabe sie verteidigen wollte, musste sich also gegen dieses Recycling wehren, in dessen Gefolge die „alten Kader“ und das „Gespenst des Kommunismus“ wiederkehrten. Sich erinnern, ohne Recycling zu betreiben, war eine geschichtspolitische Aufgabe: 2009 musste sich selbst gegenwärtig sein können, auch in der Präsenz der Geschichte von 1989 und der „alten Kader“. Letztere sollten allerdings nach und nach ausgeklammert werden, gerade durch eine kritische Erinnerung – wobei Kritik hier, durchaus im etymologischen Sinn des griechischen krínein, „(unter)scheiden“ oder „trennen“ meinte. Auch bei Knabe war es die Erinnerung, die dem Vergessen der Genealogie der Linken entgegen stehen, deren Verdrängung als Aufgabe (im Sinne von Aufgeben) ihres Erbes das Überleben der Partei sichern sollte. 141 Die gleichen Topoi bedienten auch die Journalist*innen Uwe Müller und Grit Hartmann. In ihrer 2009 erschienenen Untersuchung „Vorwärts und Vergessen!“142 parodierten sie bereits im Titel das berühmte „Solidaritätslied“ von Bertolt Brecht, Ernst Busch und Hans Eisler, das ursprünglich „Vorwärts und nicht vergessen“ betitelt ist. Auch bei ihnen ging es, wie bei Knabe, um „das gefährliche Erbe der SED-Diktatur“. Müller und Hartmann behaupteten ebenfalls, dass „wider Erwarten […] der sozialistische Staat nicht einfach auf dem Müllhaufen der Geschichte“ landete, sondern „[s]ein Gedankengut und seine Ideale […] im vereinten Deutschland
140 Baudrillard 1994, S. 49f. Gerade die letzte Passage liest sich nahezu analog zu Knabes Bedauern darüber, dass die SED nicht aufgelöst wurde, noch nicht verschwunden ist, und – obwohl sie, ihr Programm und ihr Personal eigentlich historisch überholt sein müssten – nahezu virenhaft im Staatskörper der bundesrepublikanischen Demokratie zirkulierte. 141 Vgl. Knabe 2009, S. 16f. 142 Müller, Uwe/Hartmann, Grit: Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen. Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur. Berlin: Rowohlt 2009.
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auf irritierende Weise fort[leben]“.143 „Die DDR will nicht verschwinden“, hieß es weiter, was die Autoren vor allem an einer um sich greifenden „Flucht ins Vergangene“ in Form von der sogenannten „Ostalgie“, und am Weiterbestehen der „Mythen des SED-Staates“ (nicht zuletzt befördert durch Die Linke) festmachten.144 Die zentrale These der Journalisten las sich ebenfalls analog zu Knabes Analysen: „Die Aufarbeitung der zweiten Diktatur [d.h. der SED-Diktatur] auf deutschem Boden ist gründlich gescheitert“, und die beiden Journalist*innen lieferten dazu „die längst überfällige Bilanz des folgenschweren Versagens“. 145 Dabei ging es den beiden Autor*innen um vier Themenfelder: Die Vergangenheitspolitik (im Sinne juristischer Aufarbeitung), die Genese der Linken, das Fortbestehen alter SEDEliten in Verwaltung und Öffentlichkeit und letztlich die staatlich institutionalisierte Geschichtspolitik.146 Als Leitfäden von Politik im Allgemeinen und Geschichtspolitik im Speziellen galten Hartmann und Müller „die wichtigsten Normen: die Menschenrechte und die Demokratie“, die sie in den Forderungen und der Geschichtspolitik der ostdeutschen Bürgerbewegung der Friedlichen Revolution wiederfanden. Letztere wurde dadurch zur Kontrastfolie.147 Hartmann und Müller identifizierten ein zweifaches Krisensymptom des Scheiterns in der DDR-Geschichtspolitik: Die Unterwanderung vieler Lebens- und Öffentlichkeitsbereiche durch „alte Kader“ und einen Hang zur Verdrängung und zur „retrograden Amnesie“. Gerade letzteres geriet in ihrer Darstellung zur zentralen Metapher der Geschichtspolitik zur DDR. Die Autor*innen zitierten „Mediziner“, die unter retrograder Amnesie „einen Gedächtnisverlust für den Zeitraum vor Eintreten des schädigenden Ereignisses“ verstehen.148 Dieses Vergessen und Verdrängen dessen, was gewesen ist (namentlich das Wirken und die Geschichte der „SEDDiktatur“149) führte laut Müller und Hartmann dazu, dass die SED, das MfS und deren Ideologie in anderen Formen weiterexistieren konnten – und nur aufklärende 143 Ebd., S. 7. 144 Ebd., S. 8. 145 Ebd., S. 9. 146 Ebd., S. 9ff. 147 Ebd., S. 11. Die geschichtspolitische Funktion der Friedlichen Revolution wird später ausführlicher dargestellt in dem Kapitel „Kritik und Krise – Erzählungen von der Friedlichen Revolution“. Interessant war auch hier, dass Hartmann und Müller mit „Demokratie“ und „Menschenrechte“ gerade die Zeichen hochhielten, in deren Namen laut Baudrillard das „Recycling“ betrieben werde. 148 Zitiert nach Ebd., S. 113. 149 Vielleicht ist es einmal mehr notwendig zu betonen, dass Anführungsstriche nicht den von ihnen gerahmten Begriff infrage stellen sollen, sondern die eigenständige Diktion und das spezifische Vokabular des Diskurses kennzeichnen. Über die Qualität eines Begriffes wie „SED-Diktatur“ kann und soll an dieser Stelle nicht geurteilt werden.
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Erinnerung dem kritisch entgegenstehen würde. Das Motiv zöge sich durch die juristische Aufarbeitung von 40 Jahren SED-Herrschaft, die in den Augen der Autor*innen nicht daran interessiert war, eine tiefergehende und gründliche Vergangenheitspolitik zu betreiben. Als Beispiel dafür diente die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“ Salzgitter, die kurz nach dem Mauerbau 1961 damit begann, „alle verfügbaren Informationen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der DDR“ zu sammeln und zu archivieren.150 Deren Unterlagen wurden jedoch schon 1992 „kalt entsorgt“, die Akten „verschwanden […] im Gerichtskeller“ und wurden erst Ende der Neunziger Jahre ins Bundesarchiv überführt.151 Wie Knabe kamen auch Müller und Hartmann zu dem Schluss, dass so „das Erbe der SED-Herrschaft auf fatale Weise fort[lebt]“.152 Aus dieser juristisch-archivarischen Amnesie wurde dann auch schnell die Forderung nach Amnestie laut, besonders seitens der Bundesregierung.153 Das scheiterte jedoch an dem Widerstand ostdeutscher Bürgerrechtler. So zitierten Müller und Hartmann Bärbel Bohley mit den Worten: „Amnestie bedeutet vergessen.“154 Dass die „fatale Urteilspraxis“155 gegenüber Verbrechen von SED und MfS dennoch vergleichsweise mild ausfiel, belegten die Autor*innen dann an einer akribischen Auflistung aller „verurteilten Haupttäter des SED-Regimes“.156 Aber die „Amnesie“ erschöpfte sich nicht in der juristischen Vergangenheitspolitik. Sie befiel laut Müller und Hartmann auch die staatliche Geschichtspolitik und deren Institutionen, der „sogenannte[n] Aufarbeitung der SED-Diktatur“.157 Der wirtschaftliche „Aufbau-Ost“ wurde von den Autor*innen zusammen mit dem Aufbau von Gedenkstrukturen und -institutionen als gigantisches Investititonsprojekt gelesen. Allerdings „mussten die Deutschen von einer Illusion Abschied nehmen“, nämlich „dass mit Geld zu reparieren ist, was die SED-Diktatur hinterlassen hat“.158 Auch die Geschichtspolitik sei trotz höchster Investitionen seitens des Bundes gescheitert, denn „Aufklärung haben die Milliarden kaum bewirkt“, es sei „so gut wie alles erforscht“, die gewonnenen Erkenntnisse „kommen nur nicht an“. 159 Im Gegenzug werde „die Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit’ stärker“, sprich die soge-
150 Ebd., S. 13. 151 Ebd., S. 13-17. 152 Ebd., S. 18. 153 Ebd., S. 51ff. 154 Zitiert nach Ebd., S. 56. 155 Ebd., S. 64. 156 Vgl. ebd., S. 65-72. 157 Ebd., S. 223. 158 Ebd., S. 225. 159 Ebd.
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nannte „Ostalgie“.160 Als Beleg für diese These diente die Studie, die Klaus Schroeder und sein Team zum DDR-Wissen von Schülern durchgeführt hatten. Ein weiterer Konstruktionsfehler der Geschichtspolitik zur DDR lag für Müller und Hartmann darin, dass zwei zentrale Institutionen des Bundes, die BStU und die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ entweder ehemalige MfS- und SEDKader beschäftigten161 oder mit diesen kooperierten162. Dadurch sei die Glaubwürdigkeit dieser zentralen Einrichtungen fragwürdig geworden. Diejenigen Institutionen des Bundes, die also das öffentliche und politische erinnern gestalten und vorantreiben sollten, waren in den Augen von Müller und Hartmann ebenso gescheitert wie die Justiz – und lieferten weitere Symptome für die „retrograde Amnesie“ der Geschichtspolitik zur DDR. Im Zentrum dieser Argumentation stand immer wieder die politische Biographie einzelner Personen. In den meisten Fällen handelte es sich um aktive Mitgliedschaften in SED und MfS oder deren Wirken in der DDR, die verschleiert, verdrängt, nicht aufgearbeitet und vergessen wurden. 163 Diese Argumentation, welche die Biographie zur Grundlage der Kritik machte, vereinte einmal mehr Person und Geschichte miteinander. Nicht nur die Geschichtspolitik zur DDR wurde von diesen vergangenen Lebenswegen heimgesucht und bedroht, sondern auch die Individuen, zu denen sie gehörten. Dadurch erklärte sich auch die häufige Verwendung des Vergessens-Motivs, das eine kritische Erinnerung verhindern sollte und als politische Strategie erkannt wurde. Wer die eigene Verstrickung in eine zu kritisierende Vergangenheit abstreifen konnte, war tragbar für Zukünftiges. Aktives Vergessen sicherte (meist politisches) Überleben. In den Worten Müllers und Hartmanns stand in dieser Politik „Macht gegen Identität“ 164 und „die Scheu vor einer Wiederbegegnung mit der eigenen Geschichte“165. Von diesem Motiv war auch die 2009 erschienene Artikelsammlung von Jürgen Schreiber getragen, die den bezeichnenden Titel „Die Stasi lebt“ 166 trug und „Einblicke in die schwarze Kammer des Verdrängten zu geben“ 167 suchte. Der Band versammelte Reportagen über ehemalige Stasi-Kader und deren Leben und Wirken nach 1989, die Schreiber für den Tagesspiegel und die Süddeutsche Zeitung zwi160 Ebd. 161 Besonders im Falle der BStU, vgl. ebd., S. 228ff. 162 Das gelte vor allem für die „Stiftung Aufarbeitung“, vgl. ebd., S. 264ff. 163 Vgl. besonders den Abschnitt „Parteien ohne Volk“, ebd., S. 101ff. und „Das Überleben der Eliten“ in ebd., S. 171ff. 164 Ebd., S. 145. 165 Ebd., S. 284. 166 Schreiber, Jürgen: Die Stasi lebt. Berichte aus einem unterwanderten Land. München: Knaur 2009. 167 Ebd., S. 10.
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schen 1993 und 2006 verfasst hat. Diese handelten meist von „GänsehautBegegnungen mit Stasi-Offizieren […] in beklemmender Stimmung“168, deren Personal Schreiber wie folgt beschrieb: „Die Mächtigen von gestern saßen an Tischen mit Häkeldeckchen, entpuppten sich als unbelehrbar, unternahmen nicht den geringsten Versuch, einnehmend zu wirken. Keiner der Lammetaträger konnte mir erklären, welche Art Gesellschaft die Verbindung von Allmachtphantasien und Karteikarten hervorbringen, wohin die wahnhaften Träume führen sollten […]. Viele hochrangige Dienstgrade waren mit dem Fall der Mauer tief gestürzt.“ 169
Damit zeigte Schreiber nicht nur, dass die Stasi derart personalisiert immer noch lebte, sondern auch, wie sie lebte: Bieder, uneinsichtig, unbelehrbar, gescheitert. Sein Programm lieferte Schreiber sogleich mit: „Wenn ich sagen soll, warum ich diese und jene Geschichte erzähle, kann ich nur wiederholen: Damit sie nicht vergessen wird!“.170 Auch hier verband sich das Aufdecken und Aufschreiben der politischen Biographie der „alten Kader“ mit einer programmatischen Erinnerung gegen das Vergessen. Auch „Die Stasi lebt“ reihte sich somit in den hantologischen Diskurs ein, der um 2009 auszumachen war. Auch die Doppelstrategie des kritischen Erinnerns hob Schreiber hervor. Diese besagte, dass Erinnerung in der Lage war, historisch überholtes wieder der Vergangenheit zuzuweisen und gleichzeitig (oder gerade dadurch) diese lebendige Vergangenheit in ihrer Präsenz auszuhalten – die einschließende Ausschließung. Im Zentrum standen dabei einzelne Biographien, die um 1989 einen Bruch erfahren hatten und seitdem nicht mehr der Gegenwart angehörten oder von ihrer Vergangenheit heimgesucht wurden. So hieß es beispielsweise über den ehemaligen SED-Anwalt Wolfgang Vogel, er sei „heute eine anachronistische Figur“, ein „Museum seiner selbst“.171 Peter Lux, den ehemaligen „Referatsleiter 1, Politik“ und verantwortlich für Abhöraktionen gegen Helmut Kohl, beschrieb Schreiber so: „Die Kontakte zum Gestern sind abgebrochen. Gleich einem unheimlichen Geheimnis verschweigt er das Kapitel [seiner MfS-Vergangenheit] im Bekanntenkreis. Wie früher. Der Schatten ließ sich damit nicht abschütteln, immer lebt Lux hinter makellos-bürgerlicher Fassade in der Angst, die Mitgliedschaft in der kriminellen Abhör-Vereinigung werde ihn irgendwann einholen.“172
168 Ebd. 169 Ebd., S. 10f. 170 Ebd., S. 11. 171 Ebd., S. 157 und 161. 172 Ebd., S. 128.
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Über den ehemaligen Chef der „Kommerziellen Koordinierung“ der SED, Alexander Schalck-Golodkowski, hieß es, der „Mann mit Vergangenheit ringt um seinen Platz in der Geschichte“173. Vom ehemaligen MfS-Oberst Karl-Christoph Großmann behauptete Schreiber, „der Bann der Vergangenheit“ sei in dessen Leben nach 1989 als „eingebranntes Wissen“174 geblieben. Der ehemalige DDR-Umweltminister Hans Reichelt wiederum wolle versuchen, „das eigene Leben aus der Biographie zu tilgen“, damit das „milde Licht der Erinnerung […] die verfluchten Tatsachen der Umweltausbeutung [verklärt]“, die auf Reichelts politischem Lebensweg lasten175. Über die ehemalige IM des MfS Brigitte Schubert hieß es, als Schreiber sie während seines Besuchs nach ihrer Arbeit für die Stasi befragte, „die Vergangenheit hat sie eingeholt“, ihr Gespräch war wie eine „geisterhafte Unterhaltung“, ihr langes „Schweigen über das Unsagbare“ getrieben vom „Verdrängen, um die eigene Beklemmung in Schach zu halten“, auch „damit ihnen [d.h. Schubert und ihrem Mann, der auch ihr ehemaliger Vorgesetzter war] der peinigende Schatten […] nicht die Gegenwart zerstört“176. Diese waren nur einige Beispiele von Heimsuchungen (politischer) Biographien durch die SED- und MfS-Vergangenheit, die nach 1989 „eingebrannt“, wie ein Fluch auf verschiedenen individuellen Lebenswegen lasteten. Es war also nicht nur die Geschichtspolitik zur DDR und die bundesdeutsche Parteienlandschaft, die seit 1990 von der DDR-Vergangenheit heimgesucht wurde, sondern auch die für diese Vergangenheit Verantwortlichen.177 Auch Schreiber bediente sich eines Metaphern-Repertoirs, das auf die gespenstische Latenz der DDR-Vergangenheit abhob, die letztlich die Gegenwart und deren Zukunft bedrohen konnte. Das betraf nicht nur die belasteten Biographien ehemaliger SED- und MfS-Kader, sondern auch deren Opfer. So beschrieb Schreiber Täterfiguren wie den ehemaligen Spionagechef der DDR, Markus Wolf, als „Spukgestalt“ und „Phantom“178; auch Ex-DDR-Umweltminister Reichelt war bei Schreiber 173 Ebd., S. 86. 174 Ebd., S. 66. 175 Ebd., S. 206. 176 Ebd., S. 24-27. 177 Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass dieses Heimsuchungsmotiv um 2009 besonders prominent in der Person Karl-Heinz Kurras anzutreffen war, dem Polizisten, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss. Im Mai 2009 löste die Enthüllung, dass Kurras IM des MfS war „eine neue Geschichtsdebatte“ aus und auch die Privatperson Kurras sah sich vermehrt im Rampenlicht stehend, vgl. Kubjuweit, Dirk/Röbel, Sven/Sontheimer, Michael/Wensierski, Peter: Verrat vor dem Schuss. Der Spiegel 22/2009. Ein verallgemeinernde Darstellung darüber, was der „Fall Kurras“ für die Geschichte des MfS und den Umgang mit selbiger bedeute, bietet Kellerhoff, Sven-Felix: Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex. Hamburg: Hoffmann und Campe 2010. 178 Ebd., S. 46.
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ein „Phantom aus der politischen Geisterwelt des Ostens“ 179. Der Schriftsteller und ehemalige Hohenschönhausen-Häftling Jürgen Fuchs könne dem „Spuk kein Ende machen“, den die Stasi-Haft ihm als „etwas Unauslöschliches in die Seele [brannte]“, das als „Verfolgunstrauma“ bis zu dessen Tod 1999 weiterwirkte180, was Schreiber zu dem Schluss veranlasste: „Über den Untergang hinaus verbreitet die Stasi mabusehaften Schrecken.“181 Die Genslerstraße, in der unter anderem das ehemalige MfS-Gefängnis und heutige Gedenkstätte Hohenschönhausen liegt, zeichnete Schreiber als „kalte, perfekte Schattenwelt“, ein „Areal umfassender Verlassenheit“, in dem „die Gespenster der Vergangenheit“ umher gingen, „die Zeit […] still“ stehe und in der ein „[n]icht greifbarer Schrecken lauert“. 182 Die Schatten-Metapher setzte Schreiber auch dadurch fort, dass die ehemaligen MfS-Kader meist als „Dunkelmänner“ oder „Schattenkrieger“ bezeichnet wurden.183 Deren Zusammenkünfte nach 1990 nannte er „Geisterbeschwörung“ 184 oder „wundersame Wiederauferstehung“185. Dies mag man als effekthaschende Metaphorik lesen, allerdings wurde bisher argumentiert und gezeigt, dass sich dieses metaphorische, hantologische Vokabular weitläufig durch den geschichtspolitischen Diskurs über SED und MfS zog. Die Frage, wie mit dem Erbe von SED und MfS umgegangen werden sollte, ging nicht allein in der „Unrechtsstaatsdebatte“ auf. Dieses dezidiert politische Problem ließ sich weder allein juristisch noch durch einen einzigen Begriff lösen. Vielmehr brauchte es ein ganzes Repertoire an Denkfiguren, um es als geschichtspolitisches Matter of Concern zu markieren und zu behandeln. Dies war, neben der Hantologie und dem dazugehörigen Vokabular, die einschließende Ausschließung. 186
179 Ebd., S. 201. 180 Ebd., S. 69 u. 73. Im Fall von Jürgen Fuchs ging es vor allem um den Verdacht, die Stasi habe während ihrer Verhöre und Untersuchungen Röntgengeräte auf die Häftlinge gerichtet, die auf lange Sicht deren Krebstod herbeiführen sollten, was bis heute aber nicht nachgewiesen werden konnte. Fuchs starb 1999 an Krebs und hegte bis zu seinem Tod den Verdacht, dieser sei durch ebendiese Stasi-Methoden herbeigeführt worden. 181 Ebd., S. 73. 182 Ebd., S. 145. 183 Besonders Ebd., S. 164ff. 184 Ebd., S. 176. 185 Ebd., S. 183. 186 Es gibt auch genügend Hinweise dafür, dass diese Strategie die Geschichtspolitik zur DDR schon seit 1989 kennzeichnete, vgl. dazu besonders Rudnick 2011 und Hüttmann 2008, im speziellen Fall der SED/PDS/Linken vor allem die Studie von Lannert, Christian: Vorwärts und nicht vergessen? Die Vergangenheitspolitik der Partei DIE LINKE und ihrer Vorgängerin PDS. Göttingen: Wallstein 2012.
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Bisher wurden, neben dem hantologischen Vokabular Derridas und dem Posthistoire-Denken Baudrillards, vor allem die Begriffe Präsenz und Latenz herangezogen, um diese Geschichtspolitik zu 1989 zu beschreiben. Beide Begriffe hat besonders Hans Ulrich Gumbrecht zu den Grundfesten seiner Arbeiten gemacht. Gumbrecht beschreibt Latenz als „eigenartige Präsenz einer Vergangenheit […], die nicht aufhörte, obwohl sie doch anscheinend ihre Wirkung verloren hatte“.187 Er veranschaulicht diese Denkfigur und ihr Verhältnis zur gegenwärtigen Präsenz vor allem anhand der Metapher des „blinden Passagiers“: „In einer Situation der Latenz sind wir ebenso wie in Gegenwart eines blinden Passagiers in erster Linie sicher, dass etwas (oder jemand) da ist, das wir nicht fassen oder berühren können – und dass dieses ‚etwas’ (dieser ‚Jemand’) eine materielle Artikulation besitzt, was bedeutet, dass es (er, sie) Raum benötigt. Wir können offenbar weder sagen, woher wir diese Gewissheit einer Präsenz nehmen, noch wo das Latente genau sein soll. Und weil wir die Identität der latenten Sache oder Person nicht kennen, haben wir auch keine Garantie, dass wir das Latente überhaupt erkennen würden, wenn es sich denn zeigte.“188
Nun verhielt es sich im Fall des Entbergens von politischen Biographien in der SED oder dem MfS seit 1989/90 nicht so, dass es keine konkreten Namen, Personen oder gar Lebensläufe gab, die nicht benannt werden konnten, ganz im Gegenteil: Gerade das klare Benennen dieser Personen und ihrer Biographien löste die Latenz ihrer politischen Vergangenheit auf.189 Was jedoch die Idee des Latenz-PräsenzVerhältnisses mit diesem Diskurs kompatibel macht, ist das Bedrohungsszenario, das die Arbeit gegen die Spuren der SED-Strukturen auch um 2009 anzutreiben schien. Darin ähnelt die Latenz dem Gespenst Derridas, das zwar vergangen ist und auch immer dem Vergangenen zugehörig sein soll, dessen Rückkehr allerdings die Zeitstrukturen des Gegenwärtigen zu durchkreuzen und im schlimmsten Fall dessen Zukunft zu verhindern droht. Der latente „blinde Passagier“ der Linken war um 2009 die Idee des Kommunismus und die Politik der SED. 187 Gumbrecht 2012, S. 38. Gumbrecht schreibt weiter, dass er die Begriffe Verdrängung und Vergessen explizit vermeiden möchte. 188 Ebd., S. 39. 189 Das erklärt auch, warum immer mehr von als MfS-Mitarbeiter Bezichtigten dagegen geklagt wurde, dass ihre Klarnamen in Medienberichten auftauchten. Immer mehr Urteile gaben den Klägern Recht, sodass 2009 eine wissenschaftliche Tagung stattfand, die versuchte, diese Urteilspraxis zu verhindern und weiterhin die Klarnamen von ehemaligen MfS-Mitarbeitern nennen zu dürfen. Vgl. einen Bericht von Jacqueline Boysen für Deutschlandradio Kultur mit dem Titel „Die Täter beim Namen nennen“. (Transkript der Sendung vom 17.3.2009: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/ 936666/ [25. 1. 2013]).
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Gumbrecht verbindet mit der Ausbreitung von Latenzen ein „neues Chronotop“, in dem „die Zukunft nicht mehr als offener Horizont der Möglichkeit erlebt werden [wird], aus denen wir wählen können, sondern als eine Fülle von Bedrohungen, die auf uns zukommen“.190 Genau das zu verhindern, diese Bedrohung – wie die drohende Wiederkehr anachronistischer Ideologien wie des Kommunismus oder der Politik der SED – einzudämmen, war um 2009 zentrale Aufgabe der Geschichtspolitik, speziell auch zu 1989. Die Vergangenheit zu bannen und auszuschließen, die Gegenwart als Übergang zu begreifen und die Zukunft als Möglichkeitsraum offen zu halten – diese Programme bestimmten die Geschichtspolitik des „Erinnerungsjahres 2009“. Diese Politik zeigte sich dann auch in einer Diskussion, die sich um die Landtagswahl in Brandenburg 2009 entfaltete. Dort wurde am 27. September die SPD stärkste Fraktion mit 33% aller Stimmen und hatte die Wahl, eine Koalition mit der CDU (19,8%) oder der Linken (zweitstärkste Fraktion mit 27,2%) einzugehen.191 Matthias Platzeck, designierter Ministerpräsident der SPD, kündigte daraufhin an, mit der Linken koalieren zu wollen. Das löste insofern einen Skandal aus, als dass Platzeck bereit war eine Regierung mit einer Partei zu bilden, deren Spitzenkandidatin Kerstin Kaiser als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR tätig gewesen ist. Kaiser war, als ihre IM-Tätigkeit bekannt wurde, schon 1994 von einem Bundestagsmandat zurückgetreten, wurde dennoch 2005 zur Vorsitzenden der PDS in Brandenburg gewählt und kandidierte schließlich 2009 als deren (mittlerweile in „Die Linke“ umgetaufte) Spitzenkandidatin.192 Kaiser machte aus ihrer IM-Vergangenheit keinen Hehl. Weder für die Linke noch für Platzeck schien diese mittlerweile ein Grund zu sein, eine Regierungsteilnahme der Partei oder der Person Kaisers auszuschließen. Und genau dieser nicht stattfindende Ausschluss wurde als Tabubruch gewertet. So ereignete sich nicht nur eine Debatte darum, ob mit ehemaligen SED- und MfS-Kadern regiert und koaliert werden konnte, sondern auch, wie eine Geschichtspolitik unter diesen Voraussetzungen, gerade auch im „Erinnerungsjahr 2009“, auszusehen habe. In diesem Sinne kommentierte Stefan Berg auf Spiegel Online die Koalitionsverhandlungen: „Es geht um die Macht im Lande – aber um auch wesentlich mehr: Im Jahr 20 nach der friedlichen Revolution entscheidet Platzeck, was DDRVergangenheit heute noch zählt. Kommt es zum Händedruck mit der Spitzenkandidatin der Partei Die Linke, Kerstin Kaiser, käme dies einem symbolischen Schluss-
190 Gumbrecht 2012, S. 303. 191 Vgl. dazu die Übersicht des Amt für Statistik Berlin-Brandenburg: Wahlen im Land Brandenburg. Präsentation der Ergebnisse. Landtagswahl 2009 (URL: http://www. wahlen-brandenburg.de/Landtagswahl-2009/LTW2009.htm [25. 1. 2013]). 192 Vgl. Lannert 2012, S. 173.
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strich gleich.“193 Die damalige CDU-Landesvorsitzende Brandenburgs, Johanna Wanka, erklärte, dass der „ehemalige Bürgerrechtler Platzeck mit seiner Entscheidung für ein Bündnis mit den SED-Erben aber die Büchse der Pandora geöffnet hat“ und „ein rot-roter Handschlag gerade im 20. Jahr der friedlichen Revolution den Opfern des SED-Unrechtsstaates wie ein Schlag ins Gesicht vorkommen“ müsse, weshalb Platzecks Rot-Rote Koalition „Verrat der Ideen von 1989“ sei.194 Hubertus Knabe kommentierte in einem Artikel für Cicero vom 22. Oktober 2009: „Kein Bundesland ist so sehr Heimatterritorium alter DDR-Seilschaften wie Brandenburg. Hier ist die lautlose Renaissance der Täter über die Linkspartei besonders weit gediehen. […] Hauptamtliche Stasi-Offiziere, die die DDR verklären, finden im brandenburgischen Landesverband der Linken bis heute freundliche Aufnahme.“195
Knabes Artikel zitierte ein Bonmot des ehemaligen Ministerpräsidenten Brandenburgs, Manfred Stolpe, der seinem Bundesland das Etikett „kleine DDR“ verpasste.196 Dass sich der SPD-Politiker Stolpe seit Beginn der Neunziger Jahre dem Verdacht ausgesetzt sah, als „IM Sekretär“ für das MfS tätig gewesen zu sein und diesen Verdacht bis dato nicht ausräumen konnte 197, warf einen zusätzlichen Schatten auf die SPD Brandenburgs und lieferte Stoff dafür, Platzecks Koalitionspläne in die Kontinuität dieser Verstrickungen mit den „alten Kadern“ und der DDRVergangenheit zu stellen.198
193 Berg, Stefan: Rot-Rot in Brandenburg. Platzeck plant die Schlussstrich-Koalition. Spiegel Online am 10.10.2009 (URL: http://goo.gl/izNKJ [18.7.2013]). 194 Vgl. CDU Brandenburg: „Verrat an den Ideen von 1989. Eine Entscheidung gegen Brandenburg“. Presseerklärung vom 12.10.2009 (URL: http://goo.gl/fHtl5 [18.7.2013]). 195 Knabe, Hubertus: Platzecks „kleine DDR“. Cicero Online am 22.10.2009 (URL: http:// goo.gl/XgoKe [18.7.2013]). 196 Vgl. Berg, Stefan: VEB Manfred Stolpe. Der Spiegel 32/2001. 197 Allerdings ist, trotz eines ausführlichen Gutachtens der BStU und des Gutachtens einer seit März 2010 tagenden Enquete-Kommission des Brandenburger Landtags zur „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ aus dem Jahr 2011 noch kein letzter Beweis erbracht worden, dass Stolpe als „IM Sekretär“ für das MfS gearbeitet hat, vgl. Berg, Stefan: Akten statt Worte. Der Spiegel 51/2003. Gutachten und Wortprotokoll zur 11. Sitzung der Enquete-Kommission vom 24.6.2011 findet sich unter: http://goo.gl/EQbir [18.7.2013]. 198 Vgl. Lutz, Martin: Kein schöner Stasi-Land. Die Welt vom 6.3.2009 und Berg, Stefan: Brandenburg: Platzeck sitzt in der Stasi-Falle. Spiegel Online am 2.12.2009 (URL: http://goo.gl/34RBf [18.7.2013]).
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Kaiser selbst wiederholte die Topoi der heimgesuchten Biographie in einer ausführlichen Darstellung zu ihrer Vergangenheit auf ihrer Abgeordneten-Homepage. Dort hieß es: „Was ich falsch gemacht habe, wird mich mein Leben lang beschäftigen und quälen. Quälen auch deshalb, weil ich aus heutiger Sicht sagen kann: Es wäre möglich gewesen, nein zu sagen, sich zu verweigern. […] Diese Erkenntnis blieb mir ein Kompass, half mir dabei, glaubwürdig zu sein als Mensch in der Familie und unter Freunden, erkennbar zu sein als demokratische Sozialistin. Ich baue darauf, dass dies zählt. Dass es wiegt, ohne aufzuwiegen. Denn darum ging und geht es mir nicht, aufzuwiegen, abzuwiegeln, in die Schublade zu packen. Die Auseinandersetzung mit Geschichte, auch mit meiner ganz persönlichen Lebensgeschichte, hört für mich nicht auf. “199
Kaiser wendete dadurch die Heimsuchung ihrer eigenen politischen Biographie ins Produktive, indem sie ihre Vergangenheit „zum Kompass“ ihres gegenwärtigen Handelns „als demokratische Sozialistin“ erklärte – und damit den Topos des „Lernens aus der Geschichte“ bediente. Zuvor hatte Kaiser erklärt: „Es ist meine persönliche Sicht der Dinge, eine Erklärung und keine Rechtfertigung. Die beschriebenen Erfahrungen haben mich sehr geprägt. Sie wirken bis heute nach und behalten Bedeutung für mein jetziges und weiteres Leben.“200 Dieser offensive Umgang mit der eigenen politischen Biographie ehemaliger SEDund MfS-Mitglieder wurde seit 1989/90 immer wieder als politische Strategie markiert. Durch den ständig wiederholten offenen Tabubruch wolle die SED/PDS/Linke erreichen, dass eine schleichende Akzeptanz dieser politischen Vergangenheit einsetze.201 Die andere Strategie, die in diesem Zusammenhang oft ausgemacht wurde, ist die Umwandlung der „Täter“ zu „Opfern“.202 In diesem Fall sähen sich die Partei der Linken und assoziierte Einzelpersonen gegenwärtig durch die Erinnerung an ihre Vergangenheit bedroht. Gerade die Metapher der „Hexenjagd“ wurde
199 Kaiser, Kerstin: Zu meiner Vergangenheit. Kerstin-Kaiser.eu (URL: http://goo.gl/ ZIGPb [18.7.2013]). 200 Ebd. 201 Vgl. Lannert 2012, S.173f. 202 Auch hier sollen die Anführungsstriche nicht suggerieren, dass der Täter- oder Opferstatus angezweifelt wird, das wäre am einzelnen Fall nachzuweisen. Vielmehr soll hier wieder eine Argumentationsstruktur und deren Vokabular gekennzeichnet werden, die eine bestimmte Eigenlogik hervorbringt.
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öfters herangezogen, wenn sich Abgeordnete der „Linken“ als ehemalige MfSMitarbeiter outen und entsprechende Konsequenzen folgen lassen sollten. 203 Die Kontroverse weitete sich aus, als Matthias Platzeck im Spiegel einen Essay mit dem Titel „Versöhnung ernst nehmen – Warum unser Land endlich Frieden braucht“204 veröffentlichte, in dem er seine Koalitionspolitik mit Geschichtspolitik in Einklang zu bringen suchte. Darin beschrieb Platzeck zunächst, wie ihn 1989 zwei Stasi-Offiziere anzuwerben versuchten, er sich diesem Angebot jedoch verweigerte. Ihm blieb allerdings die Angst und das Gefühl der Ohnmacht zurück – zwei Gefühlszustände, die Platzeck in seinem Essay zu den Grundfesten der DDRErfahrung zählte.205 Laut Platzeck ließ sich diese Erfahrung nicht durch vergehende Zeit tilgen: „Viele können sich an irgendein Schlüsselerlebnis ihrer einstigen Ohnmacht heute noch so genau erinnern, als wäre es gerade erst geschehen. Und weil das so ist, sind 20 Jahre ein sehr relativer Zeitraum. Vieles ist vergessen, manches aber eben nicht. Deshalb tun sich nicht wenige bei uns in Ostdeutschland so schwer damit, das Gewesene ein für alle Mal gewesen sein zu lassen.“206
Platzeck erklärte weiter, dass es „im Verhältnis zur Nachfolgeorganisation der SED [...] auch 20 Jahre nach dem Ende der DDR nicht nur um Kompromisse in der Sache“ gehe, sondern „auch um die Last der Geschichte, um staatliche Willkür, Verletzungen, gebrochene Biografien [...], kurz gesagt, um die Macht der Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft“.207 Und weiter hieß es: „Zwei Jahrzehnte nach dem revolutionären Umbruch in der DDR müssen wir in Deutschland endlich anfangen, es mit dem überfälligen Prozess der Versöhnung wirklich ernst zu meinen.“208 Platzeck verwies darauf, dass „[a]lle postdiktatorischen Gesellschaften [...] vor demselben Grundproblem [stehen]: Wie weit sollen belastete Gruppen von Menschen in die neue demokratische Gesellschaft integriert werden?“.209 Dem folgte ein 203 Vgl. Meisner, Matthias: Die Linke zeigt sich von Stasi-Verstrickungen geplagt. Zeit Online am 3.12.2009 (URL: http://goo.gl/ZO6BC [18.7.2013]) und Berg, Stefan: Platzeck sitzt in der Stasi-Falle. Spiegel Online am 2.12.2009 (URL: http://goo.gl/34RBf [18.7.2013]). 204 Platzeck, Matthias: Versöhnung ernst nehmen. Warum unser Land endlich Frieden braucht. Der Spiegel 45/2009. 205 Ebd. 206 Ebd. 207 Ebd. 208 Ebd. 209 Ebd.
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Abriss über den Umgang der Bundesrepublik mit dem Nationalsozialismus, bei dem „selbst Täter des Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt blieben, sondern einbezogen wurden“ und dennoch eine „gelungene Demokratisierung“ Westdeutschlands nach 1945 festzustellen sei. Diese demokratische Stabilisierung bei gleichzeitiger Integration ehemaliger Tätergruppen bleibe im Fall der Geschichtspolitik zur DDR jedoch noch aus: „Der seit 1990 vereinigten Bundesrepublik ist zwar eine bemerkenswerte, richtige und bessere Aufarbeitungsleistung gelungen“, so Platzeck weiter, „eine vergleichbare Integrationsleistung bis heute jedoch nicht. Quer durch die ostdeutsche Gesellschaft zieht sich auch nach 20 Jahren noch immer – und sogar wieder zunehmend – ein ungesunder Riss.“210 Platzeck schloss seinen Essay mit einer Programmatik der Integration, die eine Politik des „tätigen Neubeginns“ fordere, wenn ein demokratisches Gemeinwesen gewährleistet werden solle – auch auf Kosten der „Vergangenheitsbewältigung“: „Ob wir die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen, erweist sich deshalb weniger in ritualisierter Vergangenheitsbewältigung als in unserer Bereitschaft zu tätigem Neubeginn. Wer sich dazu bereitfindet, muss Demokraten willkommen sein. Das galt in den Jahrzehnten nach 1945 in der westdeutschen Bundesrepublik, es muss endlich genauso für das seit 20 Jahren vereinigte Deutschland gelten.“211
Platzeck zeichnete ein Bild der Gesellschaft und Politik nach 1989/90, das von Spaltungen und Ausgrenzungen dominiert wurde. Geschichtspolitik war demnach immer auch ein Vehikel dieser Spaltung. Indem bestimmte, teils auch untilgbare, Erinnerungen am Leben gehalten wurden, war es möglich, dass „die Macht der Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft“ weiterhin dominierte. Versöhnung und Integration stellte Platzeck gegen Ausgrenzung und Spaltung. Damit implizierte Platzeck mindestens, dass die Linke bereit sei, sich demokratischen Strukturen unterzuordnen, trotz ihres undemokratischen Erbes. Genau das bezweifelten Kritiker wie Hubertus Knabe, Grit Hartmann und Uwe Müller, die eine extreme Gegenposition zu Platzeck vertraten. In der folgenden Ausgabe des Spiegel fand sich eine von Richard Schröder verfasste Replik auf Platzecks geschichtspolitischen Aufruf, die, ob Zufall oder nicht, am 9. November 2009, dem zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls, veröffentlicht
210 Ebd. 211 Ebd.. Platzeck, wie auch seinen Gegnern, ging es darum, demokratische Strukturen zu festigen. Wie in der „Unrechtsstaatsdebatte“ diente diese Absicht auch hier Befürwortern wie Gegnern der Integration ehemaliger SED- und MfS-Mitarbeiter als Begründung ihrer Position.
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wurde.212 Schröder kritisierte vor allem die Diagnose Platzecks, dass ein Riss durch die Gesellschaft verlaufe, den versöhnlich zu kitten mit einer politischen Koalitionsgeste gelingen sollte. Dieses Zusammenführen von Geschichts- und Koalitionspolitik überhöhe laut Schröder „die Rechtfertigung der rot-roten Koalition zu Unrecht ins Hochmoralische und spricht ihr Versöhnungswirkungen zu, die gar nicht eintreten werden“.213 Auch die Rhetorik der Ausgrenzung kritisierte Schröder. Dass bestimmte Parteien wie die Linke nicht per se als Koalitionspartner in Frage kämen, sei nur legitim in einer parlamentarischen Demokratie. Würde diese Praxis aufgehoben werden, reproduziere man die politischen Verhältnisse der DDR: „Mit dem Argument landen wir am Ende bei einer permanenten Allparteienregierung wie in der DDR.“214 Dass Koalitionen mit der vormaligen SED nicht selten ohne Skandalisierung entstehen, lag für Schröder nicht zuletzt am Erbe der SED: „Sie [d.h. die Linke] leidet an einem Geburtsfehler, den sie allein selbst zu verantworten hat. Denn sie hat es vermieden, sich zu sortieren. Sie wollte, sagte sie damals, ‚niemanden ausgrenzen‘ und hat nicht wenige Betonköpfe in ihren Reihen behalten, die zum Glück den Kurs des Vorstands wenig beeinflussen.“215 Vielmehr erkannte Schröder in der Ausgrenzungs-Rhetorik die politische Strategie der Linken, sich selbst als Opfer ihrer Geschichte und ihres Erbes darzustellen: „Opfer sein ist nämlich heutzutage der begehrteste Status. Deshalb sollten wir nicht leichtgläubig sein, wenn jemand sich als Opfer stilisiert. Kurz: Ich kann nicht erkennen, dass die Linke in unserem Lande auf ungerechte Weise diskriminiert und ausgegrenzt wird. Sie stellt sich aber gern so dar. Sie drückt auf die Tränendrüse.“216
Versöhnung war für Schröder zudem davon abhängig, wie beispielsweise ehemalige MfS-Mitarbeiter mit ihrer Vergangenheit umgingen, ob sie diese öffentlich machten und bereit waren, Konsequenzen für sich und ihr politisches Wirken daraus zu ziehen (wie Kerstin Kaiser es in seinen Augen getan hat), oder ob ihr „20jähriges Verschweigen“ anhalte. Denn es gebe auch weiterhin ehemalige MfSKader, „die gerichtlich dagegen vorgehen, dass ihr Klarname genannt wird, und die heute noch ihre Opfer einschüchtern und ihnen mit dem Anwalt drohen, wenn sie erzählen, wer sie hinter Gitter gebracht hat“, so Schröder weiter, „[m]it denen 212 Schröder, Richard: Versöhnung – mit wem? Warum die Linke nicht ausgegrenzt ist. Der Spiegel 46/2009. 213 Ebd. 214 Ebd. 215 Ebd. 216 Ebd.
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möchte ich mich auch in Zukunft nicht versöhnen. Ihr Verhalten ist verächtlich.“217 Schlussendlich könne Platzecks Koalition nicht die geschichtspolitischen Ziele erreichen, die sie vorgebe anzustreben, „weil viele Verwundungen ostdeutscher Seelen durch eine Versöhnungsinitiative in Richtung Linke gar nicht geheilt werden“, was nur zum Teil daher rühre, dass sich in dieser Partei Erben von SED und MfS weiter ausschwiegen oder sich geschichtspolitisch anderweitig „verächtlich“ verhalten. Den von Platzeck diagnostizierten „Riss“ verstand Schröder vielmehr als Effekt des Strukturwandels und des Erbes der „posttotalitäre[n] Verhältnisse“ nach 1989. Interessanterweise war dieser Riss für Schröder nicht durch die politische Versöhnungsgeste mit den Erben von SED und MfS zu kitten, sondern eher mit der Erinnerung an die Friedliche Revolution und den Mauerfall: „Im Osten ist das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, über alle Parteiorientierungen hin weitverbreitet. Das Gefühl haben Ostdeutsche in die Einigung mitgebracht. Vielleicht wird es bei einigen wenigstens geheilt durch die Erinnerung an den Herbst ‘89, an den Mut und die Zivilcourage von damals.“218 Damit schlug Schröders Argumentation einen Haken zurück zu den Aufgaben der Geschichtspolitik des „Erinnerungsjahres 2009“: Erinnerung als Vergemeinschaftung, gegen das Schweigen der Täter und Vergessen der tatsächlichen Opfer. Eine Versöhnung, gerade auch zwischen Ost- und Westdeutschen, war für Schröder nur durch eine gemeinsame Erinnerung und Anerkennung zu schaffen, nicht durch eine Amnestie mit den Mitteln der Amnesie. Das Erbe der SED, der Geist der Staatssicherheit, die drohende Rückkehr in kommunistische oder sozialistische Verhältnisse war demnach 2009 nur durch diese offensive Erinnerung zu bannen, die die Opfer einschloss und die Verschwiegenheit der Erben von SED und MfS ausschloss. Mit Hans Ulrich Gumbrecht gesprochen war sie gegen „eine Präsenz der Vergangenheit, die gleichzeitig gegenwärtig, beunruhigend und unzugänglich“219 erscheint zu richten, damit die Geschichtspolitik auch das definieren kann, „was das jeweilige Jetzt, die jeweilige Gegenwart gerade ausmacht“220. In dieser Folge wurde am 24. März 2010 auf Anfrage von 31 Abgeordneten der Fraktionen der CDU, FDP und Grüne/Bündnis 90 die Einsetzung einer EnqueteKommission mit dem Titel „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ beschlossen, deren Auftrag sich im Antragsschreiben wie folgt begründete: 217 Ebd. 218 Ebd. 219 Gumbrecht 2012, S. 306. 220 Ebd., S. 304.
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„Diskussionen in der jüngeren Zeit haben die Frage aufgeworfen, ob es bei diesem Prozess [d.h. die Einführung des demokratischen Rechtsstaats und eines Erinnerungs-Konsens im antitotalitären Sinne] nicht Versäumnisse gegeben hat. Der Übergang von der SED-Diktatur zum demokratischen Rechtsstaat, die deutsche Einheit und die Bildung der neuen Länder sind ein Vorgang ohne Vorbild. Zwei Jahrzehnte nach Beginn dieses Prozesses ist es notwendig, Rückschau zu halten und zu prüfen, ob der Prozess der demokratischen Umbildung in Brandenburg [...] erfolgreich war, und ob es Versäumnisse und Fehlentwicklungen gab, die zu korrigieren sind. Aus diesen Gründen soll die Enquete-Kommission [...] eine politischhistorische Erörterung des Neuanfanges im Land Brandenburg leisten, den Aufarbeitungsprozess fördern und Vorschläge unterbreiten, welche Akzente zukünftig für die weitere Entwicklung des Landes und die Aufarbeitung der Geschichte und von Folgen der SED-Diktatur im Land Brandenburg zu setzen sind.“221
Als nicht-parlamentarische Mitglieder waren sowohl Richard Schröder als auch Klaus Schroeder beteiligt, zu Beginn war auch Kerstin Kaiser in der Kommission tätig. So versammelte die Enquete-Kommission mehrere Protagonisten dieses Kapitels und steht, wie schon die Enquete-Kommissionen des Bundes zur DDRGeschichte, für den Effekt des Black Boxing in der Geschichtspolitik.222 In Programm und Auftrag der Kommission spiegelte sich erneut die geschichtspolitische Geste, die Jacques Derrida in Spectres du Marx beschrieb: „Der Übergang dieser Zeit der Gegenwart kommt aus der Zukunft, um auf die Vergangenheit zuzugehen“.223 Nichts anderes wollte die Geschichtspolitik des „Erinnerungsjahres 2009“.
221 Antrag der CDU-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Grüne/B90: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“. Landtag Brandenburg: Drucksache 5/554, S. 4f. 222 Bruno Latour versteht unter Black Boxing den Effekt, dass eine bestimmte Politik oder ein bestimmtes wissenschaftliches Wissen seine Herkunft verschleiert und sich nahezu naturalisiert, um als eine Einheit aufzutreten, vgl. Latour 1987, S. 131. 223 Derrida 2004, S. 42f.
Teil II: Geschichten eines Endes 1989/2009 Die Schatten der Vergangenheit Wo ich auch hingeh, sind sie nicht weit Ich weiß nicht einmal, wer ich bin In der Zeitung zu lesen, das hat keinen Sinn Die zweite Hälfte des Himmels könnt ihr haben Das Hier und das Jetzt, das behalte ich FEHLFARBEN
Why is it nobody knows where to go But everybody knows we must go? Where is my Revolution? SOPHIE HUNGER
Erstes Kapitel Die Friedliche Revolution im „Erinnerungsjahr 2009“
„Ein Gespenst geht um in Europa“ – so lauten die berühmten ersten Worte des 1848 veröffentlichten „Manifest der kommunistischen Partei“.1 Dessen Autoren, Karl Marx und Friedrich Engels, meinten damals das „Gespenst des Kommunismus“ und die sich mit ihm ankündigende Revolution der Arbeiterklasse gegen die Besitzenden und die bürgerliche Klasse der Bourgeoisie. Diese in den Tagen der Februarund Märzrevolution niedergeschriebenen Gedanken führte David Priestland in seiner 2009 erschienenen „Weltgeschichte des Kommunismus“ ideengeschichtlich auf eine andere epochale Zäsur moderner Geschichte zurück: Die Französische Revolution von 1789, die nicht selten als Beginn der modernen europäischen Demokratiegeschichte beschrieben wird.2 Aber Priestlands Genealogie des Kommunismus endete weder mit dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ noch mit der Gründung der „Zweiten Internationale“ 1889, sondern mit dem Jahr 1989. Was laut seiner Darstellung 1789 als ein Aufbegehren der Bevölkerung gegen ein autoritäres Regime begann, sich 1848 fortsetzte, 1889 institutionalisierte und 1917-1919 mit der Oktoberrevolution seinen weltweiten Erfolgszug antrat, fand 1989 erneut in einer als Revolution bezeichneten Konstellation sein Ende: Die Erfolgsgeschichte des Kommunismus als politisches System.3 Doch für Priestland war „der dramatische und weitgehend unvorhergesehene Sturz des Kommunismus im Jahr 1989 weit mehr als nur der Zusammenbruch eines Reiches: Er bildete das Ende einer zweihundertjährigen Epoche, in der zuerst die europäische und dann die Weltpolitik von
1
Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei. Stuttgart: Reclam 1986.
2
Vgl. Priestland, David: Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis heute. München: Siedler 2009, S. 25ff und Nolte, Paul: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München: Beck 2012.
3
Priestland 2009, S. 650f.
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einer visionären Konzeption der modernen Gesellschaft geprägt worden war, wonach die Elenden dieser Welt eine auf Harmonie und Gleichheit gegründete Gesellschaft schaffen sollten.“4 1989 bezeichnete in dieser Erzählung das Ende einer Ideologie des Gemeinsamen und Gleichen (lat. communis) und seiner radikalisierten Erschließung des Sozialen als Fundament politischen Denkens und Handelns, dem Sozialismus. 5 In den vorhergegangenen Kapiteln ist die geschichtspolitische These beschrieben worden, dass sich um das Ereignis- und Geschichtschiffre 1989 eine „Kommende Gemeinschaft“ bilde, die wieder in der Lage sei, ein Gemeinsames zu entwickeln vor dem Hintergrund der Erinnerung an 1989. Diese Gemeinschaft finde sich aber nicht irgendwo, sondern vor allem in Europa, das als politisches Projekt seit 1989 erst zu seiner vollen Entfaltung gebracht werden könne, nachdem das Schisma der politischen und ökonomischen Ideologien der Zeit des Kalten Krieges ad acta gelegt werden konnte.6 In diesem Sinne ging auch 2009 weiterhin ein Gespenst um in Europa. Dieses Gespenst war erneut eine Revolution. Zwar hatte sich diese Revolution 1989 bereits vollzogen, war jedoch noch nicht beendet. Genau das ist es, was hier bisher mit Derrida als Hantologie von 1989 beschrieben wurde und was als Leitmotiv der dazugehörigen Geschichtspolitik ausgemacht werden konnte: Die doppelte Struktur des nicht mehr Anwesenden, das jederzeit zwecks seiner Wiederkehr beschworen werden kann. 1989 als Revolution wohnte dabei, folgt man Derridas Überlegungen weiter, eine gespenstische wie messianische Struktur inne. Messianisch insofern, als dass „die Dringlichkeit, das unmittelbare Bevorstehen, aber zugleich [...] eine Erwartung ohne Erwartungshorizont“7 des kommenden Ereignisses (in diesem Falle: Die „Kommende Gemeinschaft“, Europa, etc.) durch das Erinnern an 1989 als revolutionärer Akt der Demokratisierung, Emanzipation und anderer modern-aufklärerischer Projekte ermöglicht werden sollten – als Akt der kommenden Einlösung zuvor gegebener Versprechen. Gespenstisch insofern, als dass 1989 und die dazugehörige Revolution durch bestimmte Techniken des Historisierens und Erinnerns wie Gespenster „immer da [sind], […] selbst wenn sie nicht existieren, selbst wenn sie nicht mehr sind, selbst wenn sie noch nicht sind“8. In Auseinandersetzung mit der berühmten These Francis Fukuyamas, dass die Geschichte als ideologisch ausgetragene Reihe von Klassenkämpfen 1989 zugunsten des liberal-demokratischen Denkens beendet wurde, diagnostiziert Derrida für das Ereignis 1989:
4
Ebd., S. 9.
5
Zu diesem Schluss kommt auch Latour 2008, S. 16ff.
6
Vgl. zu dieser Genealogie des neuen Europa Wirsching 2012.
7
Derrida 2004, S. 229.
8
Ebd., S. 240 (Hervorhebungen im Original).
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„Es geht hier um den Begriff der Demokratie selbst als Begriff einer Verheißung, die nur aus einem [...] Abstand (Auseinanderklaffen, Scheitern, Unangemessenheit, Disjunktion, Trennung, „out of joint“-Sein) hervorgehen kann. Deswegen schlagen wir immer vor, von kommender Demokratie zu sprechen (démocratie à venir) und nicht von zukünftiger Demokratie (démocratie future), zukünftig im Sinn von ‚zukünftiger Gegenwart‘, und noch nicht einmal von einer regulativen Idee im Kantischen Sinne oder von einer Utopie – in dem Maß wenigstens, in dem noch deren Unzulänglichkeit die zeitliche Form einer zukünftigen Gegenwart bewahrte, einer zukünftigen Modalität der lebendigen Gegenwart.“9
Die geschichtsphilosophische Unterscheidung, die die französische Sprache für ihre beiden Begriffe der Zukunft (l’avenir und future) bereithält, lässt sich leider kaum ohne Verlust in die deutsche Sprache übertragen. 10 Dennoch schließt diese semantische Unterscheidung zwischen dem Kommenden und dem Zukünftigen ein geschichtspolitisches Denken ein, das die Auseinandersetzung um und mit 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ maßgeblich kennzeichnete. In dessen Diskurs zeigte sich die Demokratie als „Verheißung“, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits als Antrieb einer revolutionären Bewegung, die diese Verheißung der Demokratie in der „Deutschen Demokratischen Republik“ für sich eingefordert hat, ihr Kommen also forcieren wollte. Andererseits wurde 2009 diese Verheißung, sozusagen als Erbe und Aufgabe, auf die Gegenwart übertragen und ihre Erfüllung, ihr Kommen, an die Erinnerung und Historisierung von 1989 gekoppelt. Gerade in der Verzweigung der Schnittstelle 1989/2009 im „Erinnerungsjahr 2009“ erhielt das an 1989 gekoppelte, zukünftig einzulösende Versprechen der Demokratie als Bedingung einer „Kommenden Gemeinschaft“ seine politische Funktion. Diese Funktion wiederum verband sich mit dem Denken einer Geschichtlichkeit als „andere Eröffnung der Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit, die […] den Zugang zu einem affirmativen Denken des messianischen und emanzipatorischen Versprechens [der Demokratie] als Versprechen [...] eröffne[t]“, so Derrida. „Das ist die Bedingung einer Repolitisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politischen.“ 11 Man möchte Hinzufügen: Das ist die Bedingung der (Re-)Politisierung der Geschichtspolitik zu 1989 – und damit der Geschichtspolitik des „Erinnerungsjahres 2009“.
9
Ebd., S. 96 (Hervorhebungen im Original). Den philosophie- und ideengeschichtlichen Raum zu untersuchen, den Derrida hier öffnet, wäre sicherlich geschichtsphilosophisch gewinnbringend, kann an dieser Stelle allerdings aufgrund einer anders gelagerten Perspektive nicht erfolgen.
10
So wird auch hier das Kommende synonym mit dem Zukünftigen verwendet werden.
11
Derrida 2004, S. 109.
170 | 1989 UND WIR
K RITIK UND K RISE – E RZÄHLUNGEN VON R EVOLUTION
DER
F RIEDLICHEN
Die hier untersuchten Diskurse über die DDR zeichneten sich bisweilen durch die Frage aus, welche Qualität von Totalitarismus dieser innewohnte und, in einem daran anschließenden Diskurs, ob diese totalitären Strukturen „unrechtsstaatlich“ waren. Demgegenüber stand um 2009 jedoch auch zur Debatte, inwiefern, falls die DDR als totalitärer Unrechtsstaat analysiert wurde, oppositionelle Strukturen, Eigensinn und Alltagsglück überhaupt möglich waren. Gerade die Perspektive der Oppositionen innerhalb der DDR war es, die durch die „Sabrow-Kommission“ gleichwertig mit den totalitären Strukturen in der DDRErinnerung etabliert werden sollte. Zwar wurde die Möglichkeit der Opposition und Dissidenz in der DDR und deren Bedeutung für die dazugehörige Geschichtspolitik nicht erst im Zuge des Expertenvotums diskutiert12, allerdings stand diese Erzählung die meiste Zeit im Schatten von SED-Staat, Staatssicherheit und der darin aufgehenden Totalitarismustheorie, die letztlich jede Form von Opposition nur als andere Seite des Totalitarismus in der DDR verstand.13 2009 ergab sich eine etwas andere Konstellation. Nicht nur die Öffnung der Mauer am 9. November 1989 stand, als Vorbote der Wiedervereinigung, im Zentrum des Erinnerns. Auch die dazugehörige (Vor-)Geschichte der Friedlichen Revolution und deren prominenteste Daten und Ereignisse des Jahres 1989, der 9. Oktober in Leipzig und der 4. November in Berlin, rückten in den Fokus des geschichtspolitischen Handelns. Mauerfall und Friedliche Revolution wurden nicht zum ersten Mal, aber vermehrt zusammen gedacht. Dies lag unter anderem an der geschichtspolitischen Logik des „Erinnerungsjahres 2009“, die sich auf einen kommenden Demokratisierungsprozess berief. Für diesen Prozess sollten die Opposition in Osteuropa und das Ereignis 1989 kennzeichnend und beispielhaft stehen. Doch welche Geschichte, welche Erzählung und welche Geschichtspolitik zur Opposition in der DDR bestimmten das „Erinnerungsjahr 2009“? Hier wird die These vertreten, dass es sich bei der Friedlichen Revolution vor allem um eine klassisch moderne Erzählung von Emanzipation und Souveränität handelte, an deren Ende der souveräne Bürger und der demokratische Staat als Erfüllung der Moderne standen.
12
So waren beispielsweise die Enquete-Kommissionen immer daran interessiert, die Stimmen der Opposition in ihr Geschichtsverständnis einzubringen, s. Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Neun Bände in 18 Teilbänden. Baden-Baden: Nomos 1999.
13
So zum Beispiel Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 19491990. München: Hanser 1998, S. 462ff.
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Die Genealogie der Opposition in der DDR ist vielschichtig und eben deshalb nicht einseitig herzuleiten. Dazu gehören nicht zuletzt Fragen nach den Kategorien oppositionellen Verhaltens: Muss eine Opposition organisiert sein? Ist eine Opposition immer artikuliert und sichtbar? Gehört die Fluchtbewegung in diesen Kontext? Dazu kommt, dass die DDR historische Veränderungen und Brüche durchgemacht hat, die politik- und sozialgeschichtlich unterschiedliche Grundbedingungen hervorbrachten – und so letztlich auch die Oppositionsbewegungen diesen Umständen unterwarfen. Aus diesen Gründen ist es schwer, von der Opposition in der DDR zu sprechen. Nicht zuletzt der auf den Montagsdemonstrationen in Leipzig artikulierte Ruf „Wir sind das Volk!“ erzeugte jedoch eine Einheitlichkeit in der Wahrnehmung. Nach außen einte die Opposition die Gegnerschaft gegenüber totalitären und autoritären Strukturen, nach innen jedoch teilten sich die Stimmen pluralistisch auf, bildeten Parteilichkeiten und gaben Raum für Diskussionen, Debatten und unterschiedliche Meinungen.14 Die Erzählungen zur DDR-Opposition in 1989 begannen um 2009 meist mit einem Ereignis: Den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 und der sich daran anschließenden Proteste. Warum gerade dieses Datum? Zu den gängigsten Topoi der DDRGeschichte zählte derjenige der Scheindemokratie. Der Staat nannte sich „Deutsche Demokratische Republik“, stellte mit der „Nationalen Front“ der Blockparteien ein Parlament und hielt regelmäßig Wahlen ab. Diese parlamentarisch-demokratischen Symbole und Gesten sollten sich jedoch als leer erweisen: „Denn ‚Wahlen‘ waren in der selbsternannten Diktatur des Proletariats eine Farce. Die Kandidaten waren von der SED, den Blockparteien und den Massenorganisationen nach einem bestimmten Mehrheitsschlüssel der ‚Nationalen Front‘ vorgegeben. Der ‚Wähler‘ konnte lediglich eine Kandidatenliste abnicken, in dem er den Wahlzettel faltete und in die Urne warf, weshalb der Volksmund auch nicht vom Wählen gehen, sondern vom ‚Zettel falten‘ sprach.“15
So beschrieb Armin Fuhrer am 6. Mai 2009, ein Tag vor dem zwanzigsten Jubiläum der letzten Kommunalwahlen in der DDR, die Wahlprozedur in der DDR. Der Artikel trug den Titel „Der erste Sargnagel“ und bediente damit den Topos des „Anfangs vom Ende“: „Die Proteste mutiger Bürgerrechtler gegen die gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 läuteten das Ende der SED-Diktatur ein. Ein halbes Jahr später fiel die Mauer.“16 Von den Kommunalwahlprotesten zum Mauer14
Zur oppositionellen Mentalität und ihrer Motive vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München: Beck 2009, S. 232ff.
15
Fuhrer, Armin: Der erste Sargnagel. Focus Online am 6.4.2009 (URL: http://goo.gl/ mnvgE [18.7.2013]).
16
Ebd.
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fall in nur einem Satz – wie war diese schnelle Verkettung möglich? Nachdem Fuhrer die scheindemokratische Kommunalwahl ausführlich dargestellt hatte, kam die Opposition ins Spiel: „Schließlich kamen einige Mitglieder aus der Bürgerrechtsbewegung, die sich in Umweltund kirchlichen Gruppen organisierten auf die Idee, die Wahlen vor Ort zu beobachten. Das war nach der DDR-Verfassung nicht verboten, und so konnte es die SED-Führung nicht verhindern. Gleichwohl war das ein mutiger Schritt, denn auch dafür drohten Repressionen durch das Ministerium für Staatssicherheit. Umso erstaunlicher, dass sich landesweit mehrere Tausend Bürger fanden, die diese Gefahr auf sich nahmen. [...] Da Wahlfälschung offiziell in der DDR unter Strafe stand, reichten sie gegen verschiedene Spitzenfunktionäre Anzeigen bei den Staatsanwaltschaften ein. Doch erwartungsgemäß geschah nichts.“17
Damit waren die klassischen Topoi der Oppositionsnarrative bereits aufgetaucht: Ein Staat, der nur leere Gesten anbot und gleichzeitig repressiv handelte, sich jedoch dadurch eine Opposition schuf, die an die impliziten Versprechen der Demokratie glaubte, welche offiziell in der DDR verwirklicht gewesen sein sollten, und mit politischen und juristischen Mitteln versuchte, die leere Rhetorik des Staates zu unterlaufen und zu Fall zu bringen. Die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 waren die Initialzündung für die anhaltenden Proteste, die erstmals 1989 offiziell die Demokratie der DDR als nicht-demokratische Simulation entlarvten. Daraus entwickelte sich eine permanente und öffentlich immer deutlicher artikulierte Opposition: „Einen Monat später, am 7. Juni, versammelten sich auf dem Berliner Alexanderplatz rund 200 Oppositionelle, um ihren Protest auszudrücken. Die Stasi griff hart durch, es kam zu Verhaftungen, Hausarresten und Innenstadtverboten. Doch von nun an wiederholte sich das Ritual an jedem 7. eines Monats. Bis zum 7. Oktober, als die SED-Führung mit viel Pomp im Palast der Republik den 40. Jahrestag der DDR-Gründung feiern ließ. Als die inzwischen gewachsene Demonstrantenschar vom Alexanderplatz dorthin ziehen wollte, gab es wiederum Übergriffe der Stasi. Doch die Proteste waren nun nicht mehr zu unterdrücken. Sie hatten ihren Ausgangspunkt in den gefälschten Wahlen vom 7. Mai, die den Anfang vom Ende der DDR einläuteten.“18
Gerade die Diskrepanz zwischen den protestierenden Oppositionellen, die das Versprechen der Demokratie eingelöst sehen wollten, und dem militanten „Pomp“ der Feier zum vierzigsten Jahrestag der DDR bildeten einen eindrücklichen Kontrast in den Darstellungen zur Friedlichen Revolution und machten die Diskrepanz zwischen Bevölkerung und Staat anschaulich. In semantischer Analogie zur „Sargna17
Ebd.
18
Ebd.
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gel“-Metapher wurde die Feier zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 dann auch gerne als „Totenfeier“ bezeichnet.19 Fuhrers Artikel stand für eine Reihe an komprimierten Darstellungen, die eine Linie von den Kommunalwahlen im Mai zum Mauerfall oder sogar darüber hinaus zogen.20 Die Erzählung einer sich souverän erklärenden Bürgerbewegung gegen einen auf leere Gesten und Repressionen aufgebauten Staat ließ sich so als eine Emanzipationsgeschichte darstellen, die im Sinne des modernen und aufgeklärten Menschenbilds die Geschichte des Menschen als eine Fortentwicklung hin zu über sich selbst souverän bestimmenden Subjekten und Gesellschaften erzählte. 21 Die meisten Erzählungen aus 2009 zur SED, der von ihr praktizierten Politik und Staatsform lassen sich jedoch eher als „postdemokratisch“ bezeichnen: Die SED oder die „Nationale Front“ waren darin nicht in der Lage, im Sinne ihrer Bevölkerung zu handeln. Die Souveränität lag verfassungsgemäß bei der Partei 22 und den ihr angeschlossenen Organisationen. Die Öffentlichkeit und sogar die Privatsphäre waren reguliert und überwacht, Opposition und Gegenstimmen nicht nur bei Wahlen kaum bis gar nicht möglich. Damit erfüllte die DDR grundlegende Kriterien von Demokratie, wie Colin Crouch sie benennt, nicht:
19
Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Herrschaft und Alltag in der DDR 19711989. Berlin: Ch. Links 2009, S. 419. Diese Metaphorik verwies die SED und ihren Staat in das „Reich der Toten“ und schuf damit erneut die Voraussetzung dafür, ihr „Fortleben“ als anachronistisch, ihr Auftauchen als hantologisches Problem des gespenstigen „Spuks“ zu klassifizieren.
20
Fuhrers Artikel endete mit den Kommunalwahlen im Mai 1990 und im letzten Satz mit dem Hinweis, dass Hans Modrow, der letzte Ministerpräsident der DDR, der von der SED gestellt wurde, maßgeblich an den Wahlfälschungen beteiligt war – und heute Ehrenvorsitzender der Linkspartei sei. Fuhrers Artikel bot daher erneut ein Beispiel für den Diskurs, der die SED, das MfS und andere Relikte der DDR als Person oder Institution geisterhaft spukend wieder bzw. noch immer in der eigenen Gegenwart vorfand und darauf hindeutete, dass längst überwunden Geglaubtes anachronistisch als zeitgenössisches Phänomen „unsere“ Zeit besetze. Vgl. Fuhrer, Armin: Der erste Sargnagel. Focus Online am 6.4.2009 (URL: http://goo.gl/mnvgE [18.7.2013]).
21
Eine Übersicht modernen Geschichtsdenkens, besonders im hegelianischen Sinn, liefert Baberowski, Jörg: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München: Beck 2005. Ironischerweise gehören Kommunismus und Sozialismus in genau diese ideengeschichtliche Reihe emanzipatorischer Gesellschaftsentwürfe, vgl. Priestland 2009, S. 25-31.
22
So legte es Artikel 1 der DDR-Verfassung vom 6.4.1968 fest, s. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6.4.1968 (In der Fassung vom 7.10.1974).
174 | 1989 UND WIR „Die Demokratie kann nur dann gedeihen, wenn die Masse der normalen Bürger wirklich die Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen – und wenn sie diese Gelegenheiten auch aktiv nutzt. Dieses Ideal basiert auf anspruchsvollen Vorannahmen: Es setzt voraus, daß sich eine sehr große Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda beteiligt und nicht allein passiv […] antwortet; daß diese Menschen ein gewisses Maß an politischem Sachverstand mitbringen und sie sich mit den daraus folgenden politischen Ereignissen beschäftigen.“ 23
Dieses für Colin Crouch „idealtypische Modell“ der Demokratie lässt sich ohne Weiteres auf die Erzählungen zu 1989 anwenden, in denen eine Verwirklichung demokratischer Verhältnisse erst mit der Friedlichen Revolution in greifbare Nähe gerückt wurde: Hier bildete sich erstmals eine breite Öffentlichkeit, explodierte der partizipatorische und politische Diskurs. „Innerhalb weniger Wochen“, so Jens Gieseke, „verwandelte sich die DDR-Bevölkerung, die im Mai 1989 noch das Ritual der ‚Kommunalwahlen‘ in seiner überwiegenden Mehrheit […] befolgt hatte, in ein Volk von Demonstranten[.]“24. Auch hier begann die „Verwandlung“ der Bevölkerung mit dem „Ritual“ der Kommunalwahlen im Mai 1989. Die Wahlen waren kein Ereignis, sondern ein nach strengen Regeln und eingeübten Praktiken vollzogenes, inhaltsleeres, passiv-reaktives Ritual – und damit wiederum Signum der Scheinund Postdemokratie. Demgegenüber stand das verwandelte „Volk von Demonstranten“ – aktive, interessierte Bürger mit Stimmen, Bannern, Interessen und Drang zur öffentlichen Partizipation. Gegen die nun erhobenen Stimmen der Bevölkerung stand 2009 in den meisten Narrativen das Motiv der Sprachlosigkeit von SED und MfS. So hieß es bei Gieseke weiter: „In der finalen Krise [von 1989] kann man zudem verfolgen, wie die MfS-Analytiker in einem inneren Ringen den Zerfall der Denkordnung des Marxismus-Leninismus begrifflich zu bewältigen versuchten. Während in den vorangegangenen Jahrzehnten etwa Begriffe der Opposition wie ‚Demokratisierung‘ stets in Anführungszeichen und mit pejorativen Beiklängen zitiert wurden, zerfiel diese Sprache zusehends[.]“25
23
Crouch 2008, S. 8f.
24
Vgl. hierzu Gieseke, Jens, ‚Seit langem angestaute Unzufriedenheit breitester Bevölkerungskreise‘. Das Volk in den Stimmungsberichten des Staatssicherheitsdienstes. In: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. München: DTV 2009, S. 130.
25
Gieseke in: Henke 2009, S. 131.
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So, wie in dieser Erzählung die Sprache des MfS an die Ideologie des MarxismusLeninismus gebunden war, so war es auch ihr „Zerfall“. Ein vielzitiertes Dokument dieses Sprachzerfalls und der damit einhergehenden – und diese dynamisierenden – politischen Krise von 1989 war der Aufruf der Oppositionsgruppe „Neues Forum“ vom 10. September 1989 mit dem Titel „Aufbruch 89 – Neues Forum“.26 Die berühmten ersten Sätze dieses Aufrufs zeigten, wie die Sprache des Staates als unvereinbar mit der Stimme der Bevölkerung empfunden wurde: „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. […] Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.“27
Damit erfüllte die Programmatik des „Neuen Forums“ Crouchs idealtypische Anforderungen an ein gelungenes Demokratieverständnis. Die Motive der Sprache, des Sprechens, des Zerfalls, der fehlenden und ungültigen Stimme der Bevölkerung bzw. deren Überwindung Laufe von 1989 wurden um 2009 allesamt als markante Zeichen einer Krise der politischen Repräsentation in der DDR erzählt. So machte beispielsweise Erhart Neubert in seiner Ende 2008 erschienenen, von der „Stiftung Aufarbeitung“ unterstützten Studie „Unsere Revolution – Die Geschichte der Jahre 1989/90“ das Sprachmotiv zum Grundgerüst seiner Analyse: „Im Sprechen selbst ereignete sich die Revolution, kam es zur Enttabuisierung des Bestehenden und zur Entdeckung neuer Möglichkeiten. […] Sprach- und Kommunikationsunfähigkeit führten zum Machtverlust. Die Sprache der Revolution soll in diesem Buch deswegen besonders berücksichtigt werden.“28
Neubert stützte sich dabei explizit auf die politischen Sprechakttheorien von Hannah Arendt und Fritz Mauthner. Bei Ahrendt fand Neubert die Theorie des „gegenseitigen Versprechens“ als durch ebendiesen Sprechakt vollzogenen Gesellschaftsvertrag. Bei Mauthner entlehnte Neubert die Theorie, dass Sprache einen Akt der 26
Der Aufruf „Aufbruch 89 – Neues Forum“ wird vom Haus der Geschichte online bereitgestellt (URL: http://goo.gl/wpZc6 [18.7.2013]).
27
Neues Forum: „Aufbruch 89 – Neues Forum“. Auf Hdg.de (URL: http://goo.gl/wpZc6 [18.7.2013]).
28
Neubert, Erhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München: Piper 2008, S. 19-21.
176 | 1989 UND WIR
Wirklichkeitskonstruktion darstellt – und gleichzeitig eine wirkliche Handlung im Sprechakt vollzogen wird. Dadurch bilde Sprache auch eine Variante der Machtausübung.29 Laut Neubert diente die „SED-Sklavensprache“ mit ihren „kommunistischen Sprachregelungen“ zur Verringerung der „Denkmöglichkeiten durch Beseitigung der Ausdrucksmöglichkeiten“.30 Demgegenüber entwickelte die Bevölkerung, nicht zuletzt im Genre des Witzes, „einen subversiven Umgang mit Sprache“, durchsetzt mit Metaphern und einem semantischen „doppelten Boden“. 31 Bei Neubert vollzogen sich „Progression und Evolution der Revolution […] in der Erweiterung des Sprachraums“. Im Vergleich dazu war „[d]as kommunistische Projekt […] von Anfang an eine Utopie, eine Fiktion, ein Phantasma. Der Wirklichkeitsverlust war der Grund von Krisen, führte aber nicht zum Zusammenbruch. Das System war am Ende, als ihm die Sprache und von Sprechern eine Alternative entgegengestellt wurde.“32 Was Neubert hier schilderte war eine Erzählung der Entpolitisierung, Entdemokratisierung und Dissimulation von Sprache. Der Begriff des „Wirklichkeitsverlusts“ wies darauf hin, dass seitens der SED eine Politik durch Sprache betrieben wurde, die gegen nichts Reales mehr eingetauscht werden konnte. Den Zeichen, Worten und Symbolen wohnte spätestens 1989 keine Bedeutung mehr inne, sie konnten nichts und niemanden repräsentieren. Damit war die Politik der SED einer Krise der Repräsentation ausgesetzt, wie sie Jean Baudrillard schon Ende der 1970er in „Der symbolische Tausch und der Tod“ für das Feld der Realpolitik diagnostiziert hat: „Der politische Bereich […] leert sich. Dies ist in gewisser Weise der Preis für die Erfüllung des Wunsches der politischen Klasse nach einer perfekten Manipulation der gesellschaftlichen Repräsentation.“33 Baudrillard konnte 1976, als „Der symbolische Tausch und der Tod“ zum ersten Mal veröffentlicht wurde, noch nichts von der politischen Krise der SED 1989 ahnen. Dennoch nimmt seine Analyse den politischen Prozess der „Postdemokratie“ vorweg, dessen Symptome für die Politik der SED 1989 in den Erzählungen von 2009 motivisch dominierten. So las sich auch die Charakterisierung der SEDGenossen in Ilko-Sascha Kowalczuks „Endspiel“ wie eine um politische und 29
Vgl. ebd., S. 18. Diese Theorie entspricht ziemlich genau der klassischen amerikanischen Sprechakttheorie von John Austin und John Searle. Beide wurden von Neubert jedoch nicht explizit herangezogen. Vgl. Austin, John: Zur Theorie der Sprechakte. How to do things with words. Stuttgart: Reclam 2002 und Searle, John: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
30
Neubert 2008, S. 18.
31
Ebd., S. 18f.
32
Ebd., S. 20.
33
Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 122.
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sprachliche Leere erweiterte polit-esoterische Variante der „Grauen Herren“ aus Michael Endes „Momo“ – jenen unsichtbaren und uniformen Gerontokraten, die überall agierend und doch im Verborgenen unerkannt bleibend den Menschen ihre Zeit, ihr Glück und ihren Willen stehlen34: „Die SED war omnipräsent. Und doch blieb sie trotz ihres Massencharakters eine Art Geheimsekte. Nichtmitglieder erfuhren aus ihrem Innenleben nur wenig. Selbst einfache Mitglieder schwiegen sich zumeist darüber aus. Die offiziellen Verlautbarungen schienen sich in ihrem trockenen, nichtssagenden Ton Jahr um Jahr zu gleichen. Die Redner blieben konturlos, blass, immer gleich mürrisch, aschfahl, gelangweilt oder nichtssagend dreinblickend. […] [S]o blieben [abgesehen von Honecker, Mielke u.a.] die anderen SED-Politiker, erst recht die Minister und anderen Funktionäre, unbekannte Leute, die jederzeit unerkannt die Straßen hätten entlangspazieren können. […] Denn die einzelne Figur zählte nichts und schien austauschbar.“35
Nahezu wortgleich schilderte Kowalczuk den Charakter der Staatssicherheit 36. Die gesichtslose Leere machte nicht nur die Sprache, sondern selbst den Körper des Politikers als Repräsentant des Staatskörpers gleichförmig und anonym. Die Ritualisierung der Politik und ihrer Sprache sowie die gleichzeitige omnipräsente Durchdringung des Alltags durch fast unsichtbare Staatsorgane: All diese Motive waren wichtig um zu verstehen, welche Rolle in diesen Narrativen des „Erinnerungsjahres 2009“ die Opposition einnahm. Sie bildete in ihrer pluralistischen und bunten Vielfalt, ihrem Ringen um angemessene Sprache und ihrem politischem Enthusiasmus ein radikales Kontrastprogramm. Dieser Kontrast wurde auch in den Erzählungen zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 deutlich. Das Land befand sich schon in einer tiefen Krise wirtschaftlicher und politischer Art. Über den Sommer 1989 nutzten viele DDR-Bürger die Option der Ausreise über die mittlerweile geöffnete Grenze in Ungarn und, nachdem die SED Reiseverbote nach Ungarn erteilt hatte, über die Botschaften der Bundesrepublik in Tschechien und anderen „Bruderstaaten“. Michail Gorbatschows Reformprozesse innerhalb der Sowjetunion („Glasnost“ und „Perestrojka“) waren in vollem Gang. Neben dem „Neuen Forum“ gründeten sich weitere Oppositionsgruppen, die meist lokal und zivilgesellschaftlich organisiert waren – und rasenden Zuwachs fanden. Das politische System der SED war seit den Kommunalwahlen im 34
Ende, Michael: Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen. Mit Bildern des Autors. München/Zürich: Piper 2010.
35
Kowalczuk 2009, S. 36f.
36
„Auch wenn das MfS kaum sichtbar war, war es omnipräsent. Kaum ein DDR-Mensch wusste Einzelheiten über die Staatssicherheit[.]“, s. Kowalczuk 2009, S. 50.
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Mai offiziell entlarvt. Die Proteste gegen die Wahlfälschung, regelmäßig abgehalten an jedem siebten des Monats (auch der Jahrestag der DDR fiel im Oktober auf einen siebten Monatstag), hielten an. Immer mehr Genossen traten im weiteren Verlauf des Sommers und Herbstes 1989 aus der SED aus. Darüber hinaus näherte sich die DDR dem Staatsbankrott.37 Das Kompendium „Schlaglichter der deutschen Geschichte“ ließ in seiner Ausgabe von 2009 genau in diesem Zeitraum den Abschnitt „Deutsch-deutsche Verantwortung“ in den Abschnitt „Die deutsche Einheit“ übergehen.38 Und in ebendiese Situation fiel nun der vierzigste Jahrestag der Staatsgründung der „Deutschen Demokratischen Republik“: „Ein strahlend blauer Himmel mit nur wenigen weißen Wölkchen versprach schon am Morgen Geburtstagswetter. Dazu herrschten angenehme Temperaturen, und ein leichter Wind ließ die Wimpel und Fahnen im Herbstwind flattern. […] Auch Berlin hatte sich [für den vierzigsten Jahrestag der DDR] fein gemacht. Die Straßen waren bunt beflaggt, und an den Triebwagen der Straßenbahnen steckten kleine Metallfähnchen. Rechts das rote Banner der Arbeiterklasse und links die Staatsflagge der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. […] Die Schulkinder hatten Friedenstauben, Blumensträuße und fröhlich lachende Soldaten gemalt und von innen an die Fensterscheiben der Schulgebäude geklebt […]. Noch einmal war die Welt der DDR in Ordnung.“ 39
Diese harmonische und staatstragende Glückskulisse des 7. Oktober 1989, wie Stefan Wolle sie in „Die heile Welt der Diktatur“ beschrieb, erhielt jedoch bald schon erste Risse: „Die Idylle“, so Wolles Darstellung weiter, „hatte in diesem Jahr etwas Gespenstisches. Eine lauernde, nervöse Spannung lag über dem weiten Rund des Alexanderplatzes. Verborgene Fernsehkameras observierten den gesamten Ort, die Befehlszentralen von Stasi und Partei waren rund um die Uhr besetzt, die Polizeibereitschaften aus Basdorf und das Wachregiment ‚Feliks Dzierzynski‘ des MfS standen zusätzlich bereit. Polizisten in Uniform und Zivil, Angehörige des MfS, ‚gesellschaftliche Kräfte‘, das heißt zuverlässige Genossen von Betriebsparteiorganisationen, mischten sich unter das Festtreiben.“40
37
Vgl. u.a. Kowalczuk 2009, S. 377-386, Neubert 2008, S. 52-56 und 63ff., Wolle 2009, S. 426-432, Dalos, György: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa. München: Beck 2009, S. 114-121, Conze 2009, S. 694ff.
38
Müller, Helmut M.: Schlaglichter der deutschen Geschichte. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn: BpB 2009, S. 432ff.
39
Wolle 2009, S. 432f. Eine abgewandelte und erweiterte Version von Wolles Erzählung findet sich bei Wolle, Stefan: Seltsame Nacht. Ein Nachtrag zum Revolutionstagebuch von 1989. In: Henke 2009, S. 149-162.
40
Wolle 2009, S. 434.
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Die Idylle erwies sich bei Wolle als Simulakrum. Abgesehen von dem Glücksfall des Wetters, war die Glückskulisse durchsetzt mit Kontrollorganen. Die Feierlichkeiten hatten in ihrem Glücksversprechen nichts Reales an sich, vielmehr etwas „Gespenstisches“. Damit zeichnete Wolle ein dialektisches Bild der politischen Symbolkraft der Feierlichkeiten, die ideologisch gesteuert, autoritär unterwandert und in ihrer Aussagekraft daher erneut nicht als authentisch gelten konnten – wie ohnehin die Politik der SED keine authentische Zeichenhaftigkeit zu entwickeln in der Lage war. Das zeigte in den zitierten Passagen nicht zuletzt der Kontrast der von den Kindern angebrachten Friedenstauben und lachenden Soldaten mit den observierenden und regulierenden Exekutivkräften der SED. 41 Dazu kam eine paramilitärische Inszenierung rund um den Festtag: „Am 6. Oktober marschierten abends etwa 75.000 FDJler wie 1949 mit Fackeln an der Parteiund Staatsführung vorüber. Auf der Tribüne stand letztmalig nicht nur die ganze SEDFührungsriege, sondern auch ihre engsten Freunde […]. Am Vormittag des 7. Oktober fand die übliche Militärparade statt.“42
Hier also zeigte sich ein Regime mitten in einer schweren Krise als symbolisch überladen und gleichzeitig politisch ohne Aussage, als repressiv und nur scheinbar intakt: „Mit keiner Zeile, keinem Bild, keinem Zwischenton wurde die schwere Krise des Landes angedeutet.“43 Andreas Rödder beschrieb die Szenerie ähnlich: „Während der ganzen Feierlichkeiten ging von der Staats- und Parteiführung keinerlei Signal aus, dass sie die Zeichen der Zeit auch nur in Ansätzen erkannt hatte.“44 Es ging der SED nur darum, so György Dalos, innerhalb „des zerrütteten Landes den Schein der Normalität aufrechtzuerhalten“.45 Der 40. Jahrestag der DDR erwies sich in diesen Narrativen als ein Signum des Endes der Politik seitens der SED, die dort „letztmalig“ den Geburtstag ihres Staates feierte, der an diesem Tag „noch ein Mal […] in Ordnung“46 war – wenn auch nur zum „Schein“. An diesem letzten symbolischen Großakt der SED trat in den Narrativen zu 1989 erneut die Opposition auf den Plan. Nachdem die Wahlfälschungen eine Scheindemokratie entlarvt hatten, die durch postdemokratische Symptome ge41
Zu Friedenssymbolik und Antifaschismus als leere Gesten der SED-Politik s. Leo, Annette: Antifaschismus. In: Sabrow, Martin (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck 2009, S.30-42 und Droit, Emmanuel: Frieden. In: Sabrow 2009, S 153-60.
42
Kowalczuk 2009, S. 388.
43
Wolle 2009, S. 433.
44
Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München: Beck 2009, S. 87.
45
Dalos 2009, S. 121.
46
Wolle 2009, S. 433.
180 | 1989 UND WIR
brandmarkt war, nachdem sich davon ausgehend die Oppositionsgruppen strukturierten und regelmäßiger zu Wort meldeten, da sie als einzige die politisch richtige Diagnose zur Lage ihres Staates zu stellen vermochten, während die SED sich weiter in ihrem Schweigen und symbolischen Blendwerk zum Jahrestag der Republik erging, erschien nun die Opposition nahezu wörtlich auf der Bühne: „Dann begann eine Gruppe neben der Weltzeituhr im Takt zu skandieren ‚Freiheit … Freiheit … Freiheit!‘. Erst waren es einige Dutzend, dann Hunderte, die in den Rhythmus des Sprechchores einfielen. Das heilige Wort Freiheit – von Demagogen tausendfach missbraucht, in Sonntagsreden zerkaut und im westlichen Politikbetrieb verschlissen –, es hatte 200 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille nichts von seiner Kraft verloren. Jedenfalls nicht bei denen, die diese Freiheit entbehrt hatten. […] Das Unglaubliche war Wirklichkeit geworden: eine staatsfeindliche Demonstration mitten im Zentrum der sozialistischen Hauptstadt und noch dazu zur Jubelfeier des 40. Jahrestages der Republik. […] Nur einige hundert Meter weiter, im Palast der Republik, zelebrierte die Staats- und Parteiführung der DDR mit ihren Gästen den offiziellen Staatsempfang zum 40. Jahrestag.“ 47
Nicht nur, dass die militante und durch Repression erzwungene symbolische Scheinwelt des 40. Jahrestags die reale Politik willkürlich ausgeklammert hatte und nun langsam von einer wachsenden Zahl Demonstranten konterkariert wurde, auch die absolutistisch anmutende Symbolik dieser Erzählung Stefan Wolles führte den politischen Kontrast von 1989 vor Augen: Hier die ritualisierte und ignorante Staatsfeier im „Palast der Republik“, davor die Bevölkerung, die Bürger und Regierten mit ihrem immer deutlicher artikulierten Wunsch nach „Freiheit“, der nicht zuletzt dadurch an Authentizität gewann, dass dieser Wunsch weder „missbraucht“, noch „verschlissen“ oder in irgendeiner anderen Form floskelhaft oder funktional war. Denn dadurch, dass „diese Freiheit entbehrt“ wurde, war der Wunsch nach ihr nur legitim. Und dann tauchten die repressiven Organe der SED auf: „Als Gorbatschow mit seiner Delegation das Festbankett verlassen hatte, um zum Flughafen zu fahren, soll Mielke mit den Worten ‚Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus‘ den Sicherheitskräften den Einsatzbefehl gegeben haben. Die Anti-Terror-Einheit des MfS schlug jetzt zu. […] Bis in die Abendstunden ereigneten sich immer wieder Übergriffe und Verhaftungen.“48
Der Kontrast von Gewalt seitens des Staates und dem Freiheitswunsch seitens der demonstrierenden Bevölkerung wurde von Wolle in einer letzten Passage zu diesem 40. Jahrestag mit aller Deutlichkeit, und mehrmals auf die politische und wirtschaft47
Wolle in: Henke 2009, S. 153.
48
Ebd., S. 154f.
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liche Krise des Staates anspielend, herausgestellt. Dabei entstand ein merkwürdiges Panorama aus Feierstimmung und Gewalt, Glanz und Misere: „Während im Prenzlauer Berg Polizei und Stasi auf Demonstranten einprügelten, stiegen über dem Volkspark Friedrichshain Raketen auf. Ein gigantisches Höhenfeuerwerk bildete den Abschluss der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR. Man hört von ferne das Krachen der Böller. […] Die maroden Gründerzeitfassaden im Prenzlauer Berg wurden in ein buntes Farbenspiel getaucht. Herabsinkende Leuchtkörper verursachten einen schnellen Wechsel von grellem Licht und Schatten, die über die gespenstische Szenerie rasten. […] Höhnisch klatschten einige Demonstranten Beifall. Dann wurde der Himmel wieder dunkel.“49
Hier klangen um 2009 diskursiv weit verbreitete Motive an, die sich auf der einen Seite mit dem Namen und der Person „Gorbatschow“ und, auf der anderen Seite, mit der gewalttätigen Repression verbanden. Nicht zufällig war bei Wolle nach Gorbatschows Abreise von den Feierlichkeiten am 7. Oktober 1989 für den MfSChef Mielke „Schluss mit dem Humanismus“. Gorbatschow fungierte in den Erzählungen zur Vierzigjahresfeier meist als Schaltstelle zwischen den kommunistischen Staatsmännern (denn meist waren es Männer) und dem von der Bevölkerung geforderten und angestoßenen Reformprozessen innerhalb des Sozialismus. In fast allen Erzählungen war davon die Rede, dass, neben den „Freiheit“-Parolen, von den Demonstranten „Gorbi, Gorbi“ gerufen wurde, was diesem laut Kowalczuk „peinlich gewesen“ sei.50 In die gleiche Erzähllogik gehörte, dass Gorbatschow der einzige Politiker gewesen sei, der versucht habe, die politisch-ökonomische Krise des Ostblocks zu thematisieren und auch vor Kritik nicht zurückschreckte. In diesem Zuge soll Gorbatschow wörtlich gesagt haben: „Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort“, was als Vorlage für das so wohl nie im Wortlaut geäußerte geflügelte Wort Gorbatschows „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ galt.51 Bei Rödder fand sich mit der Bildunterschrift „Wer zu spät kommt“ ein Foto, das Honecker neben Gorbatschow auf der Festtagstribüne zeigte. 52 Gorbatschow blickt darin auf seine Uhr, was der ihm zugewandte Honecker mit einem Lächeln quittiert. Gorbatschow, so könnte das Bild metaphorisch ausdrücken, las die Zeichen der Zeit, während Honecker diesen Zeichen mit einer merkwürdigen, da unangebrachten 49
Wolle 2009, S. 438.
50
Kowalczuk 2009, S. 388.
51
Vgl. Müller 2009, S. 437 und, die gleiche Passage zitierend, Görtemaker, Manfred: Zusammenbruch des SED-Regimes. In: Informationen zur politischen Bildung 250/ 2009, S. 25. Zum Mythos des geflügelten Wortes „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ vgl. Kowalczuk 2009, S. 388 und Neubert 2008, S. 122.
52
Rödder 2009, S. 86.
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Leichtigkeit begegnete. In der für 2009 überarbeiteten Ausgabe „Der Weg zur Einheit“ der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Reihe „Informationen zur politischen Bildung“ hieß es zu diesem Thema: „Nachdem Gorbatschow mit seinem Plädoyer für politische und ökonomische Reformen geendet hatte, pries Honecker aufs Neue den Erfolg des Sozialismus in der DDR. Wiederum keine Erwähnung der Flüchtlinge, kein Satz über die Krise in seinem Lande, die er gar nicht wahrzunehmen schien.“53 Neben diesem Text fand sich ein Foto, das mit der Bildunterschrift „Mühsam kaschierte Differenzen“ Honecker und Gorbatschow ebenfalls während der Parade zum 40. Jahrestag zeigte. Honecker winkt darauf, etwas angestrengt lächelnd und sichtlich gealtert, direkt in die Kamera, während Gorbatschow mit einer Mischung aus Abwesenheit, Langeweile und Nachdenklichkeit von Honecker abgewandt zur Seite schaut. Beide Darstellungselemente zeigten ikonographisch die klaffende Lücke zwischen den beiden Politikern und der Politik, für die sie in der Erzählung zur Friedlichen Revolution 2009 standen. Eine weitere Antipode zu Gorbatschows Reformprozess54 bildete die sogenannte „chinesische Lösung“. Damit war gemeint, dass die SED und ihre Exekutivorgane gewaltsam und mit militärischer Systematik gegen öffentliche Proteste und sich formierende Oppositionskräfte vorgehen könnte. Dies hatte zuvor die Kommunistische Partei (KP) Chinas getan, die am 3. und 4. Juni auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ für Reformen protestierende Studenten vom Militär beseitigen lies. Zuvor wurde von der chinesischen KP, wie schon in Polen 1981-83 während der Proteste der Solidarność55, das Kriegsrecht ausgerufen.56 Diese Aktion der chinesischen KP wurde von der SED und der Volkskammer politisch offiziell begrüßt. Der spätere Nachfolger Erich Honeckers, Egon Krenz, „bekräftigte mehrfach öffentlich, wie klassenkämpferisch standhaft die chinesischen Kommunisten sich gezeigt hätten“.57 Die politische „Botschaft der SED“ 58 an ihre eigene Bevölkerung war klar: Nötigenfalls werden Proteste mit Gewalt niedergeschlagen. So geschehen am 7. Oktober 1989, als laut Kowalczuk die „Angst vor der ‚chinesischen Lösung‘“ unter der Bevölkerung bereits grassierte und „[d]ie wildesten Gerüchte“ produzierte – die
53
Görtemaker, Manfred: Zusammenbruch des SED-Regimes. In: Informationen zur politischen Bildung 250/2009, S. 25.
54
Es darf jedoch bezweifelt werden, und wurde auch um 2009 in vielen Darstellungen getan, ob Gorbatschow in diesem Reformprozess eine kohärente Politik verfolgte. Zur eher ambivalenten Rolle Gorbatschows in 1989 vgl. vor allem Rödder 2009, S. 15-20 und 230ff.
55
Vgl. Dalos 2009, S. 33ff.
56
Vgl. Kowalczuk 2009, S. 337f.
57
Ebd., S. 339.
58
Ebd.
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sich schließlich auch bewahrheiten sollten, wenn auch nicht in der brutalen Radikalität, wie sie die chinesischen Demonstranten erfahren hatten.59 Dieser 7. Oktober des Jahres 1989 bildete in den Erzählungen um 2009 den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die zwar nicht 1989 begann, sich in diesem Jahr jedoch rasant dynamisierte. Die dialektische Konstellation von SED und Opposition, ihre antipodischen Differenzen und diametralen Semantiken, Symbole, Sprachen und politischen Praktiken traten zur Vierzigjahresfeier der DDR geballt zutage. Aus genau dieser Konstellation, die um 2009 meist als ein noch unentschiedenes Kippverhältnis dargestellt wurde, erklärte sich, warum der 9. Oktober in Leipzig als das zentrale Ereignis der Friedlichen Revolution erzählt werden konnte. Zwar wurde nicht nur in Ost-Berlin und Leipzig entscheidend oppositionell gehandelt, sondern beispielsweise auch in Plauen, Dresden, Erfurt, Illmenau, Gotha und anderen Städten und Dörfern.60 Allerdings galt um 2009 der 9. Oktober in Leipzig vermehrt als der „Tag der Entscheidung“.61 Das Vokabular, mit dem die Friedliche Revolution und 1989 um 2009 beschrieben wurden, war voller Begriffe aus dem Bereich des „Wunders“ und Irrealen. So lautete der Untertitel des von Klaus-Dietmar Henke herausgegebenen Sammelbandes „Revolution und Vereinigung 1989/90“: „Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte“.62 Wenn 1989 für etwas stand, dann für ein erneuertes Verhältnis von Phantasie und Realität in der Moderne. Nicht von ungefähr beginnt auch Bruno Latour seinen Essay „Wir sind nie modern gewesen“ mit einer Schilderung von 1989 und nennt dieses „Ein Jahr der Wunder“.63 Der 9. Oktober 1989 erhielt 2009 nicht selten den Beinamen „Das Wunder von Leipzig“. 64 59 60
Ebd., S. 389ff. Ein detaillierter Überblick findet sich beispielsweise bei Neubert 2008, S. 70-93 und 122ff. Sowie Kowalczuk 2009, S. 393-401.
61
Kowalczuk, S. 401, wenngleich auch die Erzählungen zur „Revolution in der Provinz“, zumal der sächsischen, 2009 durchaus vermehrt Konjunktur hatten, s. Richter, Michael: Die Revolution in der Provinz – Sachsen zum Beispiel. In: Henke 2009, S. 198-212 oder Jesse, Eckhard/Schubert, Thomas (Hg.): Zwischen Konfrontation und Konzession. Friedliche Revolution und deutsche Einheit in Sachsen. Berlin: Ch. Links 2010.
62
Henke 2009, Titelblatt.
63
Latour 2008, S. 16f. Latour schildert allerdings nicht allein das „Wunder“ der Friedlichen Revolution, sondern den doppelten Zusammenbruch des radikal Sozialen mit dem Ende des Sozialismus und des radikal Natürlichen durch die ebenfalls 1989 stattfindenden Klimakonferenzen.
64
Vgl. unter anderem Schönfelder, Jan: Das Wunder der Friedlichen Revolution. Prominente Stimmen zum Herbst 1989. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009; Bauszus, Jens: Das Wunder von Leipzig. Focus Online am 9.10.2009 (URL: http://goo.gl/ctU79 [18.7.2013]); Steffen, Tilman: Das Wunder von Leipzig. Zeit Online am 9.10.2009
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Die Leipziger begannen ab dem 4. September 1989 jeden Montag für Freiheitsrechte, Ausreisebewilligungen oder innenpolitische Reformen zu demonstrieren. Diese „Montagsdemonstrationen“ gingen von den in der Nikolaikirche abgehaltenen „Friedensgebeten“ aus. Der kirchliche Kontext korrespondierte um 2009 eigenartig linear mit dem religiös-mythisch aufgeladenen „Wunder“-Diskurs – wenngleich der christliche Hintergrund bzw. eine christliche Motivation bei den Demonstranten und Oppositionellen nicht zwangsläufig gegeben war. 65 Die Kirche bot vielmehr einen großen Versammlungsraum, in dem jeder eine Stimme hatte und diese auch artikulieren konnte – weshalb die Kirchen den politischen Raum gaben, der von der repressiv agierenden SED eingeschränkt oder mit einer leeren Sprache gefüllt wurde.66 Am 9. Oktober fand, nur zwei Tage nach den Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der DDR in Ost-Berlin, wieder eine „Montagsdemonstration“ in Leipzig statt. Die politischen Spannungen, die spätestens seit den Kommunalwahlfälschungen im Mai zwischen SED und Bevölkerung zutage traten, hatten sich im Angesicht der befürchteten „chinesischen Lösung“ und der trotzdem anhaltenden Permanenz der teils sogar regelmäßigen Demonstrationen (wie denjenigen an jedem 7. eines Monats oder die „Montagsdemonstrationen“) in eine höchst entzündliche Stimmung und Dynamik gesteigert. So zumindest verlief die Darstellung in der Historiographie zum Herbst 1989 um 2009: „Alles spitzte sich auf den 9. Oktober 1989 zu, den Tag des nächsten Friedensgebets“, schrieb Rainer Eckert zum „Tag der Entscheidung“.67 Die Narrative überschlugen sich nahezu mit Schilderungen von angespannter Atmosphäre, Unsicherheit und Angst vor Gewalt. Es herrschte zwischen dem 6. und 9. Oktober bei der Nationalen Volksarmee (NVA) „erhöhte Gefechtsbereitschaft“.68 „Die Zeichen vor der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober
(URL: http://goo.gl/P2uJ2 [18.7.2013]); ebenso Wallbaum, Klaus: Das Wunder von Leipzig. Hannoversche Allgemeine Online am 9.10.2009 (URL: http://goo.gl/qdB0k [18.7.2013]); N. N.: Das Wunder von Leipzig. Der Westen Online am 8.10.2009 (URL: http://goo.gl/A3Qkk [18.7.2013]) und die ebenfalls als „Das Wunder von Leipzig“ betitelte, mit Spielszenen versehene Dokumentation von Sebastian Dehnhardt und Matthias Schmidt (Ausgestrahlt auf im u.a. im MDR am 8. Oktober 2009 um 20.15 Uhr) auf DVD erschienen bei Ascot Elite Home Entertainment GmbH 2009. 65 66
Vgl. Kowalczuk 2009, S. 232ff. Vgl. Zur Rolle der Kirche für 1989 Kowalczuk 2009, S. 192ff, Neubert 2008, S. 38ff. oder auch Vollnhals, Clemens: „Nicolai ist Schicksalsstelle, aber nicht die ganze Kirche“. Die evangelische Kirche im Revolutionsjahr 1989. In: Henke 2009, S. 249-248.
67
Eckert, Rainer: Der 9. Oktober. Tag der Entscheidung in Leipzig. In: Henke 2009, S. 218.
68
Rödder 2009, S. 87.
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standen also auf Konflikt“, hieß es bei Andreas Rödder.69 Und weiter: „Die ‚chinesische Lösung‘ vor den Augen der Welt wäre eine Verzweiflungstat mit vollem Risiko gewesen. Erich Honecker war dazu bereit.“70 Rainer Eckert schilderte ein fast prä-apokalyptisches Szenario: „Jeder Leipziger und jeder, der von außerhalb zur Montagsdemonstration in die Stadt kam, war gewarnt. Angst legte sich über die Messemetropole, Gerüchte schwirrten umher. Alle hatten irgendetwas, jeder etwas anderes, aber immer Bedrohliches gehört. So wussten die einen, dass für die chirurgischen Abteilungen der Krankenhäuser Bereitschaftsdienst befohlen worden war, dass Blutkonserven gehortet wurden, Ärzte sich auf Schussverletzungen einstellten und in der Innenstadt Dienst tuende Mediziner Passierscheine erhielten. Der Schießbefehl schien ergangen zu sein, die Beerdigungsinstitute sollten Wagen bereithalten. […] Nicht zu übersehen war der Aufmarsch bewaffneter Einheiten in und um Leipzig. Die Stadt verwandelte sich in ein Militärlager[.]“71
Nach der „Prügelorgie zum Fest“72 am 7. Oktober schien Gewalt gegen Demonstranten wahrscheinlicher als je zuvor. In Eckerts Schilderung mischten sich medizinische und militärische Ausnahmesituation zu einer Drohkulisse, die durch ihren Gerüchtecharakter noch vager, noch ungewisser wurde. Die „chinesische Lösung“, zu der Honecker laut Rödder „bereit“ war, erschien im virtuellen Möglichkeitsraum: „Das Gerücht, die SED-Führung habe nach den demütigenden Vorkommnissen rund um die Geburtstagsparty in Ost-Berlin den Politoffizieren den Schießbefehl erteilt, verbreitet sich wie ein Lauffeuer“, hieß es auf Focus Online zum zwanzigsten Jahrestag des 9. Oktober in Leipzig. 73 Sven Felix Kellerhoff zeichnete in der Welt vom 9. Oktober 2009 ein ähnliches Bild, das von Gerüchten, Blutkonserven und virtueller Gewalt durchdrungen war: „Das Gerücht verbreitet sich in Windeseile: In Leipzigs Krankenhäusern seien zusätzliche Blutkonserven angekommen, und alle Chirurgen stünden in Bereitschaft. Viele Einwohner der Stadt hören dieses Geraune, die meisten glauben daran, manche erzählen es weiter. Es passt genau zur Situation, denn alles deutet darauf hin, dass der erste Montag nach dem 40.
69
Ebd.
70
Ebd., S. 88.
71
Eckert in: Henke 2009, S. 218.
72
Bauszus, Jens: Eine Prügelorgie zum Fest. Focus Online am 7.10.2009 (URL: http:// goo.gl/bgzv1 [18.7.2013]).
73
Bauszus, Jens: Das Wunder von Leipzig. Focus Online am 9.10.2009 (URL: http:// goo.gl/ctU79 [18.7.2013]).
186 | 1989 UND WIR Jahrestag der DDR der Tag der Entscheidung sein wird. Die SED scheint entschlossen, am 9. Oktober 1989 die Oppositionsbewegung ohne Rücksicht auf Verluste niederzuschlagen.“74
Auch hier funktionierte die Erzählung der Opposition und Friedlichen Revolution als Ereignis durch eine kontrastreiche Differenz: Nachdem die SED und ihre politischen Organe sich jeder politischen Grundlage (Ihre Sprache, ihre Symbole, ihre Bevölkerung, ihr Demokratieanspruch, die Unterstützung durch die Sowjetunion, etc.) selbst entledigt hatten, nachdem sie in niemandes Namen mehr sprachen, schien die einzige Handlungsoption die „chinesische Lösung“ zu sein. Die SED hatte politisch nichts mehr zu bieten – also auch nichts mehr zu verlieren, weshalb sie „ohne Rücksicht auf Verluste“ zuschlagen würde – so zumindest die Befürchtungen. Warum dies am 9. Oktober nicht geschehen ist, lässt sich nur schwer erklären. 2009 wurden verschiedene Erzählungen dafür angeboten, die jedoch allesamt in das bisher dargestellte Schema von Krise und Kritik in der DDR 1989 passten. Dabei standen zwei Erklärungsmuster im Fokus: Das erste bemühte die souveräne Masse als zahlenmäßig wie politisch nicht mehr zu stoppendes Phänomen. In dieser Erzählung wurde die SED mitsamt ihrer Einsatzkräfte physisch wie politisch, und noch dazu friedlich, im mehrfachen Wortsinn überwältigt. Die zweite Erklärung – die sich nicht unbedingt von der ersten ausschließt – erweiterte die Sprachunfähigkeit der SED und ihrer Organe auf die Befehls- und Einsatzlage in Leipzig. Diese sei derart unklar gewesen, die Kommunikation zwischen Politbüro und Exekutivorganen derart chaotisch, dass keine klare Befehlsstruktur mehr erkennbar war, was letztlich zur Stagnation des Polizei- und Militäreinsatzes führte. Gerade letztere Erklärung legte nahezu allegorisch die Symptomatik der Politik offen, zu der die SED 1989 noch in der Lage war – und sich auch, wie noch zu zeigen ist, auf für die SED fatale Weise bis zum 9. November 1989, dem Mauerfall, verlängerte. In ihrer erstmals 1967 erschienenen Abhandlung über die „Vita activa“ und die Möglichkeiten politischen Handelns in der Moderne erklärt Hannah Arendt zwei Tätigkeiten zum Grundprinzip des Menschseins: Sprechen und Handeln. Mehr noch: Durch Sprechen und Handeln vollziehe sich eine Art „zweite Geburt“: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung auf uns nehmen.“75 74
Kellerhoff, Sven Felix: Wir sind das Volk! Die Welt vom 9.10.2009. Beachtlich war auch, dass Kellerhoff im Präsens erzählte, als wären der 9. Oktober 1989 und 2009 in ein und derselben Zeit verhandelbar.
75
Arendt 2011, S. 215.
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Die Initiative zu sprechen und zu handeln liege darin, dass, so Arendt weiter, einmal in die Welt gesetzt, der Mensch „etwas Neues anfangen“ möchte. Die „Anwesenheit von Anderen“ gebe dabei unter Umständen einen entscheidenden „Stimulans“.76 Im Handeln und Sprechen verbirgt sich für Arendt die „Antwort auf die Frage […], die unwillkürlich jedem Neuankömmling [in der Welt, in der Gesellschaft, etc.] vorgelegt wird“. Diese Frage laute „Wer bist Du?“ und „Aufschluß darüber, wer jemand ist, geben implizite sowohl Worte wie Taten“.77 Demgegenüber ist für Arendt das Reden in der Propaganda „bloßes Gerede, weil es überhaupt über nichts mehr Aufschluß gibt, also dem eigentlichen Sinn des Sprechens geradezu zuwiderläuft“.78 Wie sehr die Deutungen der Friedlichen Revolution dieser Vorstellung des Menschen als politisches Wesen folgten wurde im „Erinnerungsjahr 2009“ besonders deutlich, wenn es um den 9. Oktober 1989 in Leipzig ging. Im Angesicht der leeren Propaganda, die spricht, ohne etwas zu sagen, und der drohenden „chinesischen Lösung“, die, nach dem Versagen der Sprache, das Handeln durch Gewalt ersetzte, mussten die Oppositionellen zeigen, wer sie sind. Und mehr noch: Sie mussten zu „Helden“ werden. Die Kategorie des „Helden“ ist philosophisch stark umstritten, gehört allerdings laut der Philosophin Susan Neiman in das Menschenbild der Aufklärung. 79 Bereits kurz nach der Wiedervereinigung, als die Geschichtspolitik zur DDR noch in den Kinderschuhen steckte, wurde der Versuch unternommen, sogenannte „Heldenstädte“80 der Friedlichen Revolution zu bestimmen.81 Die Diskussion, welche Stadt sich im Herbst 1989 als besonders „heldenhaft“ hervorgetan habe, zieht sich im Grunde 76
Ebd.
77
Ebd., S. 217.
78
Ebd., S. 221.
79
Vgl. Neiman, Susan: Moralische Klarheit Leitfaden für erwachsene Idealisten. Hamburg: Hamburger Edition 2010. Für Neiman ist das Heldentum dabei eine moralische Tugend, die aus politischen Gründen reaktiviert werden sollte.
80
Dieser Begriff stammt aus der sowjetischen Tradition, in der nach dem Zweiten Weltkrieg „Heldenstädte“ gekürt wurden, die sich besonders im Widerstand und Kampf gegen die Nationalsozialisten auszeichneten. Von daher ist der begriff „Heldenstadt“ im Kontext der Friedlichen Revolution geschichtspolitisch doppelt aufgeladen: Einerseits als implizite Weiterführung sowjetischer Geschichtspolitik, andererseits als Signum beispielhaften antitotalitären Widerstands. Von Leipzig als „Heldenstadt“ sprach am 4. November 1989 auch Christoph Hein – ausgerechnet während der Demonstration auf dem Alexanderplatz, die später zum Begründungsmoment der Berliner Erinnerungskonkurrenz gegen Leipzig in Sachen Friedliche Revolution werden sollte. Vgl. Neubert 2008, S. 138.
81
Vgl. Rudnick 2011, S. 345ff.
188 | 1989 UND WIR
bis heute, wurde allerdings mit der Zeit um einige Kandidaten wie Plauen erweitert.82 Besonders virulent war auch 2009 die Frage, ob Berlin oder Leipzig als die „Heldenstadt“ von 1989 angesehen werden sollte – und perpetuierte damit eine mögliche Erinnerungskonkurrenz.83 Beide Momente – Erinnerungskonkurrenz und aufklärerischer Heldenbegriff – brachte im September 2009 Evelyn Finger unter der titelgebenden Frage „Wer war die Heldenstadt?“ ins Spiel: „Wir leben in ironischen, in heldenskeptischen Zeiten. Denn wir haben den Heldenmut fürchten gelernt als Begleiterscheinung von Krieg und Diktatur. Unglücklich das Land, das Heldenstädte nötig hat! Bisher wurde die sogenannte Wende am liebsten als Mauerfall gefeiert, als sektseliges Mirakel, das wie ein Geschenk von oben schicksalhaft über das geteilte Berlin kam.“84
Finger führte weiter aus, dass in Berlin, der Stadt des Mauerfalls, Schabowskis Pressekonferenz wie ein „tollpatschige[r] Deus ex Machina“, das „sektselige Mirakel“ wie ein „Geschenk von oben“ gefeiert werde, während „die eigentlichen Akteure [...] im Dunkeln“ blieben – die Montagsdemonstranten am 9. Oktober in Leipzig. Finger spielte dabei weiter Berlin gegen Leipzig aus, wobei ersteres eng an das Ereignis des Mauerfalls geknüpft, Leipzig hingegen nicht durch ein „schicksalhaftes Mirakel“, sondern als „Akteur“, handlungsfähig und initiativ, und nicht passiv das Fatum empfangend, dargestellt wurde. Dabei schreckte Finger nicht davor zurück, dem berlinzentrierten Erinnern eine latente „Geschichtslüge“ zu unterstellen: „Dem hauptstadtfixierten Gedenken haftete stets ein Hauch von Geschichtslüge an, denn in Wahrheit war Schabowski kein Gott aus der Maschine, und der Höhepunkt des Dramas fand nicht im Politbüro statt, sondern in Leipzig. Dort wurde der Staat am 9. Oktober zum ersten Mal handlungsunfähig, als 70.000 Menschen durch die Stadt zogen und die schiere Masse den Repressionsapparat außer Kraft setzte. Das ermunterte Nachahmer im ganzen Land und demoralisierte die Mächtigen. Man könnte sagen, dass die Mauer eigentlich in Leipzig fiel. Ohne 9. Oktober kein 9. November: Die Leipziger haben es schon immer gewusst. Dass wir anderen es nun endlich auch begreifen, merkt man an den öffentlichen Reden und den veröffentlichten Bildern im zwanzigsten Jubiläumsjahr.“85
82 83
Vgl. Neubert 2008, S. 123f. Mehr zu dieser Erinnerungskonkurrenz in dem Kapitel „Zeiträume – Die Friedliche Revolution in Berlin und Leipzig“.
84
Finger, Evelyn: Wer war die Heldenstadt? Die Zeit 39/2009.
85
Ebd.
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Für Finger war also Leipzig die entscheidende „Heldenstadt“ des Herbstes 1989. Eine der markantesten moralischen Kategorien, die den „Helden“ auszeichnen, ist „Mut“. Dieser gehört für Hannah Arendt bereits zu den Grundmomenten politischen und sozialen Tätigwerdens. So schreibt Arendt in „Vita activa“: „Der Mut, den wir heute als unerläßlich für einen Helden empfinden, gehört bereits [...] zum Handeln und Sprechen als solchen, nämlich zu der Initiative, die wir ergreifen müssen, um uns auf irgendeine Weise in die Welt einzuschalten und in ihr die uns eigene Geschichte zu beginnen.“86 Die Kategorie „Mut“ war es auch, die 2009 entscheidend dazu beitrug, im Zusammenhang mit der Friedlichen Revolution von „Helden“ zu sprechen. Die Demonstranten „überwanden ihre Angst“ am 9. Oktober 1989 in Leipzig, „hatten den dazu nötigen Mut“, auf den Leipziger Innenstadtring durchzubrechen und „an der Zwingburg der Staatssicherheit in der ‚Runden Ecke‘ vorbei“ zu ziehen, dabei „brach Jubel aus“ als Zeichen des Triumphes.87 Aber nicht nur ihre Körper, sondern auch ihr Sprechen initiierten die Demonstranten, um sich, mit den Worten Hannah Arendts, „in die Welt einzuschalten“. So gab es mehrere Aufrufe zur Gewaltlosigkeit. Erhart Neubert zitierte dabei einen Appell Oppositioneller, in dem nahezu alle Souveränitätsgesten der DDR-Oppositionellen versammelt waren: „Wir haben Angst um die Zukunft unseres Landes. Wir bitten alle: Enthaltet Euch jeder Gewalt! Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absperrungen! Greift keine Personen oder Fahrzeuge an! Werft keine Gegenstände und enthaltet Euch gewalttätiger Parolen! Seid solidarisch und unterbindet Provokationen! An die Einsatzgruppen appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt! Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!“88
Diese Mischung aus Angst vor körperlicher Versehrtheit und um die politische Zukunft des Landes gepaart mit der selbsterklärten Souveränität und Solidarität der Bevölkerung auf Grundlage der Gewaltlosigkeit galt um 2009 als eine der entscheidenden Gründe für den erfolgreichen Verlauf des 9. Oktober 1989. In den Erzählungen wurden diese Appelle flankiert von politisch aufgeladenen Friedensgebeten und den berühmten, während der Demonstration skandierten Parolen „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt!“. Diese Parolen bildeten zusammengenommen die beiden Seiten der Souveränität, die sich die Demonstranten selbst sprachlich aneigneten, während ihre Körper größtenteils unversehrt den zuvor durch repressive Staatsorgane abgesperrten Raum durchbrachen. So fiel am 9. Oktober alles in eins, was Arendt als politisches Heldentum definierte: Sprechen und Handeln als Initiative, „sich in die Welt einzuschalten“ und „etwas Neues“ anzufangen. 86
Arendt 2011, S. 232.
87
Eckert in: Henke 2009, S. 220f.
88
Neubert 2008, S. 134.
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Die Erzählungen zum 9. Oktober 1989 endeten um 2009 dann auch meist in einer klassischen revolutionären Situation: Es öffnete sich ein Möglichkeitshorizont, an dem „etwas Neues“ entstehen konnte. So schrieb Erhart Neubert, dass „[f]ür beide Seiten [SED und Bürger] […] eine neue, nicht überschaubare Lage entstanden“ war, in der „der Riss zwischen Gesellschaft und SED […] unüberbrückbar“ erschien.89 Auch Reiner Eckert behauptete, dass „[r]evolutionstheoretisch […] in Leipzig etwas Neues entstanden“ war, nämlich „das Modell einer friedlichen, aber nicht gewaltfreien Revolution“, durch die „Weltgeschichte geschrieben“ wurde.90 Für Hedwig Richter war „[m]it dem 9. Oktober […] der Damm gebrochen“, denn „[d]as Volk hatte seine Souveränität zurückgewonnen und gab den Ton für die anstehenden Veränderungen an“.91 Ilko-Sascha Kowalczuk schrieb, dass „viele Menschen neue Hoffnungen“ hegten, „denn nun müsse doch alles besser werden“.92 Und mit dem Blick des Historikers hieß es dort weiter: „Heute wissen wir, an diesem Tag entschied sich, dass die Revolution von nun ab friedlich verlaufen würde, der Zusammenbruch des Regimes voranschritt und die Menschen näher an der Selbstbefreiung waren, als irgend jemand bewusst war.“93 Und bei Sven-Felix Kellerhoff hieß es romantisierend in der Welt vom 9. Oktober 2009: „Die Freiheit hat gesiegt in Leipzig an diesem Abend. Friedlich.“94 Die Erzählungen zu Opposition und Bürgerbewegung in 1989 zogen um 2009 eine Linie, die nahezu teleologisch auf einen Begriff von Freiheit abhob. Der Index dieses Begriffs rekrutierte sich aus einem Diskursrepertoire, der aufklärerischmodern genannt werden kann und stark auf eine europäische Denktradition abzielte. So forderte auch Reiner Eckert fast im Stile Lenins „Was ist zu tun: europäische Freiheitstradition“.95 Diese Freiheitstradition ordnete die Friedliche Revolution in die klassisch moderne Erzählung von Revolutionen ein, die zweihundert Jahre zuvor mit der Französischen Revolution 1789 begann und damit eine Politik des souveränen Bürgers zum Leitfaden der Geschichte erklärte. Diese Schritte in die Souveränität illustrierten die drei wichtigsten Stationen der Friedlichen Revolution 1989: Die Aufdeckung des Wahlbetrugs bei den Kommunalwahlen im März, der 40. Jahrestag der DDR und der 9. Oktober in Leipzig. Bei den Kommunalwahlen 89
Ebd., S. 139.
90
Eckert in: Henke 2009, S. 223.
91
Richter, Hedwig: Die DDR. Paderborn: Schönigh 2009, S, 94.
92
Kowalczuk 2009, S. 404.
93
Ebd. Mit diesen Worten beendete Kowalczuk den Abschnitt „Von der Gesellschaftszur Diktaturkrise“, um das nächste und letzte Kapitel mit der Überschrift „Untergang einer Diktatur“ sequenziell einzuleiten. Schon die Abfolge der Kapitelüberschriften zeigte, wie stark Dekadenzerzählungen für die Friedliche Revolution beansprucht wurden.
94
Kellerhoff, Sven Felix: Wir sind das Volk! Die Welt am 9.10.2009.
95
Eckert in: Henke 2009, S. 222.
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wurde die „Postdemokratie“ der DDR endgültig entlarvt und die Forderung laut, in der versprochenen Demokratie als Bürger und Bevölkerung eine Stimme zu haben; der 40. Jahrestag offenbarte die leere Propaganda der DDR und fungierte als Ambivalenzerzählung, in der sich Kritik und Krise noch ungewiss und bedrohlich in der Schwebe hielten; der 9. Oktober in Leipzig löste diese Ambivalenz zu Gunsten friedlichen, initiativen und solidarischen Handelns auf. Diese Auflösung offenbarte sich schließlich in den bekanntesten Losungen der Friedlichen Revolution, die als Souveränitätsgesten aufs engste miteinander verknüpft wurden: „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt!“. In seiner Festtagsrede am 9. Oktober 2009 in Leipzig betonte der damalige Bundespräsident Horst Köhler die demokratischen Lehren, die aus dem 9. Oktober 1989 gegenwärtig und zukünftig zu ziehen seien: „Was vor 20 Jahren in Leipzig und in anderen Städten der DDR geschah, das war Demokratie, gemacht von Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR erkämpften sich ihren Weg zu einem Staat, der nicht bloß dem Namen nach demokratisch scheint, sondern wirklich demokratisch ist. Es ist unser Staat, in dem wir frei und fair unsere Zukunft bestimmen können. Dabei ist Demokratie allerdings nichts, was man einmal erringt und dann ohne weiteres Zutun auf Dauer sicher hat. Demokratie ist kostbar und verletzlich. Sie ist gefährdet und muss immer wieder aufs Neue gelernt und geübt werden. Sie lebt davon, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an den demokratischen Verfahren, am demokratischen Geschehen beteiligen. Sie, die Bürger, sind die Akteure der Demokratie.“96
Die Lehre des 9. Oktober bei Köhler war der souveräne Bürger, der „Akteur der Demokratie“, der sein „Schicksal selbst in die Hand nimmt“ (wobei Köhler hier erneut, wie Evelyn Finger, den passiven Empfänger des Fatums gegen den mündigen, souveränen und initiativ handelnden Akteur-Bürger ausspielte). Der Bürger und die Demokratie, diese beiden Mikro- und Makroelemente der Moderne, entstammen dem, wie Manfred Geier es nennt, „europäischen Projekt“ der Aufklärung. Demokratie ist die Politik, die der Bürger als Mensch selbst macht, er empfängt sie nicht von oben. Der Bürger selbst ist die autoritäre Instanz, die sich verantworten muss. Diese Emanzipation des Menschen gilt als das entscheidende Signum der europäischen Aufklärung. So definiert Geier:
96
Köhler, Horst: Rede von Bundespräsident Horst Köhler beim Festakt „20 Jahre Friedliche Revolution“ am 9. Oktober 2009 in Leipzig. Nr. 101-2 vom 9. Oktober 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 19962009.
192 | 1989 UND WIR „‚Aufklärung‘ ist eine vernunftorientierte Kampfidee gegen ‚dunkle‘ Vorstellungen, die alles wie in einem Nebel oder Schattenreich verschwimmen lassen. [...] Sie ist zugleich eine positive Programmidee für den richtigen Gebrauch des eigenen Verstandes. Sie favorisiert das Selbstdenken mündiger Menschen. Das erklärt ihr emanzipatorisches Erkenntnisinteresse. Aufklärung bekämpft alle autoritären Mächte, die den selbständigen Verstandesgebrauch der Menschen blockieren wollen.“97
In diese Kategorien ließen sich die Erzählungen zur Friedlichen Revolution gut einordnen, wenngleich hier die Emanzipation gegen die „autoritären Mächte“ weniger kontemplativ als eher aktiv vollzogen wurde.98 In Geiers Worten ließe sich die Idee von souveräner Bürgerschaft, wie sie sich in der Friedlichen Revolution artikulierte, sowohl als „Kampfidee“ als auch „Programmidee“ beschreiben. Bei dem 9. Oktober handelte es sich dann auch um den „weit ausstrahlenden Fanal der Emanzipation von der SED-Herrschaft“.99 Für Hans-Ulrich Wehler wurde dadurch „[a]us der ‚administrativ entmündigten Gesellschaft‘ der DDR […] eine ‚aktive Staatsbürgerschaft‘, die gegen lang erduldete Gängelung aufbegehrte“.100 Ralph Jessen beschrieb die Montagsdemonstrationen, und besonders den 9. Oktober 1989, als „Austritt aus lang erduldeter Unmündigkeit“ – und zitierte dabei fast wörtlich Immanuel Kants berühmte Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“.101 Für Manfred Geier begann die Epoche der Aufklärung mit der „Glorreichen Revolution“ in England 1689 und endete mit der Französischen Revolution 1789. 102 97
Geier, Manfred: Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek: Rowohlt 2012, S. 9.
98
Den Übergang von der „Vita contemplativa“ zur „Vita activa“ wiederum schildert Hannah Arendt eindringlich. Vgl. Arendt 2011, S. 22ff. Es ließe sich jedoch einwenden, dass auch in der Friedlichen Revolution die theoretisch-kontemplative und politisch-aktive Komponente zusammenflossen, nimmt man beispielsweise die oft stark theoretisierenden Appelle der Bürgerbewegung zur Hand und hielte diese neben deren körperlich-stimmliche Präsenz auf Demonstrationen. Arendt selbst bezweifelt stark, ob Theorie und Praxis in der Politik überhaupt so kategorisch getrennt werden sollten.
99
Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990. München: Beck 2008 (BpB-Lizensausgabe 2009), S. 331
100 Ebd. Leider machte Wehler an dieser Stelle nicht genau kenntlich, welchen Text er in diesem Abschnitt zitiert. 101 Jessen, Ralph: Die Montagsdemonstrationen. In: Sabrow 2009, S. 467. Kants Text findet sich, zusammen mit anderen Zuschriften auf die Preisfrage der „Berlinischen Monatsschrift“ aus dem Jahr 1783, vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung? In: Bahr, Erhard (Hrsg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam 2008, S. 9ff. Kants berühmte Definition im Wortlaut: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ 102 Geier 2012, S. 9f.
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Im „Erinnerungsjahr 2009“ wurde deutlich, dass diese Kontinuität um eine weitere Revolution mit der Jahreszahl „‘89“ erweitert werden sollte – die Friedliche Revolution von 1989. Die zwei mit dieser Kontinuität verbundenen Projekte, das „Projekt Aufklärung“ und das daran geknüpfte „Projekt Europa“, hatten im Diskurs um 2009 nur dann eine Zukunft, wenn 1989 und die Friedliche Revolution in dieses Erinnern, Denken und Historisieren politisch eingeflochten werden. Geier zitiert die Encyclopédie von Diderot und D’Alembert, zum Stichwort „Projekt“: „Ein Plan, den man zu verwirklichen beabsichtigt, doch es ist ein weiter Weg vom Projekt zur Ausführung & ein noch weiterer Weg von der Ausführung zum Erfolg. Wie oft verfällt der Mensch auf unsinnige Unternehmungen.“103 Dort schließt sich der Kreis zur Rede Horst Köhlers und den dort beschriebenen Lehren des 9. Oktobers 1989: Projekte sind Dinge und Ereignisse, die zukünftig verwirklicht werden sollen – und gleichzeitig das Risiko des Scheiterns in sich tragen. Die Demokratie, das souveräne Bürgertum, die emanzipatorische Aufklärung, die Geschichtspolitik und Erinnerungskultur zu 1989 waren diese riskanten Projekte, die sich nicht nur, aber, und das wurde um 2009 deutlich, im Zweifel entscheidend auf die „lebendige“ Erinnerung an die Friedliche Revolution und ihre Lehren stützten. Oder wie es Horst Köhler am 9. Oktober 2009 in seinen Schlussworten nahezu hantologisch ausdrückte: „Bewahren wir uns diesen Geist und lassen wir uns immer wieder von ihm beflügeln.“104 In diesem Sinne galt 1989 wie 2009: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Friedlichen Revolution.
S UBJEKTIVIERUNG UND S OUVERÄNITÄT : D IE (AUTO -)B IOGRAPHIE ALS M EISTERERZÄHLUNG F RIEDLICHEN R EVOLUTION
DER
In „Vita activa“ geht Hannah Arendt nicht nur der Frage nach, wie Handeln und Sprechen als Tätigkeit den Menschen als politisches und soziales Wesen hervorbringen. Damit verknüpft ist auch, wie zuvor gesehen, die Antwort auf die Frage „Wer bist Du?“. Dieses „unverwechselbar einmalige Wer-einer-ist“ offenbart sich laut Arendt „handgreiflich im Sprechen und Handeln“, entzieht sich jedoch „jedem Versuch, es eindeutig in Worte zu fassen“.105 Der Grund dafür liegt für Arendt da103 Zitiert nach Ebd., S. 10. 104 Köhler, Horst: Rede von Bundespräsident Horst Köhler beim Festakt „20 Jahre Friedliche Revolution“ am 9. Oktober 2009 in Leipzig. Nr. 101-2 vom 9. Oktober 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 19962009. 105 Arendt 2011, S. 222.
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rin, dass sich die Einzigartigkeit des tätigen, einzigartigen Individuums nur vergleichend in Relation zu anderen beschreiben ließe. Darin offenbart sich laut Arendt das politische Moment des Tätigwerdens, das ein „Miteinandersein“ aus einzigartigen Individuen, einen „Bereich, der zwischen Menschen qua Menschen liegt“, ein „Bezugssystem“ etabliert.106 Dieses Bezugssystem verknüpfe „alle Lebensfäden“ miteinander, die ein gemeinsames Interesse haben (sich also im Wortsinn einen Zwischenraum, inter esse, teilen). „Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen“, so Arendt weiter, „[...] ergeben sie wieder klar erkennbare Muster bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar.“107 In Arendts Politikdiskurs verbinden sich Individuum, Gemeinschaft und Geschichtlichkeit miteinander. Die Geschichte, die aus dem Tätigwerden hervorgeht, heißt dann schließlich „Lebensgeschichte“ – oder altgriechisch: Biographie. Hier wird nun die These vertreten, dass dieses historiographische Genre im „Erinnerungsjahr 2009“ als geschichtspolitische Meistererzählung der Friedlichen Revolution gelten konnte. Dies hatte dezidiert politische Gründe, die sich zu großen Teilen aus der Politikphilosophie begründeten, in deren Tradition Hannah Arendt steht und bisher heuristisch mit den Epochen „Aufklärung“ und „Moderne“ umrissen wurde. Bei dieser Philosophie handelt es sich um die Hervorbringung des Menschen als souveränes Subjekt und – politisch – als Bürger. Nicht von ungefähr wurden und werden die oppositionellen Gruppen von 1989 auch als „Bürgerbewegung“ bezeichnet. Dies geschah meist, um die zivilgesellschaftliche Dimension der Friedlichen Revolution und Opposition herauszukehren. Auch in dem Begriff „Zivilgesellschaft“108, ebenfalls eine Idee der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, steckt der lateinische civis – der Bürger. Die Figur des Bürgers, dem „Akteur der Demokratie“, wie Horst Köhler es ausdrückte, fand um 2009 sein Exempel in dem oppositionellen Bürgerrechtler aus der DDR. Aber auch die individuelle Biographie mehr oder minder „passiv“ Mit(er)lebender fand sich niedergeschrieben in Lebensgeschichten und -berichten. Diese Art Publikationen verstanden die DDR als „Erfahrungscontainer“ von „[u]nerzählte[n] Leben unterm SED-Regime“, wie der Klappentext des Sammelbandes „Black Box
106 Ebd., S. 224ff. 107 Ebd., S. 226 (Hervorhebung im Original). 108 Die semantische, politische und theoretische Problematik dieses Begriffes fasst übersichtlich zusammen Simsa, Ruth: Die Zivilgesellschaft als Hoffnungsträger zur Lösung gesellschaftlicher Probleme? Zwischen Demokratisierung und Instrumentalisierung gesellschaftlichen Engagements. In: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) e.V. (Hg.): Europäische Integration als Herausforderung. Rolle und Reform der sozialen Dienste in Europa. Schriftenreihe der Beobachtungsstelle 1/2001, S. 23ff.
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DDR“ es ausdrückte.109 Deren Herausgeber, Ines Geipel und Andreas Petersen, sprachen dabei von einer „Kollektivdimension“, welche die in ihrem Band versammelten „Biogramme“ auszeichne.110 Jede Lebensgeschichte stehe dabei für eine exemplarische kollektive Erfahrung und gebe eine Antwort auf die Frage „nach konkretem Leben in der DDR“. Eine dieser „Kollektiverfahrungen“ war laut Geipel und Petersen das „Schweigen“: „Was sich durch die Porträts in diesem Buch zieht und was sie eint, ist vor allem Schweigen. Ein Schweigen aus traumatischen Erfahrungen, auferlegten Tabus, oft verordnetem Verdrängen und nicht selten staatlich verhinderter Trauer. Im Ganzen eine große Erzählung unbewältigter Geschichte.“111 Geipel und Petersen griffen so ein Topos wieder auf, das die DDR um 2009 kennzeichnete: Als sprachlose, schweigende Gesellschaft mit „auferlegten Tabus“ – ein Zustand, der, wie zuvor gesehen, durch die Friedliche Revolution der Bürgerbewegung und ihr Sprechen und Handeln beendet wurde – und damit auch der Staat DDR. Für Geipel und Petersen hatte das Sammeln und Schreiben der noch „unerzählten“ Lebensgeschichten in ihrem Band auch eine geschichtspolitische Agenda, die sich an ein „neues Schweigen“ nach 1989 koppelte: „Als 1989 die Mauer fiel, hätte man annehmen können, dass nun auch dieses SchweigeVolumen aufbrechen könnte. Doch die Ostdeutschen kämpften um ihre Existenzen, und im Westen wollten die wenigsten hören, was man sich vierzig Jahre lang geleistet hatte, nicht zu sehen. Statistisch gesehen erschien in den letzten zwanzig Jahren jeden Tag ein Buch zur DDR-Geschichte, es gab eine Flut von Filmen, Monografien, Artikeln, enorm viel Geld wurde in die Aufarbeitung gesteckt, doch die politische Kultur und das mentale Klima des Landes erreichte das kaum. Was blieb, waren Orientierungslosigkeit und ein neues Schweigen, die Angst verlängerten und Klischees neuen Raum gaben.“112
1989 war nach dieser Darstellung kein Bruch mit dem Schweigen zur (Lebens-) Geschichte, sondern der Beginn einer neuen „Orientierungslosigkeit“, „Angst“ und der Verbreitung von „Klischees“ – trotz einer quantitativ hoch dimensionierten wissenschaftlichen, kulturellen und politischen „Aufarbeitung“. Insofern hat die Biographie des „konkreten Lebens“ eine geschichtspolitische Sphäre erreicht, in der das individuelle Erleben im Zweifel für die Tatsachen spricht und die „eigentliche“ Geschichte erzählt, durch das Medium des Buches vermittelt. Die in dieser Logik als Opfer eines doppelt auferlegten (Ver-)Schweigens und Verschwiegen-Werdens vor und nach 1989 verstandenen individuellen Lebenswege erhielten so Repräsen109 Geipel, Ines/Petersen, Andreas (Hg.): Black Box DDR. Unerzählte Leben unterm SEDRegime. Wiesbaden: Marix 2009. 110 Ebd., S. 7. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 9.
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tanten und Fürsprecher wie die Herausgeber eines Sammelbandes, die ihnen erneut eine Stimme, ein Gesicht und einen Namen verliehen. In dieser Konstellation wäre es leicht, das alltägliche „konkrete Leben“ in seiner exemplarischen und doch individuellen Einfachheit gegen tendenzielle „Heldenerzählungen“ von Oppositionellen und Bürgerrechtlern auszuspielen. Auf den ersten Blick schienen die Oppositionellen in ihrer Selbstermächtigung souveräner, selbstbestimmter, in ihrer Initiative tätiger und aktiver. Allerdings bemerkte Ilko-Sascha Kowalczuk in „Endspiel“ zur Frage von Biographie und Oppositionsdasein: „Zu den wichtigsten Quellen oppositionellen Handelns in der DDR zählten die eigenen Lebenserfahrungen in und mit der SED-Diktatur. In fast allen Biographien finden sich Brüche, fast niemand war zeitlebens Oppositioneller.“113 Den Biographien und Lebensgeschichten, die sich um 1989 entfalteten und um 2009 in die Öffentlichkeit traten, wohnte dieser Moment des „Bruchs“ inne. Und genau diese Erzählkonstellation war die Voraussetzung dafür, die Friedliche Revolution und 1989 als eine Erfahrung darzustellen, der eine „Kollektivdimension“ zukam. Von einer generellen Brucherfahrung 1989 handelten auch die „Lebensgeschichten“ des Zeitzeugeninterviewbandes „Mein Land verschwand so schnell“ von Annette Leo und Agnès Arp.114 Darin fanden sich „[s]echzehn Variationen einer Zäsur“ anhand von 16 Zeitzeugeninterviews. Die „Zäsur“115 1989 teile laut Arp und Leo „alle ostdeutschen Biografien in der Rückschau unweigerlich in ein Vorher und Nachher“. Allerdings habe „dieses ‚Vorher‘ längst die Selbstverständlichkeit eingebüßt […], die es offensichtlich einmal besaß und […] [bedarf] nunmehr der Rechtfertigung, Verteidigung oder Distanzierung“.116 Der Bruch, den 1989 kennzeichnet, war für die Herausgeberinnen demnach zugleich der Beginn der Geschichtspolitik, die sich zu einem nicht mehr Gegenwärtigen verhalten musste. Die DDR wurde Rückblickend zu einer nicht mehr selbstverständlichen und, gerade für die jüngeren Zeitzeugen, auch nicht (mehr) existenten „untergegangenen Welt“ 117. Die Rolle des Zeitzeugen war für Arp und Leo auch die eines einzigartigen Blicks auf ein und dasselbe Ereignis. So „erscheint die Zäsur von 1989/90“ für die Herausgeberinnen 113 Kowalczuk 2009, S. 233. 114 Arp, Agnès/Leo, Annette (Hg.): Mein Land verschwand so schnell. 16 Lebensgeschichten und die Wende 1989/90. Bonn: BpB 2009. 115 Zur grundsätzlichen Problematisierung zäsurhafter Periodisierungen vgl. Vogler, Günter: Probleme einer Periodisierung der Geschichte. In: Goertz, Hans-Jürgen (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Hamburg: Rowohlt 2007, S. 253-260. Ob 1989 eine legitime Zäsur darstellt, soll hier nicht bestritten, sondern vielmehr als epistemologischer Effekt eines Diskurs verstanden werden, der, wie alle Periodisierungen, erst konstruiert werden musste. 116 Leo/Arp: Sechzehn Variationen einer Zäsur. In: Dies. 2009, S. 7. 117 Ebd., S. 8.
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„in den Äußerungen der Zeitzeugen in immer anderer Gestalt – als plötzliches und schockierendes Ereignis des Zusammenbruchs, als lange voraussehbare, aber nicht unbedingt erhoffte Veränderung, als Befreiung schließlich, die neue Möglichkeiten öffnet und neue Enttäuschungen bereit hält“. 118 Die Lebensgeschichte stünde in diesem Fall für eine Pluralität des Erlebens und die Singularität der individuellen Erfahrung. Im Gegensatz zu Geipel und Petersen sprachen die einzelnen Lebensgeschichten bei Arp und Leo aber in erster Linie für sich und waren nicht zwingend gegen eine „Kollektivdimension“ eintauschbar. Die Erfahrung, die mit 1989 bei Arp und Leo verbunden war, blieb einzigartig. Der Begriff der „Erfahrung“ ist es auch, der in Arendts Theorie des tätigen Menschen etwas zu kurz kommt. Was bei Arendt die Biographie von „der“ Geschichte unterscheidet ist, dass erstere einen klar benennbaren „Helden“ hat, der, im Gegensatz zur abstrakten „Menschheit“, „die zum Handeln notwendige Eigenschaft der Personalität“ mit sich bringt.119 Zudem ist die Lebensgeschichte „von Geburt und Tod begrenzt“, die Menschheitsgeschichte jedoch hat „keinen von uns wißbaren Anfang und kein von uns erfahrbares Ende“. Die Menschheitsgeschichte ist für Arendt „nicht mehr […] als der Rahmen, innerhalb dessen die unendlichen, erzählbaren Geschichten der Menschen gesammelt und niedergelegt werden“. Die Eigenart der Biographie sei, dass „jedes Menschenleben eine nur ihm eigene Geschichte zu erzählen hat“, wodurch das „Geschichtenbuch der Menschheit“ über „eine Unzahl von ‚Helden‘“ verfüge.120 Insofern unterscheidet Arendt nicht zwischen profanen und „heldenhaften“ Biographien. Denn, so Arendt schließlich, „[w]er jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biographie“.121 Welche Rolle spielte also die Biographie in der Geschichtspolitik zu 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“? Zunächst muss festgehalten werden, dass geschichtspolitisch motivierte Biographien generell den Akt des Erinnerns beinhalten. Individuen erinnern sich an die DDR, an ihr Leben in diesem Staat, an die Friedliche Revolution und den Mauerfall, an ihr Leben danach oder, für den Fall, dass es sich um keine Autobiographie oder Zeitzeugenprotokolle handelt, der Biograph erinnert sich an ihr Leben und die Brüche, die sich mit 1989 verbinden. Es handelt sich also um historisierende und historisierte Subjekte, die durch und in ihrer eigenen Geschichtlichkeit hervorgebracht werden. Als zweites lässt sich, wie bereits angedeutet, eine Figurenkonstellation festmachen, die an der Schnittstelle „Opfer/Held“ operiert. Dabei geht es nicht darum zu 118 Ebd., S. 10. 119 Arendt 2011, S. 228. 120 Ebd. 121 Ebd., S. 231 (Hervorhebung im Original).
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entscheiden, ob die jeweilige Lebensgeschichte die eines „Helden“ oder eines „Opfers“ sei, vielmehr bedingen sich in vielen Lebensgeschichten beide Kategorien gegenseitig, wie noch zu zeigen sein wird. Symptomatisch dafür stand der Titel eines 2009 erschienen Sammelbandes von Roman Grafe namens „Anpassen oder Widerstehen in der DDR“.122 Darin schrieb Grafe über das „Schweigen der Mehrheit“ und das Heldentum in der DDR: „Um zumindest passiv Widerstand zu leisten, mußte man auch in der DDR kein Held sein. Ohne die Mitläufer hätte die Diktatur nicht vierzig Jahre so funktioniert. Die Täter konnten sich auf das Schweigen der Mehrheit verlassen.“123 Bei Grafe trat, ganz im Sinne totalitarismustheoretischer Geschichtsdeutung, die Figur des Täters hinzu, die sich ebenfalls mit dem Akt des Schweigens und Verschweigens verband. Grafe selbst führte an, dass die „Verklärung der SEDDiktatur, das fehlende Grundwissen der Nachgeborenen, die unerhörten Geschichten vom großen Mut kleiner Leute“ die Hauptgründe dafür waren, eine „Sammlung von Zeitzeugnissen“ herauszugeben.124 Damit schloss sich Grafe der Idee des Fürsprechens und Repräsentierens der „unerhörten“ Lebensgeschichten an, die schon Geipel und Petersen als geschichtspolitischen Antrieb formulierten. 125 Dabei bewegte sich diese politische Strategie des Repräsentierens erneut in dem Bereich der Kosmopolitik Isabelle Stengers’, innerhalb der durch „Konsultation“ sowohl in den „politischen Bereich“ als auch an Orte, „wo Unsichtbare heraufbeschworen und konsultiert werden müssen“, gerade wenn es sich (wie im Fall von „Black Box DDR“) um „schwache Parteien“ ohne eigene Stimme handelt, ebendiese gehört werden konnten.126 In jedem Fall setzt für Stengers die Konsultation „die Gewohnheiten außer Kraft, die uns glauben machen, dass wir wissen, was wir wissen und wer wir sind“.127 In Publikationen, wie denen von Geipel und Petersen als auch in Sammelbänden wie denen Grafes, mit ihren „unerhörten“ und „unerzählten“ Lebensgeschichten, tauchten auf einmal Individuen und Ereignisse, Ansichten und Interessen, Stimmen und Gesichter auf, die mit der Tatsache des vergangenen, erinnerten „konkreten Lebens“ in die Geschichtspolitik zu 1989 einbrachen und das 122 Grafe, Roman (Hrsg.): Anpassen oder Widerstehen in der DDR. München: Pantheon 2009. Interessanterweise verzichtet der Titel auf ein Fragezeichen, als ließe er nur diese beiden Lebensweisen für die DDR gelten, obgleich Grafe die These aufstellte: „Zwischen Anpassen und Widerstehen konnte jeder sein Maß finden“, vgl. ebd. S. 12. 123 Ebd., S. 12. 124 Ebd., S. 11. 125 Allerdings ist der nicht geringzuschätzende Unterschied zu beachten, dass bei Grafe die Zeugen selbst zu Wort kamen, sich also selbst bezeugten, während bei Geipel und Petersen tatsächlich ein anderer für sie sprach und Zeugnis ablegte. 126 Stengers 2008, S. 182f. 127 Ebd., S. 183.
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bisherige Wissen, die bisherige epistemologische Existenz der Geschichte von 1989 infrage und auf die Probe stellten. Insofern war die Geschichtspolitik, die den Verschwiegenen ihre Stimme zurück gab, eine Verdoppelung der Lehren von 1989, in deren Diskurs es immer wieder darum ging, seiner eigenen Stimme als Mensch, Bürger und einzigartige Persönlichkeit Gehör zu verschaffen, mit ihr in die Gesellschaft einzutreten und diese tätig mitzugestalten. Unter etwas anderen Vorzeichen galt diese Politik des Für- und Mitsprechens 2009 auch für prominentere Figuren von 1989. In der Zeit vom 7. Mai 2009 fand sich ein Interview der Journalisten Christoph Dieckmann und Matthias Geis mit den DDR-Oppositionellen (dort: „Bürgerrechtler“) Wolfgang Templin, Ulrike Poppe, Katrin Göring-Eckart und Hans Misselwitz „über die Magie von 1989 und was daraus geworden ist“.128 Gleich die erste Frage zielte auf den biographischen Bruch ab: „Gab es einen biografischen Punkt, durch den Ihr Weg in die Opposition bestimmt wurde?“129 Die vier Antworten auf diese Frage offenbarten das Panorama an Brucherfahrungen, die um 2009 zum Repertoire der Erzählungen zur DDR und Friedlichen Revolution gehörten. Da wäre zunächst der Wille und die Hoffnung zur Partizipation an der gesellschaftlich-politischen Entwicklung der DDR. So berichtete Wolfgang Templin: „Ich bin mit der Hoffnung auf ein Zukunftsprojekt DDR in dieses Philosophiestudium gegangen und habe am Ende […] gemerkt, dass es das nicht war. Von dem Entschluss, innerhalb des Systems an seiner Entwicklung mitzuwirken, blieb nur heftige Verunsicherung, Ratlosigkeit, ein innerer Streik: Das nicht! Aber was? […] Ich wollte zu einer Bewegung gehören, die den gesamten Ostblock aufbricht und verändert.“130
Hans Misselwitz berichtete von einer ähnlichen Erfahrung: „Ich komme aus Verhältnissen, in denen man dagegen war. Für mich begann es politisch gerade in einer Phase, als ich aufhörte, auf die Dissidenten aus der kulturellen und politischen Elite zu hoffen. […] Niemand dachte daran, den Staat direkt anzugreifen. Die DDR war Realität. Dass die SED das Monopol über diesen Staat hatte, war ein Unding, das wir nicht akzeptieren konnten.“131
Was Misselwitz und Templin hier als den Beginn ihrer oppositionellen Haltung beschrieben begann mit der Hoffnung auf eine andere Zukunft, deren Teil man sein wollte, die sich nicht gegen die Realität des Staates DDR, aber gegen die Realität 128 Dieckmann, Christoph/Geis, Matthias: „Das nicht! Aber was?“. Die Zeit 20/2009. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd.
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des SED-Monopols bei dessen Gestaltung richtete. Templin beschrieb seinen Weg von „Hoffnung“ zu „Verunsicherung, Ratlosigkeit“ und „innerer Streik“ bis hin zum Willen nach Aufbruch und Veränderung im Kontext einer Bewegung. Misselwitz beschrieb ebenfalls das Ende der Hoffnung mit dem Verlust des Vertrauens in die Dissidenten aus dem Kreis der „kulturellen und politischen Elite“. Beiden Erzählungen wohnte eine „Do-It-Yourself“-Haltung inne, die nach aktiver Partizipation strebte und die niemand anderes als sie selbst umsetzen könnten. Das Ende der Hoffnung auf Andere war für beide der Beginn des Tätigwerdens – und des Selbstwerdens als Oppositionelle. Anders Ulrike Poppe. Für sie ging es zunächst nicht darum, etwas selbst, sondern Missstände und Mängel kenntlich zu machen: „Die Heuchelei und Lügen, diese Erziehung, die Akzeptanz der Lüge. Dass wir die Rolling Stones nicht hören durften. Wir wollten Anschluss an die internationale Jugendkultur. Wir wollten Jeans und lange Haare tragen und uns nicht von dem Polizisten auf dem Bahnhof die Haare schneiden lassen. Das zielte noch gar nicht auf eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung, sondern war erst einmal nur Empörung gegen Unrecht, eingeschränkte Freiheit.“132
Diese Erfahrung des Mangels und die Sehnsucht nach Anschluss an „die internationale Jugendkultur“ kontrastierte Poppe mit repressiven Staatsorganen (der Haare schneidenden Polizei). Was Poppe beschrieb, war eine grundlegende Unzufriedenheit in der Entfaltung und Auslebung ihrer Ideen und Wünsche, die sich mit kulturellen Gütern und Symbolen wie „Jeans und lange Haare“ oder der Musik der Rolling Stones verband. Hinzu kam die „Akzeptanz der Lüge“, die „Heuchelei“, die Poppe aus dem Verbot, in der DDR über Missstände zu reden, ableitete. Auch bei Poppe hatte das Reden in der DDR nichts mit der Realität des „konkreten Lebens“ zu tun. Für Poppe begann dieses Opponieren „schon als Kind“, als sie „ganz simple Erfahrungen“ dieser Art Repression machte, die „auslösend für Empörung“ waren.133 Konträr dazu lag wiederum der biographische Bruch bei Katrin Göring-Eckart. Sie wollte laut eigener Aussage „als Jugendliche unbedingt für die DDR sein, auch weil mein Vater so dagegen war“, der „Fan von Franz-Josef Strauß“ war und „Mein Kampf, schön ins Neue Deutschland eingepackt“ im Schrank stehen hatte. Die Empörung richtete sich also nicht gegen Volkspolizisten oder das Verbot, Rockbands aus England zu hören, sondern gegen den eigenen Vater. Daraus ergab sich der Wille, sich grundsätzlich für den Sozialismus einzusetzen und aktiv zu engagieren:
132 Ebd. 133 Ebd.
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„Ich habe als Jugendliche gehört: Eigentlich müsste er [d.h. der Sozialismus] funktionieren, wenn man es nur ein bisschen vernünftiger, besser und freier machen würde. Ich wollte Lehrerin werden. Als ich 16 war, hat mich meine Deutschlehrerin zu sich nach Hause bestellt. Sie sagte dann: Du kannst nicht Lehrerin werden. Du kannst den Kindern niemals ein Leben lang etwas erzählen, was du selber nicht glaubst. Ich habe zwei Wochen lang geheult. Aber da wurde mir klar, dass ich die Verstellung wirklich nicht ausgehalten hätte.“134
Bei Göring-Eckart mischte sich der Bruch aus dem Willen zu Engagement, den Sozialismus „vernünftiger, besser und freier“ zu machen, mit der Offenbarung, dass dieses Engagement langfristig ein Leben in „Verstellung“ bedeutet hätte – womit wiederum das Motiv der ideologisch übermalten, leeren Ideen und Sprechen („etwas erzählen, was du selbst nicht glaubst“) im Sozialismus und das Moment der Entfremdung des Individuums von der grundsätzlich akzeptierten Ideologie des Staates mit der Erkenntnis der Lüge aufgegriffen wurde, das die Narrative zur Friedlichen Revolution um 2009 so grundsätzlich miteinander verband. Alle diese Biographien kennzeichnete der Bruch, der die einzelnen Individuen zum oppositionellen Handeln und in eine Form widerständigen Verhaltens brachte. Damit verknüpfte sich auch Roman Grafes Frage nach „Anpassen oder Widerstehen“. Nach dem Bruch war für die vier interviewten Bürgerrechtler die Frage zugunsten des Widerstands beantwortet, was für Poppe mit dem „Gefühl, moralisch besser zu sein als diejenigen, die sich aus Opportunismus der Macht andienten“ verbunden war. Dass die Oppositionellen durch ihren Widerstand in eine Minderheitensituation gerieten, war für Poppe nur mit diesem Gefühl moralischer Überlegenheit „zu ertragen“.135 Diese Containersituation des „Minderheit“-Seins ist vielleicht eine der charakteristischsten politischen Motive für die Lebensgeschichten zur Friedlichen Revolution. Der mehr oder minder selbstgewählte Ausschluss aus den angepassten Strukturen der DDR-Gesellschaft, der „Bruch“ mit dem Staat und seiner Ideologie, seiner Moral und seinen sozialen, politischen und kulturellen Vorgaben eröffnete einen neuen Raum des Handelns und „Einzigartig-Seins“ (Hannah Arendt). Ähnlich drückte es auch Hans Misselwitz aus: „Die Frage war: Wodurch können wir als Minderheiten den gesellschaftlichen Wandel effektiv inspirieren? Wann passiert der Umschwung, wo die Mehrheit bereit ist, den Pakt mit dieser Machtkulisse aufzugeben? Dafür braucht es ein paar Strukturen. Es braucht Menschen, die das vorleben, die Organisation bieten, die Anlässe schaffen und die Signale aussenden. 1989 gab es sie.“136
134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd.
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Dieser neue Raum wurde von Misselwitz als Möglichkeitsraum beschrieben, in dem sich widerständige Kräfte subversiv entfalten und geraderecht institutionalisieren konnten: Mit Strukturen, Signalen, Anlässen, Organisationen und Menschen, die den „Pakt mit dieser Machtkulisse aufgeben“. In dem Raum der Minderheiten, durch den, wie Ulrike Poppe es formulierte, „die Unmöglichkeit, in der DDR noch irgendetwas zu werden, frei gemacht“ wurde, konnte sich die Emanzipation des Individuums vollziehen und zum handelnden Subjekt und Bürger werden, der sich in der Diktion Arendts „in die Welt einschaltet“. Dies stand sowohl in der Tradition von Arendts „etwas Neues beginnen“ in dem Nicht-Ort, der Utopie, die noch ausgefüllt, im Kommen, ein Projekt war, als auch, daran anschließend, in der Tradition des Menschenbildes der Aufklärung als emanzipatorischem Projekt der Subjektivierung. Insofern verwunderte es auch nicht, wenn Ulrike Poppe auf die Frage, wie sich ihr Menschenbild seit 1989 geändert habe, antwortete: „Vor 1989 habe ich die Mehrheit der Menschen so erlebt, dass sie die herrschenden Verhältnisse abgelehnt oder auch billigend in Kauf genommen hat. Aber im Herbst 1989 haben diese Menschen Ideen und Konzepte entfaltet und eine Diskussionskultur gezeigt. Es liegen sehr viel mehr Potenziale in den Menschen, als ich jemals für möglich hielt.“137
Und auch Katrin Göring-Eckart beteuerte, dass sie „in dieser Zeit gelernt [hat], dass man gegenüber den Menschen doch sehr optimistisch sein kann, wenn es um eine Frage geht, die sie brennend interessiert. Sie können dann Grenzen, innere Grenzen, überwinden, die sie zuvor für völlig unüberwindbar gehalten haben.“ 138 Insofern war für Poppe und Göring-Eckart 1989 ein Bruch in ihrem individuellen Menschenbild, das sich heuristisch mehr an die emanzipatorische Bürgeridee der Aufklärung anlehnte, innerhalb welcher der (moderne) Mensch sich den autoritären Grenzen, die ihm von außen (bzw. oben) auferlegt wurden, im doppelten Wortsinn selbstbewusst entgegenstellt und entzieht, um „etwas Neues“ zu beginnen. Was die Frage des Fürsprechens bei den prominenteren Vertretern der Bürgerbewegung betraf, konnte um 2009 festgestellt werden, dass die „Gesichter der Friedlichen Revolution“ (so der Titel einer Fotoausstellung der Robert-HavemannGesellschaft aus dem Jahr 2011) zunehmend in den Fokus der Erzählungen rückten.139 Die Stimmen, Gesichter und Leben der einzelnen Akteure wurden immer sichtbarer, vernehmbarer und öffentlicher. Dabei, so die These, waren sie mehr als
137 Ebd. 138 Ebd. 139 Vgl. auch den Erinnerungsband von Jesse, Eckhard (Hrsg.): Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz. Berlin: Ch. Links 2006.
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Zeitzeugen: Sie waren auch (geschichts)politische Siglen, auf die sich die Geschichtspolitik zu 1989 in hohem Maße stützte. Warum war das so? Die hier vertretene These, dass die individuelle und meist auch politische Biographie um 2009 (und im Grunde bis heute) die Meistererzählung der Friedlichen Revolution war, liegt in dem aufklärerisch-bürgerlichen Impetus der Geschichtspolitik zu 1989 und den politischen Fragen und Problemen begründet. Es handelte sich meist um exemplarische Lebensläufe in dem Sinne, als dass sie tatsächlich ein Beispiel für demokratischen Willen sowie aktives Sprechen und Handeln gaben – und das unter extremen, totalitären, repressiven und pseudodemokratischen Verhältnissen. Schon die antiken Biographien politischer Akteure waren als moralische und politische Exempel gedacht. Sie sollten einen Leitfaden zum richtigen Handeln in Zeiten politischer Umbrüche und Veränderungen liefern und zur Nachahmung guten Handelns anregen: „Biography [in der Antike] was not only a source of information and recreation, it was also a tool for living.“140 Die Geschichtspolitik zur Friedlichen Revolution folgte auch im „Erinnerungsjahr 2009“ diesem Motiv. Das ließ sich auch an den Autobiographien zweier Protagonisten der Friedlichen Revolution exemplifizieren, die um 2009 veröffentlicht wurden. Die eine Lebensgeschichte war die des Pfarrers der Nikolaikirche in Leipzig, Christian Führer, die andere die des 2012 zum 11. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählten und ebenfalls in der DDR als Pfarrer tätig gewesenen Joachim Gauck. Beide erzählten ihre gesamte bisherige Lebensgeschichte als Erinnerungserzählung. Beide begannen nicht mit ihrer Geburt, sondern mit ihren frühesten Erinnerungen: Für Gauck das dörfliche Leben an der Ostsee in Wustrow 141, für Führer der eigene Vater auf Fronturlaub und das „teuflische Knirschen von Panzerketten“142. Beide erzählten ihre Geschichte bereits von Beginn an als eine Entfremdung von totalitärem Gedankengut – und so auch zur SBZ/DDR, die für beide strukturell totalitär geprägt war. Für Gauck begann dies mit der Enteignung des Familienwohnsitzes durch die sowjetische Armee als „Zeichen der Willkür“ 143 und der Verhaftung seines Vaters durch den NKWD „wegen angeblicher antisowjetischer Hetze“144. Für Führer waren einerseits die „heftige Reaktion“ auf das Geräusch der sowjetischen Panzerket140 Stadter, Philip: Biography and History. In: Marincola, John (Hrsg.): A companion to Greek and Roman historiography. Volume I. Oxford u.a.: Blackwell Publishing 2007, S. 540. 141 Gauck, Joachim: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. München: Pantheon 2011, S. 7ff. Die Erinnerungen erschienen erstmalig 2009 im Siedler-Verlag. 142 Führer, Christian: Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Berlin: Ullstein 2009, S. 18-20. 143 Gauck 2011, S. 28f. 144 Ebd., S. 36.
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ten Zeichen einer „frühkindliche[n] Abneigung gegen das Militär“, die sich in ihm „festgesetzt hat“145, andererseits die „Kirchenfeindlichkeit“ der Lehrer und „antichristliche“ Haltung der Pionier-Organisation146, der er ursprünglich angehörte. All dies waren entscheidende Momente der Distanzierung, die seinem „Sinn für Gerechtigkeit“147 zuwider liefen. Führers Haltung gegenüber totalitären Ideen und Strukturen begründeten sich in seiner Darstellung in erster Linie aus seinem Glauben, der, im Gegensatz zu „Weltanschauungen“ wie dem Sozialismus, ewig sei: „Jede Weltanschauung kommt, bleibt eine Weile und verschwindet eines Tages auf Nimmerwiedersehen im Meer der Zeit, sozusagen im Staub der Geschichte. Die Alternative – nämlich das, was bleibt – lässt sich gerade im zwanzigsten Jahrhundert mit seinen zahlreichen Umund Zusammenbrüchen deutlich erkennen: ‚Jesus Christus, gestern, heute und Derselbe auch in Ewigkeit‘“148
Für Gauck war die Distanzierung von den totalitären Strukturen der SBZ/DDR in erster Linie eine Frage der Moralerziehung, die sich aus der „Willkür“ ableitete, die seiner Familie durch das „System“ widerfuhr – besonders nach der Verhaftung seines Vaters: „Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form von Fraternisierung mit dem System aus. Das machen wir nicht, vermittelte uns die Mutter unmissverständlich. Ich hatte dieses Gebot so verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die anständigen.“149
Kowalczuks „Bruch“, der sich im Werden des Oppositionellen in der DDR vollzog, fand sich bei Gauck und Führer in einer generellen Erziehungsveranlagung: Die eine moralisch (Gauck), die andere rein christlich (Führer); beide setzten bemer145 Führer 2009, S. 20. 146 Ebd., S. 36ff. 147 Ebd., S. 36. 148 Ebd., S. 49 (Hervorhebungen im Original). Führer zitierte aus dem Neuen Testament, Hebräer 12,1. 149 Gauck 2011, S. 41 (Hervorhebungen im Original) Diese frühe anerzogene Dissidenzmoral war auch der Grund, warum Gauck laut eigener Aussage nichts anderes übrig blieb, als Pfarrer zu werden, da er „zur Anpassung nicht bereit“ war und nicht weil er sich „berufen fühlte“. Vgl. ebd., S. 103f. Für Gauck kam das Kirchliche aus der Opposition, für Führer hingegen kam die oppositionelle Haltung aus seiner christlich-kirchlichen Haltung.
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kenswert früh ein. Bei beiden ergab sich aus der Distanz zur Ideologie der SBZ/DDR schon früh ein Gefühl der moralischen Überlegenheit, wie auch Ulrike Poppe es im Interview mit der Zeit geäußert hatte. Für Gauck stellte der „Westen“ eine alternative Welt dar, die ihm als Jugendlicher eine zusätzliche Perspektive bot: „Westen – das war Aufatmen, Freiheit und für uns Jugendliche vor allem eine Welt schier unbegrenzter Möglichkeiten.“ 150 Nach dem ersten Westbesuch war Gauck „begeistert von der Offenheit und der Verve, mit der die Bürger ihre Standpunkte vertraten“; nach den im Westen verbrachten Sommerferien kehrte er „verändert in die Schule zurück“. 151 Für Gauck hatte sich dadurch weltanschaulich-lebensweltlich nahezu alles „relativiert“.152 Flucht nach Westen war dabei jedoch keine Option. Das später zum programmatischen Repertoire der Bürgerbewegung gehörende „Wir bleiben hier“ war in Gaucks politisch-moralischem Denken schon früh, spätestens während seines Theologiestudiums, präsent – und speiste sich, wie auch bei Führer, aus einer christlichen Ethik: „Die Guten, dachte ich, seien nicht auf der Flucht, die Guten stünden an der Front. Und wir, die Theologen, dürften die Menschen nicht verlassen.“ 153 Für Christian Führer war der Möglichkeitsraum stets mit dem christlichen Glauben verbunden, der „durch Widerstände nur noch stärker“ wurde.154 Beiden Pfarrern bot die Kirche, wie Gauck es ausdrückte, „einen Frei- und Schutzraum“, in dem ein anderes Sprechen, Denken und Handeln möglich war als „außerhalb der Kirche“. 155 Das Christliche, die Kirche, die Theologie – dieser Raum hielt für die beiden Pfarrer auch eine neue Art Worte zu finden bereit, die nicht genuin politisch waren, später jedoch politisch (re-)aktiviert werden konnten. So beschrieb Gauck, wie sich christliche Worte in den „lange verschlossenen Raum meiner Seele“ mit der Erkenntnis einlagerten: „Ja, es kann geschehen, auch du könntest Worte hören, die dich leben lassen, die Leben geben.“156 In Gaucks Lebensgeschichte war die christliche Rede implizit politisch analog zu der freien Rede im Westen. Die Kirche ersetzte in der DDR aus Gaucks Sicht das öffentliche Leben; sie wurde eine „Vertreterin der politisch Unterprivilegierten: Derer, die nichts zu sagen hatten, weil sie den Wunsch nach Aufstieg und Karriere für ein Leben ohne Verstellung aufgege-
150 Ebd., S. 59f. 151 Ebd., S. 58. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 68. 154 Führer 2009, S. 58. 155 Gauck 2011, S. 86. 156 Ebd., S. 109.
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ben hatten“157. Die Kirche setzte sich mit Themen auseinander, „die von staatlicher Seite ausgeklammert oder sogar tabuisiert wurden“158. Für Gauck war die Kirche jedoch keine genuin politische Opposition, ihr Auftrag war weiterhin, „den Menschen das Wort Gottes nahezubringen“. Politisch war sie jedoch für Gauck insofern, als dass sie „der einzige Ort [war], wo ein offenes Gespräch möglich war, wo Themen und Meinungen weder tabuisiert noch zensiert wurden und eine Erziehung zum unabhängigen Denken und Handeln erfolgte“.159 Ähnlich beschrieb dies auch Christian Führer: „Hier [in der Kirche] ist ein Ort der Freiheit. Hier bist du der Mensch, der du bist. Hier unterbricht dich keiner. Hier hören dir alle zu. Niemand wird gezwungen, einer Meinung mit den anderen zu sein. Jeder einzelne kommt zu Wort.“ 160 Diese „Atmosphäre der Befreiung“161, die beide Pfarrer in ihrer Arbeit zu schaffen suchten, war für Führer in dem bis heute bestehenden Motto „Nikolaikirche – offen für alle“ verdeutlicht.162 Die Kirche als (auch politisch-inhaltlich) offener Raum sollte die „kommunistische Propaganda […] ad absurdum“ führen.163 Sie war konzipiert als „Raum der Hoffnung […] [und] Raum der Überwindung von Angst“.164 Führer zufolge lagen darin auch „die ersten Wurzeln […] für die spätere Friedliche Revolution“.165 In beiden Biographien fanden auf exemplarische Weise Dissidenz und Kirche (wenn auch in jeweils unterschiedlichen Kausalverhältnissen), Moral und Erziehung, freies Sprechen, Denken und Handeln und (politische) Vergemeinschaftung statt. In beiden Lebensgeschichten lief diese Verwicklung ihrer „Helden“ in oppositionelle Strukturen nahezu teleologisch ab. Dabei trennten beide Autobiographen ihre Erfahrung nicht von ihrer Umwelt, ihre nahezu metaphysische Aufgabe des Berufs nicht von einer lokalen und moralisch globalen Politik. In beiden Biographien fand sich das emanzipatorische Projekt der Aufklärung wieder – dieses Mal in dem (politisch-sozialen wie auch topographischen) Raum der Kirche, der hier zu einem Freiraum wurde, das Sprechen und Handeln in ein „Drinnen“ (der freie Kirchliche Raum) und ein „Draußen“ (wo man mit den Worten Christian Führers „einen Maulkorb bekam“ 166) teilte. Die „Innen/Außen“-Dichotomie, die den inneren Raum des Widerstands in den Geschichten der Friedlichen 157 Ebd., S. 126. 158 Ebd., S. 130. 159 Ebd., S. 131. 160 Führer 2009, S. 115. 161 Ebd. 162 Ebd., S. 116. 163 Ebd., S. 115. 164 Ebd., S. 119. 165 Ebd., S. 116. 166 Ebd., S. 120.
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Revolution gegen die unerfüllte, restriktive politische Außenwelt des „Realsozialismus“ ausspielte167, leitete auch auf andere Weise Gaucks Erinnerung an den Beginn der Friedlichen Revolution ein: Ende 1988 befand er sich auf einem Seelsorgekurs zur „pastoralpsychologischen Weiterbildung“, weshalb seine Aufmerksamkeit „wenig nach außen, aber stark nach innen gerichtet“ war. 168 Mit Bezug auf die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 führte Gauck weiter aus: „Doch gerade in jenen Monaten setzte ‚draußen‘ eine ungeheure Dynamik ein.“169 Das „Innen“ des Individuums Gauck sollte sich im Laufe seiner Lebensgeschichte dem sich verändernden „Draußen“ bald anschließen – als Sinnbild dafür, dass die esoterischen Räume der Opposition sich öffneten und verlagerten. Das lange verschlossene, ins Stille und Verborgene, Geheime verbannte der Bürgerbewegungen sollte bald das öffentliche „Draußen“, die Straßen, die Mikrofone und Podeste, die Slogans und Losungen als Akteure übernehmen – unter ihnen Menschen wie Gauck und Führer. Bezeichnend für das Genre der Lebensgeschichte leitete Führer das Jahr 1989 mit dem Kapitel „Vom Mut des Einzelnen“ ein, in der die „Geschichte der Opposition in der DDR“ Ereignisse bereit hielte, „die immer wieder erzählt werden müssen, weil sie belegen, dass die scheinbar gleichgeschaltete Masse aus denkenden Menschen bestand, die im Extremfall ihr Leben gaben“. 170 Für Führer kam die Friedliche Revolution mitsamt ihrem aufklärerisch-humanistischen Gedankengut in erster Linie aus dem Raum der Kirche: „Altar und Straße gehörten zusammen“171. Dabei verstand Führer die Opposition ähnlich politisch wie Hannah Arendt als die Antwort auf die Frage „Wer einer ist“: „Wer sind wir denn wirklich? Sind wir Homo sapiens erectus oder Herdenvieh der Partei? ‚Wir sind das Volk!‘ […] Am 9. Oktober brauchte man das niemandem mehr zu erklären, wo das Volk stand und wer das Volk war. Dieses Selbstbewusstsein war die Kirche den Menschen nicht schuldig geblieben.“172 Aber auch die Losung „Keine Gewalt“ sah Führer als dem christlichen Moraldiskurs entsprungen, denn sie berief sich auf die „Gewaltlosig-
167 Vgl. auch ebd., S. 204: „Von jenem Tag an ging das Montag für Montag so: eine völlig überfüllte Nikolaikirche […] und eine dreifache Polizeikette um Nikolaikirche und Nikolaikirchhof. Drinnen fühlten wir uns dagegen wie in einer anderen Welt: Ruhe und Geborgenheit bei aller Anspannung.“ 168 Gauck 2011, S. 197. 169 Ebd. 170 Führer 2009, S. 172. Führer begann seine Ausführungen über den „Mut des Einzelnen“ mit der Selbstverbrennung des DDR-Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976 und interpretierte diese als „Warnung an einen Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern die wesentlichen Werte vorenthielt“. 171 Ebd., S. 181. 172 Ebd. (Hervorhebungen im Original).
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keit, die von Jesus kommt“ – für Führer „der erste Schritt zur Friedlichen Revolution“.173 Gauck beschrieb ähnliche Szenen der Emanzipation des Einzelnen und der Bevölkerung im Herbst 1989, die er vor allem sinnlich wahrnahm: „Ich spürte die Erwartung der Menschen, die alte Angst wie die junge Hoffnung“, hieß es da beispielsweise. Oder: „Ich spürte förmlich die Energie, die von diesen Menschen ausging. Was als Ermutigung begann, würde als Ermächtigung enden. Und wir würden nicht mehr schweigen.“174 Die Szenen, die Führer für die Nikolaikirche im Herbst 1989 und besonders den 9. Oktober beschrieb, spielten sich nahezu analog in Gaucks Marienkirche in Rostock am 19. Oktober 1989 ab: „Die Menschen standen unter Hochspannung, nach dem dona nobis pacem strömten sie hinaus auf die Straße. Dort warteten bereits junge Leute, um endlich auch in Rostock loszuziehen. […] Es hatte nur eines letzten Schrittes bedurft, um die Aufbruchstimmung aus der Kirche auf die Straße zu übertragen. Wir erlebten etwas Ungewöhnliches. Es war groß, uns bisher nicht bekannt gewesen. Benennen würden wir es später: Die Wiedergeburt des mündigen Bürgers.“175
Ganz im Sinne Hannah Arendts beschrieb auch Gauck die Friedliche Revolution als den Beginn von etwas Neuem – und als genuin politischen Moment der Vergemeinschaftung im Tätigwerden: „Kraft kam über uns. Gemeinsam würden wir es schaffen! Es war die Zeit der Gemeinschaft“ – eine Gemeinschaft, die „Staat und Partei fürchteten“.176 Gauck und Führer wurden beide in ihrer Lebensgeschichte Zeugen dieses Neuen im Tätigwerden, dieses sich politisch „in die Welt Einschaltens“ (Arendt), der „Wiedergeburt des mündigen Bürgers“ (Gauck), der nun endlich wieder einen Mund, einen Körper, eine Stimme hatte, die nicht verschweigt und nicht verschwiegen wird: „Die Verstummten und vom bangen Schweigen Genormten begannen zu reden und waren auch bereit, zu handeln. Die bisher so Ängstlichen und Angepassten reihten sich in den Protest. Überraschend umstandslos vollzog sich beim aktiven Teil der Bevölkerung der Wandel von der Haltung der Gefolgschaft zur Haltung der Ermächtigten. Ungeahnte Potenzen wurden freigesetzt.“177
173 Ebd., S. 182. 174 Beide Passagen vgl. Gauck 2011, S. 205ff. 175 Ebd., S. 207 (Hervorhebungen im Original). 176 Ebd., S. 209. 177 Ebd., S. 210f.
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Ähnlich wie Führer sah auch Gauck in der Losung „Wir sind das Volk“ die zentrale politische Agenda, da sie die Antwort auf Arendts politische Grundfrage „wer einer ist“ mit einer Souveränitätsgeste beantwortete: „‚Wir sind das Volk!‘ Ich hörte in diesem Satz mit, was deren Erfinder 1989 wahrscheinlich noch gar nicht im Kopf hatten. Mit der Ermächtigung der Vielen ging auch die Ermächtigung des Einzelnen einher. […] Die Losung war ein ernster Appell an den, der sie aussprach: Wenn du das Volk bist, also der Souverän, dann trägst du auch Verantwortung.“178 Die Verantwortung, das hatte schon Hannah Arendt festgestellt, ist eines der fundamentalen politischen Motive der Demokratietheorie. Michel Serres bemerkt, dass in „Verantwortung“ auch das „Antworten“ auf eine Frage (nicht nur danach, „Wer einer ist“), steckt: In der moralischen Verantwortung werde ein „inneres Gericht“ über das Selbst gehalten, das die eigenen Taten, Vorsätze und Absichten reflektiert.179 Die Souveränität erschafft so das politische Subjekt, das sich mündig vor sich selbst und anderen verantworten kann. Diese Subjektivierung, die Jacques Rancière als die „Neuordnung des Erfahrungsfelds“ durch „eine Reihe von Handlungen“ versteht, „die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren“180, war das Grundmoment der Narrative zur Friedlichen Revolution. Sie war auch das grundmoderne Motiv dieser Geschichte, das sich in fast allen Revolutionserzählungen findet, welche – folgt man Bruno Latour – die typischste Form modernen Geschichtsdenkens darstellen.181 Die Figur des tätig hervorgebrachten Neuen – als Erfahrungsfeld, als Subjekt, als Möglichkeit und Potenz – verband sich in den Biographien der Akteure der Friedlichen Revolution immer mit der eigenen Lebensgeschichte. Aus diesem Grund war es auch Alexander Cammann in der Zeit möglich, in Joachim Gaucks Autobiographie mehr zu sehen als „nur“ eine Lebensgeschichte: „Insofern sind seine Erinnerungen eine Art Freiheitslehre; seine Selbstauskünfte berichten vom Erlernen des aufrechten Ganges[.]“182 Gauck schloss seine Erinnerungen dann auch mit einer programmatischen Diskussion der liberalen, demokratischen Freiheit, die laut Gauck „ihren Glanz verliert“ und dies in Zukunft auch weiter tun könnte. Dem entgegen setzte er den Akt der Erinnerung und das sich erinnernde, sein Leben (be)schreibende Selbst: „Mag sein, dass Jahre kommen, in denen die Freiheit noch mehr an Glanz verliert. […] Aber ich werde mich erinnern: Wir haben sie ersehnt, sie hat uns angeschaut, wir sind aufgebrochen, und sie hat uns nicht im Stich gelassen, als uns in der Freiheit 178 Ebd., S. 213. 179 Serres 2012, S. 129. 180 Rancière 2002, S. 47. 181 Vgl. Latour 2008, S. 94ff. Dass es sich dabei laut Latour zudem um das „revolutionäre Wunder“ der Moderne handele, ist im Kontext des hier nachgezeichneten Diskurses umso beachtlicher. 182 Cammann, Alexander: Eine Freiheitslehre. Die Zeit 04/2010.
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neue Herausforderungen begegneten. Es kann nicht anders sein: Sie wird immer leuchten.“183 „Aber ich werde mich erinnern“ – der Satz, der den Biographiediskurs zu 1989 um 2009 kennzeichnete wie kein anderer, der Subjekt und Geschichtspolitik mit seiner eigenen und der allgemeinen Geschichte verschmolz, ließ sich auf das Genre der Biographieerzählung im Allgemeinen anwenden. Der Akt des Erinnerns ermöglichte Subjektivierung und Souveränität zugleich. Dieser Akt eröffnete bei Gauck zudem einen Möglichkeitsraum der Freiheit, die gegenwärtig „ihren Glanz verliert“, mittels des „sich erinnerns“ jedoch in Zukunft eingelöst und erhalten werden kann – als riskantes Projekt und kommende Einlösung eines Versprechens. Der gleiche Impetus des „Ich erinnere mich“ fand sich auch in dem Band „Da war mal was...“184 des Berliner Comicautoren Flix. Darin sammelte und verarbeitete Flix im Stile der oral history geführte Gespräche mit Freunden und Bekannten über ihr Verhältnis zu 1989 und zur DDR in Comicform. Die einzelnen Erinnerungs-Comics in Flix’ Band waren, trotz formaler Wiederholungen, stark individualisierend. So begann jeder Abschnitt mit dem Vornamen der Erzählfigur185, beginnend mit dem „Ich“, das vermeintlich auf Flix’ selber verwies, gefolgt von „Celina“, „Anja“, etc.186 Jede Erzählung ließ sich zudem farblich von der vorhergehenden unterscheiden: Die einleitende Namen-Seite ihrer „Helden“ gab den Ton vor, in dem die gesamte folgende Farbgebung der individuellen Geschichte gehalten wurde. Zudem hatten nahezu alle Protagonisten ein gezeichnetes Pendant, das meist allein und seine Geschichte einleitend das erste Panel einnahm – und so ein (zumindest gezeichnetes) wiedererkennbares Gesicht bekam. Auf diese Art führte Flix ein Individuationsprinzip ein, das nahezu alle Erzählung prinzipiell gleichwertig darstellbar machte. Wie sehr bei Flix Form und Erzählung der Erinnerungen mit ihren Erzählern und „Helden“ verschmolzen, um das „Ich“ im „Ich erinnere mich“ umso stärker zu 183 Gauck 2011, S. 342. Zu Gaucks Freiheitsbegriff vgl. auch Gauck, Joachim: Freiheit. Ein Plädoyer. München: Kösel 2012. Christian Führer wiederum schloss seine Autobiographie mit einer eher christlichen Programmatik des „Friedens auf Erden“, in dem erneut die Losung „Keine Gewalt“ und das „Friedliche“ der Friedlichen Revolution aus dem Neuen Testament abgeleitet wurden. So standen am Ende der beiden Autobiographien die Programme „Freiheit“ und „Frieden“ – und fassten so in zwei Begriffen die Diskurslage zu 1989 um 2009 prägnant zusammen. 184 Flix: Da war mal was. Erinnerungen an hier und drüben. Hamburg: Carlsen 2009. 185 Ob die Namen geändert, und ob diese Figuren, auch im Aussehen, realen Personen nachempfunden wurden, ließ sich dem Band leider nicht entnehmen. 186 In dem Band gab es keine Seitenzahlen, die Einzelnachweise werden hier im Verweis auf den „Namen“ der Geschichte und die darin enthaltene Abfolge der Panels wiedergegeben. Alle Angaben in Flix 2009.
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betonten, lässt sich an einigen Beispielen zeigen. So handelte die Erinnerung von „Claudia“ davon, wie ihr „leiblicher Vater“ den Traum eines eigenen Hauses verwirklichen wollte. Er begann selbst mit einem Spaten, improvisierte bautechnisch und wurde dann von der „VoPo“ gestoppt, da er keine Baugenehmigung hatte. Ihr Vater trat gezwungenermaßen in „die Partei“ ein, was ihm auch gleich eine Baugenehmigung einbrachte. Nachdem er sich als Spitzel anwerben ließ, um „ein bisschen über seine Freunde, seine Verwandten und die Freunde seiner Verwandten zu erzählen“, war es ihm sogar möglich, zweistöckig zu bauen. Nach der Wende nahm er sich das Leben und vergaste sich mit seinem PKW. Claudia erzählte: „In den Abschiedsbriefen stand jeweils wortgleich, wie sehr er sich schämte.“ Die ganze Geschichte war im Seitenlayout mit Zeichenpapier „Made in GDR“ unterlegt, das auf den architektonischen Hausbau des Vaters verwies. Das erste und letzte Panel zeigten (auf etwas dunkler unterlegtem Hintergrund, womit sich die Erzählrahmung von der restlichen Erzählung abhob) die gezeichnete Figur „Claudia“ mit verschränkten Armen, auf dem ersten Panel mit geschlossenen Augen und geöffnetem Mund, auf dem letzten verhielt es sich umgekehrt, was gleichzeitig auf Anfang und Ende des Erzählens hinwies (Mund geöffnet/geschlossen). Auch der Blick nach innen zu Beginn (Augen geschlossen) als auch der Blick zum Leser am Ende mit den Worten „Im Haus meines Vaters war die Mauer eine Tragende Wand“ in der Sprechblase standen ikonographisch für Anfang und Ende der Erinnerung. Dazwischen waren auf den einzelnen Panels in gleichbleibender Perspektive die verschiedenen Phasen des Hausbaus abgebildet: vom ersten eigenhändig ausgehobenen Graben über das stagnierte Bauvorhaben, bebildert durch einen eingeschneiten (sozusagen „auf Eis gelegten“) Rohbau, bis schließlich im neunten Panel das Haus fertig war, der PKW vor der Tür, aus dem heraus im folgenden Panel ein Schlauch gelegt war, um den Selbstmord des Vaters zu bebildern. Auf dem vorletzten Panel, bevor die Erzählerin wieder zu sehen war, wurde das Haus von einer Abrissbirne zerstört. Ein anderes Beispiel dafür, wie Form und Inhalt der Erzählung die Individualität ihrer Geschichte und ihres „Helden“ bei Flix herstellten, war die Geschichte von „Axel“. „Axel“ erinnerte sich, wie er im Prenzlauer Berg aufwuchs und nach und nach Dinge aus dem „Westen“ in seinen Alltag eindrangen: zunächst in Form von Westpaketen für seinen Freund „Mirko“, dann, nach der Wiedervereinigung, in Form neuer Geschäfte, Nachrichten und restaurierter Straßen und Häuser. Die Grundfarbe der Geschichte war Orange. Die ersten zwei Panels zeigten den ein orangenes T-Shirt tragenden „Axel“, der auf einen unkolorierten Wohnblock im dritten Panel zeigt und dabei auch mit deiktischen Ausdrücken („Ich bin hier im Prenzlauer Berg aufgewachsen. DA!“) aus dem ebenfalls orange unterlegten „Jetzt“ in die Vergangenheit seiner Erinnerung verwies. Flix stellte in dieser Geschichte das Einsickern der Veränderung aus dem „Westen“ durch die Farbe Orange dar: So waren die Schuhe aus dem Westpaket orange,
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in anderen Panels waren es die Tageszeitung und der Brotaufstrich, die neuen Nachbarn, Ladenschilder, neue Straßennamen oder Baustellen. „Die bunten Dinge wurden mehr und mehr und mehr“, illustrierte „Axel“ die Neugestaltung seines Alltags nach der Wiedervereinigung. Diese neue Farbgebung vom blassen und farblosen „Osten“ hin zum bunten „Westen“ erlebte „Axel“ jedoch als verlustreichen Bruch hin zu einem anderen Extrem: „Stellenweise wurde es so viel, dass es schien, als hätten sich die Himmelsrichtungen aufgelöst und es gäbe nur noch Westen“, hieß es im zwölften Panel, in dem seinem Freund „Mirko“ der Satz „ich möchte nach Hause...“ in den Mund gelegt wurde. Die vorletzten drei Panels zeigten einen nunmehr ganz in Orange eingefärbten Häuserblock, aus dem in der Mitte weiterhin unkoloriert „Axels“ „Zuhause“ herausragte und im fünfzehnten Panel von einer „Coke“-Werbung auf einem Baugerüst zugestellt wurde. Der Text dazu lautete: „Doch schon bald war all die Farbe nicht mehr unglaublich, sondern alltäglich. Und was mal unser Zuhause war, wirkte auf einmal fremd.“ Die letzten drei Panels zeigten das nun ebenfalls ganz kolorierte Haus, daneben der „Axel“ des „Jetzt“, der, ebenfalls ganz in Orange, sprachlos auf sein verändertes Heim schaut, gefolgt vom letzten Panel, das eine weiße Fläche bildete und nur einen Satz enthielt: „Was bleibt, ist die Erinnerung.“ Hier wurde nicht nur erneut die Veränderung, die 1989 für den Alltag mit sich brachte, konsequent grafisch umgesetzt und der Topos vom „bunten Westen“, der den „farblosen Osten“ auf seine Art wiederum gleich und unkenntlich machte, aufgegriffen. Auch der „Held“ der Erzählung, „Axel“, hat sich verändert: Wurde das junge Alter Ego der Erzählfigur noch unkoloriert dargestellt, hat sich Axel der „Grundfarbe“ seiner Erinnerung mittlerweile angepasst, bzw. wurde von dieser erfasst. So wurde auch hier das sich erinnernde Individuum, ob bewusst oder nicht, eins mit seiner Geschichte: Eine Erkenntnis und ein Prozess, der während des Aktes des „Ich erinnere mich“ vollzogen wurde, und an dessen Ende ohne Farbe, ohne Form, ohne Figur als eine Art tabula rasa der eine Satz stand, der dem sich erinnernden Individuum seine Einzigartigkeit, seine Souveränität über sein Leben in Zeiten der Veränderung und sein Eigenes als Subjekt ließ: „Was bleibt, ist die Erinnerung.“
Z EITRÄUME – D IE F RIEDLICHE R EVOLUTION UND L EIPZIG
IN
B ERLIN
Nachdem rund um das Votum der „Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“ bereits verschiedene Tendenzen der Erinnerungspolitik diskutiert, aber kaum konturiert wurden, war im „Erinnerungsjahr 2009“ der Zeitpunkt gekommen, der DDR ein erinnerungspolitisches
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Gesicht und damit eine Antwort auf die zentrale Frage der Expertenkommission zu geben: „Wohin treibt die DDR-Erinnerung?“. In diesem Kapitel soll es nun darum gehen, wie die räumliche Erschließung und Ausgestaltung der zu konturierenden „Erinnerungslandschaft“ im Kontext des „Erinnerungsjahres“ vonstatten ging. Dabei ließen sich zwei räumliche Zentren ausmachen: Berlin und Leipzig. Beide Orte hatten den Vorteil, „authentisch“ zu sein – und dadurch ein genuines Interesse, sich die Geschichte der Friedlichen Revolution räumlich einzuschreiben. Dass es dabei teilweise zu konkurrierenden Erinnerungspraktiken kommen konnte, lag in der Natur der Sache; schließlich waren beide Orte um ein Distinktionsmerkmal bemüht, das den einen vom anderen abhebt. Geschichtliche Vorgänge an „authentischen Orten“ tragen nicht selten zu dieser Distinktion bei, sofern sie sicht- und erfahrbar werden. Gerade diese haptische Idee war für Berlin und Leipzig wichtig, um als Erinnerungsorte nicht nur „authentisch“, sondern auch durchaus, im Sinne Walter Benjamins, „auratisch“ zu werden.187 So hatte sich Berlin einem ganzen „Themenjahr 20 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall“ verschrieben. Die Höhepunkte dieses Themenjahres sollten eine permanente Ausstellung auf dem Alexanderplatz und das „Fest der Freiheit“ am 9. November 2009 bilden. Hier geht es zunächst um die Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“.188 Diese wurde maßgeblich von der Robert-Havemann Gesellschaft e.V. konzipiert und in Zusammenarbeit mit der Kulturprojekte Berlin GmbH realisiert. Dabei soll gezeigt werden, wie die zu leistende Arbeit aussah, um eine DDR-Erinnerung mit hohem Grad an Stabilität zu errichten. Im Sinne des SpacingKonzepts von Knut Andresen wird dargelegt, wie sowohl gestaltende und die Ausstellung rezipierende Subjekte als auch verwendete Objekte den städtischen Raum neu erschlossen. Dabei soll klar werden, welche Formen von Netzwerken die Erinnerungspolitik der Ausstellung trugen, wie diese sowohl den Raum umgestalteten als auch sich in diesen einschrieben – und wie diese Techniken im Hinblick auf das zu vermittelnde Geschichtswissen zur Friedlichen Revolution funktionierten. Die für Inhalte und Konzept der Ausstellung verantwortliche Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. folgte dabei ihrem eigenen Selbstverständnis: „Bekanntmachen, dass es immer Widerstand gegen die SED gab. Die Geschichten der vielen Erzählen, die in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR aufbegehrten.
187 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung). In: Wirth, Uwe (Hrsg.): Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 342-373. 188 Das sogenannte „Fest der Freiheit“ wird in dem Kapitel „Der 9. November 2009 – Das ‚Fest der Freiheit‘ in Berlin“ analysiert.
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Begreiflich machen, warum sie Gefängnis riskierten und was die Oppositionellen wollten.“189 Der Ausgangspunkt für die Konzeption einer Ausstellung war genau hierin zu sehen, genauer gesagt in der Abwesenheit einer derartigen Erinnerungsform in Berlin. In einer Presseerklärung zur Ausstellung von 2009 hieß es dazu: „Im öffentlichen Berliner Raum gibt es bisher kaum Hinweise auf die Ereignisse von 1989/90. Berlin war neben Leipzig der zentrale Ort der gesellschaftlichen Umwälzungen in der DDR. Eine Ausstellung in der ehemals geteilten Stadt liefert dabei ideale Voraussetzungen, um sowohl die deutsch-deutschen Aspekte als auch die internationale Dimension der Blockkonfrontation zu veranschaulichen. Das Land Berlin nimmt das 20jährige Jubiläum der Friedlichen Revolution zum Anlass, dass in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands auf einen gelungenen und freudigen Teil deutscher Geschichte gebührend hingewiesen wird.“190
Was nichts anderes hieß, als dass es in Berlin eines Erinnerungsortes mangelte, der die Friedliche Revolution angemessen oder überhaupt zeigte – eine leere Landschaft, die gestaltet werden konnte. Die Gestaltung einer Erinnerungslandschaft ist kaum anders vorzustellen als die Gestaltung jeder anderen Landschaft, sei sie urban oder ländlich: Zunächst braucht es den Willen zur Gestaltung, die Erschließung des entsprechenden Raumes und geeignetes Werkzeug zu Konstruktionszwecken. Man muss einiges in Bewegung setzen, um überhaupt zu einer gelungenen Konstruktion zu kommen, die nicht nur dem nächsten Sturm standhält, sondern auch den geeigneten Raum bietet, sich bevölkern zu lassen. 191 Insofern ist die Metapher der „Erinnerungslandschaft“ sehr hilfreich, da sie das Prozessuale des Erinnerns mit dem (landschafts-)gestalterischen Aspekt verbindet192 Bei der hier untersuchten Ausstellung ging es so auch darum „die revolutionären Ereignisse in Berlin […] im Geschichtsbewusstsein der Deutschen als eine gelungene Revolution zu verankern“193. Der Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“ ging es dabei um Pluralität und Au189 Kulturprojekte Berlin GmbH (Hrsg.) „Friedliche Revolution 1989/90 – Dokumentation der Open-Air-Ausstellung“. Berlin 2010, S. 70 190 Kulturprojekte Berlin GmbH: Die Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“. Presseinformation September 2009. 191 Zahlreiche historische Beispiele zur Landschaftsgestaltung des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland liefert Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München: DVA 2007. 192 Zur theoretischen Eroberung des Raumes als analytische Kategorie s. Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 193 Robert-Havemann-Gesellschaft: Pressemitteilung „Profil RHG“ vom 27.4.2009 (URL: http://goo.gl/SWyU3Q [26.8.2013]).
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thentizität. Mit den Worten Moritz van Dülmens, Geschäftsführer der Kulturprojekte Berlin GmbH: „Hier ging es um Erinnern, um Nachempfinden, hier wurde Geschichte lebendig und ganz modern und zeitgemäß erzählt.“ 194 Zunächst bedurfte es dazu eines geeigneten Ortes. Die Wahl fiel schließlich auf den Alexanderplatz als „authentischen Ort“. Hier fanden 1989 seit Mai in regelmäßigen Abständen an jedem siebten eines Monats oppositionelle Aktionen statt, die auf die Kommunalwahlfälschungen vom 7. Mai 1989 aufmerksam machten. Am 4. November 1989 war er Schauplatz der größten Kundgebung „nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“195. Die Ausstellung wurde dann auch am 7. Mai 2009 eröffnet, dem zwanzigsten Jahrestag der umstrittenen und letzten Kommunalwahlen der DDR. Ein Ort also, der bereits ein Teil der Erzählung war, die auf ihm gezeigt werden sollte. Eigentlich war der Alexanderplatz „ein problematischer Standort: Er ist nicht schön, er ist zugig, er hat ein Stigma“, und dennoch war seine „historische Rolle unbestritten“196. Regina Mönch beschrieb ihn in der FAZ im Rahmen einer Sonderbeilage zur Ausstellung als „Platz, dem noch immer die Form fehlt und dessen karger Charme an ein Durchgangszimmer erinnert, das zu möblieren seine Benutzer auf irgendwann verschoben haben.“197 Genug Raum also, um ihn mit Erinnerung zu füllen und ihm damit eine Form zu geben. Da die Ausstellung jedermann unmittelbar zugänglich sein sollte, bot sich eine Open-Air-Ausstellung besonders an. Moritz van Dülmen formulierte das Konzept: „Mittendrin – im Geschehen und ganz nah bei den Menschen: So sollte diese Ausstellung im öffentlichen Raum, auf dem bewegten Alexanderplatz zwischen U-Bahn-Station, CurrywurstBude und Shoppingmeile ihren Platz finden. […] Der Alexanderplatz ist in seiner Art einzigartig, nicht immer schön, voller Kaugummis, oft laut, aber spannend, ein Treffpunkt seit jeher – eine Herausforderung für die Ausstellungsmacher.“198
Ähnlich äußerte sich auch Tom Sello, der Kurator der Ausstellung: „Die Ausstellung sollte öffentlich und frei von Barrieren für jeden zugänglich sein. Die Wahl des Alexanderplatzes erwies sich als Glücksgriff: Nicht nur bei Sonnenschein, sogar bei Re194 Ebd., S. 15. 195 Zumindest nach Dafürhalten der Veranstalter, s. Kühnelt, Wolf: Geschichte mit Dominoeffekt. In: Kulturprojekte Berlin GmbH (Hrsg.): “Wir sind das Volk!“. Magazin zur Ausstellung Friedliche Revolution 1989/90. Berlin 2009, S. 106f. 196 Kellerhoff, Sven Felix: „Der Kommunismus ist eine politische Religion“. Welt Online am 7.5.2009 (URL: http://goo.gl/JMmjd [18.7.2013]). 197 Mönch, Regina: Das war unsere Revolution. FAZ vom 7.5.2009. 198 Van Dülmen, Moritz: „Mittendrin – Im Geschehen...“. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2010, S. 15ff.
216 | 1989 UND WIR gen, Eis und Schnee, in den frühen Morgenstunden und bei Nacht blieben die Menschen neugierig vor den Tafeln stehen. Oft kamen Fremde miteinander ins Gespräch, darunter erfreulich viele junge Leute; sie diskutierten oder tauschten Erinnerungen aus.“ 199
In diesen Aussagen der Organisatoren steckte viel vom konzeptionellen Selbstverständnis der Ausstellung: Der Erinnerungsort sollte zentral sein, prominent und doch unerwartet neu, „frei von Barrieren“, „ganz nah bei den Menschen“. Diese Kriterien sah man letztlich durch den Alexanderplatz weitestgehend erfüllt. Für die Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“ wurden sechs Architekturbüros beauftragt, Entwürfe einzureichen, die den Alexanderplatz als „authentischen Ort“ und mit ihm die Erzählung der „Friedlichen Revolution 1989/90“ gestalten sollten. Der Siegerentwurf zeigte eine große metallene Kuppel, von der mehrere Stellwände in Mauerform sternförmig auf den Platz ausgingen. In einem zweiten Durchgang, der Aufgrund der Einbindung der Ausstellung in das nun zeitlich, räumlich und inhaltlich ausgeweitete Themenjahr notwendig war, setzte sich ein ähnliches Konzept der Landschaftsarchitekten Neumann/Gusenburger mit einer Inszenierung von Prof. Peter Sykora durch. In dem Konzept fehlte die Kuppel, die durch einen luftigeren Pavillon ersetzt wurde. Zudem hatte man die Stellenwandsegmente durchlässiger gestaltet, um dem Besucher mehr Raum und Übersicht zu lassen.200 Die sternförmige Anordnung der Stellwände wurde beibehalten, da das Konzept vorsah, den Besucher „einzufangen“. Das hieß, egal von welcher Seite man sich der Ausstellung näherte, sollte man schnell und einfach in die Erzählung einsteigen können. Die Stellwände waren zusammengenommen 300 laufende Meter lang (einzeln jeweils 40 Meter) und bis zu 2,50m hoch.201 In der Pressemitteilung zu dem endgültigen Entwurf hieß es dann auch in Bezug auf den Alexanderplatz: „Zwei sich auf den ersten Blick widersprechende Probleme mussten gelöst werden. Der sehr unruhige, zugige und für eine temporäre Ausstellung relativ schlecht geeignete Platz musste beruhigt, geschlossen und intimer wirkend umgestaltet werden. Gleichzeitig sollten die Offenheit des Platzes und die zahlreichen Verkehrswege erhalten bleiben. Die weitaus größere gestalterische Herausforderung bestand jedoch darin, dass keine Konkurrenz zwischen Außenraum- und reiner Ausstellungsgestaltung entsteht.“202
199 Sello, Tom: Ein überwältigender Erfolg – allen Skeptikern zum trotz“. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2010 , S 13f. 200 Zur Ausstellungsarchitektur vgl. auch Kulturprojekte Berlin GmbH 2010, S. 22f. 201 Vgl. Gusenburger, Thomas/Sykora, Peter: Das Gestaltungskonzept der Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“. Presseinformation Mai 2009. 202 Ebd.
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Nicht nur der Ort selbst erwies sich architektonisch als widerspenstig, auch die Geräuschkulisse und seine Funktion im Berliner Verkehrsnetz stellten ein gestalterisches Problem dar. Wie sollten die Passanten auf eine Ausstellung aufmerksam gemacht werden, die ihnen womöglich nur den Weg zur nächsten U-Bahnstation oder Einkaufsmöglichkeit verstellte? Und wie sollte es gelingen, dass die Ausstellung in dem geschäftigen Treiben nicht unterging? Zu diesem Zweck konstruierte man aus Edelstahl 4-5 Meter hohe Rohre, die nicht zu dick sein durften, da sie sonst die Durchlässigkeit der Stellwände eingeschränkt hätten. Auf diesen platzierten die Architekten aus Leichtmetall angefertigte Gittertransparente, die metaphorisch auf die Demonstrationen des Herbstes 1989 Bezug nahmen und „den Eindruck einer riesigen, metallenen Pergola“ entstehen lassen sollten.203 Auf den Transparenten wurden metallene Buchstaben angebracht, welche die zentralen Losungen der Demonstranten wiedergaben: „Wir sind das Volk!“, „Miteinander nicht gegeneinander“ oder auch „Demokratie und Menschenrechte“: „Der machtvolle Ruf der DDR-Bevölkerung ‚Wir sind das Volk‘ ist der verwendete Haupttext auf den Transparenten. Der Satz wird fragmentiert und in Einzelworten sehr unterschiedlich auf die Metallgitter verteilt. […] Erst mehrere dieser Transparente zusammen ergeben den Gesamttext, wie die vielen individuellen Einzelstimmen, die sich zum gewaltigen Aufschrei formten, den die DDR-Machthaber nicht mehr ignorieren konnten.“204
Was hier im Schlusssatz anklang war der Versuch des Architekturkonzepts, größtmögliche Deckungsgleichheit mit dem Ereignis der Großdemonstration am 4. November 1989 zu erreichen – und gleichzeitig eine allegorische Ebene der Vermittlung dieses historischen Moments zu produzieren. Dadurch, dass diese Transparente schon von weitem gesehen werden konnten, versprachen sich die Veranstalter eine gewisse Anziehungskraft. Selbiges galt für die Schlagwörter der Friedlichen Revolution, die das Publikum schon thematisch auf das vorbereiten sollten, was die Stellwände ihnen an Erzählungen und Informationen präsentierten. 205 Von der Wahl des Ortes über Architekturkonzepte hin zu einem Narrativ und geschichtspolitischem Programm waren es nur wenige konzeptionelle Schritte – wobei sich all diese Elemente als Akteure der Ausstellung gegenseitig bedingten. Doch eine Ausstellung zu realisieren ist auch eine Frage des Geldes. Da die Havemann-Gesellschaft nicht über die Ressourcen verfügte, eine Ausstellung an diesem Ort in dieser Größenordnung über einen lang angelegten Zeitraum zu unterhalten, 203 Ebd. 204 Ebd. 205 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2010, S. 22. Dort hieß es: „Damit wurde der Alexanderplatz gleichsam neu besetzt und machte eindrucksvoll auf die Inhalte der Ausstellung aufmerksam.“
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mussten Geldgeber organisiert werden. Als größter Finanzier konnte die „Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin“ gewonnen werden, die sich mit insgesamt 2 Millionen Euro an der Ausstellung beteiligte. Die Stiftung war unter anderem auch in die Finanzierung der Gedenkstätte Berliner Mauer und der East Side Gallery involviert206, sodass davon ausgegangen werden konnte, dass dort Interesse bestand, ein weiteres Projekt zur DDR-Erinnerung zu fördern. Zusätzliche Förderung steuerte der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM), Bernd Neumann, bei: „Es war mir ein persönliches Anliegen, dass sich mein Haus an der Förderung dieser wichtigen und erfolgreichen Ausstellung mit einem namhaften finanziellen Betrag beteiligt hat“, äußerte sich Neumann zur Ausstellung.207 In der Begleitpublikation der Ausstellung rechtfertigte Neumann die Förderung weiter: „Der Bund setzt mit der Förderung dieser Ausstellung zugleich ein deutliches Signal für die staatliche Würdigung und Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Erst dieses Engagement gibt unserer Erinnerungskultur ein eigenes Gewicht. Der Staat kann und darf eine Kultur des Erinnerns und Gedenkens nicht verordnen, sehr wohl aber seine Entstehung fördern.“208
Neumann verdeutlichte, dass es ihm sowohl eine persönliche als auch politische Aufgabe war, die Ausstellung zu fördern. In seinen Aussagen zeigte sich darüber hinaus der Wille zur Förderung einer Erinnerungspolitik, wie ihn die Ausstellung anstrebte: Öffentlich getragen und den Geist des zivilen Engagements evozierend, von dem die Ereignisse des Jahres 1989 selbst narrativ kündeten. Zumindest öffentlich wurde die Allianz, welche die Havemann-Gesellschaft mit dem BKM eingehen konnte, von letzterem sehr betont, auch auf dem Eröffnungsabend am 7. Mai 2009: „Die vom bürgerschaftlichen Engagement getragene Robert-Havemann-Gesellschaft steht selbst für die gesellschaftsverändernde Kraft der Zivilcourage. Sie verdankt ihre Gründung im November 1990 DDR-Oppositionellen, die das Ziel hatten, Geschichte und Erfahrung der Bürgerbewegung in der DDR nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das war ein bedeutender Schritt, ohne den wir das Ziel einer lebendigen Kultur des Gedenkens und des Erin206 Für eine Übersicht über geförderte Projekte seitens der „Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin“ vgl. Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin: Projekte staatsbezüglich. Stand 1.9.2013 (URL: http://goo.gl/dBEFY [18.7.2013]). Von der SDK Berlin liegen dem Verfasser leider keine Äußerungen zur Konzeption der Ausstellung vor, sodass vermutet werden kann, dass über die Finanzierung hinaus kein Interesse an öffentlicher Mitarbeit an der Ausstellung bestand. 207 Kulturprojekte Berlin GmbH 2010, S. 88. S. 8f. 208 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009, S. 8. Bemerkenswert ist auch die Trennung, die Neumann vollführt: Staatliche Förderung und zivilgesellschaftliche Erinnerungspolitik.
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nerns nicht erreichen konnten. Ihre Archive liefern wichtige Grundlagen für die Forschung, die […] sehr rasch voranschreitet. […] Aber Gedenken, meine Damen und Herren, darf nicht in Ritualen erstarren, sondern muss Öffentlichkeit schaffen und aufklären, so wie es diese Ausstellung tut. Sie ist eine wirklich große Leistung der Robert-Havemann-Gesellschaft.“209
Damit wären zwei Allianzen geknüpft, die der Ausstellung weitere Stabilität verliehen: Einerseits gab es Finanziers, die die Ausstellung für knappe zwei Jahre mit Strom, Instandhaltung, einem Rahmenprogramm und Mitarbeitern versorgen konnten. Andererseits hatte man die Zuwendung geschichtspolitischer Institutionen und Förderkonzepte auf seiner Seite, was wiederum mit inhaltlich zielgerichteter Finanzierung verbunden war. An dieser Stelle, wo Konzept und Finanzierung standen, brauchte es allerdings noch weitere konstruktive Elemente: Mittler und Repräsentanten. Und wer könnte besser Geschichte vermitteln und Positionen repräsentieren als Historiker und Politiker? Erstere zeichneten sich durch eine auffällige Abwesenheit im gesamten Ausstellungsverlauf aus. Zwar gab es einen wissenschaftlichen Beirat 210, der in erster Linie auf der Arbeit Ilko-Sascha Kowalczuks211 aufbaute, allerdings war nicht zu erkennen, dass Geschichtswissenschaftler212 stark an der (Re-)Präsentation der Ausstellungsinhalte beteiligt waren. Die Texte der Stellwände wurden teils von Mitarbeitern der Havemann-Gesellschaft, teils von freiberuflichen Historikern und Kulturwissenschaftlern verfasst. Die Fotos und Originaldokumente stammten aus dem Archiv der Havemann-Gesellschaft. Ein Blick in den Veranstaltungskalender zeigte auch eine eher marginale Beteiligung der Geschichtswissenschaft an Podiumsdiskussionen oder Lesungen (bei immerhin insgesamt 90 Veranstaltungen). Größtenteils rekrutierten sich die an solchen Veranstaltungen beteiligten Wissenschaftler auch aus dem Beirat der Ausstellung. Auf die Stimme der Geschichtswissenschaft wurde also nicht verzichtet, allerdings kann nicht davon ausgegangen werden, dass die (Re-)Präsentation der Geschichte, wie sie die Ausstellung leistete, ganz in den
209 Vgl. dazu die Rede von Neumann, Bernd: Kulturstaatsminister Bernd Neumann zur Eröffnung der Ausstellung der Havemann-Gesellschaft in Berlin am 7.5.2009. (URL: http://goo.gl/e9eC9 [18.7.2013]). 210 Bestehend aus Rainer Eckert, Gisela Grosse, Anna Kaminsky, Erhart Neubert, Maria Nooke, Jens Schöne, Uwe Schwabe und Tomas Vilimek. Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2010, S. 88. 211 Dessen im „Erinnerungsjahr“ veröffentliche Monographie „Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR“ wies große inhaltliche Nähe zur Ausstellung auf. Kowalczuk war gesondert gelisteter wissenschaftlicher Berater der Ausstellung, s. ebd., S. 88. 212 Geschichtswissenschaftler wird hier verstanden als Beruf im Gegensatz zum Historiker, der eher eine Funktion ist.
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Händen der Geschichtswissenschaft lag (was interessanterweise an keiner Stelle als Mangel deklariert wurde). Die Rolle der Politiker wiederum ging allerdings über das Verteilen von Geldern und die Bewilligung von Baumaßnahmen hinaus. Vielmehr bestand sie darin, bestimmte Geschichten und Erzählformen als Matters of Concern zu betrachten, „Dinge von Belang“ für die Öffentlichkeit, für das Zusammenleben, für die Entwicklung von Strukturen und die Bildung von Wissen.213 Ihre Repräsentationsarbeit zielte auf die Herstellung von Öffentlichkeit in einem bestimmten epistemischen Bewusstsein: Welche Geschichte soll es sein, die wir, als zu bildende Erinnerungsgemeinschaft, in der Erinnerungslandschaft konstruieren? Wie soll sie aussehen, was soll sie kosten, wer soll sie erzählen und was soll sie vermitteln? Der Kostenbeitrag wurde schon skizziert, auch die Integration des Ausstellungskonzepts in die Geschichtspolitik des Bundes wurde geleistet. Doch was war die politische Implikation der Ausstellung aus Sicht der Politiker? Klaus Wowereit formulierte sie in seiner Eröffnungsrede wie folgt: „Die Friedliche Revolution ist ohne den Mut und den Freiheitswillen der Bürgerrechtsbewegung nicht denkbar. Ihr zentrales Anliegen war die universelle Geltung der Menschenrechte. Sie kämpften für freie Wahlen und Meinungsfreiheit, für Reisefreiheit und Pressefreiheit. Sie kämpften für eine Gesellschaft, in der die Menschen sich als gleiche begegnen und achten. Das ist eines der zentralen Vermächtnisse der Bürgerrechtsbewegung. Es darf nicht im Museum verstauben. Wir sind gefordert, es unter völlig anderen Bedingungen einzulösen. Heute bedeutet das: Wir müssen in unserem Land alle als Gleiche achten, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion oder Lebensweise. Wir müssen Bedingungen schaffen, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft gerne nach Berlin kommen und gerne hier leben, weil sie hier auch Chancen haben.“214
Einerseits betonte Wowereit die direkte Linie der Bürgerbewegung zum demokratischen Selbstverständnis der Gegenwart und die Notwendigkeit, deren „Vermächtnis“ zu bewahren. Die Fähigkeit, eine solche Geschichte als „lebendig“ zu konservieren, wurde an dieser Stelle jedoch gerade denjenigen Institutionen abgesprochen, deren erste Funktion genau darin besteht: Den Museen. Vielmehr lebe das Vermächtnis im politischen Handeln der Gegenwart weiter, in einer Art kosmopolitischer Konstellation und darüber hinaus am Erinnerungsort Berlin. In dieser Passage überlagerten sich Geschichte, Kosmopolitik und Erinnerungsort, um dem Zugriff der Musealisierung zu entgehen. Wowereit argumentierte ganz im Geiste Jean 213 Zur Epistemologie der „Dinge von Belang“ vgl. einmal mehr Latour 2005. 214 Wowereit, Klaus: Eröffnungsrede zur Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“ am 7.5.2009 (URL: http://fr.w2m.de/media/pdf/Ausstellung/Wowereit_Absch rift.pdf [10.6.2011, Link mittlerweile inaktiv]).
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Baudrillards, wenn letzterer behauptet: „Das Museum lässt sich nicht mehr auf einen geometrischen Raum begrenzen, es existiert von nun an überall als eine Dimension des Lebens.“215 Auch Frank-Walter Steinmeier argumentierte in seiner am Eröffnungsabend gehaltenen Rede in eine ähnliche Richtung: „Wir brauchen eine gemeinsame Erinnerung nicht um ihrer selbst willen, [...] sondern Erinnerung, aus der wir Orientierung schöpfen. Und deswegen kann man auch – das ist meine Vermutung – Erinnerung so schwer in ein steinernes oder gläsernes Mahnmal gießen, wie wir das aus den Diskussionen zu Anfang dieser Woche gesehen haben.“216 Das Prozessuale des Erinnerns benötigte für Wowereit aber auch die epistemische Dimension des Wissens: „Es ist heute wichtig, dass auch jüngere Generationen erfahren, wofür die Menschen in der DDR gekämpft haben. Bei der heutigen Schülergeneration gibt es einige Unkenntnis darüber, was die DDR war, was sie den Menschen zugemutet hat und warum Deutschland und Berlin geteilt waren. Das darf nicht hingenommen werden. Wir müssen das Wissen über die DDR und die deutsche Teilung an die junge Generation weitergeben. Deshalb mein Appell an die Lehrerinnen und Lehrer: Kommen Sie mit Ihren Klassen zum Alexanderplatz, diskutieren sie mit Schülerinnen und Schülern über das, was Sie hier sehen, und bereiten Sie das im Unterricht vor und natürlich nach der Ausstellung nach. Nicht nur diese Ausstellung, auch viele andere Veranstaltungen im Rahmen des Themenjahres 2009 ‚Friedliche Revolution und Mauerfall‘ bieten Anlass, die Geschichte der DDR und der deutschen Teilung im Unterricht vertieft zu behandeln. Diese Chancen sollten genutzt werden.“ 217
Wowereit verstand hier die Ausstellung als einen Ort, an dem sich versammelt werden konnte, um Wissen zu erlangen und zu vermitteln, um über Fakten zu sprechen 215 Baudrillard 1978, S. 18. Auch Baudrillard rückt das Konservierte – in seinem Fall die Mumie Ramses II. – in die nähe des Todes, dessen einzige Sinnhaftigkeit im Ablegen jeder Bedeutung durch Anhäufung von Objekten besteht: „Ramses hat für uns heute keine Bedeutung mehr, nur die Mumie ist von unschätzbarem Wert, denn sie ist der Garant für den Sinn der Akkumulation. Unsere gesamte akkumulative Kultur bricht zusammen, wenn sich die Vergangenheit nicht für alle sichtbar speichern lässt.“ Baudrillard 1978, S. 20f. 216 Steinmeier, Walter: Eröffnungsrede zur Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“ am 7.5.2009. (URL: http://fr.w2m.de/media/pdf/Ausstellung/Steinmeier_ Abschrift.pdf [10.6.2011, Link mittlerweile inaktiv]). Steinmeier spielte im letzten Teil des Satzes auf das 2009 noch in der Planungsphase steckende und höchst umstrittene Einheitsdenkmal an. 217 Wowereit, Klaus: Eröffnungsrede zur Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“ am 7.5.2009 (URL: http://fr.w2m.de/media/pdf/Ausstellung/Wowereit_Absch rift.pdf [10.6.2011, Link mittlerweile inaktiv]).
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und Tatsachen zu entwickeln. Dafür sollten mindestens Pädagogen und Schüler mobilisiert werden. Auch Bernd Neumann formulierte diese Position am Eröffnungsabend: „Die Wissensdefizite von Jugendlichen mit Blick auf die Geschichte der DDR [...] sind in der Tat erschreckend, muss man sagen, erschreckend. Nur wenigen ist offenbar geläufig, was man sich unter der Diktatur der SED vorzustellen hat. Was diese Studien auch deutlich machen: Dies ist nicht nur ein Versäumnis der Schulen, sondern auch das Ergebnis von Verklärung und sogenannter Ostalgie. Ein Besuch dieser Ausstellung hier auf dem Alexanderplatz zeigt besonders Jugendlichen, wie brutal der real existierende Sozialismus gerade auch junge Menschen behandelte, die ihren eigenen Weg frei von staatlicher Bevormundung gehen wollten.“218
Nicht nur stadtplanerisch gab es Lücken in der Erinnerungslandschaft, wie sie die Landschaftsarchitektur der Ausstellung füllen sollte. Auch epistemisch gesehen wurde die Erinnerung, in Anlehnung an Klaus Schroeders Studien, als defizitär deklariert: Die trügerische Erinnerung der „Ostalgie“, das Schweigen der Lehrer, das Verfälschen der Lehrpläne und das Desinteresse der Schüler – alles bildete eine erinnerungspolitische Konstellation, die nicht im Sinne der Repräsentanten war. Die Aufgabe der Politik wurde hier so verstanden, wie Bruno Latour sie in „Das Parlament der Dinge“ beschrieben hat: Sie bringen „einen Sinn für Gefahr“ 219 mit, der sich hier epistemologisch verstehen lässt, wenn Politiker an Propositionen und deren Richtigkeit bzw. Sinnhaftigkeit zweifeln (was im objektivierenden Sinne nicht selten als Aufgabe der Wissenschaft verstanden wird, allerdings nahezu immer verbunden mit disziplinierenden Maßnahmen220). Die politische Epistemologie 218 Neumann, Bernd: Kulturstaatsminister Bernd Neumann zur Eröffnung der Ausstellung der Havemann-Gesellschaft in Berlin am 7.5.2009. (URL: http://goo.gl/e9eC9 [18.7.2013]). Im Grußwort zur Begleitbroschüre der Ausstellung heißt es weiter von Neumann: „Das Wissen über die eigene Geschichte gehört zu den wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Gesellschaft. Gerade das Erinnerungsjahr 2009 gibt uns Gelegenheit, die Geschichte unseres Landes lebendig zu halten und vor allem der jungen Generation nahe zu bringen. Wie dringend notwendig dies ist, zeigen die Ergebnisse zahlreicher Studien.“, s. Kulturprojekte Berlin GmbH 2010, S. 9. 219 Latour 2010, S. 187ff. Herauszufinden, mit welcher Gefahr es der Politiker dann zu tun hat, ist wiederum Aufgabe der Wissenschaft, s. N.N.: Was Lehrer wissen sollten. Tagesspiegel Online am 22.2.2009 (URL: http://goo.gl/Ka0eB [18.7.2013]). 220 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France 2. Dezember 1970. München: Hanser 1974a. Latour nennt dies die „epistemologische Polizei“, die Fakten von Fiktionen, Subjekte von Objekten trennt, vgl. Latour 2010, S. 25ff.
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der Ausstellung bestand in einem Korrektiv der Erinnerung, einer Quelle demokratischen Bewusstseins und zielgerichteten Erzählens und Zeigens von Geschichte, dem Füllen städtischer und Wissenslücken. Ihr Zielpublikum, das zu versammeln war, bestand aus Unwissenden und Interessierten, Jugendlichen und „Westlern“ – oder wie Baudrillard sie nennen würde: Die „schweigenden Mehrheiten“221, die zwar Referent politischen Handelns sind, aber, und das ist das Paradoxe, nur eine statistische Größe ohne Gesicht darstellen – und genau auf diese statistische Größe bezog sich Neumann, wenn er von „diese[n] Studien“ sprach, die das Wissen von Schülern quali- und quantifizierten. Diese Praxis fand nicht zuletzt in einer von der FU Berlin am Institut für Kultur- und Medienmanagement durchgeführten Evaluationsstudie zur Ausstellung, in der die Besucher zu einer statistisch erfassten Größe wurden, ihre konkrete Form.222 Um das politische und epistemische Ziel der Ausstellung zu erreichen, musste diese entsprechende Tatsachen hervorbringen und vermitteln können. Dies geschah in erster Linie über drei Ebenen: Narrative, Artefakte und Zeitzeugen. Die Erzählung, welche die Ausstellung auf dem Alexanderplatz von den Ereignissen von 1989 präsentierte, verlief, streng genommen, vom Kriegsende 1945 und den in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) vorgenommenen „politischen Säuberungen“ bis zu den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990. Wie schon im landschaftsarchitektonischen Schema zu sehen war, teilten sich die Stellwände thematisch (und dadurch auch räumlich wie farblich) in drei Abschnitte: Aufbruch, Revolution und Einheit. Auf den Fotografien, welche die Texte illustrativ begleiteten, spannte sich ein visuelles Narrativ von den Aufständen des 17. Juni 1953 bis zur ersten Sitzung eines gesamtdeutschen Parlamentes seit Ende des Zweiten Weltkriegs (und, wie im Bildtext betont, „erste[n] Sitzung eines aus freien Wahlen in ganz Deutschland hervorgegangenen Parlaments seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933“223, womit auch von diesem Narrativ endgültig die Nachkriegszeit beendet und die Demokratie vollendet wurde). Im Themenkomplex Aufbruch, der auf den Stellwänden violett gekennzeichnet war, wurde dargestellt, wie sich die Probleme der DDR vervielfachten, im Alltag der Bevölkerung niederschlugen und schließlich oppositionelle Kräfte mobilisierten. Militarisierung, Menschenrechte, Bildungspolitik und Umweltzerstörung waren 221 Baudrillard, Jean: Im Schatten der schweigenden Mehrheiten oder Das Ende des Sozialen. Berlin: Matthes & Seitz 2010. 222 Vgl. Evaluationsstudie zur Ausstellung Friedliche Revolution 1989/90. Berlin: Institut für Kultur-und Medienmanagement der FU Berlin 2010 (unveröffentlicht). 223 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009, S. 99. Auf dem ersten Bild waren die bekannten Aufnahmen der Sowjetischen Panzer auf Ostberliner Straßen, umringt von Demonstrierenden Menschen zu sehen, auf dem letzten wurde vor der konstitutiven Parlamentssitzung die Fahne der Bundesrepublik gehisst.
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dabei die zentralen Mobilisationsfaktoren. Zuvor wurde gezeigt, welche Arten von Opposition überhaupt seit Gründung der SBZ auftraten – und unterdrückt wurden: Die Verfolgung politisch Andersdenkender, die Niederschlagung von Demonstrationen mit Waffen am 17. Juni 1953 in Ostberlin, 1956 in Ungarn und 1968 in Prag. Am Schluss dieser Aufzählung gewaltsamen Vorgehens gegen Dissidenten stand die „Geburt von Solidarność“ mit der Erklärung: „Ihr Kampf ist ein wichtiges Kapitel in der Vorgeschichte der Friedlichen Revolution“.224 Begleitet wurde die Darstellung durch Fotos bekannter Dissidenten wie Robert Havemann, Vaclav Havel und Wolf Biermann. Die Entstehung der DDR-Opposition wurde an das Ende der Siebziger Jahre verlegt und als „kleine Minderheit, die [versucht,] die Schweigende Mehrheit zum Handeln zu bewegen“ 225 beschrieben. Stellvertretend für oppositionelle Positionen standen der Aufruf „Frieden Schaffen – ohne Waffen“, „Frauen für den Frieden“ sowie Initiativen für Umweltschutz und freie Bildung: Die „Zerstörung des Lebensraums“ fiel dadurch narrativ zusammen mit einem Staat, der die relevanten Themen verschwieg, verbot und unterdrückte. Die Ausstellung zeichnete so das um 2009 geläufige postdemokratische Bild der DDR: Eine politische Repräsentation fand nicht statt, es fehlte an einem Souverän, der Zeichen und Aktionen fand für die Realitäten der Bevölkerung. Da dieses Missverhältnis nicht gelöst werden konnte, bildete sich nach und nach subversives Potential innerhalb der Bevölkerung, die sich selbst um souveräne Zeichensetzung bemühte, was sich besonders in der exzessiven Umsetzung symbolischer Aktionen zeigte wie auch in dem Versuch, bestimmte Interessen durch Netzwerke, Zusammenschlüsse und Aufrufe zu organisieren. Die SED konnte dann auch nur restriktiv reagieren, indem sie die sich neu bildenden Zeichensysteme unterdrückte und verbot, ohne ein eigenes Zeichenkonzept zur Alternative anzubieten. 226 Eine Politik, die nicht repräsentieren konnte, war im demokratischen Sinne keine Politik mehr: Es entstand ein politisches Vakuum, das gefüllt werden musste. Die Vernetzung der Gruppen war dann folgerichtig der nächste Schritt in der Erzähllogik: Gemeinsame Rhetorik-Seminare, die Erschließung medialer Kanäle nach Westen, Solidaritätsaktionen und gemeinsame Publikationen drangen in das Repräsentationsvakuum ein, flankiert von einem Rosa-Luxemburg-Zitat („Wer sich nicht bewegt, spürt die fesseln nicht“) und Fotos sowie Originaldokumentationen, 224 Ebd. S. 16. 225 Ebd. S. 18. 226 Baudrillard beschreibt diese Krise der politischen Zeichen ausführlich. Da Politik nur noch mit „schweigenden Mehrheiten“ zu tun hat, also kein souveränes Bevölkerungssubjekt mehr vor sich hat, bleibt der Politik nichts anderes übrig, als sich selbst zu simulieren: Die Zeichen der Repräsentation beziehen sich dann auch nur auf andere Zeichen von Repräsentationen (bspw. Statistiken oder Umfragewerte). Vgl. Baudrillard 2010.
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welche die Arbeit der einzelnen Gruppen an Druckermaschinen und Informationsständen, kontrastiert durch ein Foto Honeckers, das ihn mit einer Delegation der „Grünen“ während seines Westbesuchs am 31. Oktober 1983 zeigte. 227 Dazu der Ausstellungstext: „Nach diesem Akt der Anerkennung durch die Regierung der Bundesrepublik geht die SED mit Verhaftungen gegen die Opposition vor, um die Kritiker im Land wieder einmal zum Schweigen zu bringen.“228 Der Abschnitt Aufbruch endete mit dem Verdacht auf Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 – dem „Anfang vom Ende“. Daran schlossen die pink gekennzeichneten Stellwände mit dem Thema Revolution an und begannen ihre Erzählung mit dem Massenphänomen der Ausreisewilligen.229 Die Ausreise ersetzte nun in der Metapher von der „Abstimmung mit den Füßen“ konsequenterweise das nunmehr bedeutungslose Kreuz auf dem Wahlzettel230, die besetzten Botschaften in Prag, Budapest, Warschau und Ost-Berlin reihten sich in diese Souveränitätsmaßnahmen ein. Die Bilder zu dieser Erzählung zeigten souveräne Gesten im Angesicht staatlicher Repression: Das Durchschneiden des Stacheldrahts an der ungarischen Grenze, das Klettern über Mauern von Regierungsgebäuden, Küsse durch Gitter hindurch, drängende Menschenmengen an den Zügen in die Bundesrepublik und massenhaft in Ungarn und Prag stehengelassene Trabis und Wartburgs, die von Mitarbeitern des MfS per Konvoi in die DDR zurückgeführt wurden. „Die Fluchtwelle verändert die DDR“, hieß es dann weiter: „Viele Menschen überwinden ihre jahrzehntelange Lethargie, suchen Gleichgesinnte und organisieren sich in neuen Bürgerbewegungen und Parteien, die für Freiheitsrechte in der Gesellschaft eintreten. […] Die Vereinigung [hier: Neues Forum] versteht sich als basisdemokratische Bewegung und politische Kommunikationsplattform und will das Schweigen im Land überwinden.“231
Ein weiterer entscheidender Schritt der Darstellung war die Überwindung der Staatsgewalt mit friedlichen Mitteln. Illustriert wurde diese Erzählung durch Bilder „[k]ampfbereite[r] Polizeieinheiten, schwer bewaffnet und ausgerüstet mit Helmen und Schilden“232 im Kontrast zu einem Zug voller Ausreisender, die gerade, fröh227 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009, S. 28f. 228 Ebd., S. 30. 229 Ebd., S. 40. 230 Das wurde, wie das Bonmot vom „Zettelfalten“ nahelegt, ohnehin kaum als politischer Signifikant wahrgenommen. Vgl. Gieseke, Jens: „Seit Langem angestaute Unzufriedenheit breitester Bevölkerungsreise“ – Das Volk in den Stimmungsberichten des Staatssicherheitsdienstes. In: Henke 2009, S. 141. 231 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009, S. 44. 232 Ebd., S. 49.
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lich aus dem Fenster winkend, eine Grenzmarkierung zur DDR überquerten. Dem schloss sich unter der Überschrift „Wir sind das Volk!“ eine Darstellung der Ereignisse in Leipzig im Oktober 1989 an: Montagsdemonstrationen, die unter dem Dach der Nikolaikirche organisierten Friedensgebete, schließlich der „Tag der Entscheidung“, der 9. Oktober 1989. Für die Ausstellung war es allerdings von besonderer Bedeutung, den 4. November 1989 an eben dem Ort darzustellen, der der Schauplatz der „größte[n] systemkritische[n] Demonstration in der Geschichte der DDR“233 war. An diesem Tag versammelten sich die politischen Bewegungen, die auf eine Neu- oder Umgestaltung der DDR zielten. Das „Neue Forum“ war dort genauso vertreten wie SEDFunktionäre, mit entsprechender Resonanz: „Mit den Worten ‚Wir nehmen uns die Freiheit, die uns zusteht‘, spricht der Vertreter des Neuen Forums aus, was viele denken. Die meisten Redner der SED werden ausgepfiffen. Die Transparente der Demonstranten zeigen deutlich: Es geht um die Demokratisierung der DDR. Die Partei aber wollen sie nicht mehr.“234 Unterstützt wurde diese Darstellung wiederum durch Fotos ebenjener Transparente, die Wendungen zeigten wie „Hört endlich auf zu lügen! Die Wende kam vom Volk, nicht von der SED!!!“, „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, eh er nicht mit der Lüge bricht, auch wenn er jetzt ganz anders spricht“ oder „Mauer ins Museum“.235 Die Darstellung des 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz schloss nahtlos an die bisherige Logik der Geschichte an, wie sie die Ausstellung an ebendiesem Ort erzählte: Die Opposition sprach aus, was die Vielen dachten, die SED ging in der Kakophonie der Pfiffe unter, ihre Stimme war nicht mehr zu hören. Die Bevölkerung hatte sie übertönt und drückte sich selbst auf Transparenten aus. Bezeichnenderweise war dieser zentrale Teil der Ausstellung besonders zitatlastig. Viele Redeauszüge waren auf den Stellwänden nachzulesen: „Wir haben die Sprache wiedergefunden und die Welt kennt seitdem dieses verschlafene Land nicht wieder“, hieß es aus dem Beitrag Jens Reichs vom „Neuen Forum“. „Die vorhandenen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden“, wurde der Schauspieler Jan-Josef Liefers zitiert.236 Beide Zitate reihten sich nahtlos in die Geschichte der Struktur- und Signifikantenkrise ein, die in der Ausstellungserzählung im Kleinen, im „Erinnerungsjahr 2009“ aber auch im Ganzen als Leitmotiv zur Friedlichen Revolution auszumachen war und die Vermittlungslogik bestimmte.
233 Ebd., S. 66. 234 Ebd. 235 Womit interessanterweise die Interpretation des Museums in eine Linie gestellt werden kann mit Baudrillards Thesen zur Konservierung und Akkumulation ohne Wert. 236 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2009, S. 67.
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Fünf Tage später, nach dieser (Macht-)Demonstration der Opposition, fiel die Mauer. Die Zeit danach stellte sich auf den Stellwänden als zwischen „Kampf um die Macht“ und „Aufbruchstimmung“ gespalten dar.237 Auf Fotos sahen die Ausstellungsbesucher die Demontage des SED-Parteiemblems am Gebäude des ZK, die Besetzung der MfS-Gebäude Mitte Januar 1990 nebst (gesicherten und gesichteten) Aktenbergen der Staatssicherheit. Hiermit endete der Themenabschnitt Revolution: Mit einem relativ offenen Ausgang bezüglich der Zukunft der Oppositionsbewegung, mit neuen Rahmenbedingungen politischen Handelns und der Chance auf neue Formen des Repräsentierens, die noch nicht gefunden, jedoch im Entstehen begriffen waren. Nun setzte der dritte und letzte, orange gekennzeichnete Bereich der Ausstellung ein: Einheit. Die Entscheidung, das Narrativ der Ausstellung mit den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen am 2. Dezember bzw. der ersten konstitutiven Parlamentssitzung am 20.12.1990 enden zu lassen, kann durchaus als geschichtspolitisch verstanden werden: Das Ende der Geschichte der Friedlichen Revolution war nicht die Öffnung der Grenze, die Politik zielte nicht auf den Entwurf eines eigenen Staates (sonst würde die Narration beispielsweise mit den ersten Volkskammerwahlen im März nach den Gesprächen am „Runden Tisch“ enden). Vielmehr gehörte in diesem Narrativ die Einheit zu den Ereignissen von 1989. Die Oppositionsbestrebungen waren in dem Moment vollendet, als die Souveränität der gesamtdeutschen Bevölkerung in einem gemeinsamen Parlament aufging. Viele Fotos in diesem Abschnitt zeigten, wie die alte DDR aufhörte zu existieren, wie nicht nur ihr Raum (durch Baumaßnahmen, Wahlplakate, Mauergraffitis oder Coca-Cola-Werbung) besetzt und umfunktioniert, sondern auch ihre Symbole, schon seit längerem ohne wirkliche Bedeutung, verschwanden, zerstört oder verkauft wurden, um neuen Zeichen Platz zu machen. Das großformatige abgezogene Foto eines auf die Mauer gesprayten „Change“ stand dabei symptomatisch für die Motivführung des Ausstellungsnarrativs. Unter der Überschrift „Die Vollendung der Einheit“ (die nochmals das Telos der Darstellung als „Vollendung“ heraufbeschwörte), wurde ein bestimmter Erfolg der Bürgerbewegung eigens betont: Die Schaffung der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU). Diese wurde als „einzige Möglichkeit, wenigstens nachträglich einen Blick hinter die Kulissen des diktatorischen Systems zu werfen“ beschrieben.238 Mit dem Zusammentreten des „ersten gesamtdeutschen Parlaments“ am 20. Dezember 1990 trat die „volle Legitimität“ der neuen Regierung in Kraft.
237 Ebd. S. 74. 238 Ein weiterer Erfolg war der Einzug von Bürgerbewegungen in die nun neu gewählten Landtage der fünf ostdeutschen Länderparlamente (in denen jedoch auch die PDS Wahlerfolge verbuchen konnte) und in den Bundestag. Ebd., S. 96f.
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Die Erzählung begann mit einer Staatsgründung ohne Souverän – und damit im demokratischen Sinne ohne Legitimität – und endete mit der Zusammenkunft einer „voll legitimen“ Regierung. Im Schema narrativer Modellierung, wie sie Hayden White in seiner „Metahistory“ von Northrop Frye entlehnt, handelt es sich bei der Ausstellungserzählung um den Archetyp der Romanze: Diese ist laut White „im Kern ein Drama der Selbstfindung, das der Held durch die Überschreitung der Erfahrenswelt, mit einem Sieg über sie und seiner schließlichen Befreiung von ihr symbolisiert […]. Es ist ein Drama vom Triumph des Guten über das Böse, der Tugend über das Laster, des Lichtes über die Finsternis und des endlichen Sieges des Menschen über die Welt[.]“239 All diese Elemente konnten in der Erzählung der Ausstellung wiedergefunden werden: Die Selbstermächtigung der Bürger als sprechende und politische Subjekte, die Überwindung repressiver Strukturen und die Umgestaltung der Welt durch den nunmehr souveränen (oder emphatisch: „revolutionären“) Menschen. Doch nicht nur Texte und Fotografien vermittelten ein Bild der Tatsachen, wie sie von der Ausstellung produziert und transportiert wurden, nicht nur die Grammatik der Stellwandanordnung und die Authentizität des Ortes, das Mobilisierungsprogramm der Politiker, die epistemische Kontrolle und Beratung durch Wissenschaftler und die Logik des Narrativs konstruierten die Geschichte der DDR und der Friedlichen Revolution im Rahmen dieser Ausstellung. Auf einem Rundgang war noch ein Repräsentant historischer Tatsachen anzutreffen, der die Besonderheit der Zeitgeschichte markiert: Der Zeitzeuge. In zweifacher Hinsicht tauchte er auf: Als Führer und Diskussionspartner (besonders Uwe Dähn und Gerold Hildebrand) 240, sowie als in Medienstationen abrufbarer Wissensvermittler. Die Einbettung von Zeitzeugenaussagen in den Ausstellungsverlauf stand symptomatisch für die biographisch zugeschnittene Erzählweise der Ausstellung wie des „Erinnerungsjahres“, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, über persönlich Erlebtes dem Besucher auch ein persönliches Erlebnis zugänglich zu machen. 241 Zu Wort kamen unter anderem Christoph Links, Frank Ebert, Marianne Birthler und Rainer Eppelmann. Dazu wurden zeitgenössische Filmaufnahmen gezeigt, teils aus dem Bestand des MfS entnommen. Zu den Bemühungen, Authentizität herzustellen, gehörte dann auch die ausgiebige Einbindung von Originaldokumenten, die 239 White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main: Fischer 2008, S. 22. Nicht umsonst gilt White der Historiograph der „Französischen Revolution“, Jules Michelet, als Prototyp moderner „Modellierung der Geschichte als Romanze“ (ebd., S, 197ff.). Moderne Revolutionen scheinen prädestiniert dafür zu sein, in dieser Form erzählt zu werden. 240 Kulturprojekte Berlin GmbH 2010, S. 32. 241 Wodurch die Ausstellung auf didaktische Weise den Forderungen im Sondervotum Freya Kliers zur Sabrow-Kommission entgegen kam. Vgl. Sabrow u.a. 2007, S. 44f.
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dem Archiv der Havemann-Gesellschaft entstammten. Die Ausstellung war in dieser Hinsicht auch eine Veröffentlichung der Archivbestände, die eine DDRErinnerung mit Fokus auf Opposition und Bevölkerungswille stützten. Das Archiv, der Ort konservierter Tatsachen und gespeicherter Erinnerung, wurde dadurch zu einer Ausweitung des Narrativs, seine Artefakte zu einer Erzählordnung, die Tatsachen zum Sprechen brachte.242 Die Fakten sprachen also nicht für sich allein, aber sie waren auch nicht stummes Beiwerk. Die Erinnerungskonfiguration der Ausstellung bezog ihre zeithistorische Spezifik und geschichtspolitische Strategie aus der Tatsachenkonstellation Narrativ-Zeitzeugen-Archivdokumente. Hinzu kamen medialisierte Erzählformate (nicht nur der Zeitzeugenvideos/ Archivvideos und Fotos): Eigens zu Ausstellungszwecken wurde ein 6:25 Minuten langer Film produziert, der eine komprimierte Version des Ausstellungsnarrativs war: Die erste Einstellung zeigte ein winterliches Feld voll erlegter Kaninchen und Hasen, dazu eine Jagdkappelle, die ins Horn bläst. Dann trat, mit Flinte bewaffnet, Erich Honecker ans Mikrofon und rief zur Jagd. Dem folgte eine Collage staatlicher Repressions- und Militarisierungsmaßnahmen zu einer Aufnahme von „Die Gedanken sind frei“ (bei der Zeile „kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen“ wurde nochmals Honecker in Jagdmontur eingeblendet). In chronologischer Reihenfolge wurden, in jeweils kurzen Szenen, die Gründung von Oppositionsgruppen in privaten und kirchlichen Räumen über Massenflucht, Kommunalwahlfälschung und 40. Jahrestag der DDR bis zum 9. November 1989 erzählt; ohne Kommentar, teils im O-Ton und meist mit passender, die Gefühlslage untermalender Musik, bis am Schluss Honecker erneut in der Jagd-Szenerie eingeblendet wurde und das Video mit den Worten „Die Staatsjagd ist beendet!“ abschloss. Das darauffolgende Jahr von den Runden Tischen bis zur gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 war nicht Teil des Films. Dieser zeigte also nur 2/3 der Ausstellungserzählung. Zudem erwartete die Besucher in den ersten Wochen eine Klanginstallation, die in einer Schleife und von verschiedenen Seiten Originalaufnahmen von skandierten Demonstrationslosungen aus 1989 wiedergab. Damit wurde die Landschaftsarchitektur mit ihren Transparenten auch tontechnisch zu einer Simulation der Demonstration am 4. November 1989. Die Frage der Ausstellungsmacher lautete nun, nachdem alle Politiker, Gelder und Erzählungen, Stellwände und Zeitzeugenvideos mobilisiert werden konnten: Hat es funktioniert? Konnte in der Ausstellung vermittelt werden, was vermittelt werden sollte? Reichte es, Archive, Politiker, Architekten, Fotografien, Originalfilme, Historiker, Zeitzeugen und Klanginstallationen zu mobilisieren, um eine stabile Erinne-
242 Zu diesen Motiven s. besonders Latour 2010 und Ernst 2002. Auch hier handelte es sich um einen Umschlag von archivarischer Latenz in kuratisierte Präsenz.
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rung im angestrebten Sinne zu konstruieren? Und wenn nicht, was brauchte es noch? Zunächst benötigt eine vermittelnde Erinnerung selbst Vermittler in eigener Sache. Es nutzte keine noch so gute Erzählung oder politische Lobby, wenn niemand diese Ausstellung besuchte. Dazu musste Werbung gemacht werden. Zu diesem Zweck wurde in Berlin viel plakatiert, Flyer lagen aus und eine eigene Internetpräsenz wurde eingerichtet (und somit städtische und virtuelle Räume besetzt). Doch brauchte es auch externe Vermittler, die nach außen trugen, dass es diese Ausstellung gab, was sie bot und ob sie einen Besuch wert war. Das übernahmen diejenigen Institutionen, welche heuristisch „die Medien“ genannt werden.243 Der Pressespiegel zur Ausstellung244 war fast durchgehend positiv und griff im Grunde die Topoi auf, die schon den politischen Akteurskreis kennzeichneten: „Der Mauerfall – ein Fall fürs Museum? Was für ein Irrtum: Die Geschichte der Wiedervereinigung ist viel zu frisch, zu wichtig, zu folgenreich, um ihr jetzt schon ein Denkmal zu setzen oder sie in gläserne Vitrinen zu verbannen“, hieß es auf Spiegel Online.245 Auch das Architekturkonzept wurde gelobt: „Nicht zuletzt die schlanken Transparentsäulen aus Edelstahl tragen zum Eindruck einer Installation im öffentlichen Raum bei – begehbare Zeitgeschichte, kostenlos und jenseits musealer Schwellenangst“.246 Die FAZ widmete der Ausstellung sogar eine eigene Beilage unter dem Titel „Mauerfälle – Eine Ausstellung in Berlin“, wobei jedoch lediglich zwei Artikel direkt auf sie Bezug nahmen.247 In dem Artikel „Das war unsere Revolution“ von Regina Mönch hieß es dann, ganz im Duktus des Erzähltyps der Romanze: „Vor zwanzig Jahren nahm eine Gesellschaft, die brav und überangepasst schien, sich die Freiheit, über ihr Schicksal selbst zu verfügen. Eine Ausstellung auf dem Berliner Alexanderplatz feiert ein Volk, das die Welt veränderte. […] Die Robert-Havemann-Gesellschaft hat diesen Geschichtsparcours der besonderen Art am historischen Ort der großen Demonstration ausgerichtet. Wenn alles gutgeht, wenn viele stehenbleiben und sich erinnern oder belehren lassen, könnte diese Ausstellung sogar das Bild über die DDR, die Ostdeutschen und ihre
243 Damit gaben sie implizit dem Wort „Medium“ als „Mitte“ oder „Mittler“ seine Etymologie zurück. 244 Eine Kurze Auswahl an Pressestimmen auf Revolution89.de (URL: http://goo.gl/EIgBX [19.7.2013]). 245 Mohr, Reinhard: Mauerfall-Gedenken: Zurück zum Zauber des Wahnsinns. Spiegel Online am 7.5.2009 (URL: http://goo.gl/Daqwg [19.7.2013]). 246 Ebd. 247 Sonderbeilage „Mauerfälle – Eine Ausstellung in Berlin“. FAZ vom 7. Mai 2009.
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Revolution geraderücken, das in den letzten zwei Jahrzehnten reichlich verdreht wurde und fast verschwunden ist unter all den Legenden von vermeintlich entwerteten Biographien.“248
Weitere Überschriften249 in anderen Zeitungen wie „Die Revolution kehrt auf den Alex zurück“, „Geschichte, die Gänsehaut macht“, „Als wäre die Zeit stehen geblieben“ oder „Diese Zeit darf nicht in Vergessenheit geraten“ gaben ebenfalls einen Eindruck davon, worum es in der Vermittlung ging: Die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der Erinnerung, wie sie auf dem Alexanderplatz authentisch und emotional präsentiert und erlebbar sei, darzustellen, verbunden mit dem Edikt, diese Lebendigkeit zu bewahren. Dabei fanden Zeitzeugen – oft auch Vertreter der Robert-Havemann-Gesellschaft – in Interviews des Öfteren Raum zur Repräsentation ihrer Erzählung und zur Reproduktion des Ausstellungskonzeptes.250 In der Süddeutschen Zeitung wurde beispielsweise die Rede Tom Sellos als „Höhepunkt der Eröffnungsstunden“ dargestellt: „Hier sprach nun einer [d.h. ein ‚Ostdeutscher‘ und Zeitzeuge]: selbstbewusst, präzise, unaufgeregt – und die Nebelschwaden des politischen Gezänks verzogen sich. […] Mit sympathischem Stolz behauptete er, die osteuropäischen Gesellschaften hätten, indem sie sich selbst befreiten, nicht nur ihre kommunistischen Führer, sondern auch die Großen der Weltpolitik vor sich hergetrieben. Historiker mögen die starke These für eine Übertreibung halten, aber sie rückt doch vieles zurecht, was in den ritualisierten Erinnerungen an den Mauerfall und in den deutsch-deutschen Verklemmtheiten gern vergessen wird[.]“251
Die Ausstellung sei dann auch „ein kleines Einheits- und Freiheitsdenkmal, das in seiner Vorläufigkeit überzeugender wirkt, als die meisten der derzeit in Berlin gezeigten Entwürfe. […] In der Tat fehlt ein solcher Ort in der ausfransernden Gedenkstätten- und Museenlandschaft der Hauptstadt. Was uns dadurch entgeht, wel-
248 Mönch, Regina: Das war unsere Revolution. FAZ vom 7. Mai 2009. 249 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2009, S. 46ff. 250 Richter C./Kellerhoff S. V.: Wie vor 20 Jahren das Ende der DDR begann. Welt Online am 7.5.2009 (URL: http://goo.gl/2KgGE [19.7.2013]); Kellerhoff, Sven Felix: „Der Kommunismus ist eine politische Religion“. Welt Online am 7.5.2009 (URL: http:// goo.gl/eCucO [19.7.2013]) und eine Bericht im Inforadio am 4.11.2009 (zu hören noch auf Revolution89.de. (URL: http://goo.gl/EIgBX [19.7.2013]) sind nur ein paar Beispiele für die Einbindung der Havemann-Gesellschaft in die Medialisierung der Ausstellung. 251 Bisky, Jens: Zunder in der bravsten Baracke des Ostens. Süddeutsche Zeitung vom 8. Mai 2009.
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che Ressourcen an Bürgersinn und Freiheitsfreude durch dieses Fehlen verschenkt werden, zeigt die Ausstellung auf dem Alexanderplatz.“252 Der Tenor war in nahezu allen größeren Printpublikationen deutlich: Die Ereignishaftigkeit der Ausstellung auf dem Alexanderplatz war erinnerungspolitisch wünschenswerter als die Konservierung von Erinnerung in Museen oder, in Anspielung auf ein geplantes Einheitsdenkmal, in Stein gemeißelt oder Glas gegossen (dass es hinterher goldfarbenes Glas und Metall 253 werden sollte, war zur Zeit der Ausstellung noch nicht klar). Die Resonanz war geradezu eine Verdoppelung der Ausstellungskonzeption und ihrer Inhalte in Print-, Online- und Bildmedien (Was den Begriff „Medienecho“ zu einer angemessenen Abstraktion macht). Ähnlich wie die politische Allianz erwies sich auch die Vernetzung im medialen Bereich als stabil und konstitutiv für die Vermittlung der Ausstellung außerhalb ihrer selbst. Doch die Veranstalter haben verstanden, dass es nicht reichte, sich bloß institutionell abzusichern um ihre Geschichte zu erzählen und Erinnerungen zu konstruieren. Schon im Architekturkonzept fanden sich noch folgende bedenkenswerte Sätze: „Diese Ausstellungsgestaltung braucht den Besucher oder Passanten, er ist ein wichtiger Teil des Konzepts. Mensch und Transparent ergeben eine Einheit. Eine erfolgreiche Ausstellung lebt vom Zusammenspiel von Mensch, Raum und Information.“254 Von vornherein war es den Veranstaltern wichtig, dass die Ausstellung vorbeiziehende Passanten anzieht und involviert. Ob und wie dies gelungen ist, darüber gaben zwei Dokumente Aufschluss, die von der Havemann-Gesellschaft eigens zu diesem Zweck in Auftrag gegeben wurden: Einerseits war es möglich, direktes Feedback per schwarzem Marker auf einer im Raum der Ausstellung aufgestellten „Meinungswand“ oder auch, vom 8. Mai 2009 bis zum 3. Oktober 2010, online in einem Gästebuch255 zu geben (welches den Besuchern direkt vor Ort an einem PC zugänglich gemacht wurde). Zum anderen wurde eine Evaluationsstudie bei der FU 252 Ebd. 253 N.N.: Riesenwippe soll an Wiedervereinigung erinnern. Zeit Online am 13.4.2011 (URL: http://goo.gl/fwGV0 [19.7.2013]). 254 Gusenburger, Thomas/Sykora, Peter: Das Gestaltungskonzept der Open-Air-Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“. Presseinformation Mai 2009 (URL: http://goo. gl/GzQQj [19.7.2013]). 255 Das Gästebuch war einzusehen unter (URL: http://goo.gl/CiluH [19.7.2013]). Bis dato [30.6.2011] sind 166 Seiten abzurufen, laut Informationstext haben über 2200 Gäste diese Möglichkeit der Rückmeldung genutzt. Im Folgenden verzichte ich darauf, Zitate einzeln mit Seitenangaben nachzuweisen, da sich diese im Laufe der Zeit noch ändern werden, und belasse es bei der Angabe der URL in dieser Anmerkung und der Nennung des Nutzernamens zum jeweiligen Zitat. Mittlerweile ist das Gästebuch aus dem Netz genommen [Stand 19.7.2013], zum Abrufdatum [30.7.2011] war es noch verfügbar.
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Berlin angefordert um statistisch zu erfassen, wie sich die Besucher gegenüber der Ausstellung verhalten haben und welchen Eindruck sie von Konzept und Inhalt mitnehmen konnten.256 Das Gästebuch bot kein statistisch kohärentes Bild der Besuchergruppe und war auch gar nicht dazu angelegt, demographische Daten oder ähnliches zu erfassen (diese Angaben waren für Nutzer freiwillig). Die meisten Einträge waren neutral bis positiv verfasst, nur wenige sind thematisch eher diffus geraten oder äußerten sich kritisch bis negativ über die Ausstellung (meist aus einer dezidiert kapitalismuskritischen Haltung). Der Tenor reihte sich mehrheitlich in die Aussagen ein, die bereits auf politischer und medialer Ebene transportiert wurden: Man sei froh, dass diese Geschichte „lebendig“ erinnert wird, forderte, dass sie „nie vergessen“ werde und für viele (meist „jüngere Menschen“, aber auch Politiker, besonders der SEDNachfolgepartei Die Linke) ein Beispiel in Zivilcourage und Demokratisierung sei. Auffällig war auch die relativ hohe Zahl internationaler Beiträge, die höchstwahrscheinlich aus dem touristischen Umfeld257 stammten. Einige äußerten sich jedoch auch direkt zum historischen Geschehen und hoben die dargestellte Geschichte auf eine nahezu universale Ebene, wie Besucher Ian Wilmott258: „A super exhibition about how a people were made afraid of their government by persecution and surveillance. Many brave voices suffered to speak out and challenge the state. It is always the people who will be guardians of liberty in the future. Governments should fear the people, not the other way round. Congratulations on this reminder!“
256 Damit reihte sich die Ausstellung in eine lange Liste ähnlicher öffentlicher Wissensräume ein, die das kybernetische Konzept des Feedback übernehmen und in ihre Arbeit eingliedern. Vgl. Hörl, Erich/Hagner, Michael (Hg.): Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 257 Dies war anzunehmen, da viele sich begeistert über die Stadt äußerten und gerne wieder herkommen wollten, aber selten die Ausstellungsinhalte reflektieren und meist Schlagwörter gaben, wie „The fight for freedom never ends“ von User guille aus Madrid oder „the people of berlin stun me with their courage. i am forever inspired“ von User carmel mcgill aus Neuseeland. 258 Alle Zitate und Nutzernamen sind von mir unverändert aus dem Online-Gästebuch übernommen, also weder grammatikalisch noch orthographisch verändert worden. Zudem kann nicht verbürgt werden, ob die Nutzer authentische Identitäten verwendeten, was volle Namen oder Ortsangaben sowie Hinweise auf die eigene Tätigkeit vor Ort oder die eigene Zeitzeugenschaft betraf. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie solche Identitäten konstruiert und instrumentalisiert wurden, um eine eigene Meinung und Erfahrung bezüglich der Ausstellung auszudrücken, wodurch eine bestimmte Sprecherposition nötig war, die nicht notwendigerweise mit dem authentischen Individuum zusammenfiel.
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Auch behaupteten viele Zeitzeugen, nicht wenige ihrer Erinnerungen seien während des Ausstellungsbesuchs wieder „lebendig“ geworden. So schrieb Besucherin Kerstin aus Brandenburg: „diese austellung hat mich nach 20jahren immer noch tief bewegt, ist es doch ein teil meiner lebensgeschichte, danke.“ Besucher*in Ari äußerte sich ähnlich: „Irgendwie ist es beklemmend durch diese Ausstellung zu gehen. 20 Jahre – fast die Hälfte meines Lebens, ist die DDR Geschichte. Manches wusste man, vieles nicht. Wenn man seinem Kind versucht zu erklären, in welche Nischen man sich geflüchtet hat, um etwas neben dem Strom herzuleben, dann hat man das Gefühl, es kann mit diesen Schilderungen nicht viel anfangen. Die Ausstellung ist eine der wenigen Chancen, meinem Kind den Teil meines Lebens näher zu bringen, den es hoffentlich nie erleben muss.“
Markus aus Frankfurt am Main schrieb über seinen Eindruck der Ausstellung: „Mit den Videobeiträgen kommt die Gänsehaut von damals wieder, die Ungerechtigkeit macht mich auch nach all den Jahren wütend und betroffen. Keine Chance für die ‚Ostalgie‘ einiger Politiker“. Diese drei Äußerungen zeigten exemplarisch, wie Zeitzeugen auf die Ausstellung reagierten: Sie war einerseits reaktivierend für die damaligen Gefühlszustände, andererseits ein guter Mittler der damals erlebten Geschichte für das eigene, meist unwissende Umfeld. Das Motiv des Erinnerns und Bewahrens hing eng mit dem Imperativ des „Nie wieder!“ zusammen, das nicht wenige erinnerungspolitische Gegenstände betrifft. Kritische Stimmen hoben dahingegen hervor, dass „der Kapitalismus“ nach der Wiedervereinigung nicht die erhoffte Besserung brachte. So beispielsweise Besucher Frank aus Berlin mit Hinweis auf die seit 2008 anhaltende Finanzkrise und die damit einhergehende Kapitalismuskritik: „Sehr gute Austellung. Doch der Kapitalismus ist auch nicht das Wundermittel. Heutzutage wird mehr übrwacht mit immer neuen Mitteln, als es damals die STASI tat. Meinungsfreiheit gibts auch heute nicht. Jede Meinung gegen das System wird heute und wurde damals unterdrückt. Nun schwankt der Kapitalismus – was kommt danach?“ Deutlich erinnerungspolitischer orientiert äußerte sich Besucherin Ursula Ermen aus Königs-Wusterhausen, die sowohl mit dem Geschichtsbild als auch der Erzählpolitik der Ausstellung nicht einverstanden war: „Ich finde diese Ausstellung sehr einseitig und oberflächlich. 1. Es gab in der Geschichte keine friedliche Revolution. 2. Wo finde ich eine kritische Darstellung der BRD-Geschichte? Notstandsgesetze, Kommunistenverfolgung. Zum Beispiel wurden Kommunisten von der Straße aus in den Knast gebracht. Sie wurden von ehemaligen Nazirichter verhört usw. Demnächst mehr!!“
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Einigen, vermutlich jüngeren, Besuchern merkte man den Pflichtaufenthalt an, was sich in Beiträgen wie demjenigen von gizmo rules aus Berlin offenbarte: „irgendwie scheiße hier müssen aber wegen schule hier sein also have fun!“. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch in dieser Kohorte viele positiv, aber wenig inhaltlich äußerten („cool hier“ und „super interessant“ waren häufige Resümees). Andere, wie Nicole F. aus Hellersdorf, gaben mehr zu Protokoll: „Ich find diese Ausstellung super, endlich können auch wir, die Jugendlichen verstehen, was unsere Eltern uns immer erzählen wollten, von DDR und Mauerfall und so! Ich verstehe endlich! Danke!“ Ein eigenartiger Topos war der Wunsch nach einem echten Retro-Erleben, wie ihn Giulia Milleck aus Berlin ausdrückte: „ich würde gerne die ddr miterleben und finde die ddr eigentlich ganz okiii und die zeit soll noch mal zurück gespult werden“. Viele, die dieses Motiv des „Nacherlebens“ einführten, beriefen sich entweder auf ihre Eltern, die ihnen immer von der DDR erzählt haben, man aber nie so richtig verstand, wovon sie sprachen, oder eben auf das „Gänsehautgefühl“, das die Ausstellung für sie vermittelte. Der Wunsch nach einem emotional geprägten „Nachfühlen“, „Miterleben“, „Dabei sein“ wurde anscheinend durch die Ausstellung aktiv hervorgebracht. Die Evaluationsstudie der FU Berlin schließlich überprüfte die Rezeptionsgrundlage dieser Gefühle, die hervorzurufen dezidiert als Ziel der Ausstellung formuliert wurde: „Somit wird letztlich der Intensität und Authentizität der Erfahrung, den die Ausstellung für jeden einzelnen (potenziellen) Besucher zu schaffen vermag, darüber entscheiden, ob die Ausstellung ihrer Verantwortung für die von ihr dokumentierte Entwicklung gerecht wird.“259 Dies sollte durch den Einbezug verschiedenster Authentizität gewährleistender Elemente gesichert werden: „Die Ausstellung ist die einzige Institution, die sich originär den Handelnden und der (erfolgreichen) Handlung widmet. Dies ist verbürgt durch die Genese aus den Archiven Oppositioneller, spürbar wird es durch die Konzentration auf Biographien und Gruppierungen. Es ließe sich bündeln zum Versprechen an die Öffentlichkeit, Opposition und Friedliche Revolution aus der Innensicht erfahrbar zu machen: leicht erschließbar, persönlich authentisch und mit vielfältigen Identifikationsangeboten an unterschiedliche Zielgruppen.“260
Zusätzlich brauchte es in den Augen der Evaluatoren einen angemessenen „narrative approach“261 zu den Ausstellungsobjekten und -texten selbst, um ein gelungenes
259 Evaluationsstudie zur Ausstellung Friedliche Revolution 1989/90. Berlin: Institut für Kultur-und Medienmanagement der FU Berlin 2010 (unveröffentlicht), S. 7f. 260 Ebd., S. 8. 261 Ebd., S. 9.
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Bild zu vermitteln (von Faktizität oder Objektivität war interessanterweise nicht die Rede).262 Das Untersuchungsdesign verknüpfte dabei drei Felder: Soziodemographie, Verhalten der Besucher, sowie Motive und Reaktionen bezüglich des Ausstellungsbesuches. Erhoben wurden die Daten mittels Fragebögen und teilnehmender Beobachtung. Die Typologie des Besuchers, die dadurch entstand, umfasste folgende Formen: Durchschnittsalter von 43 Jahren, wobei der Anteil an 21-30 Jährigen die größte Gruppe ausmachte, gefolgt von der nächsten Alterskohorte der 30-40 Jährigen.263 Die meisten Besucher rekrutierten sich aus einem eher wenig kulturaffinen Bereich. Das heißt, die Ausstellung war laut Evaluation besonders (aber nicht nur) für Menschen attraktiv, die sonst kaum Museen, Theaterstücke oder ähnliches besuchen. Der internationale Besucheranteil belief sich auf fast 25%. Nahezu 34% der Besucher kamen direkt aus Berlin, weitere 42% aus dem restlichen Deutschland. Damit wies die Evaluation einen sehr ausgeglichenen Anteil verschiedenster Besuchergruppen auf, was sich auch für die Länderverteilung internationaler Touristen sagen ließ.264 Die meisten Besucher wurden durch traditionelle Medien wie Fernsehen auf die Ausstellung aufmerksam, der Anteil derer, die über Werbung in der Stadt für die Ausstellung interessiert wurden, war relativ gering. Der Wert des Internet als Informationslieferant im Dienste der Ausstellung stieg im laufe der Ausstellungszeit gegenüber den anderen Informationsquellen an. Die meisten Besucher, zwischen 30% und 42%, stießen als Passanten ohne Vorinformationen auf die Ausstellung.265 Im Schnitt wurde die Ausstellung von jedem Besucher über drei Mal besucht. Insgesamt wurde die Ausstellungszufriedenheit mit „gut“ bewertet (1,6 bei einer Skala von 1 (sehr zufrieden) bis 5 (sehr unzufrieden)), was sich besonders auf die inhaltliche Aufbereitung bezog. Die Konzeption auf architektonischem und landschaftsgestalterischen Niveau betreffend, gingen dort die meisten Verbesserungsvorschläge ein: Die Transparente wurden kaum wahrgenommen, die Filme waren zu laut eingestellt und bei Sonneneinstrahlung kaum zu erkennen, die Umweltgeräusche des Alexanderplatzes wurden als störend empfunden.266 Auch die sternförmige Anordnung der Stellwände sorgte eher für Orientierungslosigkeit, als strukturierte Vermittlung der Inhalte – was sicherlich daran lag, dass deren sternförmige
262 Gerade die Idee der sinnlichen Erlebbarkeit von Archivbeständen ähnelt stark den Theorien in Farge, Arlette: Der Geschmack des Archivs. Göttingen: Wallstein 2011. 263 Evaluationsstudie zur Ausstellung Friedliche Revolution 1989/90. Berlin: Institut für Kultur-und Medienmanagement der FU Berlin 2010 (unveröffentlicht), S. 23. 264 Ebd., S. 28f. 265 Ebd. 2010, S. 47ff. 266 Ebd., S. 40ff.
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Reihenfolge keinem Zeitstrang folgte, die Erzählung hingegen chronologisch vorging. Dadurch waren nicht nur der Wert und die Form der Ausstellung schematisch, statistisch und strukturell erfasst, nicht nur jeder Besucher wurde zu einem Idealtypen umgewandelt, auch der Vorgang der Wissensgenerierung und -vermittlung wurde ermittelt und auf eine strukturelle Basis gestellt. Ursprünglich war die Erhebung weniger auf die Vermittlung von Wissens als auf die Immersionsgrade des Ausstellungsbesuchs abgestellt: sogenannte „FlowErlebnisse“ des „Sich-Verlierens“ und „Verlust des Zeitgefühls“.267 Was besonders interessant erscheint, da es sich um eine historisierende Ausstellung handelte, die per se Zeitebenen miteinander vermengte, indem sie die Gegenwart des Besuchers mit der Vergangenheit der erzählten Ereignisse konfrontierte. Vermittler dieser Immersion – und gleichzeitig der Authentizität des Erlebten – waren die Ausstellungsführer (besonders dann, wenn sie Zeitzeugen waren) und Medienstationen, die den meisten Besuchern den unmittelbarsten Zugang zu dem vergangenen Geschehen verschafften. Prinzipiell wurde laut Studie vertiefendes und neues Wissen über die DDR durch den Ausstellungsbesuch erlangt. Die emotionalen Aspekte wurden jedoch ebenfalls stark angesprochen. Allerdings konnte eine wirkliche Immersion wohl nur dann gelingen, wenn alle anderen Umweltfaktoren (Wetter, Verkehr, etc.) und die eigene Konzentrationsleistung sie zuließen. Ein „Sich-Verlieren“ konnte von der Ausstellung also nicht automatisch geleistet werden, wohingegen der Aspekt der „Wissensvermittlung“ auf die Ausstellungsstruktur selbst zurückgeführt werden konnte. Wie repräsentativ die Studie selbst war und ob sie den drei Gütekriterien einer derartigen Untersuchung (Objektivität, Validität, Reliabilität) genügte, lässt sich hier nur schwer beurteilen. Zudem kann angenommen werden, dass durch die Erhebung viele Effekte der Ausstellung nicht oder nur oberflächlich erklärt und erfasst werden konnten. Interessant war besonders, dass eine solche Studie die Ausstellung überhaupt begleiten sollte. Die Wissenspraxis, die hinter solchen FeedbackMechanismen stand, versuchte, Wissen und Immersion auf eine statistische Größe festzulegen, ein Informationskonglomerat zu erstellen, das zukünftig bessere und effektivere Techniken der Generierung von historischen Wissensobjekten ermöglichen sollte. Der Auftrag seitens der Robert-Havemann-Gesellschaft, eine solche Studie wissenschaftlich zu verfassen, mobilisierte wiederum den Wissenschaftszweig der „Public History“. So wurden Tatsachen über den Besucher generiert, auf die letztlich wieder geschichtspolitisch reagiert werden sollte – genau die Art von Politik wurde also verfolgt, die Jean Baudrillard „Simulation“ nennt. In seinem Spätwerk „Die Illusion des Endes oder: Der Streik der Ereignisse“ kommt Baudrillard auf den Begriff von Geschichte zu sprechen, wie er nach deren 267 Ebd. 2010, S. 67.
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posthistorischem „Ende“ verstanden werden kann: „Die Geschichte ist immer mehr auf den Wahrscheinlichkeitsbereich ihrer Ursachen und Wirkungen zusammengeschrumpft, und in jüngster Zeit auf den Bereich der Aktualität und ihrer Effekte in ‚Echtzeit‘.“268 Jubiläen und Gedächtnisfeiern ergehen sich in ständiger „Ereignissimulation“ (oder „Retro-Scenarios“269). Sie breiten ihre Zeichen des Erinnerns aus, häufen Bedeutung für Gedächtnisse und Geschichten an, die einer „Echtzeit“ kaum noch standhalten können. Was anbricht, ist eine „zyklische Zeit“, eine Zeit des „Recyclings“.270. Was Baudrillard so unter „Simulation“ versteht, ist kein Verweis in den Raum des Unwirklichen, sondern eine fundamentale Kritik an essentialistischen Realitätsbegriffen. Bei der dadurch entstehenden „Hyperrealität“ handelt es sich um eine Realität, die eine Stufe über der essentiellen Realität liegt, die sich als solche, so Baudrillards These, nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch vermittelt (kurz: medialisiert) erfahren lasse.271 Was hat das nun mit der Ausstellung auf dem Alexanderplatz zu tun? Wie mit einigen Beispielen gezeigt wurde, war die Ausstellung sehr darum bemüht, Authentizität zu entwickeln bei dem gleichzeitigen Versuch, einen Immersionseffekt zu erzeugen, der größtenteils über Emotionen und Empathie entsteht. Dazu wählte man einen „authentischen Ort“, dazu mobilisierte man Zeitzeugen, die quasi für die Ereignisse sprachen und selbst „authentisch“ waren. Nicht zu vergessen auch der Einsatz von Archivmaterial, das unmittelbar, also unvermittelt, und haptisch wirken sollte. Die Medienstationen boten eine Realität von damals in Auszügen und Ausschnitten mit „Gänsehauteffekt“. Sound-Collagen aus archivierten O-Tönen simulierten Demonstrationen, Texte komprimierten das Komplexe auf ein romantisches Narrativ. Auf dem Alexanderplatz entstand also genau das, was Baudrillard der Aktualität (des Vergangenen) in „Echtzeit“ zuweist. Kaum jemand würde wahrscheinlich behaupten, dass es sich dabei, abgesehen von den Archivobjekten, tatsächlich um die Vergangenheit selbst handelte, die hier gezeigt wurde: Die Ausstellung auf dem Alexanderplatz war keine reine Wiederholung des 4.11.1989 (wie hätte sie es auch sein können?). Aber sie hat versucht, dem so nahe wie möglich zu kommen, die Vergangenheit so authentisch wie möglich zu simulieren und dadurch bei jedem einzelnen Besuch erneut zum Ereignis zu werden. Deshalb überraschte auch nicht, dass viele Besucher ihr Bedauern äußerten, damals „nicht dabei gewesen“ zu sein oder die Permanenz dieser Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft forderten („Soetwas darf nie vergessen werden!“). Auch, dass aus dieser Erinnerung heraus eine Wiederholung (nicht essentiell, sondern 268 Baudrillard 1994, S. 41. 269 Baudrillard, Jean: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve 1978a, S. 49ff. 270 Baudrillard 1994, S. 50. 271 Vgl. Baudrillard 1994, S. 101ff.
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prinzipiell) werden sollte, indem das „Erbe“ dieser Erinnerung zeigt, was in Zukunft zu tun ist, gehörte in diese Diskurslinie. Das Lehrstück in Demokratisierung namens Friedliche Revolution sollte so zu einem Fundament zukünftigen Handelns geformt werden. Laut Baudrillard ist die Geschichte nicht zu Ende, sofern damit gemeint sei, dass weiterhin keine Ereignisse mehr produziert werden 272 – denn in dem Sinn, wie er „Hyperrealität“ versteht, entstehen fortwährend Ereignisse. Die Ausstellung auf dem Alexanderplatz war ein solches hyperreales Ereignis, das zeigte, in welcher Form das Vergangene und die Geschichte um 2009 weiterhin als Extension der Gegenwart zirkulierten: Auf Stahltransparenten, in Zeitzeugen, Mauersegmenten, Gästebüchern, Fotos, Archiven, Klangcollagen und Medienstationen. Kaum einer der Besucher bestritt daher auch, mit der Realität der Geschichte konfrontiert gewesen zu sein (nur für manche war sie nicht „die ganze Wahrheit“ ihres damaligen Erlebens). Bezeichnenderweise steht die Ausstellung seit Ende 2010 nicht mehr dort, wo sie einmal war. Sie war auch nie als permanente Ausstellung konzipiert, ihre Flüchtigkeit war bereits im Entwurf angelegt. Insofern kann man davon sprechen, dass sie nicht besonders stabil konstruiert gewesen sei, wenn sie nicht weiter in der Lage war, Finanziers oder alternative Räume zu organisieren. Bezeichnenderweise existierte sie aber bis dato im Internet weiter: Auf www.revolution89.de ließen sich alle Stellwände, Fotografien und Dokumentscans in mehreren Sprachen abrufen. Die Zeitzeugenvideos und die Filmcollage waren dort ebenso zu sehen wie ausführliche Dokumentationen von Presseberichten und -informationen, Video- und Radiobeiträgen.273 Virtuell simulierte die Ausstellung somit sich selbst. Gerade der Hypertext (das wahrscheinlich beste Pendant an Signifikanten zur Hyperrealität) war es, der so den Fortbestand der Ausstellung garantierte, bis wieder Geld, Orte, Architekten, Politiker, Handwerker, Touristen, Zeitzeugen und Historiker mobilisiert werden können, um sie wieder effektiv real werden zu lassen. Ähnlich wie die Ausstellung in Berlin waren auch die Feierlichkeiten zum 9. Oktober 2009 in Leipzig angelegt. Dabei ging es, ebenfalls darum, dass Leipzig als „authentischer Ort“ mit Geschichte, Erbe und Erinnerung der Friedlichen Revolution stärker in Verbindung stehen sollte. Auch hierzu wurde das „Erinnerungsjahr 2009“ als entscheidender Fixpunkt der damit verbundenen geschichtspolitischen Bemühungen gesehen.
272 Dies gilt nur wenn angenommen wird, dass sich Ereignisse „wiederholen“ lassen, da sie dann bloß noch recycelt werden, aber nicht mehr im modernen Sinne „neu“ sind. Vgl. Baudrillard 1994, 115-121. 273 Einzusehen auf Revolution89.de (URL: http://goo.gl/ZQ0hL [19.7.2013]).
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Zeugnis davon gab beispielsweise der „Ruf aus Leipzig“, den die „Initiative Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober“ im Juni 2007 veröffentlichte. Dieser sollte das Leipziger Programm für das „Erinnerungsjahr 2009“ vorgeben. 274 Darin wurde das Ereignis 1989 als „Scheitelpunkt“ zwischen der Tradition aus „60 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz“, Friedlicher Revolution und dem daraus erwachsenem „europäischen Einigungsprozess“ bezeichnet.275 Hieraus ergab sich auch das symbolische Programm des „Ruf aus Leipzig“ in Form der mathematischen Gleichung „40+20=60“: „‚40+20‘ ist die Formel, die […] eine gemeinsame Sicht der Ost- und Westdeutschen auf ihre Geschichte ausdrückt. Die Friedliche Revolution ist ein wesentlicher Teil der demokratischen Traditionslinie der Bundesrepublik und gehört als erster gelungener antidiktatorischer Aufstand zu den besonderen Ereignissen unserer Geschichte, auf den alle Deutschen stolz sein können. […] ‚40+20’ bedeutet auch, sich mit der vierzigjährigen Geschichte der zweiten deutschen Diktatur auseinander zu setzen und hier nicht den Nostalgikern das Feld zu überlassen. Festigung der Demokratie bedeutet ständige, nicht nachlassende Kritik […]. Dies muss verbunden sein mit einem Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und sozialer Marktwirtschaft.“276
Damit war die Richtung klar vorgegeben, die Friedliche Revolution und das Ereignis 1989 in die Geschichte der Bundesrepublik und das „Erinnerungsjahr 2009“ einzuschreiben. Gestützt wurde dieses Programm von einer Reihe an „Werten“ und „Traditionslinien“, die die Geschichtspolitik um 2009 kennzeichneten: Demokratisierung, Freiheit, europäische Einigung und dergleichen mehr waren um 2009 die Stützen der Erinnerung an 1989. Dass die „soziale Marktwirtschaft“ in dieser Reihe angeführt wurde mag auch daran liegen, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 auch die Geschichtspolitik heimsuchte. Ebenfalls war im „Ruf aus Leipzig“ zu vernehmen, dass sich das Projekthafte der Friedlichen Revolution mitsamt ihrem einzulösenden Erbe auf diese Werte und Traditionen stütze: „Der europäische Gedanke wird sich nur auf dieser Grundlage weiter erfolgreich entwickeln. Friedliche Revolution und Wiedervereinigung gehören zu den großen Daten der deutschen Nationalgeschichte und können die Identität begründen, die einer selbstbewussten Bundesre274 So wies gleich der erste Satz darauf hin, dass 2009 das Jubiläum der Bundesrepublik anstehe und in dieser Hinsicht auch der DDR-Geschichte und besonders der Friedlichen Revolution gedacht werden solle, s. Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober“: Ruf aus Leipzig: „40+20=60 Jahre Bundesrepublik“. Pressemitteilung vom 18.6.2007. 275 Ebd. 276 Ebd.
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publik im sechzigsten Jahr ihres Bestehens angemessen ist und in das 21. Jahrhundert weist. Das Jubiläum 2009 sollten alle Bürger der Bundesrepublik als einen Meilenstein der deutschen Geschichte feiern können. Es ist die Chance, die positiven Traditionen der Friedlichen Revolution angemessen in der gesamtdeutschen Geschichte zu verankern und wieder stärker für die Werte von Freiheit und Demokratie zu sensibilisieren.“ 277
Gerade diese letzten Zeilen des „Ruf aus Leipzig“ legten ungewöhnlich deutlich dessen geschichtspolitische Agenda offen. Klar war: Die Friedliche Revolution gehörte in die Geschichte der Bundesrepublik (hier war sogar von „Nationalgeschichte“ die Rede). Durch ihre Erinnerung ließe sich nicht nur eine Identität konstruieren (die sich zudem auf „Stolz“ stützen sollte), sondern auch die „Werte Freiheit und Demokratie“ für das 21. Jahrhundert angemessen „verankern“. Auf der Präsentation des „Ruf aus Leipzig“ durch die Mitinitiatoren Christian Führer und Kurt Masur waren ebenso deutliche Aussagen zu vernehmen. So forderte Führer: „Das Datum [9. Oktober 1989] muss […] in die Geschichtsbücher.“278 Und auch Masur wiederholte die im „Ruf aus Leipzig“ aufgestellte These, die „Deutschen“ könnten „auf die friedliche Revolution […] stolz sein und ihre nationale Identität gründen“ – wohlgemerkt mit dem Zusatz „ohne damit Verbrechen wie den Holocaust zu relativieren“.279 Etwas merkwürdig mutete der Satz an, dass „[d]as Jubiläum 2009 […] alle Bürger der Bundesrepublik als einen Meilenstein der deutschen Geschichte feiern können“ sollten. Das „Erinnerungsjahr 2009“ – ein Meilenstein deutscher Geschichte? Auch wenn es sich hierbei um einen semantischen Lapsus handeln sollte, drückte dieser die (geschichtspolitische) Bedeutung aus, die 2009 zugemessen wurde. Der „Ruf aus Leipzig“ war eine Art programmatischer Startschuss für das „Erinnerungsjahr 2009“, an dem sich – so suggerierte es zumindest die dazugehörige Geschichtspolitik – das Schicksal der Friedlichen Revolution erneut in Leipzig entscheiden sollte. Der Ruf ging von einer Initiativgruppe aus, die seit einigen Jahren darüber tagte, wie Leipzig auf der Landkarte dieser Erinnerung als prominenter Ort erscheinen könnte. Analog zu dieser topologischen Metapher gab es beispielsweise die Idee, dass Leipzig schon „auf der Autobahn“ als „Stadt der friedlichen Revolution“ ausgezeichnet sein müsste.280 Nun ist ein geschichtspolitisches Programm das eine, so offen es auch zum Ausdruck gebracht wurde. Die kosmopolitische Frage lautet jedoch andererseits: 277 Ebd. 278 Orbeck, Mathias: „9. Oktober 1989 muss in die Geschichtsbücher“. Leipziger Volkszeitung vom 19.6.2007. 279 N.N.: Montagsdemo als Nationalgeschichte. Sächsische Zeitung vom 19.6.2007. 280 Orbeck, Mathias: Friedliche Revolution bekommt wieder Schwung. Leipziger Volkszeitung vom 1.3.2007.
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Wie bringt man so viele Instanzen und Individuen dazu, dieser Geschichtspolitik zu folgen? Der „Ruf aus Leipzig“ war daher auch kein präskriptiver Befehl, sondern ein Aufruf zur Allianzenbildung. Wer sich mit dem Ruf assoziieren wollte, der sollte dazu gebracht werden, ihn zu unterschreiben. Masur und Führer waren Erstunterzeichner. Ebenso der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung oder auch der Geschäftsführer des Leipziger Zoos, Dr. Jörg Junhold.281 Allerdings standen diese Unterzeichner „nur“ für die Stadt Leipzig. Der „Ruf“ sollte jedoch darüber hinaus Gehör finden. Dazu versendete die Initiativgruppe den „Ruf aus Leipzig“ an potentielle, möglichst mit einem solchen Anliegen verbundene und/oder prominente Akteure. So unterzeichneten unter anderem die ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und Helmut Schmidt, der Außenminister a. D. Hans-Dietrich Genscher oder aktuelle Politprominenz wie Wolfgang Thierse, Guido Westerwelle und Norbert Lammert den Aufruf.282 Auch wenn sich hierin ein geschichtspolitischer Vertrag mit einigen Allianzen manifestierte hieß das noch nicht, dass der Erinnerungsort Leipzig damit etabliert war. Auf die Frage, wie geschichtspolitisches Bewusstsein im Sinne der Initiativgruppe entstehen könne, antwortete Rainer Eckert, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig: „Zunächst muss sich Leipzig seiner Bedeutung selbst neu bewusst werden. […] Mit Blick auf 2009 müssen wir es aber schaffen, die […] normalen Bürger auch wieder mit dieser ureigenen Geschichte anzusprechen.“283 Das konnte so verstanden werden, dass sowohl die Leipziger Bürger als auch das Stadtbild selbst um 2009 geschichtspolitisch gewandelt werden sollten. Und genau darauf zielte das Programm der Stadt – allem voran mit dem sogenannten „Lichtfest“. Bereits 2007 fand am 9. Oktober eine „Nacht der Kerzen“ vor der Leipziger Nikolaikirche statt und wurde auch 2008 wiederholt.284 Nach dem Vorbild des „Fête des Lumières“ der Leipziger Partnerstadt Lyon sollte darauf aufbauend ein „Lichtfest“ zum 20. Jahrestag des 9. Oktober 1989 in ganz Leipzig stattfinden. 285 „Ziel des Lichtfestes ist es, urbane Bereiche zu aktivieren und mit dem historischen Ereignis in Beziehung zu setzen. Das Leipziger Lichtfest setzt ein neues Format, dessen inhaltliche und ästhetische Präsenz die Wahrnehmung des innerstädtischen Lichtraumes nachhaltig verändern wird“, offenbarte Jürgen Meier, der künstlerische Leiter der Veranstaltung, den städteplanerischen Anspruch des „Lichtfest“. 286 So wurde 281 Vgl. Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober“:Ruf aus Leipzig: „40+20=60 Jahre Bundesrepublik“. Pressemitteilung vom 18.6.2007. Insgesamt signierten sieben prominente Leipziger als Erstunterzeichner. 282 Ebd. 283 Mayer, Thomas: „Seid stolz auf diese Stadt.“ Leipziger Volkszeitung vom 7.7.2007. 284 Krutsch, Peter: Leuchtendes Vorbild. Leipziger Volkszeitung vom 17.6.2008. 285 Ebd. 286 Pressemappe Lichtfest 2009, S. 6.
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vor allem ein ästhetisches Programm entwickelt, an dem sich mehrere Medienkünstler beteiligten, „die vor 1989 in Leipzig aktiv waren oder sich in den 90erJahren mit Leipzig verbunden haben“ und die Stadt an mehreren Orten durch ihre Kunstwerke umgestalteten.287 Diese Besetzung des städtischen Raums zeigte sich auf einer Karte, die im Programm des „Lichtfest“ die Standorte der Künstler, bzw. ihrer Kunstwerke numerisch sortiert angab. Inhaltlich setzten sich alle Kunstwerke auf ihre Art mit der Friedlichen Revolution, deren Jubiläum oder dem „authentischen Ort“ Leipzig auseinander. Den Beginn machte am 9. Oktober 2009 die Einweihung der „Glocke der Demokratie“ (oder auch „Freiheitsglocke“) des Künstlers Via Lewandowsky und des Autoren Durs Grünbein in der Grimmaischen Straße/Augustusplatz – einem zentrale Ort der Montagsdemonstrationen 1989.288 Gestiftet wurde die Glocke von den „Ostdeutschen Gießern“. Dazu veranstaltete die Kulturstiftung Leipzig zuvor eine Ausschreibung unter Künstlern, die Lewandowsky und Grünbein für sich entschieden.289 Barbara Steiner von der Kulturstiftung erläuterte in ihrem Begleittext zu dem Kunstwerk, es schaffe „gleichermaßen einen Bezug zur Vergangenheit und unserer Gegenwart“290: „Der Ort der Aufstellung [i.e. Augustusplatz] ist von historischer Bedeutung […]. Indem die Glocke jedoch unvorhersehbar einmal pro Tag schlägt und sich dies nicht etwa auf einen Zeitpunkt des Beginns der Montagsdemonstration beschränkt, aktualisiert Lewandowsky den Aufruf zur Demokratie. Durs Grünbeins Inschrift [„Demokratie ist in unendlicher Nähe längst sichtbar als Kunst“] schlägt einen weiteren Bogen von der Gegenwart in die (unendliche) Zukunft. Damit handelt es sich nicht nur um ein historisches Ereignis, an das es zu erinnern gilt, sondern um eine aktuelle Forderung, die uns jeden Tag zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreichen kann.“291
Folglich solle die „Demokratieglocke“ nicht nur eine „Rhetorik der Erinnerung“ bedienen, sondern auch „lebendige Gegenwart und künftige Perspektive sein“. 292 So löste Lewandowskys Skulptur die Geschichtspolitik zur Friedlichen Revolution um 2009 ein: Als Projekt, in dem Vergangenheit, Gegenwart und kommende Zukunft im Zeichen des Erbes und der Erinnerung, der Freiheit und Demokratie zusammengeführt wurden. Die Glocke schlug seitdem nicht nur täglich montags um 18:35 Uhr, dem vermutlich exakten Beginn der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, sondern auch zufällig, virtuell jederzeit – um die (messianische) Zeit des 287 Ebd. 288 Vgl. Programm Lichtfest 2009. 289 Vgl. Flyer „Zeitformen – Glocke der Demokratie“ der Kulturstiftung Leipzig, 2009. 290 Steiner, Barbara: Aufruf zur Demokratie. Heute. In: Ebd. 291 Ebd. 292 Ebd.
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Kommenden als Demokratie und Einlösung der Friedlichen Revolution anzumahnen. Gerade letzteres war eine nahezu exakte Umsetzung des Gespenstigen aus Derridas Hantologie mit einer dickensschen Wendung.293 So nahm das Kunstwerk, das mit seiner Form als goldenes Ei „als Symbol für die Entstehung von Leben“ und „auch für die Geburt des Neuen“294 stehen sollte, nicht nur materiell, sondern auch klanglich den städtischen Raum für sich in Anspruch – verbunden mit einem geschichtspolitischen Narrativ. Im Gegensatz zur „Demokratieglocke“ waren die anderen Installationen zum 20. Jahrestag des 9. Oktober 1989 nicht als permanent gedacht. Allerdings nahmen auch sie nicht nur den Verlauf der Montagsdemonstrationen räumlich in Anspruch, sondern hatten auch ein gemeinsames Medium: „ Allen [Künstlern] geht es in ihren Beiträgen um Licht als Medium bzw. um Kommunikation mittels Licht. Nur so kann das Lichtfest ein Anstoß für die Besucher sein, sich weitergehend mit dem Thema Friedliche Revolution auseinander zu setzen“, erklärte Jürgen Meier das Konzept des „Lichtfest“.295 Warum allerdings „nur so“, also über das „Medium Licht“, eine angemessene Vermittlung stattfinden konnte, ließ Meier offen. Jedoch war auch hier die Kosmopolitik von 2009 deutlich: Nicht nur ein „authentischer“ Raum sollte transformiert, nicht nur Künstler, ehemalige Bundeskanzler, Emotionen wie Stolz, Werte wie Demokratie, Prozesse wie die europäische Einigung oder Geschichtsbücher sollten mobilisiert und zu einem Akteur-Netzwerk verbunden werden. Auch Medien wie Klang und Licht, ihre Symbolik und Physik waren Mittler der Geschichte und Erinnerung der Friedlichen Revolution.296 An der ersten Station des Rundgangs über den zum „Lichtfest“ umgestalteten Stadtring projizierte der Künstler Andy Gädt Auszüge aus Texten, Losungen und Tagebüchern von Teilnehmern der Montagsdemonstrationen auf die Wände der
293 So kündeten auch in Dickens’ „A Christmal Carroll“ Glockenschläge von den kommenden Gespenstern der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht, die den Misanthropen Scrooge zu einem besseren Menschen machen sollen. Vgl. dazu Dickens, Charles: A Christmas Carroll. Stuttgart: Reclam 1986. 294 Steiner, Barbara: Aufruf zur Demokratie. Heute. In: Flyer „Zeitformen – Glocke der Demokratie“ der Kulturstiftung Leipzig, 2009. 295 Pressemappe Lichtfest 2009, S. 5. 296 Dabei zeigte ein Blick in das Programm, dass nicht nur Licht als Medium von den Künstlern verwendet wurde, sondern teils auch nur Klang. Darüber hinaus hatte jede Installation auch eine apparative und materielle Komponente wie Projektoren, Fassaden, Automobile, etc. Programmüberblicke und -beschreibungen fanden sich in Sonderbeilage der Leipziger Volkszeitung „Lichtfest Leipzig 9. Oktober 2009“ vom 30.9.2009 und dem Tourismusmagazin Leipzig Express September/Oktober 2009.
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Nikolaikirche.297 Sozusagen als Gegenstimme projizierte der Autor Andreas Höll in seiner Installation am Georgring ideologisierende und propagandistische Passagen aus der Leipziger Volkszeitung des 6. und 9. Oktober 1989, um „der ‚Verniedlichung des SED-Regimes mit subtilen Mitteln der Erinnerungsarbeit‘ entgegenwirken“ zu können298. Auch Marek Brendt verwendete archivierte Erzeugnisse, aber auch elektronische Musik und aktuellere Bilder für eine Collage am Leipziger Hauptbahnhof, wodurch diese die Zeitebenen vermischte und über das reine Archiv von 1989 hinausweisen sollte, um „Bewegung, Mut, Verzagtheit und Aktion“ als ein „globales Phänomen“ darzustellen.299 Stefan Rettich ließ die 2004 abgerissene Brücke am Goerdelerring, das „Blaue Wunder“, wieder im Stadtbild als Lichtprojektion erscheinen, die im Herbst 1989 von den Montagsdemonstranten stark frequentiert war.300 Andere Installationen nahmen sich auf abstrakte Art des Themas Trennung/Einheit an, indem sie beispielsweise aus 300 Lichtpunkten einen Handschlag formten oder ein gemeinsames Bild auf getrennte Außenwände projizierten.301 Frankfurt am Main, Hannover, Lyon, Krakow, Brno und Travnik wurden als Partnerstädte Leipzigs ebenfalls um eine Teilnahme mit eigenen Beiträgen gebeten um „neben der Friedlichen Revolution und dem städtebaulichen Kontext auch die europäische Dimension des Herbstes ‘89“ in den Kontext und das implizite Narrativ des „Lichtfest“ aufzunehmen.302 Protagonisten des „Lichtfest“ sollten jedoch nicht die Künstler, ihre Installationen oder Leipzigs Partnerstädte sein, sondern, wie auch im Herbst 1989, die Leipziger Bürger.303 Diese sollten „nicht konsumieren, sondern aktiv teilnehmen“, wie es Marit Schulz von der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH ausdrückte.304 Dazu wurden die Besucher eingeladen, wie schon 2007 und 2008, aus Kerzen die Ziffer „89“ auf einem Podest zusammenzusetzen und, selbst mit Kerze in der Hand, auf dem Augustusplatz den Schriftzug „Leipzig 89“ darzustellen. Im Anschluss waren sie angehalten, den Gang über den Innenstadtring des 9. Oktober 1989 zu wiederholen.305 Damit war das „Lichtfest“ endgültig – wie auch die Ausstellung „Friedliche Revolution 1989/90“ in Berlin – zur Simulation geworden. 297 Sonderbeilage der Leipziger Volkszeitung „Lichtfest Leipzig 9. Oktober 2009“ vom 30.9.2009, S. 5. 298 Ebd., S. 6. 299 Ebd., S. 7. 300 Ebd., S. 9. 301 Ebd., S. 8/9. 302 Pressemappe Lichtfest 2009, S. 3. 303 Ebd., S. 6. 304 Ebd., S. 5. 305 Sonderbeilage der Leipziger Volkszeitung „Lichtfest Leipzig 9. Oktober 2009“ vom 30.9.2009, S. 11.
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Auch an dem „Lichtfest“ waren Akteure beteiligt, die menschlich, dinglich oder narrativ waren. Sowohl das geschichtspolitische Programm des „Ruf aus Leipzig“ fand sich darin wieder als auch die Körper der Besucher, die 2009 für die Körper der Montagsdemonstranten von 1989 standen. Installationen, die auf Bildarchive zurückgriffen und wieder in Präsenz versetzten, erzählten konkret oder symbolisch von der Friedlichen Revolution. Ihre Stromversorgung kam, zu Lasten der Stromversorgung in der Innenstadt, vom Verkehrs- und Tiefbauamt Leipzig – was die Prioritäten an diesem 9. Oktober deutlich machte.306 Medienpartner wie die Leipziger Volkszeitung oder der MDR sorgten für das nötige Echo, Sponsoren wie die Sparkasse Leipzig oder die Stadtwerke Leipzig für die nötige finanzielle Unterstützung.307 Ziel dieses Akteur-Netzwerks war es, wie Oberbürgermeister Burkhard Jung formulierte, „ein emotionales Ereignis zu schaffen, das vor allem junge Menschen anspricht“, denn „mittlerweile [hat] eine ganze Generation den Herbst `89 nicht erlebt oder verfügt über keine aktive Erinnerung“ 308. „Darüber hinaus“, so Jung weiter, „streben wir mit dem Lichtfest ein würdiges Gedenken an, das national und international wahrgenommen wird.“309 Auch diese Absicht teilte Leipzig mit Berlin; auch hier wurde ein strukturell ähnliches Akteur-Netzwerk geschaffen, um diesem Ziel näher zu kommen. So blieb der Begriff „Erinnerungsort“ für Berlin wie Leipzig keine bloße Metapher, sondern ein Knotenpunkt in einem kosmopolitisch agierenden geschichtspolitischen Netzwerk – eine Black Box, durch die all diese Elemente hindurch verliefen und an deren Ende ein Bewusstsein, ein Wissen, ein Erlebnis und eine Erinnerung entstehen sollten. „Die geschichtliche Kraft zur Erinnerung lebt von ihrer Vergegenwärtigung. Um die Verbindung zwischen 1989 und 2009 vielen Menschen vertraut zu machen, benötigen wir in Deutschland ein breites und vielfältiges Engagement für die Demokratie und eine aktive Erinnerungskultur. Nur durch den alltäglichen Umgang jedes Einzelnen mit den Werten Freiheit in Verantwortung, Erinnern und Gestalten, Solidarität, individuelle Entwicklung und Verpflichtung auf das Allgemeinwohl werden die Deutschen dem Erbe der Friedlichen Revolution und ihrem Grundgesetz gerecht. Dies im öffentlichen Bewusstsein einer demokratischen
306 Vgl. Ebd., S. 3. 307 Ein Überblick der Sponsoren, die, je nach Beitragshöhe, in die Kategorien Gold, Silber und Bronze aufgeteilt wurden, fand sich in der Sonderbeilage der Leipziger Volkszeitung „Lichtfest Leipzig 9. Oktober 2009“ vom 30.9.2009, S. 14f. Einige Aussagen, warum die Sponsoren das „Lichtfest“ unterstützten, waren im Leipzig Express September/ Oktober 2009, S. 9 aufgeführt. 308 Pressemappe Lichtfest 2009, S. 4. 309 Ebd., S. 4.
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Öffentlichkeit zu verankern stärkt die Bundesrepublik. Die historische Erinnerung ist ein Mandat für Handeln in Gegenwart und Zukunft.“310
So lautete die letzte der elf „Leipziger Thesen“, welche die Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober 1989“ im September 2009 veröffentlichte – und dadurch den „Ruf aus Leipzig“ von 2007 aktualisierte. Die Vergegenwärtigung, das Erbe, die Demokratie und die Zukunft waren auch hier im Verbund mit Erinnerung und Geschichtlichkeit der Friedlichen Revolution zu einer geschichtspolitischen Agenda geformt. All dies kennzeichnete programmatisch die Matters of Concern, welche um 2009 die Geschichtspolitik zu 1989 bestimmten. Die Bemühungen in Leipzig und Berlin haben gezeigt, dass Politik noch immer eine Sache der Polis war – einem Ort der Versammlung, Pluralität, Diskussion, Repräsentation und Konstruktion. Insofern waren regierende Bürgermeister, Kuratoren, wissenschaftliche Beiräte und Besucher ebenso geschichtspolitische Akteure wie Landschaftsarchitekten, Hypertexte, Fernsehberichte, Lichtprojektionen, Gebäudefassaden Fragebögen, oder Online-Gästebücher, ganz zu schweigen von Besuchern. Greifbar wurde dadurch, wie Erinnerungspolitik die Ereignishaftigkeit der Vergangenheit in die Echtzeit und Aktualität der Gegenwart transferierte, wie diese Gleichzeitigkeit 2009 existieren konnte und effektiv an konkreten Orten existierte – und so zu einer „Dimension des Lebens“ wurde.
W EM GEHÖRT DIE F RIEDLICHE R EVOLUTION ? I NSTITUTIONEN DES POLITISCHEN G EDÄCHTNISSES Eines der berühmtesten Zitate Jean-Jacques Rousseaus und der politischen Philosophie des Abendlandes stammt aus der „Abhandlung über die Ursachen und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ aus dem Jahr 1755 und handelt von der bürgerlichen Urgeste der Aneignung von Eigentum: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet […] hätte[.]“311
310 Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober 1989“: Leipziger Thesen. Presseinformation vom 4.9.2009. 311 Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Stuttgart: Reclam 2010, S. 74.
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Für Rousseau entsprach diese durchaus politische Geste einem Vergehen am natürlichen Zustand des Menschen und begründete die Politik der Aneignung und Akkumulation von Eigentum, die fortan die Moderne und ihr Selbstverständnis kennzeichnen sollte. Die Frage, wie mit Eigentum umzugehen sein sollte, stellt für die politische Philosophie bis heute ein zentrales Problem dar. 312 Auch die Geschichtspolitik um 2009 war auf ihre Art von diesen Fragen betroffen. Eine noch junge Erinnerungslandschaft wie die von 1989 sah sich schon seit 1989 starken Bestrebungen ausgesetzt, von verschiedenen Akteuren eingezäunt und zu eigen gemacht zu werden, um in der Rousseauschen Bildsprache zu bleiben. Mit Rousseaus Dekadenzerzählung ließ sich auch die gängige Kriegs- und Kampfmetaphorik der Geschichtspolitikanalysen von Winkler, Wolfrum und jüngst Peter Steinbach 313 verbinden, die vor allem den „Kampf um die Deutungsmacht“ behandelten: Auch hier ging es um die „gewaltsame“ wie machtvolle Aneignungen der Geschichte und ihres Sinns. So verstanden ließe sich die Geschichtspolitik zur DDR und 1989 um 2009 als „Schlachtfeld“314 beschreiben. Die Frage, wem die Friedliche Revolution gehörte, war dabei jedoch vielschichtiger. In erster Linie ging es darum, Institutionen des Historisierens zu schaffen und sich in der Erinnerungslandschaft 1989 zu behaupten und langfristig zu etablieren. Dass es dabei des Öfteren zu latenten Konkurrenzsituationen kam, wurde schon im vorangegangenen Kapitel am Beispiel der Erinnerungs- und Geschichtsorte Berlin und Leipzig deutlich. Aber nicht nur die „Aura“ bestimmter Städte und Orte, auch Deutungs-, Zeig- und Erzählweisen, Begriffe und Interpretationen standen auf dem Spiel. Dieses Kapitel greift das zu Beginn der Untersuchung angebrachte Argument auf, dass die Frage der Geschichtspolitik keine Frage von agonaler Macht ist, an deren Ende Sieger und Besiegte feststehen. Eine so angelegte Analyse von Geschichtspolitik perpetuiert ein Politikverständnis, das in Kriegs- und Gewaltmetaphern erstarrt und demnach kaum als „politisch korrekt“ gelten kann. Macht ist jedoch kein Besitz, sondern eine Frage der Mobilisierung und ein riskanter Prozess; keine Sache der Asymmetrie, sondern der Symmetrie und Verknüpfung von Elementen, die immer auch den „Gegner“ einschließen. Es geht also darum, die 312 Was nicht zuletzt durch Diskussionen um das Urheberrecht und geistiges Eigentum an Aktualität gewann. Zur Tendenz der sogenannten Remix- oder Mashup-Kultur vgl. von Gehlen, Dirk: Mashup. Lob der Kopie. Berlin: Suhrkamp 2011 und Lessig, Lawrence: Remix. Making Art and Commerce thrive in the Hybrid Economy. New York: Penguin 2008. 313 Steinbach, Peter: Geschichte im politischen Kampf. Wie historische Argumente die öffentliche Meinung manipulieren. Bonn: Dietz 2012. 314 Eine weitere Kriegsmetapher, die Claus Leggewie für die europäische Geschichtspolitik verwendete. Vgl. Leggewie 2011.
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Kriegs- und Kampfmetaphorik der Geschichtspolitikanalysen zu dekonstruieren und aufzulösen, um Politik nicht als vorwiegend agonal zu verstehen. Die Frage der „Deutungsmacht“ ist weder eine Frage von „richtig“ oder „falsch“, an deren Ende die objektiven Fakten oder ein institutioneller Status über Erfolg und Misserfolg von Geschichtspolitik richten. Es wird also zu zeigen sein, dass sich die Frage nach dem „Eigentümer“ der Friedlichen Revolution um 2009 einmal mehr als eine kosmopolitische Frage entpuppte. Das betrifft die Frage, wie sich um 2009 bestimmte Erinnerungsformen und deren Akteure zur Friedlichen Revolution institutionalisiert haben. „Institutionalisierung“ steht für Thomas Luckmann und Peter L. Berger „am Anfang jeder gesellschaftlichen Situation, die ihren eigenen Ursprung überdauert“. 315 Institutionen stellen dabei beständige Gesellschaftskonstrukte dar, die per definitionem „immer eine Geschichte“ haben, „deren Geschöpfe sie sind“. Demnach sei es „unmöglich, eine Institution ohne den historischen Prozeß, der sie heraufgebracht hat, zu begreifen“.316 Für die Institutionen der Geschichtspolitik kann man diese Definition praktisch umdrehen: Sie sind nicht denkbar ohne die Geschichte, die sie hervorbringen. Dabei wird an dieser Stelle nicht von der Annahme Bergers und Luckmanns ausgegangen, dass Institutionen an sich immer schon stabil sind, sondern ganz im Gegenteil: dass sie mit ihren Handlungen als Akteure der (Geschichts-)Politik ihre Stabilität immer wieder selbst aufs Spiel setzen. Insofern war das „Erinnerungsjahr 2009“ für viele Institutionen der Geschichtspolitik zur DDR (und solche, die es noch werden wollten) eine riskante Angelegenheit – und eine große Chance. Wenn für Berger/Luckmann die „institutionale Welt […] als objektive Wirklichkeit erlebt“317 wird, so bedeutet dies, dass Institutionen epistemologische Funktionen ausüben. Kurz gesagt sind sie die Instanzen, die die Tatsachen und Fakten hervorbringen, die nicht oder kaum hinterfragbar sind (oder zumindest sein sollen). 318 Damit erscheinen Institutionen als soziologische Black Boxes, die es zu öffnen gilt. Die epistemologische Heuristik, dass Institutionen stabile, objektive Wirklichkeiten darstellen, bildete sicherlich die Motivation hinter der Einrichtung der meisten geschichtspolitischen Institutionen, egal ob staatlich oder zivilgesellschaftlich organisiert. So kommentierte beispielsweise der Parlamentarier Hartmut Koschyk in der Debatte zur Abstimmung über die Einrichtung der „Stiftung Aufarbeitung“ im April 1998: „Es geht darum, der Aufarbeitung Beständigkeit und Stetigkeit zu verleihen“.319 Die Stiftung sollte damit institutionalisieren, was die Enquete315 Vgl. Berger/Luckmann 2004, S. 59. 316 Vgl. Ebd. S. 58. 317 Vgl. Ebd., S. 64. 318 Vgl. Ebd., S. 63ff. 319 Deutscher Bundestag: Jenseits der Tagespolitik. Die Enquete-Kommissionen. Teil 3. Bundestag.de (URL: http://goo.gl/kH2ai [19.7.2013].
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Kommissionen zum geschichtlichen und politischen Umgang mit der DDR nicht vollenden konnten. Dementsprechend lautete dann auch der im Errichtungsgesetz festgehaltene Stiftungszweck: „Zweck der Stiftung ist es, in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen auf dem Gebiet der Aufarbeitung der SED-Diktatur, Beiträge zur umfassenden Aufarbeitung von Ursachen, Geschichte und Folgen der Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland und in der DDR zu leisten und zu unterstützen, die Erinnerung an das geschehene Unrecht und die Opfer wachzuhalten sowie den antitotalitären Konsens in der Gesellschaft, die Demokratie und die innere Einheit Deutschlands zu fördern und zu festigen.“320
Interessanterweise betonte schon der Beginn des Stiftungszwecks, dass es sich bei der Stiftung nicht um eine letztgültige Instanz handelte, die das Bild der DDR und ihrer Geschichte festschreiben und verwalten soll, sondern vielmehr um eine Mobilisierungsinstitution, die „Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen“ schaffen und in erster Linie Projekte fördern will. Die Stiftung ermöglicht im weitesten Sinne eine Netzwerkstruktur, in der verschiedenste Akteure miteinander in Verbindung treten können. Dass sie ihre Arbeit unter der Prämisse des Opfergedenkens, der Demokratie und des antitotalitären Konsens vollziehen sollte, lag in der Diskurslogik begründet, welche die Geschichtspolitik zur DDR seit 1989 begleitete.321 Eine ähnliche Mischung aus Vernetzung und Institutionalisierung fand sich, mit besonderem Hinblick auf die „historischen und mentalen Gegebenheiten in den neuen Bundesländern“, auch im Selbstverständnis des 1999 in Leipzig gegründeten Zeitgeschichtlichen Forums, das gemeinsam mit dem Haus der Geschichte in Bonn seit 1992 konzipiert und aufgebaut wurde.322 Es wurde 2001 beschlossen, dem Zeitgeschichtlichen Forum eine „größere Selbständigkeit einzuräumen, damit es sich entsprechend den historischen und mentalen Gegebenheiten in den neuen Bundesländern noch besser profilieren kann und in der Öffentlichkeit als Institution wahrund angenommen wird. Die enge Vernetzung aller Arbeitsebenen zwischen den
320 Vgl. das Gesetz über die Errichtung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, darin §2 Abs. I. (URL: http://www.stiftung-aufarbeitung.de/errichtungsgesetz-1081. html [20.7.2013]). 321 Damit führte die „Stiftung Aufarbeitung“ einen ähnlichen Auftrag mit sich wie beispielsweise die Stiftung der Gedenkstätte Hohenschönhausen und andere antitotalitäre, auf Opfergedenken ausgerichtete Stiftungen und Gedenkstätten. Zu Hohenschönhausen vgl. Satzung der Stiftung „Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen“. Vom 25. Juni 2001 und 5. Februar 2009 (URL: http://goo.gl/Eb8nn [19.7.2013]). 322 Vgl. die Entstehung und Entwicklung des Zeitgeschichtlichen Forums. Hdg.de (URL: http://www.hdg.de/leipzig/ueber-uns/institution/ [20.9.2012]).
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Standorten der Stiftung in Bonn und Leipzig sowie die optimale Nutzung der Ressourcen wird beibehalten und in den kommenden Jahren noch verstärkt.“323 Eher allgemein politisch gehalten war das Selbstverständnis der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB). In deren Erlassgesetz von 2001 hieß es, die Bundeszentrale habe „die Aufgabe, durch Maßnahmen der politischen Bildung Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken.“ 324 Wie von Berger/Luckmann beschrieben, legitimierte sich diese institutionelle Zwecksetzung der Bundeszentrale dezidiert historisch: „Aus den Erfahrungen mit diktatorischen Herrschaftsformen in der deutschen Geschichte erwächst für die Bundesrepublik Deutschland die besondere Verantwortung, Werte wie Demokratie, Pluralismus und Toleranz im Bewusstsein der Bevölkerung zu festigen“, hieß es in deren Selbstbeschreibung.325 Im Gegensatz dazu verstand sich eine wissenschaftlich orientierte Einrichtung wie das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam zwar auch als historisch gewachsen, allerdings kaum als politisch. So wurde in der Selbsthistorisierung des Instituts der Zusammenhang seiner Entstehung und Institutionalisierung um 1992/93 mit den Umbrüchen von 1989/90 dargestellt. Der Auftrag lautete schlicht: „Seine [d.h. des ZZF] Hauptaufgabe ist es, die Geschichte der DDR und die deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im europäischen Zusammenhang zu erforschen.“326 Die moderne Tendenz, Wissenschaft und Politik explizit getrennt zu halten327, unterwanderte das ZZF implizit, indem es konstatierte, dass „[i]m Hinblick auf Herkunft, sozialen Hintergrund und Erfahrungen der Forscherinnen und Forscher [...] das Zentrum selbst ein Labor der deutschen Einheit“ sei. 328 Grund für diese laborartige Zusammensetzung der Forscher sei ihr „unterschiedlicher politischer Hintergrund“ gewesen, der sich von ehemaligen DDR-Dissidenten, „soweit sie sich nicht diskreditiert hatten“, zu „Westdeutsche[n] und Westberliner[n] aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und politischen Zusammenhängen“ erstre-
323 Vgl. Ebd. 324 Erlass über die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) vom 24. Januar 2001, §2. (URL: http://www.bpb.de/die-bpb/51244/der-bpb-erlass [20.9.2012]). 325 Bundeszentrale für politische Bildung: Demokratie stärken – Zivilgesellschaft fördern. Die Bundeszentrale für politische Bildung: Aufgaben, Ziele, Aktivitäten. bpb.de (URL: http://goo.gl/UjQye [19.7.2013]). 326 Vgl. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Gründung und Aufgabe. Zzfpdm.de (URL: http://www.zzf-pdm.de/site/304/default.aspx [19.7.2013]). 327 Latour 2010 S. 26ff. 328 Vgl. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Gründung und Aufgabe. Zzfpdm.de (URL: http://www.zzf-pdm.de/site/304/default.aspx [19.7.2013]).
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cke.329 In diesem Sinne hat das Forschungszentrum einen historischen, seine Forscher einen politischen Hintergrund: Er heißt 1989. Dies sind nur ein paar (wenngleich größere) Institutionen, die sich im „Erinnerungsjahr 2009“ darum bemühten, den Diskurs um die Friedliche Revolution und 1989 mitzugestalten, in der Breite zu besetzen und zu vermitteln. Sie werden im Folgenden als Beispiele von Institutionalisierung im Zeichen von 1989 und des „Erinnerungsjahres 2009“ stehen. Dass diese Institutionen vermeintlich als gesetzt gelten könnten (im Gegensatz beispielsweise zur Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., die sich dezidiert darum bemühte, in der Geschichtspolitik zur Friedlichen Revolution eine größere Rolle einzunehmen) soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese „Big Player“ der Geschichtspolitik keinesfalls „too big to fail“ 330 sind – und dementsprechend ihren Status gerade an Prüfsteinen wie dem „Erinnerungsjahr 2009“ immer wieder erneuern müssen. Das „Erinnerungsjahr“ war in der Hinsicht keine tabula rasa; allerdings bot sich in ihm ein Möglichkeitsraum, der unter Umständen neue Arten und Formen von Institutionen hervorbringen konnte, die mit den alten konkurrierten. Das vorherige Kapitel veranschaulichte, wie neue Räume erschlossen wurden und welche Mobilisierungsstrategien und Akteure dazu auf den Plan traten. Dieses Kapitel wird nun anhand einiger Beispiele in vier Akten schrittweise illustrieren, welche Arten von Ressourcen, Netzwerken und Akteuren, Strategien, Zwecksetzungen und Vermittlungen das politische Gedächtnis der Friedlichen Revolution um 2009 formten. Dabei wird die These vertreten, dass diese Vernetzungen mit einem bestimmten politischen Denken korrespondierten, das sich nahtlos in die (geschichts)politische Lage um 2009 einfügen ließ – ja sogar von dieser meist bedingt wurde. Akt I – Mobilisierung. Zwischen Mai und Dezember 2007 fanden 2380 Land- wie Bundestagsabgeordnete sowie Verwaltungsbeamte von 1831 Kommunen einen Brief der „Stiftung Aufarbeitung“ in ihren Postfächern, unterzeichnet von deren Stiftungsratvorsitzenden Markus Meckel und Vorstandsvorsitzenden Rainer Eppelmann mit der Betreffzeile „20 Jahre friedliche Revolution und deutsche Ein329 Vgl. Ebd. 330 Dieses der ökonomischen Theorie entlehnte Bild besagt, dass manche Instanzen zu systemrelevant sind, um aus einem Systemzusammenhang (in diesem Sinne meist: der Volkswirtschaft) ausgegliedert zu werden und ihren Institutionsstatus zu verlieren. Durch die Finanz- und sich anschließende Wirtschaftskrise seit 2008 wurde diese Wendung wieder geläufiger, wenn es um die Rettung von Geldinstituten durch staatliche Eingriffe ging. Vgl. Sorkin, Andrew Ross: Too Big to Fail. The Inside Story of How Wall Street and Washington Fought to Save the Financial System – and Themselves. New York: Viking 2009.
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heit“.331 Die Abgeordneten und Kommunalverwalter wurden daran erinnert, dass sich in zwei Jahren „die friedliche Revolution in der DDR zum zwanzigsten Mal“ jähren wird und es sich bei den Geschehnissen von 1989/90 um „Ereignisse von epochaler Bedeutung“ handele.332 Aus diesem Grund wurde dem interessierten Empfänger ein Vorschlag unterbreitet: „Im Namen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur möchten wir die bevorstehenden Jahrestage schon jetzt nachdrücklich Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen! Es ist mehr als absehbar, dass beide Ereignisse eine enorme Aufmerksamkeit in den Medien, der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit sowie im öffentlichen Diskurs schlechthin finden werden. Wie kaum ein anderes Jahr wird 2009 zur historisch-politischen Selbstvergewisserung in Deutschland aber auch in Europa einladen. Schließlich steht das Jahr 1989 für die Überwindung der kommunistischen Diktaturen und den Triumph der Freiheit in Europa. Wir möchten Sie für die Idee gewinnen, bereits jetzt, zu diesem frühen Zeitpunkt, in Ihrer Kommune Initiativen anzustoßen, die in den Jahren 2009 und 2010 vielfältige Früchte tragen könnten: Warum nicht jetzt die Stadtbibliothek, die Volkshochschule, die Schulen, das städtische Museum, aber auch die örtlichen Kirchen, Parteien und Verbände dazu anregen, Ideen für Veranstaltungen und Projekte aller Art zu entwickeln, die in zwei bzw. drei Jahren facettenreich an die doppelte Staatsgründung 1949, die friedliche Revolution 1989 und die Wiedervereinigung 1990 erinnern? Vielleicht ist Ihre Stadt in der Vergangenheit mit einer Kommune jenseits der Elbe eine Partnerschaft eingegangen, an die aus diesem Anlass angeknüpft werden könnte? Warum nicht einen „Platz der friedlichen Revolution“ oder eine „Straße der deutschen Einheit“ schaffen? Denken Sie auch an andere Zeichensetzungen im öffentlichen Raum. Je früher derlei Planungen begonnen werden, desto leichter lassen sie sich im Rahmen vorhandener Etats und personeller Ressourcen realisieren.“333
Was Meckel und Eppelmann hier 2380 Land- wie Bundestagsabgeordnete und 1831 Kommunalbeamten nahelegten, war ein großangelegter Akt der Mobilisierung. Der „Stiftung Aufarbeitung“, in deren Namen ihr Vorstands- und ihr Stiftungsratsvorsitzender hier sprachen, ging es um nichts weniger, als bei ihren Empfängern Interesse zu wecken für eine Sache, die stark mit dem institutionellen Selbstzweck und verständnis der Stiftung verbunden war. Doch wie genau sollten die insgesamt 4211 Empfänger dazu gebracht werden, sich ebenfalls für die Belange der „Stiftung Aufarbeitung“ zu interessieren? Dazu mussten Meckel und Eppelmann ihrerseits einige Akteure ins Spiel bringen.
331 Meckel, Markus/Eppelmann, Rainer: 20 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit. Rundschreiben vom 31.5.2007 (URL: http://goo.gl/PJGAv [19.7.2013]). 332 Ebd. 333 Ebd.
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Zunächst war die Rhetorik334 von Bedeutung: 2009 jährte sich nicht irgendein Ereignis, sondern ein „epochales“. Warum die Friedliche Revolution derart bedeutsam sei, erläuterten die beiden Absender auch sogleich – schließlich „wird 2009 zur historisch-politischen Selbstvergewisserung in Deutschland aber auch in Europa einladen“, da „das Jahr 1989 für die Überwindung der kommunistischen Diktaturen und den Triumph der Freiheit in Europa“ stehe. Damit setzten Meckel und Eppelmann schon 2007 die diskursiven Schwerpunkte, die um 2009 den politischen Diskurs zu 1989 bestimmen sollten: Die Selbstvergewisserung der (kommenden) Gemeinschaft namens „Europa“, die wiederum in der Gemeinschaft namens „Deutschland“ aufgehoben ist. Als nächstes machten Eppelmann und Meckel den Empfängern Vorschläge, was diese selbst als Akteure der Erinnerung einbringen könnten: Stadtbibliotheken, Volkshochschulen, Schulen überhaupt, Stadtmuseen, Kirchen, Parteien und Verbände, die eigene Vergangenheit der Kommune, Straßen- und Platznamen und – ihre Bürger. Diese Vermehrung der Akteure, ausgelöst durch einen einzigen Brief, sollte die zweite Stufe der Mobilisierung einleiten. Was versprachen sich Eppelmann und Meckel von dieser extensiven Akteursvermehrung? In erster Linie die Ausweitung des Geschichtlichen und seiner Produktion, die durch viele Köpfe, Hände und Münder, Apparaturen, Orte und Erzählformen gehen sollte: „Wir würden uns außerordentlich freuen“, schrieben die beiden Initiatoren, „wenn auch die Bürgerinnen und Bürger Ihrer Stadt mit Vorträgen, Diskussionsrunden, Filmreihen, Konzerten, Gottesdiensten, Ausstellungen, Buchangeboten in der Bibliothek, Schulprojekten aller Art (insbesondere auch mit Zeitzeugen), wechselseitigen OstWestbesuchen und/oder anderen Angeboten zur Auseinandersetzung mit der deutschen Teilung und ihrer Überwindung angeregt werden würden“.335 Doch würde es nicht reichen, bloß Menschen an Orten zu versammeln, es brauchte noch mehr als das: „Besonderes Augenmerk sollte gerade im Osten Deutschlands darauf gerichtet werden, Zeugnisse von Opposition und friedlicher Revolution – wie persönliche Dokumente, Flugschriften oder Fotos zu sammeln und auf Dauer sicher zu stellen“, empfahlen die Initiatoren – wodurch sich das zu schaffende Akteur-Netzwerk (denn um nichts anderes handelte es sich dabei) durch Artefakte, Dinge und Apparaturen komplettieren sollte. Diese Einschließung der nicht-menschlichen Dinge in den Prozess des Historisierens wird oft von sozialkonstruktivistischen Theorien wie denen von Berger und Luckmann übersehen. Dabei zeigte sich auch in dem Rundschreiben von Meckel und Eppelmann ganz explizit, dass es nicht nur darum ging, dass Menschen andere Menschen versammeln sollten. 334 Zur Rolle von Rhetorik bei der Mobilisierung von Allianzen und Matters of Concern vgl. Latour 1987, S. 21ff. 335 Meckel, Markus/Eppelmann, Rainer: 20 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit. Rundschreiben vom 31.5.2007 (URL: http://goo.gl/PJGAv [19.7.2013]).
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Zur Geschichtspolitik, die Menschen, Dinge und Diskurse verknüpfte, gehörte mehr.336 Zu diesem „Mehr“ musste schließlich auch das Feedback auf das Rundschreiben zählen. Derartige Abläufe sind keine Einbahnstraße, an deren Ende die Empfänger des Rundschreibens einfach tun, was eine geschichtspolitische Institution des Bundes wie die „Stiftung Aufarbeitung“ ihnen nahelegt. Zunächst ließ sich eine konkrete Zahl ausmachen: Auf das Schreiben von Eppelmann und Meckel reagierten von 4211 Angeschriebenen mehr als 700 mit einer interessierten Rückmeldung. Der Großteil rekrutierte sich aus den Kommunen. 337 Das war zwar lediglich ein Sechstel aller Adressaten, dennoch keine geringe Zahl. Die Stiftung selbst formulierte ihre institutionelle Rolle in dem Rundschreiben eher zurückhaltend. Darin hieß es, sie könne keine direkten Finanzierungen vornehmen, sondern lediglich „sammel[n] und informier[en]“338 bzw. „Anstoßen und Fördern, Informieren und Vernetzen“339. Die interessierten Kommunen und Abgeordneten sollten hingegen eine neue Figur erschaffen, welche die Vermittlung und Verknüpfung von Stiftung und Organisatoren ermöglichte und erleichterte: den Ansprechpartner, „der diesem Thema in Ihrem Auftrag fürderhin besondere Aufmerksamkeit widmen soll“.340 Das Rundschreiben produzierte also in erster Linie Vermittlungspositionen – nichts anderes wollte die „Stiftung Aufarbeitung“ sein, nichts anderes sollten die Kommunen und Abgeordneten zur Verfügung stellen – und zwar in beide Richtungen: Zur Stiftung hin und zum Zielpublikum der zu planenden Aktionen, an deren Ende Geschichtswissen vermittelt werden sollte. Die Vermeh336 Ganz zu schweigen von den mannigfaltigen Elementen, die zwischen der Abfassung des Rundschreibens, seiner Absendung und seinen Empfängern lagen: Von Sekretären an Tastaturen über Postautos, Briefkästen, Papier, Adresserfassungen oder POP3-Servern. Diese Liste wäre jedoch eher für eine eingehendere Mikrostudie von größerer Relevanz und soll hier nur in der Hinterhand gehalten werden. 337 Diese Zahl entstammt einem Zwischenbericht des Projektkoordinators Jens Hüttmann, der im Deutschland Archiv 2008 veröffentlicht wurde. Laut Hüttmann wurden die Antwortschreiben bezüglich des Rundbriefs „täglich mehr“. Einsendeschluss für Rückmeldungen war der 31.8.2008. Vgl. Hüttmann, Jens: 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Ein Überblick über Projekte und Initiativen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. In: Deutschland Archiv 41/2008, Nr. 6, S. 1067. 338 Meckel, Markus/Eppelmann, Rainer: 20 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit. Rundschreiben vom 31.5.2007 (URL: http://goo.gl/PJGAv [19.7.2013]). 339 Hüttmann, Jens: 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Ein Überblick über Projekte und Initiativen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. In: Deutschland Archiv 41/2008, Nr. 6, S. 1067. 340 Meckel, Markus/Eppelmann, Rainer: 20 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit. Rundschreiben vom 31.5.2007 (URL: http://goo.gl/PJGAv [19.7.2013]).
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rung der Akteure, die Extension der Mobilisierung und die Inklusion nichtmenschlicher Instanzen hatte nur ein Ziel: Die Ausbreitung der Mittler und Zwischenglieder in der Geschichtspolitik zu 1989.341 Die neue Figur des „Ansprechpartners“ beispielsweise mobilisierte heterogene Akteure: „ Es handelt sich etwa in der Hälfte der Fälle um Referenten oder (Amts)Leiter für die Bereiche Jugend, Schule, Kultur, Soziales, Öffentlichkeitsarbeit, Grundsatzangelegenheiten und vieles mehr. Ebenso haben sich Archivare, Bibliothekare, Schulleiter, Lehrer oder Pfarrer gemeldet.“ 342 Doch was sollte nach dieser Mobilisierung geschehen, nach der neue Figuren entworfen, neue Netzwerke geknüpft, die Akteure und Artefakte vermehrt und in Verbindung zueinander gebracht wurden? Die Antwort lag in dem zweiten politischen Element der Kosmopolitik: Sie mussten versammelt werden. Akt 2 – Versammlung. Über die Vielfalt der Aktionen, die aus diesem Impuls heraus entstanden, informierte die „Stiftung Aufarbeitung“ in Form von monatlichen Newslettern, die sie online abrufbar machte – und die gleichzeitig das Archiv des Netzwerks wurden, das sich um 2009 bildete.343 Dazu bot die Stiftung noch einen eigens gestalteten „Stiftungskalender“ an, der „[ü]ber einen Zeitraum von zwei Jahren [...] die Möglichkeit [bot], sich Tag für Tag den rasanten Verlauf und die Tragweite des damaligen Umbruchs zu vergegenwärtigen“344 – und so die Schnittstelle 1989/2009 schloss, indem die aktuellen Veranstaltungen von 2009 mit den historischen Ereignissen parallel in dem selben Dokument eingeschrieben waren. So führte die explizit intendierte Netzwerkbildung immer auch zurück zu dem Ereignis 1989 und zur Stiftung selbst, die beides Parallel registrierte, produzierte und archivierte – und schließlich als Information wieder nach außen trug.
341 Vgl. Latour 2010a, S. 70. Latour unterscheidet „Mittler“ von „Zwischengliedern“, da bei letzteren Input und Output identisch sind und nicht, wie „Mittler“, als Transformatoren dessen fungieren, was sie übermitteln. 342 Projektbüro „20 Jahre friedliche Revolution“ der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: Auf dem Weg zu den 20. Jahrestagen der friedlichen Revolutionen in Deutschland und Europa – ein Überblick zu Aktivitäten, Projekten und Initiativen quer durch die Republik. Einzusehen auf der Homepage bundesstiftung-aufarbeitung.de (URL: http://goo.gl/MjUfW [19.7.2013]). 343 Diese Archivfunktion füllten die Newsletter bis dato auf der Homepage der Stiftung aus, vgl. Bundesstiftung Aufarbeitung: „Index der Newsletter 1-20“. bundesstiftungaufarbeitung.de (URL: http://goo.gl/SvNcq [19.7.2013]). 344 Hüttmann, Jens: 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Ein Überblick über Projekte und Initiativen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. In: Deutschland Archiv 41/2008, Nr. 6, S. 1072.
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Viele Knotenpunkte, die an diesem Erinnerungsnetzwerk beteiligt waren, wurden in einer anderen, zunächst auch aus Anlass des „Erinnerungsjahres 2009“ eingerichteten Institution der Geschichtspolitik erneut zusammengeführt: Den Geschichtsmessen vom 13. bis 15. März 2008 und vom 29. bis 31. Januar 2009 in Suhl, „buchstäblich in der Mitte Deutschlands“345. Diese Geschichtsmessen fanden seit 2008 jährlich für drei Tage im Suhler Ringberg Hotel statt. Ihr „Ziel ist es“, so die Veranstalter, „eine möglichst breite, öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen Teilung und Einheit zu fördern“.346 Zu beiden Geschichtsmessen kamen laut Veranstalterangaben ca. 200 Teilnehmer. Die Zahl der Projektvorstellungen steigerte sich von 30 (in 2008) auf 60 (in 2009). Gerahmt wurden beide Geschichtsmessen von zeitgeschichtlichen und geschichtspolitischen Diskussionen und Vorträgen. Beide Geschichtsmessen setzten als inhaltlichen Schwerpunkt die „Frage, wie die Erinnerung an die deutsche und europäische Teilung und deren Überwindung lebendig gemacht werden kann“.347 Die Geschichtsmessen sollten ein „ständiges Forum für Gespräche und Vernetzungsmöglichkeiten bieten“ und „dazu beizutragen, dass 2009 eine fundierte Auseinandersetzung mit den friedlichen Revolutionen 1989/1990 während der 20. Jahrestage in Deutschland stattfindet“.348 Dazu wurden Wissenschaftler, Filmemacher, bildende Künstler, Politiker, Archivare, Kommunalverwaltungen, Lehrer, Schulklassen, Zeitzeugen, Schriftsteller, Museumspädagogen und viele andere Mittler der Historisierung geladen. Die vorgestellten Projekte reichten von ganzen Themenjahren über Ausstellungskonzepte, Filmkunstwerke, Internetportale, Schulaktionstage, Dokumentationen und wissenschaftliche Publikationen bis hin zu Symposien und Filmreihen. Kurzum: Die Rolle der Institutionen, wie sie hier am Beispiel der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur skizziert wurde, war es nicht, sich so viele andere Instanzen wie möglich unterzuordnen, sondern im Gegenteil: so viele Instanzen wie möglich zu Akteuren zu machen. Die Motivation dahinter war, zumindest offiziell, kein „Kampf um Deutungsmacht“ oder ein ähnlich kriegerischer Akt. Dazu wurden zu viele Akteure einbezogen, zu viele Diskurse angeregt, zu viele Beteiligte zum Sprechen und Handeln gebracht, um sie schließlich unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln – sei es in einem gemeinsamen Newsletter, der 345 Ebd., S. 1069. 346 Nachzulesen auf http://www.geschichtsmesse.de/index.php [23.9.2012]. Hier finden sich ausführlich dokumentierte Nachlesen zu den einzelnen Geschichtsmessen. 347 Projektbüro „20 Jahre friedliche Revolution“ der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: Auf dem Weg zu den 20. Jahrestagen der friedlichen Revolutionen in Deutschland und Europa – ein Überblick zu Aktivitäten, Projekten und Initiativen quer durch die Republik. Einzusehen auf der Homepage bundesstiftung-aufarbeitung.de (URL: http://goo.gl/MjUfW [19.7.2013]). 348 Ebd.
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alle Veranstaltungen schriftlich zusammenzog349, oder eine Geschichtsmesse. Es war genau dieses Zusammenführen, Versammeln, Verbinden und Vernetzen, das die Form der Geschichtspolitik und ihrer Institutionen um 2009, neben dem Akt der Mobilisierung, definierte. Gleiches galt auch für die Bundeszentrale für politische Bildung, die 2009 neben einigen anderen Aktionen350 das „Geschichtsforum 1989/2009“ vom 28. bis 31. Mai 2009 unter dem Titel „Europa zwischen Teilung und Aufbruch“ in Berlin veranstaltete. Auch dort wurden zahlreiche Teilnehmer aus Kunst, Wissenschaft, Politik, Geschichtsvereinen und anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen versammelt. Konzeptionell ging es darum, durch die Beschäftigung mit 1989 „Lehren für die Gegenwart und die Zukunft“ zu ziehen und „die Ursprünge der gegenwärtigen politischen Verhältnisse“ erscheinen zu lassen mit der Pointe dadurch aufzuzeigen, dass „es zum Status Quo immer Alternativen gibt – wünschenswerte, aber auch solche, die es zu verhindern gilt.“351 Damit schloss das „Geschichtsforum“ an den öffentlichen Bildungsauftrag der Bundeszentrale an. Zusätzlich wurden gegenwärtige (politische) Probleme mit der Historisierung der Friedlichen Revolution und einem zukünftigen Möglichkeitsraum verschränkt – ganz in der Diskurslinie des „Erinnerungsjahres“. Es ging zudem um die Erweiterung des Geschichtlichen im öffentlichen Raum und Diskurs. So wurde das „Geschichtsforum“ auch explizit „Geschichtsfestival“ entworfen, um möglichst viele Stummen und Perspektiven unter einem Dach zu
349 Zum Motiv des Drawing Things Togehther, das sowohl Protokolle, Inskriptionen als auch Kongresse und Parlamente umfassen kann, vgl. Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Belliger/Krieger, S. 259-307. 350 Als zweite Großveranstaltung initiierte die BpB den eher an Fachpublikum gerichteten „Kulturpolitischen Bildungskongress“ im Juni 2009 in Berlin unter dem Titel „kultur macht geschichte – geschichte macht kultur: Kulturpolitik und Gedächtnis“, auf dem ähnliche Themen wie auf dem „Geschichtsforum“ verhandelt wurden, vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: „kultur macht geschichte – geschichte macht kultur“. Pressemitteilung vom 25.5.2009. Auch die BpB bediente sich dabei vordergründig des „Macht“-Wortspiels, das in sich schon die Betonung von „Macht“ auf das „Machen“, also Herstellen, verlagert. Zudem war der Titel ein weiteres Beispiel für die doppelt redundante Geschichtspolitikanalyse, vgl. die Einleitung dieser Arbeit. 351 Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung am 22./23.1.2009 in Bonn TOP 10: Präsentation Geschichtsforum 1989| 2009 und 5. Kulturpolitischer Bundeskongress, S. 1 (unveröffentlicht).
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versammeln.352 Der Slogan, mit dem die Veranstaltung beworben wurde, zeigte schon die wenig agonale Richtung auf, die die Institutionalisierung von 1989 um 2009 kennzeichnete: „Wir müssen reden“.353 Das „Geschichtsforum“ sollte möglichst die maßgebliche Veranstaltung mit bundesweiter Tragweite werden.354 Dafür wurden mehrere Austragungsorte in Berlin organisiert, darunter die Humboldt-Universität, das Maxim Gorki Theater, das Deutsche Historischen Museum und „angrenzende Freiflächen“. So gestaltete das „Geschichtsforum“ mehrere Orte um, besetzte diese und machte sie sich für seine Zwecke zu eigen. Diese Orte sollten zudem symbolisch künstlerische Darbietungen mit gängigen Autoritäten des Sprechens über Geschichte kombinieren.355 Neben den Orten wurden Kooperationspartner gewonnen, darunter die Kulturstiftung des Bundes, die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, das Institut für Zeitgeschichte (IfZ), das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) sowie der Gegen Vergessen – Für Demokratie, e.V. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler wurde Schirmherr der Veranstaltung. Insgesamt nahmen, neben den Kooperationspartnern, 130 Institutionen, Vereine, Initiativen, Lehrstühle oder Künstlergruppen, sowie ca. 100 Einzelpersonen356 an der Gestaltung des „Geschichtsforums“ teil und stellten Beiträge im Rahmen des Gesamtprogramms zur Verfügung. Initiativen aus 16 europäischen Ländern waren beteiligt. Das „Geschichtsforum“ wurde zudem von ca. 6000 interessierten Bürgern besucht. Interessanterweise verstand sich das „Geschichtsforum“ als „Festival“, und nicht dezidiert politisch. Für die BpB hieß das, gerade nicht auf „Deutungsmacht“ zu beharren, sondern unterschiedliche Interpretationen des Umgangs mit 1989 zu vereinen.357 Die selbstgestellte Aufgabe der Bundeszentrale war es daher, für diese bunte Mischung des Repräsentierens von Geschichte einen Rahmen zu erschaffen, der möglichst zugänglich und neutral erscheint. 358 Dies entbehrte, gerade im Angesicht der kosmopolitischen Leistung des „Geschichtsforums“, nicht einer gewissen 352 Vgl. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung am 16.10.2009 in Frankfurt am Main. TOP 5: Auswertung des „Geschichtsforum 1989|2009“, S. 1 (unveröffentlicht) (Hervorhebung im Original). 353 Ebd., S. 1 (unveröffentlicht). 354 Vgl. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung am 22./23.1.2009 in Bonn TOP 10: Präsentation Geschichtsforum 1989|2009 und 5. Kulturpolitischer Bundeskongress, S. 1 (unveröffentlicht). 355 Vgl. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung am 16.10.2009 in Frankfurt am Main. TOP 5: Auswertung des „Geschichtsforum 1989|2009“, S. 1ff. (unveröffentlicht). 356 Alle Angaben entstammen der Evaluation der BpB selbst. Vgl. ebd. 357 Ebd. 358 Ebd.
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Ironie: Um so viele Instanzen, Sprecher, Besucher, Institutionen, Einrichtungen, Organisatoren – kurz: Akteure – wie möglich unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln, verzichtete die Bundeszentrale auf eine (in welchem Sinne auch immer) dezidiert politisierte Herangehensweise – und betrieb damit implizit Kosmopolitik, und zwar explizit auf Kosten der faktenorientierten Realpolitik. Dies mag auch ein Grund sein, weshalb das „Geschichtsforum“ keine hitzigen Debatten erlebte.359 Dabei war das „Geschichtsforum“, trotz der hohen Zahl an Beteiligten und Besuchern, für die Veranstalter kein Erfolg auf ganzer Linie, was an mehreren Faktoren lag. Zum einen wären da ausgerechnet die Instanzen des Vermittelns selbst: Die Resonanz der Medien war, quantitativ zumindest, nicht so hoch, wie von der BpB erhofft. Bemängelt wurde, dass das „Geschichtsforum“ in den meisten Berichten nicht als Gesamtveranstaltung wahrgenommen, sondern einzelne Programmpunkte dort prominent hervorgehoben wurden.360 Dies Erklärten sich die Initiatoren damit, dass die Gesamtveranstaltung eher das Format gängiger Berichterstattung sprengte und darüber hinaus inhaltlich wenig Nachrichtenwert aufwies.361 Dieser letzte Punkt führt zu einem dritten Akt der kosmopolitischen Institutionalisierung. Dieser Akt wendet sich vermehrt der inhaltlichen Seite zu: Nun, da alle Akteure auf dem Plan waren und miteinander handelten und in Kontakt traten, ging es darum, was genau sie dadurch auf welche Weise an Geschichte und zum Zweck ihrer Vermittlung produzierten. Akt 3 – Produktion. Wer sich im „Erinnerungsjahr 2009“ als Institution der Geschichtspolitik etablieren wollte, musste nicht nur so viele Akteure wie möglich mobilisieren und versammeln, sondern auch entsprechende Ergebnisse produzieren, die eine gewisse Form der Ökonomie erforderten, die das bloße Zählen der beteiligten Akteure und die Logistik der Versammlung ergänzte. Was nützte es, so viele Akteure, Programmpunkte, Diskussionsbeiträge, Thesen, Veranstaltungsorte, Schirmherren und Konzepte wie möglich zu versammeln, wenn das, was daraus entstehen sollte, in diesem, überspitzt gesagt, Durcheinander unterging? Interessanterweise verwendete die Evaluation des „Geschichtsforums“ durch die BpB den kybernetischen Begriff des „Nachrichtengehalts“362, der insgesamt im Falle der im „Geschichtsforum“ produzierten Ergebnisse und Ereignisse für „die Medien“ zu gering gewesen sei. Das Programm sei im Ganzen zu umfangreich gewesen, um eine produktive Ökonomie medialer Aufmerksamkeit zu gewährleisten. Die Kanäle,
359 Ebd., S. 3. 360 Ebd., S. 2f. 361 Ebd., S. 3. 362 Ebd.
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so könnte man in der Sprache der Informationstheorie technisch zugespitzt zusammenfassen, waren überlastet. Es ging den meisten Institutionen darum, eine angemessene Form für bestimmte Inhalte zu entwickeln, 1989 sozusagen in Formation zu bringen. Welche Formationen des politischen Gedächtnisses hatte das „Geschichtsforum“ also zu bieten? Es gab Vortragsreihen, Podiumsdiskussionen und Interviews 363 zu Themen wie „Aufbruch – Abbruch – Zusammenbruch: Was war und wem gehört 1989?“, „Den Kommunismus erzählen“, „Geteilte Erinnerung in einem vereinten Europa – Diktaturaufarbeitung zwischen Opferkonkurrenz und Vergangenheitspolitik“ oder „Nach dem Ende der Zukunft? Zur Geschichte und Gegenwart gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe – Ein Generationengespräch“, zu denen Politiker, Zeitzeugen, Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten geladen waren. Nahm man die Allgegenwart von Diskussionen, Kontroversen, sowie öffentlichen Debatten und Vorträgen in einem solchen Rahmen nicht als selbstverständlich hin, ließ sich deren Funktion für die Institutionalisierung von 1989 um 2009 deutlicher herausstellen. Denn in diesen Formaten wurden Sprecher delegiert, die für eine bestimmte Position, Perspektive oder Tatsache stehen sollten; titelgebende Rahmungen verdichteten bestenfalls den Raum, in dem der Diskurs sich entfalten konnte. Diese Debatten, Vorträge, Diskussionen und Gespräche versammelten Repräsentanten der Historisierung von 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“. Als solche repräsentierten sie ihre Positionen, die Friedliche Revolution, Begriffe und Interpretationen, übersetzten sie für einander und das interessierte Publikum. Sie versammelten Gewährsfiguren für ihre Ansichten, führten Argumente und Beweise an, untermauerten diese mit hard facts, um schließlich ihr Publikum, ihren Gegenüber oder auch sich selbst zu überzeugen.364 Durch den Raum der öffentlichen Debatte, die in dem institutionalisierten Raum des „Geschichtsforums“ stattfand, strömten kanalisiert, formatiert und komprimiert nochmals so gut wie alle Akteure, die zuvor mobilisiert und versammelt wurden. Das Ganze glich einem Prozess, den Bruno Latour „Drawing Things Together“365 nennt, und dessen Elemente an einem bestimmten Punkt „zusammengebunden“ (tying together) werden müssen, um überhaupt eine Form von Wissen erzeugen zu können.366 Latour verwendet dabei die doppelte Bedeutung von drawing im Sinne 363 Hauptpunkte des vielfältigen Programms sind als „Programmflyer Geschichtsforum 1989/2009“. Zzf-pdm.de (URL: http://goo.gl/b0uTf [19.7.2013]). Die folgenden Beispiele sind daraus entnommen. 364 Wie solche Kontroversen zu Mobilisierungen führen und die Akteure sowie Interessenten vermehren zeigt sehr anschaulich Latour 1987, S. 145ff. 365 Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Belliger/Krieger 2006, S. 259-307. 366 Vgl. das entsprechende Kapitel in Latour 1987, S. 233-237.
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sowohl von „Zeichnen/Visualisieren“ als auch „Ziehen/Zusammenziehen“. Diese Doppelmetapher verdeutlicht, wie an einem bestimmten Prozess (hier: Die Historisierung von 1989) beteiligte Akteure und Elemente auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht dargestellt werden können und dadurch einen Bezug zu einander aufbauen. Gleichzeitig werden sie dabei in eine Form übersetzt, die ästhetisch wahrnehmbar ist – sei es als Experte im Anzug auf dem Podium mit Namensschild und Mikrofon versehen und zu einem bestimmten Thema befragt, sei es als Theaterstück, Text, Film oder Kreisdiagramm. Gerade diese Ästhetisierung interessierte das „Geschichtsforum 2009“ besonders. Oft kam zum Ausdruck, dass viele Gefühle, Sachverhalte und Ideen bezüglich 1989 und seiner Repräsentation und Historisierung im „Erinnerungsjahr 2009“ am besten oder nur künstlerisch ausgedrückt und vermittelt werden könnten. 367 So gab es Musikveranstaltungen wie den politischen Liederabend von und mit Wolf Biermann oder ein deutsch-polnisches Jazzkonzert, auf denen nicht nur Musik, sondern auch symbolisch, metaphorisch oder historisch Themen zu 1989 verhandelt wurden. Es gab eine Freiluft-Plakatinstallation von 28 internationalen Grafikern „Unter den Linden“, auf der die titelgebenden „89 Plakate“ die Frage „Wie haben Begriffe wie Revolution, Freiheit, Solidarität, Fortschritt, Nation, Kapitalismus, Utopie, Kommunismus, Kalter Krieg oder Heimat ihre Bedeutungen im alten und neuen Europa verändert?“ ästhetisierend beantworteten. So traten die Plakate „in einen bildlichen Dialog über die Frage, wie viel von der europäischen Teilung heute noch sichtbar wird“.368 Eine Fotoausstellung im DHM, auf der „[n]amhafte Fotografen [...] mit herausragenden Arbeiten vertreten“ waren, zeigte wiederum „die sich überstürzenden Ereignisse und bewegten Momente vom Zusammenbruch der DDR“. 369 Ein extra für das „Geschichtsforum“ verfasstes „Theaterspektakel“370 mit dem Titel „Korrekturen! Die Geschichte ist nicht zu Ende“ führte das Maxim-GorkiTheater auf dem Spielplan: „In diesem ‚Jubiläumsjahr‘ werden unzählige Bücher 367 Neben dem zuvor beschriebenen Konzept, das Kunst mit Politik und Wissenschaft im Historisierungsprozess auf Augenhöhe sah, äußerte sich unter anderem Joachim Gauck auf diese Weise im Interview, vgl. hierzu die erste Sendung des „KongressTV“ auf der DVD zum „Geschichtsforum“: BpB u.a. (Hrsg.): Dokumentation. Geschichtsforum 1989|2009. Europa zwischen Teilung und Aufbruch. Geschichtsforum 1989|2009: 2009 [DVD]. 368 Vgl. Programmtext auf „Programmflyer Geschichtsforum 1989/2009“. Auf Zzf-pdm.de (URL: http://goo.gl/b0uTf [19.7.2013]). 369 Ebd. 370 Innerhalb der Aufführungsreihe „Korrekturen“ wurden exklusive Theaterproduktionen von klassischen und neuen Stücken von Camus über Uwe Johnson und Herta Müller bis Thomas Freyer aufgeführt, sodass es sich um eine Aufführungsreihe und kein einzelnes und isoliertes Stück handelte.
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über die deutsch-deutsche Geschichte erscheinen, die uns – mehr oder weniger plausibel – erklären, ‚wie’s wirklich war‘. Hat bei soviel Wahrheit die Dichtung einen Platz?“.371 In der Aufführung wollte das Theater der „Zentralperspektive politischer Historiographie […] den subjektiven und verstörenden Blick der Literatur an die Seite [stellen]“, ergänzt durch „das breite Spektrum der Genres und sich widersprechenden Bilder[n] als ‚Korrektur‘ zu schnell erklärter Wahrheiten“.372 Dadurch wollte das Maxim-Gorki-Theater das Versprechen des „Geschichtsforums“ einlösen, die Stimme der Ästhetisierung in einen gleichberechtigten Dialog mit Wissenschaft und Politik zu versetzen und letztere korrektiv zu ergänzen. Eine weitere schauspielerische Darbietung wurde unter dem Titel „1989 – Wies im Buche steht“ als „theatraler Staffellauf durch Berlin über das Jahr 1989 und die Geschichtsschreibung, unter Beteiligung von Berlinerinnen und Berlinern“ aufgeführt.373 Auch dieses Theaterprojekt wollte „die Vielfalt der deutsch-deutschen Historienproduktion aus Anlass der Jubiläen auf[nehmen], kommentiert sie und greift situativ in sie ein“ mit den Mitteln des Theaters – verließ jedoch die Bühne, um diese in den öffentlichen Raum der Stadt zu tragen. Dazu wurde, dem Sinnbild eines „Staffellaufs“ folgend, ein „Gedicht, bestehend aus über 80.000 Titeln von Büchern und Artikeln zu 1989, akustisch weiter getragen– gesungen und gesprochen von Berlinerinnen und Berlinern“, womit nicht nur die Bühne durch den alltäglichen städtischen Raum, sondern auch die Schauspieler durch „echte“ Berliner ersetzt wurden. Zudem wurden wissenschaftliche, journalistische und andere aktuelle Publikationen zu einem ästhetisierten Gedicht übersetzt. Durch diese Wendungen sollte die „Vielfalt der Titel und Thesen zu den Ereignissen um 1989 ununterbrochen, Tag und Nacht, durch Berlin“ wandern und sowohl die „beteiligten Bürger [...] zum Chor der Geschichtsschreibung, und Begriffe, Schlagwörter und Textfragmente [...] zu einem assoziativen Strom“, als auch „die Geschichtsproduktion und -deutung, wie sie etwa auch auf dem Geschichtsforum stattfindet, durch Verdichtung, Montage und Assoziation spielerisch kommentiert und auf ihre zentralen Motive und Bilder befragt“ werden. Der Gestus der Ergänzung, Kommentierung und gegebenenfalls auch Korrektur durch diese ästhetische Rückkoppelung des „Geschichtsforums“ glich dem der „Korrekturen“, unterschied sich davon jedoch durch seine Umgestaltung nicht nur der Historiographie und seiner Sprecher, Träger, Inhalte und Akteure, sondern auch des Raumes, in dem er aufgeführt wurde, der „von der Museumsinsel in die Mensa der Humboldt-Universität wandert, von dort ins Historische Museum und weiter auf die Spree“ zog. 374 371 Vgl. Programmtext auf „Programmflyer Geschichtsforum 1989/2009“ (URL: http:// goo.gl/b0uTf [19.7.2013]). 372 Ebd. 373 Ebd. 374 Ebd.
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In der antiken Polis kamen die Bürger in einem öffentlichen Forum375 zusammen, das als Agora376 bezeichnet wurde und eine Doppelfunktion ausübte: Es war zugleich ein Ort der politischen Debatte wie auch des öffentlichen Handels, ein Markt. Ein sogenannter „Projektmarkt“ stellte schließlich, ähnlich der Geschichtsmessen der „Stiftung Aufarbeitung“, Initiativen von „über 50 Partnerinstitutionen, Initiativen und Projekte aus Deutschland und Europa“ auf dem Gelände des „Geschichtsforums“ aus. Diese ursprünglich-politische Struktur der Öffentlichkeit, in der verschiedene Denk-, Les-, Sprech- und (im Falle der Geschichtspolitik) Historisierungsarten aufeinander trafen und in Austausch traten, war so auch im „Geschichtsforum“ präsent. Nach diesem strukturellen Vorbild der Agora waren auch die Geschichtsmessen der „Stiftung Aufarbeitung“ konzipiert. Diese waren nicht prinzipiell darauf angelegt, eine bestimmte inhaltliche Vermittlung neben dem Aspekt der Versammlung zu forcieren oder als wünschenswertes Nebenprodukt herauszustellen. Hier ging es in erster Linie darum, alle mobilisierten Projekte in einem Raum zu repräsentieren. Zunächst waren die Geschichtsmessen darauf angelegt, die Orte zu bündeln und vorzustellen, an denen im kommenden Jahr oder aktuell Geschichte produziert wurde. Daher gab es auch nur wenige Diskussionsrunden, Auf- und Vorführungen oder Installationen. Ziel war es, einen Informationsüberblick und Orientierung über laufende oder kommende Historisierungsprojekte zur DDR und 1989 zu schaffen – und nicht deren Historisierung selbst. Es gab beispielsweise 2009 lediglich ein Eröffnungpanel mit dem Titel „Was – Wie – Wozu Erinnern? Die DDR als Teil der öffentlichen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und ihren Kommunen“ und ein „Abschlusspodium zum Stand der Deutschen Einheit“, an denen, wie auch auf dem „Geschichtsforum“, Wissenschaftler, Zeitzeugen, Politiker und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen teilnahmen.377 Den Großteil des Programms nahmen die Präsentationen der einzelnen Projekte in Anspruch. Die Projekte, die 2009 in Suhl präsentiert wurden, zielten fast allesamt auf das „Erinnerungsjahr 2009“ als Rahmen ab bzw. wurden von diesem angestoßen – was auch im Sinne des Aufrufs von Eppelmann und Meckel war. Die logistische Größe der einzelnen Projekte variierte stark. So waren Großprojekte wie eben das „Ge375 Dies der antike römische Ausdruck für diesen politischen Ort der griechischen Agora, den das „Geschichtsforum“ selbst im Namen führte, vgl. Höcker, Christoph u.a.: Forum. In: Der Neue Pauly Band 4. Stuttgart: Metzler 1998. 376 Vgl. Maier, Christian: Die Anfänge des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. Zum Nachleben antiken (politischen) Denkens gerade in Europa vgl. Leppin, Hartmut: Das Erbe der Antike. München: Beck 2010. 377 Das Programm der Geschichtsmesse 2009 ist einzusehen in Bundesstiftung Aufarbeitung: Geschichtsmesse. 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Lesebuch 2009 (URL: http://goo.gl/aBfC6 [19.7.2013]).
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schichtsforum“, das Jubiläumsjahr „‚20 Jahre friedliche Revolution und Deutsche Einheit‘ – ein herausragendes Jubiläum für den Freistaat Sachsen“ und „Berlin 2009 – 20 Jahre Mauerfall. Überblick über das Themenjahr in der Deutschen Hauptstadt“ oder „Freistaat Thüringen: Das Jahr der Demokratie“ neben kleineren Projekten wie einer „Gesprächsrunde zum Schülerwissen über die DDR und das Zeitzeugenportal 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ oder die „Vorstellung des Films ‚Gesicht zur Wand‘ von Stefan Weinert“ vertreten.378 Inhaltlich unterschieden sich die Projekte kaum in ihren Intentionen und bedienten meist die generelle Diskurslinie zu 1989 um 2009. So hieß es programmatisch zum Jubiläumsjahr des Freistaates Sachsen: „Der Mut hunderttausender Menschen, die hier für Freiheit und Demokratie demonstrierten und die sich mit friedlichen Mitteln gegen die Unterdrückung auflehnten, führte zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Die Leistungen der Menschen vom Herbst ‘89 werden deshalb gerade im nächsten Jahr im Mittelpunkt der Aktivitäten der Sächsischen Staatsregierung und anderer Institutionen und Einrichtungen Sachsens stehen.“ 379 Damit wurde die Friedliche Revolution nicht nur geopolitisch verortet (nämlich in Sachsen, wie auch schon zuvor für den Spezialfall Leipzig als Ort geschildert wurde), sondern auch die Topoi des „Mutes“, der „friedlichen Mittel“ und „Demokratie und Freiheit“ als politische Ziele der Demonstranten von 1989 und der Geschichtspolitik von 2009 in einen Zusammenhang gebracht. Die sächsische Landesregierung stellte dann auch ihre Maßnahmen vor, die nicht nur die Erinnerung an 1989 politisch zu Gunsten der Friedlichen Revolution gestalten sollten, sondern auch das „Ziel, der wachsenden Verklärung der DDR-Zeit entgegenzuwirken“ verfolgten. So wurde ein „Förderprogramm ‚20 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit – Erinnerung und Gedenken’“ eingerichtet „mit dem Ziel, möglichst viele sächsische Projekte und Vorhaben initiieren und unterstützen zu können“.380 Durch die Investition von insgesamt 1,1 Millionen Euro sollten dabei vorrangig „die Bürgerinnen und Bürger gewürdigt werden, die aus ihrer Opposition gegenüber dem Unrechtsregime der DDR den friedlichen Wechsel von einer Diktatur zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft durch ihren persönlichen Einsatz vorbereiten und durchzuführen halfen“.381 Daneben gab es eine „Wanderausstellung ‚20 Jahre friedliche Revolution in Sachsen‘“ mit dem ebenfalls auf Würdigung der Bürger abgestellten Motto „Der friedlichen Revolution ein Gesicht geben“, eine Ringvorlesung mit dem Thema „Wie schmeckte die DDR? Wege zu einer Kultur des Erinnerns zwischen persönlichem Erleben und wissenschaftlicher Aufarbeitung“, deren formuliertes Ziel es war 378 Vgl. ebd. 379 Ebd., S. 13. 380 Ebd. 381 Ebd.
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„zu zeigen, wie die DDR wirklich war und wie sie erlebt wurde“ und die Einrichtung einer Expertenkommission, die im Juli 2008 ihre Arbeit aufnahm. Deren Aufgabe war es, der „Staatsregierung bei den Vorbereitungen für die Projekte im Jahr 2009 und 2010 als Berater und Partner zur Seite zu stehen und als Multiplikator das Bestreben, die Erinnerung an die friedliche Revolution anzuregen und wach zu halten, weiter zu tragen.“382 Zudem hatte das Land Sachsen ein eigenes Logo 383 entwerfen lassen, das „[a]lle sächsischen Maßnahmen […] begleitet“ und somit auch grafisch zusammenhielt. Auf dem Logo waren eine schwarz-rot-gold eingefärbte „20“ zu sehen, die sich aus anthropomorphen Silhouetten zusammensetzte, welche Kerzen, Transparente, Schilder und andere Zeichen der Friedlichen Revolution mit sich führten. Hier wurden das Jubiläum (als Zahl), die Geschichte (in Form der Menschen und ihrer Demonstrations-Insignien) und die Bundesrepublik (durch die Farben der Landesflagge) zu einer grafischen Einheit verbunden, was einmal mehr symbolisierte, dass im „Erinnerungsjahr 2009“ all diese (geschichts)politischen Elemente zusammengehörten. Eher ästhetisch orientierte Projekte wurden von der Kulturstiftung des Bundes vorgestellt, „um den Beitrag von Künstlern und Kulturschaffenden in ihrer Rolle als Chronisten, Kommentatoren und Kritiker der deutsch-deutschen Zeitgeschichte und der gesamtdeutschen Verhältnisse“ zu beleuchten – ganz ähnlich der Idee des „Geschichtsforums“. Auch die Kulturstiftung nahm sich vor, „mit öffentlichkeitswirksamen Formaten ein möglichst breites Publikum zu erreichen und möglichst viele gesellschaftliche Gruppen und Disziplinen zu beteiligen“.384 In diesem Rahmen wurde unter anderem eine Filminstallation des Regisseurs Thomas Heise gezeigt mit dem Titel „‚Material/Spuren‘ Ein Beitrag zur Archäologie der realen Existenz“, die „Fragmente aus dem wirklichen Leben, Menschen auf der Straße, bei Parteiveranstaltungen, im Gefängnis, im Parlament; Alltagsbeobachtungen, die im Widerspruch standen zum offiziellen Selbstbild der DDR“ und andere montierte ArchivReste zeigte, welche von Heise zu einem Gesamtkunstwerk zusammengefügt wurden.385 Im Bereich des Theaters förderte die Kulturstiftung ein „Zweijähriges Theaterprojekt der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin“ mit dem Motto „60 Jahre Deutschland. Annäherung an eine unbehagliche Identität“, das „die Frage nach unserer kollektiven Erinnerung und den identitätsstiftenden Ereignissen der deutschen
382 Ebd., S. 14. 383 Das Logo befand sich auf der Homepage der Staatskanzlei Sachsen unter der URL: http://www.sab.sachsen.de/de/p_is/download_is_2386.jsp [16.8.2013]. 384 Stiftung Aufarbeitung: Geschichtsmesse. 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Lesebuch 2009 (URL: http://goo.gl/aBfC6 [19.7.2013]), S. 16. 385 Ebd.
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Geschichte“ in Form von zwanzigminütigen „Minidramen“ aufwarf.386 Dazu wurde ein „Komödienwettbewerb“ unter Dramatikern veranstaltet, die mit ihren Stücken gesellschaftspolitische Kommentare zur Nachkriegsgeschichte sowie Gegenwart Deutschlands und Europas abgeben sollten. Auf den Geschichtsmessen waren Schul- und Bildungsprojekte in einer eigenen Sektion vertreten. Diese verbanden geschichtspolitisch die Institutionalisierung von 1989 mit der Institutionalisierung von Demokratie- und Bürgerbewusstsein – und nahmen damit wiederum traditionelle Diskurslinien der Geschichtspolitik zu 1989 auf. Eines der größeren Projekte, das sich in Suhl vorstellte, war das „Jahr der Demokratie“ in Thüringen. In dessen Programm wurde erklärt, dass „auch wegen dreier bedeutender Jubiläen der Geschichte der Demokratie in Deutschland vom Thüringer Kultusministerium zum ‚Jahr der Demokratie 2009 an Thüringer Schulen‘ ausgerufen“ wurde.387 Weiter hieß es: „Junge Menschen wollen Verantwortung übernehmen und das gesellschaftliche Leben mitgestalten. Dies ist nur in einer demokratischen Gesellschaft möglich und diese ist nicht selbstverständlich. Zwei Diktaturen im 20. Jahrhundert in Deutschland zeigen, wie verletzlich Demokratie sein kann. Man muss sich täglich um sie bemühen. Gerade im Jahr 2009 machen drei große Jubiläen der Geschichte der Demokratie in besonderer Weise darauf aufmerksam, dass der Blick in die Zukunft auch immer den Blick auf die Geschichte benötigt.“388
Hier versammelten sich die bekannten Topoi: Die fragile Demokratie, die Engagement, Mut und tägliche Anstrengung braucht um verwirklicht und stabil gehalten zu werden; der „Blick auf die Geschichte“, der den „Blick in die Zukunft“ ergänzte – und so den Ort der Gegenwart als beiden Richtungen zugewandt und sich des Risikos seiner gegenwärtigen Projekte (Demokratie, Europa, etc.) bewusst wurde. Doch auch die Verknüpfung des „Erinnerungsjahres 2009“ mit dem „Superwahljahr“ war ein explizites geschichtspolitisches Anliegen der Thüringer Initiatoren. So hieß es bezeichnenderweise in dem Programmabschnitt zum Jubiläum von 1989: 386 Ebd., S. 17. 387 Das „auch“ bezog sich darauf, dass die Ergebnisse des „Thüringen-Monitors“, einer Studie zur politischen Lage unter Thüringern, die von der FSU Jena und dem Thüringer Landtag durchgeführt wurde, zu dem Ergebnis kam, dass „Demokratieerziehung und Auseinandersetzung mit Diktaturen wichtige Aufgabenfelder von Schule sind und bleiben“ und sich daher als besonders vermittelnswert erwiesen. Vgl. ebd., S. 45. Die drei Jubiläen waren für die Veranstalter „90 Jahre Weimarer Republik – 1919“, „60 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – 1949“ und „20 Jahre friedliche Revolution – 1989“, wobei letzteres interessanterweise im Zeichen der Demokratiegeschichte den Mauerfall ausklammerte. 388 Ebd.
268 | 1989 UND WIR „Mit den Wahlen zum Europaparlament, zum Bundestag, zum Thüringer Landtag und den Kommunalwahlen in Thüringen ist 2009 auch durch bedeutsame und zukunftsweisende demokratische Entscheidungen geprägt.Wer als junger Mensch erstmalig von seinem Wahlrecht Gebrauch macht, der muss in der Schulzeit Grundkenntnisse zur Demokratie und Demokratieerfahrungen erworben haben. Das Vorhaben ‚Jahr der Demokratie 2009‘ zielt auf die Vermittlung und Vertiefung von Wissen zur Geschichte unserer Demokratie und auf die Auseinandersetzung mit zwei Diktaturen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ebenso wichtig ist aber auch das Erleben und Gestalten von Demokratie, das eigenverantwortliche demokratische Handeln, das seinen Raum auch in der Schule hat.“ 389
Der Raum der Schule, der Zeitraum bis 1989, der Raum Europa und der Demokratie überschnitten sich in dieser Argumentation. Geschichtspolitik, Europapolitik, Wahlkampf und Geschichte wurden einmal mehr verknüpft. Ganz in der Tradition des aufklärerischen Bildungsbegriffs sollten am Ende dieses Prozesses souveräne Subjekte stehen. So zielte das „Teilvorhaben Unterricht“ im Rahmen des „Jahr der Demokratie“ darauf, „dem Individuum zu ermöglichen, soziale Prozesse als handelndes Subjekt bewusst, zielstrebig und kompetent mitzugestalten und eigenverantwortlich politisch zu handeln“.390 Im Teilvorhaben „Schulleben/Schulkultur“ sollte der „Schüler als Subjekt des Lernens und Gestaltens und nicht als Objekt des Lehrens“ gesehen werden, um daran anschließend den Schülersubjekten „reale Mitwirkungsmöglichkeiten aufzuzeigen, Mitwirkung zu ermöglichen“.391 In dem Teilvorhaben „Wettbewerb“ hieß es, ob absichtlich oder nicht, mehr als symbolisch: „Schreibt mit am ‚Buch der Geschichte der Demokratie in Thüringen‘ – einem Buch von Schülern für Schüler!“.392 In diesem Wettbewerb sollten Schüler „die Spuren von Personen und Ereignissen [...], die für die Entwicklung der Demokratie Bedeutendes bewirkt haben“ verfolgen. Ziel war es, Beiträge und Einträge zu verfassen, die schließlich zu einem Buch über die Demokratiegeschichte in Thüringen zusammengefasst und für den Schulunterricht im Land verwendet werden konnten. So sollten Schüler zu Bürgern, Demokraten, Historikern und Historiographen, Subjekten und (Ver-)Mittlern werden – im Zeichen von 1989. So entstand auf den Geschichtsmessen in Suhl ein weitgefächertes AkteurNetzwerk, das nicht nur Formen, sondern auch damit verbundene Inhalte für die Geschichtspolitik zu 1989 um 2009 zu produzieren, vermitteln und verbreiten suchte – ohne dezidiert kontrovers angelegt zu sein. Wenn also um 2009 von Institutionen der Geschichtspolitik gesprochen werden konnte, dann vor allem in diesem Sinne: Institutionen waren (und sind) komplexe Akteur-Netzwerke, die kosmopoli389 Ebd., S. 46. 390 Ebd. 391 Ebd., S. 46f. 392 Ebd., S. 47.
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tisch agierten und an Extension interessiert waren. Es ging darum, Ressourcen zu mobilisieren und andere dazu zu bringen, ihre Ressourcen dem Netzwerk beizusteuern, das um 2009 noch entstehen musste. Das führt wiederum zum letzten Akt der Institutionalisierung von 1989 um 2009 und der Frage, ob und wie solche Kosmopolitiken an die Grenzen des Anderen stießen – und wie sie damit umgehen konnten. Es geht um die Frage der (A)symmetrie. Akt 4 – (A)symmetrien. Gab es um 2009 tatsächlich keine Kontroversen, keine Auseinandersetzungen, keine Kämpfe um Deutungs- und sonstige Mächte zur Friedlichen Revolution? Herrschte nur geringe Konkurrenz um Orte, Interpretationen, Gelder oder Publikumsgunst? Die bisherige Analyse könnte dies nahegelegt haben. Allerdings wäre eine solche Suggestion schlicht naiv. Dennoch ging es auch bei Kontroversen nur vordergründig darum, Kritik zu üben, im Wortsinn also Abgrenzungen zu schaffen, Grenzen und Kriterien zu verteidigen oder aufrechtzuerhalten. Praktisch und empirisch fand eine solche Abgrenzung kaum statt – im Gegenteil. Es handelte sich bei den vermeintlichen Grenzziehungen und geschaffenen Inkommensurabilitäten vielmehr um Relationen, Kommunikationen und Verbindungen. Kurz gesagt: Wenn auf den ersten Blick die Generierung von Asymmetrien als heuristisch primäre Praxis von (Geschichts-)Politik gelten könnte, war es realiter jedoch die permanente und praktische Herstellung von Symmetrien. Man stelle sich einfach eine der vielen Diskussionsrunden vor, die um 2009 zur Geschichtspolitik von 1989 auf den Plan traten. Jeder Organisator einer solchen Diskussion wäre in erster Linie darauf bedacht, möglichst kontroverse Positionen und deren Vertreter einzuladen und diese gleichzeitig aus möglichst vielen Bereichen der Geschichtspolitik zu rekrutieren. Nichts ist für den Initiator einer Diskussion schlimmer als ein schweigendes Podium. Wenn aber die Positionen, was in dieser Versuchsanordnung einmal angenommen wird, derart inkommensurabel zueinander wären, dass sie weder miteinander Reden noch in irgendeiner anderen Form gemeinsame Themen, gemeinsame Sprachen oder andere Bezugspraktiken (kurz: ein gemeinsames Matter of Concern) entwickeln könnten, wäre Schweigen die Folge. Die Schlussfolgerung aus diesem Gedankenspiel lautet, dass auch die kontroversesten Positionen in ihrem Gegeneinander ein Miteinander finden müssen, damit beide als Akteure im gleichen Netzwerk auftreten und viele andere Akteure als Partner einer Allianz ihrer Position mobilisieren können – von Statistiken zur Lage der historischen Bildung über Filme wie „Das Leben der Anderen“ bis hin zu klatschendem Publikum und wohlgesonnener Tagespresse.393
393 Dass Kontroversen grundsätzlich diese symmetrische Haltung innewohnt, betont Bruno Latour immer wieder. Ein Beispiel einer solch symmetrischen Kontroverse innerhalb der Wissenschaftsgeschichte bietet Latour, Bruno: Pasteur und Pouchet. Die Heteroge-
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Das ließ sich auch auf ein Kolloquium beziehen, das aus einer politisch vermeintlich ganz anderen politischen Richtung stammte als beispielsweise das „Geschichtsforum“ der BpB. Im Oktober 2008 veranstaltete die Rosa-LuxemburgStiftung eine Diskussionsrunde mit dem Titel „Politikum Geschichte – Die Rolle der Geschichte in den öffentlichen politischen Diskussionen“. 394 Im Vorwort der zugehörigen Publikation bezogen sich die Herausgeber Klaus Kinner und Helmut Meier auf den Sozialisten Karl Kautsky, wenn sie vor den „Gefahren der Parteilichkeit“ warnten, die jede Historisierung ideologisch ein- und verfärben könne. Aus diesem Grund „lohnt es immer wieder“, so die Herausgeber, „darüber nachzudenken, wie bei der Suche nach der historischen Wahrheit dessen gefahren begegnet werden kann“ – und waren im Zuge dessen der Meinung, „dass sich dem tatsächlichen Geschehen nur in einem breiten öffentlichen Diskurs beikommen lässt.“ 395 Ganz im Sinne der kybernetischen Feedbacktheorie seien dabei „Korrektur und Selbstkorrektur auf der Basis neuer Erkenntnisse [...] unerlässliche Voraussetzungen für erfolgreiche Durchdringung historischer Prozesse und Ereignisse“. 396 Dieser (selbst)reflektierte Blick auf die Geschichtspolitik im Allgemeinen und zur DDR im Speziellen sei gerade am „Vorabend eines Jubiläumsjahres […] in hohem hohen Maße gefordert“. So wurden Thema und Datum des Kolloquiums von den Veranstaltern „nicht von Ungefähr ausgewählt“. Ihr größter Wunsch sei es, „dass der 20. Jahrestag der Ereignisse von 1989 in der DDR nicht zum Tummelplatz bloßer Sensationshascherei und politischer Abrechnung […] gemacht würde, sondern zum Anlass für Besinnung über die echte Dynamik und Dramatik von Geschichte“.397 Die Rosa-Luxemburg-Stiftung stand und steht nicht selten in Verdacht, Geschichtsfälschung zu betreiben und Auffangbecken für ehemalige SED- und MfSKader zu sein. Das wird damit begründet, dass sie strukturell das Erbe der SED und des Sozialismus hüte.398 Auch der Gestus der „Selbstkritik“ entstammte grundsätzlich dem sozialistischen Rhetorikrepertoire399 – sodass die Besänftigungsgesten, die von Kinner und Meier in Richtung Geschichtspolitik ausgingen, schnell als rhetorische Kniffe vor dem Hintergrund alten sozialistischen Gedankenguts abgetan wernese der Wissenschaftsgeschichte. In: Serres, Michel (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 748-789. 394 Die Diskussionsbeiträge sind 2009 in einem Sammelband erschienen: Kinner, Klaus/ Meier, Helmut (Hg.): Politikum Geschichte. Die Rolle der Geschichte in öffentlichen Diskussionen. Berlin: Trafo 2009. 395 Kinner, Klaus/Meier, Helmut: Vorwort. In: Dies. 2009, S. 7f. 396 Kinner, Klaus/Meier, Helmut: Vorwort. In: Dies. 2009, S. 8. 397 Ebd. 398 Vgl. Müller/Hartmann 2009, S. 268ff. 399 Vgl. Florath, Bernd: Die Partei. In: Sabrow 2009, S. 86ff.
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den könnten. Das war auch den Veranstaltern klar, die extra betonten, „dass in den Beiträgen Auffassungen vertreten werden, die durchaus strittig sind“ und in erster Linie „die Auffassung der Autoren“ wiedergaben. Dennoch hofften sie, „dass der vorliegende Band [zum Kolloquium] als Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog über die Geschichte verstanden wird“ und „Anregungen für die weitere Arbeit“ an der Geschichtspolitik liefern könnte.400 Was das Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigen konnte, war eine symmetrische Abarbeitung am Gegner, der, in immer anderer Gestalt, die Argumentationen der Beiträge bestimmte und ohne den auch das nach außen getragene Anliegen des Kolloquiums, eine öffentliche Diskussion zu entfachen und gehört zu werden, nicht stattfinden konnte. Das Kolloquium teilte sich mit der Geschichte von 1989 nicht zuletzt das gleiche Matter of Concern wie alle anderen, die im „Erinnerungsjahr“ dazu Geschichtspolitik betrieben. So hieß es zum Beispiel in Stefan Bolligers Beitrag: „Die ganze Lehre und die Praxis einer ausbeutungs- und profitfreien Gesellschaft wurden [nach 1989/91] als falsch, zwangsläufig totalitär, un- und antifreiheitlich, als verbrecherisch etikettiert.“ Bolliger ging es darum, die Krise der Linken seit 1989 und dem Scheitern des Staatssozialismus zu analysieren und eine zukunftsfähige Position für eine kommende Linke zu erarbeiten – die „Krise als Chance“ zu nutzen.401 Um diese Chance zu erarbeiten und dementsprechende Perspektiven und Ressourcen zu mobilisieren, mussten zunächst die Krisensymptome analysiert werden. Laut Bolliger blieb darüber hinaus die Frage, „was aus der Geschichte des Realsozialismus gelernt werden soll und kann“, wenn es darum ginge, eine politische Theorie und Historiographie aus Sicht der Linken zu entwickeln, die stabil und produktiv sei. Zur Geschichte und ihren Lehren gehörten allerdings auch „Intellektuelle und intellektuelle[r] Vorlauf“, der sich in der „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ 402 etablieren könnte. „Die realsozialistische Praxis erwies sich als überzogen, übertrieben, gescheitert“, diagnostizierte Bolliger.403 Was bedeutete 1989 in diesem Fall für eine zukünftige Linke? Seine Antwort sah vor, dass „Alternativen in der finalen Krisen [sic] von 1989“ gesucht werden, um das „Weiterentwickeln von Positionen bei der Wahrung der marxistischen Grundlagen“ zu ermöglichen. Letztere müsse „die Diskussionen aufgreifen, die bislang verdrängt wurde [sic]“, um Erfolg haben zu können.404
400 Kinner, Klaus/Meier, Helmut: Vorwort. In: Dies. 2009, S. 8. 401 Bolliger, Stefan: Flucht aus der Geschichte? Zu verlorenen Gewissheiten und notwendigen Koordinatensystemen für Geschichte und Politik. In: Kinner/Meier 2009, S. 9f. 402 Ebd., S. 13f. 403 Ebd., S. 16. 404 Ebd., S. 18ff.
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Hier deutete sich an, dass die Geschichte und Erinnerung von 1989 auch für die Zukunft der Linken als konstitutiv gedacht wurde. Gleiches galt sowohl für den Umgang mit dieser Geschichte, die Haltung des Gegners, auf die eine Position hin entwickelt werden musste, als auch die Haltung der eigenen Reihen, die ihre Position zur Geschichte – und damit Zukunft – der Linken überdenken müsste. Bolliger mobilisierte damit Instanzen, die fast haargenau denen ähnelten, die um 2009 von anderen Institutionen der Geschichtspolitik angerufen wurden – mit dem gleichen Ziel: Eine zukunftsfähige Vergemeinschaftung und Politik zu ermöglichen (wenngleich unter parteilichen Vorzeichen). Ähnlich verfuhr Helmut Meier, der sich der Frage „Pluralismus im Umgang mit der Geschichte – Anspruch und/oder Wirklichkeit?“ widmete. Der Begriff „Pluralismus“ wurde von Meier als bürgerliche „Kampfparole“ ausgemacht, die „[a]n der Macht befindliche Interessengruppen“ benutzten, um „gegen sie gerichtete Bestrebungen als gesellschaftsfeindlich hinzustellen, um ihre Machtstellung zu rechtfertigen“.405 Pluralismus in diesem Sinne erzeuge Konkurrenz und Hierarchisierung, verkenne aber dessen eigentliche Dynamik: die mit Pluralismus verbundenen „Differenzierungsprozesse“ und die „daraus erwachsende Vielfalt der Interessenlagen“.406 An diesem Punkt, so Meier, solle die zukünftige Linke einhaken und ansetzen. Dies gelte auch für die Geschichtspolitik zu 1989: „Eingedenk der Erfahrungen, die in dieser Hinsicht in der DDR gemacht wurden, gilt es, gegen alle Tendenzen Front zu machen, das pluralistische Diskussionsspektrum auf lediglich systemkonforme Konzepte einzuengen. […] Gerade die Erinnerung an die gesellschaftlichen Umwälzungen 1989/90 in der DDR darf nicht einseitig als Absage an eine andere als einzig die bürgerliche Ordnung hingestellt bleiben. […] Es darf nicht unterschlagen werden, dass die Ereignisse von 1989/90 ein Beispiel dafür sind, dass Völker herrschenden politischen Kräften nicht nur die Gefolgschaft aufkündigen, sondern Ihnen [sic] die Macht entziehen können. Das Jahr 2009 und damit der zwanzigste Jahrestag der gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR ist also besonderer Anlass, eine komplexe und plurale Sicht auf diese Ereignisse einzufordern. Die Auseinandersetzung mit der DDR und ihrer Geschichte ist gewissermaßen ein Testfall, wie ernst man es in unserer Gesellschaft mit dem Pluralismus meint.“407
Bei Meier stand, wie bei so vielen Programmatiken um 2009, im Angesicht der Geschichtspolitik zu 1989 die Gesellschaft als solche auf dem Spiel. Gelinge laut Meier keine angemessene Historisierung der DDR, die „ein sachlich-kritisches Bild entwickelt“ und „alle wissenschaftlich begründeten und verwertbaren Aussagen zur 405 Meier, Helmut: Pluralismus im Umgang mit der Geschichte – Anspruch und/oder Wirklichkeit? In: Kinner/Meier 2009, S. 23. 406 Ebd., S. 24. 407 Ebd., S. 26.
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DDR-Geschichte zur Kenntnis zu nehmen und sie auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen [weiß], egal, wer sie formuliert hat und welche Zwecke damit verfolgt werden“, so verliere „die lauthals proklamierte Zusammengehörigkeit der Deutschen in Ost und West jeden Sinn“.408 Das war drastisch formuliert, reihte sich allerdings insofern nahtlos in den Diskurs zu 1989 um 2009 ein, als dass hier erneut Historisierung und Vergemeinschaftung als riskante und sich stabilisierende Praktiken verstanden wurden.409 Wenn 2009 zum „Testfall“ für die Gesellschaft der Gegenwart wurde, die sich an ihrem Umgang mit 1989 messen lassen musste, so wurde Geschichtspolitik erneut Tagespolitik. Geschichtspolitische Vergemeinschaftung im Sinne Meiers gelinge vor allem dann, wenn sie versucht, die „Realität aller ihrer Bürger in Übereinstimmung zu bringen“410 mit dem Bild, das sie sich von ihrer Geschichte gemacht haben und machen werden. Damit mobilisierte Meier zwar andere Instanzen als Bolliger, allerdings mit der gleichen Frage: Wie kann die Linke eine gute und stabile Position in der Geschichtspolitik zu 1989 entwickeln? Was muss diese Geschichtspolitik kennzeichnen, welche Akteure und Elemente müssen eingebunden werden? Dass dabei auch immer die „gegnerische“, als konträr oder gar „falsch“ empfundene Position des „Anderen“ implizit oder explizit mitgeführt wurde, um (nicht nur, aber auch) an ihr die eigene Position zu entwickeln, zu schärfen und zu konturieren, sprach dafür, dass auch in der Geschichtspolitik um 2009, trotz eines dezidiert kritischen Impetus, eher Verflechtung als Abgrenzung411 an der Tagesordnung war. Das Beispiel des Kolloquiums der Rosa-Luxemburg-Stiftung steht an dieser Stelle für eine vermeintlich im Mainstream der Geschichtspolitik nicht etablierte Instituti-
408 Ebd., S. 28. Ähnliche Argumente fanden sich auch in der Anfang 2009 geführten „Unrechtstaats“-Debatte, s. das Kapitel „Die ‚Unrechtstaatsdebatte‘ als Geschichtspolitikum“. 409 Unter anderem wurde die Wichtigkeit des Pluralismus bei der Historisierung von 1989 auch im Programmheft zum „Geschichtsforum“ von den Veranstaltern angemahnt, vgl. Vorwort. In: Bispinck, Henrik/Stösser, Monika/Tremel, Luise: Programmheft Geschichtsforum 1989|2009. Berlin: Agit-Druck GmbH 2009, S. 6. Meiers Argumente sind zudem in ähnlicher Form auch in der „Unrechtstaatsdebatte“ aufgetaucht, besonders bei Gesine Schwan, vgl. das Kapitel „Die Unrechtstaatsdebatte als Geschichtspolitikum. 410 Meier in: Kinner/Meier 2009, S. 30. 411 Dies kennzeichnet die andere Seite der DDR-Forschung und Geschichtspolitik, die Frank Möller und Ulrich Mählert in Möller/Mählert 2008 ausmachen, in der nicht nur Forschungsgegenstände wie „die DDR“, sondern auch Propositionen über deren Politik entwickelt werden.
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on412, die versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Allerdings war festzustellen, dass sie sich weitestgehend der gleichen Motive und der gleichen (rhetorischen) Strategien bediente wie viele andere Institutionen auch, die vordergründig mehr Anteil am Mainstream hatten. Sicherlich hatte das Kolloquium nicht den Umfang des „Geschichtsforums“ und auch nicht den Skopus der „Stiftung Aufarbeitung“. Qualitativ waren alle drei Veranstaltungen jedoch ähnlich gelagert. Die Verflechtung mit dem „Anderen“, die eine Kontroverse erst ermöglichte, war dabei essenzieller Bestandteil zur Herausbildung des „Eigenen“. War man darauf aus, eine stabile Position (also im Sinne Berger/Luckmanns: eine Institution) zu produzieren, so ging der Weg nicht über die Ausrufung des „Kriegszustandes“, an deren Ende jemandem die „Deutungsmacht“ über 1989 in die Hände fiel. Krieg, sei er auch nur metaphorisch, produziert primär destruktives und wenig konstruktives. Michel Serres abwandelnd, ließe sich über eine derart kriegerisch verstandene Geschichtspolitik sagen, „sie wäre überhaupt nicht, wäre mangels Kombattanten schon am Anbeginn der Zeiten abgeschlossen gewesen“413, da keine Position mehr übrig geblieben wäre, die etwas sagen könnte und wollte. Eine solche Politik wäre statisch, unbeweglich und unproduktiv. So ist denn auch vor allem kosmopolitisch zu erklären, warum das Vorwort zum Programm des „Geschichtsforums“ 2009 von Gewährsleuten für bisweilen divergierende Positionen gemeinsam unterzeichnet wurde, die sich zuvor in der Diskussion zum Expertenvotum der „Sabrow-Kommission“ teils noch als konträr bis inkommensurabel verstanden haben: So unterzeichneten unter anderem der Präsident der BpB (Thomas Krüger), die Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes (Hortensia Völckers), der Vorstandsvorsitzende der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Reiner Eppelmann), der Direktor des IfZ München (Horst Möller), der Direktor des ZZF Potsdam (Martin Sabrow), der Vorsitzende von „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ (Joachim Gauck) und der Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums (Hans Ottomeyer) ein gemeinsames Vorwort mit folgendem letzten Abschnitt, der das Dokument nahezu wie einen Friedensvertrag erscheinen ließ: „In diesem Jubiläumsjahr, das sich zugleich immer drastischer als Jahr der ökonomischen Krise erweist, ist es an der Zeit, gemeinsam nachzudenken und zu diskutieren: über die Vergangenheit ebenso wie über politische und gesellschaftliche Perspektiven und Visionen für die Zukunft. Sich an diesen Debatten zu beteiligen, zuzuhören und mitzugestalten, dazu laden wir Sie, liebe Gäste des Geschichtsforums, herzlich ein. Wir müssen reden.“414 412 Viele auch hier zitierte Aussagen deuteten darauf hin, dass die Redner ihre Positionen selbst als Außenseiter im Diskurs zur Geschichte der DDR und von 1989 sahen. 413 Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 210. 414 Vorwort. In: Bispinck/Stösser,/Tremel 2009, S. 7.
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Diese Sätze, denen sich mit ihrer Unterschrift zumindest offiziell auch alle Unterzeichner verschrieben haben, legten in aller Deutlichkeit offen, wie kosmopolitisch die Geschichtspolitik um 2009 angelegt war. Dieses „gemeinsam“ im Angesicht des Krisenhaften stand im Zentrum der Überlegungen und Handlungen – und erwies sich auch empirisch als mehr als bloße Rhetorik. Dieses „gemeinsam“, die „Kommende Gemeinschaft“, erwachsen aus der Geschichtspolitik zu 1989, fiel in eins mit dem immer stärker betonten „friedlich“ der Friedlichen Revolution. Die Geschichtspolitik um 2009 war keine Politik des Kampfes (und wenn dann nur vordergründig, nicht praktisch). Umso mehr wäre es analytisch geboten, jede Kampfmetaphorik aus der Analyse von Geschichtspolitik herauszuhalten. Denn auch für die Geschichtspolitik gilt, was Michel Serres generell konstatiert: „Es gibt Frieden. Ohne ihn wären wir gar nicht da, um das zu sagen.“415
D IE F RIEDLICHE R EVOLUTION UND W IR – D IE AKTUALITÄT VON 1989 FÜR DIE L EBENSWELT 2009 Bildungs- und Didaktiktheorien kennen den Leitsatz, dass das lernende Subjekt dort „abgeholt“ werden soll, „wo es ist“.416 Dieser Leitsatz besagt schlicht, dass sich die Vermittlung von Wissen nach der Vorbildung des Lernsubjekts zu richten hat, wenn sie effektiv umgesetzt werden soll. Die Frage, die sich den Lehrern, Dozenten, Autoren, Kuratoren und anderen Didakten im Anschluss daran jedoch zwangsläufig stellt, lautet: „Wo genau sollen wir die Leute abholen?“ Eine Antwort darauf liefert die Wissenssoziologie und deren Theorie der Lebens- oder Alltagswelt. Diese wurde wiederum maßgeblich von Peter L. Berger und Thomas Luckmann in „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ geprägt 417: „Der Mann auf der Straße bewohnt eine Welt, die – wenngleich in unterschiedlichem Maße – ‚wirklich‘ für
415 Serres 1987, S. 210. 416 Ein Klassiker dieser Position ist Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht? Berlin: Cornelsen 2004. 417 Eine Einflussreiche Theorie der Lebenswelt gab es vor Berger/Luckmann vor allem von Schütz, Alfred: Theorie der Lebenswelt. 2 Bände. Konstanz: UKV 2003. Diese Positionen wurden in der Geschichte der Epistemologie und der Soziologie des Wissens immer wieder aktualisiert (Berger/Luckmann selbst sehen die Frage nach dem „Wesen der Wirklichkeit“ in ihrer Soziologie als „Erbe philosophischer Fragestellungen […], an denen die philosophische Zunft das Interesse verloren hat“, vgl. Berger/Luckmann 2004, S. 201). Einen Überblick über Lebenswelttheorien bietet Knoblauch, Hubert: Wissenssoziologie. Konstanz: UKV 2005.
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ihn ist, und er ‚weiß‘ – in unterschiedlich bemessener Zuversicht –, daß sie diese oder jene Eigenschaften hat.“418 Wo Berger und Luckmann Individuum, Wissen, soziale Wirklichkeit oder Lebenswelt analytisch miteinander verschränken, beginnt der Prozess des Konstruierens, der in ihrer Theorie vorrangig durch Sprache und Symbole, Institutionen und Sozialisationen angetrieben wird. Dabei entstehe auch eine gewisse Differenz zwischen den einzelnen sozialen Lebenswelten, die anders Wissen, Sprechen, Handeln und andere Sozialisationen erleben oder Institutionen schaffen. So existieren verschiedene Lebenswelten, die „jedermanns Gedanken und Taten ihr Vorhandensein und ihren Bestand“ verdanken und sich intersubjektiv419 vermitteln. In einem gewissen Sinne stellte sich auch um 2009 die didaktische Frage, wie etwas, das Geschichte ist, wieder an die Alltags- und Lebenswelt Anschluss finden kann. Nahezu alle an der Vermittlung der Geschichte von 1989 beteiligten menschlichen Akteure mussten sich darüber Gedanken machen, wie 1989 und 2009 miteinander verbunden und verschränkt werden konnten. Der größte Misserfolg wäre gewesen, dass am Ende die Frage vom „Mann auf der Straße“ gestellt wird: „Aber was hat das mit mir zu tun?“. Eine Geschichtspolitik, die auf diese Frage keine Antwort, keine Form und keine Konzepte finden kann, darf als gescheitert gelten. Sie konstruiert zwar (historisierte) Welten, diese haben aber mit dem gegenwärtigen und zukünftigen (schlimmstenfalls auch: vergangenen) „Leben“ nichts mehr zu tun. Das war auch den meisten Akteuren der Geschichtspolitik zu 1989 und des „Erinnerungsjahres 2009“ bewusst. Umso größer waren die Anstrengungen, die Bedeutung von 1989 und der Friedlichen Revolution für die Lebenswelt – gerade Jugendlicher – von 2009 hervorzuheben. In welcher Form dies geschah, welche Techniken dafür genutzt wurden und inwiefern die daraus entstandenen Produkte ihre Aufgaben erfüllten, ist Gegenstand dieses Kapitels.
418 Berger/Luckmann 2004, S. 1. 419 Was insofern wichtig ist, als dass sich Berger/Luckmann entschieden gegen subjektive Beliebigkeit soziologischer Analysen verwehren. Immerhin geht es ihnen darum, die „Konstruktion der Wirklichkeit“ zu untersuchen – und diese ist für die beiden Soziologen nicht rein subjektiv, sondern liegt – intersubjektiv – zwischen den Subjekten, was ihren Konstruktionsbegriff zumindest von der Geste her an die Akteur-Netzwerk-Theorie anschließen lässt, wie Bruno Latour sie vertritt, vgl. Latour, Bruno: The promises of constructivism. In: Ihde, Don/Selinger, Evan (Hg.): Chasing Technoscience. Matrix for Materiality. Bloomington, IN: Indiana University Press 2003, S. 27-46. Siehe auch Hacking, Ian: The social construction of what? Cambridge, MA: Harvard University Press 1999.
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Am 10. Juli 2007 präsentierten die Studentinnen Eva Siegmund, Christiane Spitzer, Marlen Weitzel, Jiaqi Liu und Fanny Hickisch in Leipzig ein Plakat, das sie gemeinsam mit der Ströer Deutsche Städte Medien GmbH und der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH im Rahmen einer Projektausschreibung für den zwanzigsten Jahrestag der Friedlichen Revolution in Leipzig entworfen hatten.420 Das Plakat zeigte das in schwarz-weiß gehaltene Foto eines Kindes, welches auf dem Rücken eines Erwachsenen saß, eine Kerze hielt und den Anschein einer Archivaufnahme suggerierte. Das Foto wurde ergänzt durch ein Logo, das die verschwommene Jahreszahl „‘89“ zeigte, sowie den im Handschriftdesign verfassten Slogan „mein neunter Oktober“ sowie den Hinweis auf die Homepage www.mein-9ter-oktober.de. Alle diese grafischen Zusätze waren im gleichen, orangefarbenen Ton gehalten, was die visuelle Einheitlichkeit der Kampagne verdeutlichen sollte.421 Zwar hatte das Plakat mit dem zwanzigsten Jahrestag des 9. Oktober 1989 einen konkreten Anlass und wurde auch in erster Linie für diesen als „Countdown“ produziert. Darüber hinaus verschrieb sich die Kampagne auch einer dauernden Funktion der Erinnerung an 1989: „Die Bedeutung der Friedlichen Revolution soll auf diesem Weg in das Bewusstsein der LeipzigerInnen gerueckt werden, denn damals demonstrierten 70 000 Menschen hier in Leipzig fuer Frieden, Freiheit und Demokratie. Wir wollen Sie fuer den Gedanken des 9. Oktobers begeistern – nicht nur fuer ein paar Monate.“422 Das Plakat wurde 200 Mal im Raum Leipzig angebracht und sollte über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit generieren – vor allem durch die Leipziger Bürger und Besucher der Stadt, die anderen durch Mund-zu-Mund-Distribution von dieser Kampagne berichten. Der Slogan selbst lenkte von den größeren historischen Zusammenhängen ab und konzentrierte sich auf das Individuum und dessen Alltagserleben der Erinnerung an die Friedliche Revolution: „Mit -Mein neunter Oktober- haben wir uns fuer einen Slogan entschieden, der fuer Individualitaet und Besonderheit steht. So wird unser Plakat auch zu Ihrem Plakat, denn jeder hat den 9. Oktober auf eine andere Weise, an einem anderen Ort erlebt. Gemeinsam moechten wir die Erinnerungen zusammenfuegen – wie ein Puzzle!“423 Zu der Kampagne gehörte auch die „Nacht der Kerzen“ am 9. Oktober 2007, an der auf dem Nikolaikirchhof über eintausend Bürger mit Kerzen eine „‘89“ bildeten 420 Das Plakat und die Kampagne fanden sich unter http://www.mein9teroktober.de/index. htm abrufbar [10.10.2012]. 421 Das gleiche Design mitsamt des Fotos verwendete auch die Leipziger „Initiative Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober“ (http://herbst89.de/ [10.10.2012]). 422 Vgl. den Eintrag unter N.N.: „-OoH Yeah! Media Group!“. mein9teroktober.de (URL: http://www.mein9teroktober.de/index-Dateien/Page543.htm [10.10.2012]). Das Fehlen der Umlaute entspricht dem Originaltext, der hier unbearbeitet wiedergegeben wird. 423 Ebd.
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– und so nicht nur das Kampagnenlogo (Kerzen und eine „‘89“) und die zu erinnernde Jahreszahl visuell verdoppelten, sondern gleichzeitig die vom Konzept vorgesehene Puzzle-Analogie einlösten, indem sich Kerzen plus Menschen zusammensetzten, um im Ergebnis dieser Kalkulation „‘89“ zu ergeben. Diese Aktionen waren allesamt Vorläufer des seit 2009 regelmäßig am 9. Oktober in Leipzig stattfindenden „Lichtfests“. Die Kampagne „Mein 9. Oktober“ gewann zudem 2008 beim „Deutschen PRPreis“ den Sonderpreis der Jury, die besonders vom Zusammenspiel von Motiv, Foto und Zielsetzung überzeugt war.424 So äußerte sich Christian Führer, dass „der Slogan ‚Mein neunter Oktober‚[...] den Menschen die Möglichkeit [gibt], dieses wichtige Datum zu ihrem eigenen zu machen. Unabhängig davon, ob sie dabei waren wie ich, ob sie es an den Fernsehbildschirmen miterlebt haben oder ob sie in den Geschichtsbüchern darüber gelesen haben.“425 Auch für Marit Schulz von der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH „ist es [der Kampagne] auf wunderbare Weise gelungen, das Thema in den Köpfen der Menschen zu verankern und zugleich ihre emotionale Seite anzusprechen.“426 Und der Geschäftsführer der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH, Volker Brehmer, ließ sich zu der halbwegs abenteuerlichen Diagnose verleiten, dass „alle Aktivitäten, die zu diesem Preis führten, [...] auf dem Mut der Leipziger Bürger [beruhen], die im Oktober 1989 das Ende der DDR einläuteten“427 – womit Brehmer „Mein 9. Oktober“ nicht als eine von außen historisierende Geste wahrnahm, sondern in der Geschichte von 1989 selbst verankerte Initiative begriff und eine ununterbrochene Linie zog. In ihrem Zusammenspiel zeigten die Versatzstücke des Plakates eine Diskurslinie zu 1989 auf, die sich um 2009 verdichtete: Die Individualisierung der Erinnerung und ihre Aufhebung in der Geschichtspolitik. Die im vorhergegangenen Kapitel untersuchte Funktion der Institutionalisierung war es, so viele Akteure wie möglich zu mobilisieren und miteinander in Verbindung zu bringen. Die Frage, wem 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ also gehörte, war nicht zu Gunsten der Big Player der Geschichtspolitik zu entscheiden – im Gegenteil. Eine erfolgreiche Geschichtspolitik war in der Lage, jedem Akteur – und ganz besonders jedem Bürger – seinen Anteil an der Historisierung und Erinnerung der Friedliche Revolution und des Mauerfall zuzusichern. Jeder sollte sagen können, der 9. Oktober sei „mein 9. Oktober“, der 9. November sei „mein 9. Novem424 Röer, Katja: Leipziger holen sich Deutschlands PR-Trophäe. Leipziger Volkszeitung am 22.9.2008. 425 N.N.: „Deutscher PR-Preis 2008“. Leipziger Kommunikationskonzept „Mein neunter Oktober“ gewinnt „Sonderpreis der Jury“. leipziger-freiheit.de am 22.9.2008 (URL: http://goo.gl/HibMz6 [16.8.2013]). 426 Vgl. ebd. 427 Vgl. Pressestimmen zur Preisverleihung, s. ebd.
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ber“, 1989 „mein 1989“.428 Dieser Rhetorik wohnte eine integrierende, vergemeinschaftende Funktion inne – und damit eine dezidiert politische. Sie symbolisierte sich nicht zuletzt darin, dass aus Vielheiten (z.B. Leipziger Bürger mit Kerzen) symbolische, die Vielheiten verbindende Einheiten geschaffen wurden (z.B. eine „‘89“ aus Menschen und Kerzen). Slogans wie „Mein 9. Oktober“, die ein historisches Datum oder Ereignis zum individuellen Besitz erklärten, fanden sich um 2009 in noch weiteren Varianten. Ein Beispiel dafür war das Internetportal „Deine Geschichte“ mit dem Motto „Lernen – Machen – Publizieren“, das von der Kooperative Berlin gemeinsam mit der „Stiftung Aufarbeitung“, der BpB und der Robert-Bosch-Stiftung anlässlich des „Erinnerungsjahres 2009“ realisiert wurde und bis dato bestand hat.429 Das Internetportal verstand sich als geschichtsdidaktische, interaktive Plattform, deren Zielgruppe in erster Linie Jugendliche und deren schulischer Alltag waren – und denen, der „direkte, persönliche Zugang zur Geschichte des 20. Jahrhunderts“ fehlte.430 In diesem Sinne formulierten die Initiatoren ihr didaktisches Programm: „Die ‚große‘ Geschichte besteht aus vielen ‚kleinen‘ Geschichten. Den – aus heutiger Perspektive – prägenden wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts kann man auf vielfältige Weise in Einzelbiografien – in Erzählungen von Großeltern und Eltern, Freunden, Bekannten oder Nachbarn – nachspüren. DeineGeschichte.de begreift sich somit als komplementäre Ergänzung zu der eher makrohistorischen Betrachtungsweise vieler Schulbücher, führt Jugendliche an Zeitzeugen und Zeitzeuginnen heran, fördert den Umgang mit neuen Medien und stellt Lehrenden und Lernenden verlässlich recherchierte und ansprechend aufbereitete Audio-, Video- und Textbeiträge zu zeitgeschichtlichen Themen zu Verfügung“431 428 Für den Mauerfall waren dies besonders zwei Publikationen: Neven DuMont, Alfred (Hrsg.): Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel. Köln: DuMont 2009 und Schwan, Heribert/Steiniger, Rolf (Hg.): Mein 9. November 1989. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2009. Besonders an dem Sammelband Neven DuMonts war, dass dort ausschließlich Zeitzeugen oder Nachgeborene zu Wort kamen, deren Geburtstag auf den 9. November fiel, wodurch eine mehr oder minder randomisierte Gruppe nach ihren Erinnerungen befragt wurde. 429 2010 wurde das Design der Homepage überarbeitet und das Angebot deutlich erweitert; zudem wurden unter anderem ein Newsletter und eine Facebookpräsenz eingerichtet. Vgl. N.N.: Newsletter No. 1: Relaunch, Wiki, Podcast & Freie Wahlen. Eintrag auf deinegeschichte.de am 6.4.2010 (URL: http://goo.gl/SQCqB [19.7.2013]). 430 So das Selbstverständnis der Plattform. Vgl. N.N.: Über: Warum „Deine Geschichte“? – Der Hintergrund. Auf deinegeschichte.de (URL: http://www.deinegeschichte.de/ueber/ [19.8.2013]). 431 Ebd.
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Deinegeschichte.de wollte „Geschichte als dynamischen Prozess sichtbar machen“ sowie „multiperspektivische Zugänge und die Verzahnung der deutschen Geschichte mit der Lebenswirklichkeit heutiger Jugendlicher“ anbieten.432 Die Jugendlichen sollten direkt und selbst erfahren, dass es sich um „ihre“ Geschichte handelte – und gleichzeitig um „ihre“ Lebenswelt, die sich damit verbinden ließ. Zu diesem Zweck setzten die Initiatoren von deinegeschichte.de auf zwei Arten Geschichtsproduktion: Einerseits gab es redaktionell erstellte Angebote wie Dossiers, Videodokumentationen oder Unterrichtsmaterialien. Andererseits sollten Schüler, Lehrer und andere Interessierte selbst Beiträge erstellen und auf der Homepage hochladen. Auch dazu bot das Portal Tutorials an, die die Schüler mit den technischen Aspekten audiovisueller Medienproduktion, besonders durch die Freeware-Programme Movie Maker und Audacity, vertraut machen sollten, mit deren Hilfe die Schüler eigene audiovisuelle Beiträge erstellen konnten. 433 Ergänzt wurden die Tutorials durch einen Technikglossar 434 und eine „Werkstatt“, die unter anderem Tipps zu Themenfindung, Recherchetechniken, Sounddatenbanken, Geräteverleih und Postproduktion der Medienbeiträge enthielt. Die Erschließung der eigenen Geschichte, so die Suggestion des Internetportals, war nicht nur eine inhaltliche, sondern genauso auch eine technische Angelegenheit. Bewusst wurden Apparaturen, Programme und deren Anwendung von den Initiatoren auf Workshops, in Unterrichtseinheiten und auf der Homepage in den Mittelpunkt gestellt – und so mindestens gleichberechtigt zu den zu Vermittelnden historischen Ereignissen behandelt. Die Verwicklung der Schüler in die Vermittlung und Erschließung „ihrer“ Geschichte, der „kleinen Geschichte“, die am Ende „die große Geschichte“ ergeben sollte, war auf deinegeschichte.de vielfältig. So wurden in der Rubrik „Schüler fragen“ Interviews mit Politikern und Zeitzeugen geführt, Exkursionen angeboten und vor allem eine Plattform eingerichtet, auf der einzelne Schulklassen, Jugendgruppen und andere ihre Projekte vorstellen und verlinken konnten. Seit dem Relaunch 2010 wurde auch der Community-Aspekt der Homepage stärker hervorgehoben: Kommentare konnten hinterlassen und Beiträge bewertet werden. Auf einer interaktiven Google-Map wurden einzelne Beiträge zudem lokalisiert, sodass eine eigene Landkarte der Projekte entstand.
432 Vgl. ebd. 433 Die Tutorials wurden redaktionell erstellt und auch zum Download angeboten. Zu sehen war ein Redakteur, der den Nutzer direkt anblickte, während er das jeweilige Programm erklärte. Ergänzt wurden die Erklärungen durch Screenshots des Programms. Die Tutorials wurden in der Mediathek der Homepage archiviert und sind abrufbar unter der URL: http://www.deinegeschichte.de/mediathek/tutorials/ [19.7.2013]. 434 N.N.: Technik-Glossar. Deinegeschichte.de (URL: http://goo.gl/WAu78 [19.7.2013]).
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Es ging also nicht nur um eine extensive Mobilisierung von Jugendlichen, Apparaturen, Techniken, Schulen, Webmastern und Stiftungen. Darüber hinaus ging es um eine Didaktik und Rhetorik, die diese Mobilisierung zum Anlass nehmen wollte, Geschichte in die Lebenswelt besonders von Jugendlichen einzuschreiben. Wenn die Geschichten von Friedlicher Revolution und 1989 in diese Lebenswelt gelangen sollten, mussten sie auf deinegeschichte.de durch Stiftungsgelder, HTML-Codes, Freeware-Programme, Tutorials, Linksammlungen, Zeitzeugen, Workshops, Politikerinterviews, Originaldokumente und Unterrichtseinheiten gehen – um sich unter dem Dach der Homepage in durch Schüler, Lehrer, Redakteure und andere verarbeitetet und in neu produzierter Form wieder versammeln, vernetzen und verlinken zu lassen. Ein ähnliches Projekt ging 2009 unter dem Namen dubistgeschichte.de435 unter Initiative einer gleichnamigen medienpädagogischen Vereinigung an die Öffentlichkeit. Der Fokus der Initiative lag auf dem Berliner und Brandenburger Raum. Verantwortlich für den Internetauftritt zeichnete sich der Offene Kanal Berlin „Alex“. Auch hier ging es insbesondere darum, Jugendliche anzusprechen, die 1989 nicht bewusst miterlebt hatten und nur aus Erzählungen und anderen Vermittlungen kannten: „Der Fall der innerdeutschen Mauer im November 1989 liegt inzwischen 20 Jahre zurück. Viele von euch kennen diese Zeit nur aus Erzählungen, von Bildern oder aus Filmen. Doch wie war das eigentlich im Herbst ‘89, in der Zeit des Umbruchs? Entdeckt die persönlichen Wendegeschichten eurer Familien, Nachbarn und Bekannten. […] Wir suchen Episoden aus Berlin und Brandenburg, die sich unmittelbar auf die Ereignisse vor 20 Jahren beziehen. Dies können Erzählungen sein, in denen damalige Wünsche und Hoffnungen mit der jetzigen Situation verglichen werden, oder Beiträge, die sich mit typischen ‚Ost-West-Vorurteilen‘ befassen. Recherchiert vor Ort, interviewt Zeitzeugen, setzt euch mit der Zeit vor 20 Jahren auseinander und erstellt Filme zum Thema.“436
Das Projekt sah vor, dass insgesamt zwanzig Teams aus Berlin und Brandenburg ihre Beiträge zu einem „virtuellen Geschichtsbuch“437 einreichen konnten, von denen 18 ausgewählt und mit jeweils 1.000€ gefördert wurden.438 Zusätzlich wurden 435 URL: http://www.dubistgeschichte.de/ [19.7.2013]. 436 Vgl. N.N.: Hintergrund. dubistgeschichte.de (URL: http://www.dubistgeschichte.de/ hintergrund [19.7.2013]). 437 „Du bist Geschichte“ – Bewerbungsstart für das Jugendmedienprojekt anlässlich „20 Jahre Mauerfall“. Pressemitteilung vom 21. April 2009. 438 Du bist Geschichte – Die Entscheidung ist gefallen. Pressemitteilung vom 26. Oktober 2009.
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sechs Beiträge mit einem Preisgeld von jeweils 500€ ausgezeichnet, das eine Jury, bestehend vorwiegend aus Schauspielern, Musikern und Journalisten, verlieh.439 Wie von den Initiatoren vorgesehen, „erhalten die jungen Redakteure und Filmemacher professionelle Hilfe sowohl bei der Erschließung des geschichtlichen Hintergrunds als auch bei der technischen Umsetzung“.440 Zusätzlich konnten sich die Jugendlichen darum bewerben, Teil einer zwanzigköpfigen „Jugendredaktion“ zu werden. Diese „erlernt in einem zehntägigen Sommerworkshop die Grundlagen der Produktion von Beiträgen und Sendungen“ und „bereitet die Ergebnisse der zwanzig Teams aus Berlin und Brandenburg für das Fernsehen auf oder erweitert diese durch eigene Recherche“.441 Damit teilte dubistgeschichte.de den medienpädagogischen Einschlag von deinegeschichte.de – und verband wie letzteres Technik- mit Geschichtsdidaktik. So gab es auf der Auftaktveranstaltung neben einer Podiumsdiskussion zum Thema „Wenn Zeit Geschichte wird – Episoden zum Mauerfall“, auf der Jurymitglieder und Schirmherren ihre persönlichen Erinnerungen erzählten, Workshops zu den Themen „Quellen und Archive, Produktionsplan und Produktion, Zeitzeugeninterviews und Urheberrecht“.442 Auch in den Subjektivierungsdiskurs reihte sich dubistgeschichte.de ein, der um 2009 zu 1989 geführt wurde. Nicht nur, dass jeder eine Geschichte hat, jeder „ist“ auch Geschichte. Der Musiker Stumpen, Schirmherr der Aktion, gab auf der Auftaktveranstaltung zu Protokoll: „Ich fand den Titel am Anfang sehr gewagt […] Du bist Geschichte – Ähm, nein danke, ich würde gerne noch länger leben...“443 – und wies damit auf die vermeintliche semantische Schieflage des Projektnamens hin, in der „Geschichte sein“ und „Leben“ nicht vereinbar erschienen. Jedoch ging es dem Projekt genau um das Gegenteil: die Anbindung von Geschichte an die Lebenswelt, besonders Jugendlicher – womit die „Lebendigkeit“ von Geschichte betont wurde. So äußerte sich ein anderer Schirmherr, der Radiomoderator Christian Rochow, ebenfalls auf der Auftaktveranstaltung: „‚An Geschichte kommt man nicht vorbei.‘ Wir gehören dazu, erleben sie täglich und schreiben sie mit. Wir sind Geschichte! Ich bin Geschichte! Du bist Geschichte!“444 Der dazugehörige Blogeintrag, erstellt von einer Redakteurin des Offenen Kanal Berlin „Alex“, endete mit den program439 Ebd. 440 N.N.: Und die Gewinner sind ... 18 Filmprojekte aus Berlin und Brandenburg sowie die deutsch-deutsche Geschichte. Pressenotiz vom 9. November 2009. 441 N.N.: „Du bist Geschichte“ – Bewerbungsstart für das Jugendmedienprojekt anlässlich „20 Jahre Mauerfall“. Pressemitteilung vom 21. April 2009. 442 N.N.: Geschichte kann Spaß machen. Pressemitteilung vom 15. Juni 2009. 443 Vgl. den Online-Artikel N.N.: „Alter! Du bist Geschichte!“. Eintrag auf Du bist Geschichte Blog 14.6.2009 (URL: http://www.dubistgeschichte.de/blog/2009/06/14/ alter-du-bist-geschichte/ [19.7.2013]). 444 Vgl. ebd.
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matischen Worten: „Und was trifft wieder einmal zu? Jeder hat eine Geschichte, auch DU! Du bist Geschichte!“445 Dieses offensive Suggerieren eines individuellen Geschichtsbewusstsein, des eigenen „Geschichte-Seins“ gepaart mit den didaktischen Vermittlungen zu Technik und Technologie der Geschichtserschließung reihte sich nahtlos in die Geschichtspolitik zu 1989 ein, deren Ziel es war, eine extensive Vergemeinschaftung im Zeichen von Geschichte zu schaffen. Ein weiteres Beispiel dieser Diskurslinie zu 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ war der Kurzfilm „Und jetzt?!“, den die Regisseure Thierry und Philippe Bruehl, unterstützt von der BpB, inszenierten. Unter dem Motto „... die Geschichte geht weiter, und du bist ein Teil davon“, zeigte der 7:24 Minuten lange Film einen schnell geschnittenen, der Collagenästhetik folgenden Durchlauf der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand der Daten 1919, 1929, 1939, 1949 und 1989 – um mit der abschließenden Frage „Und jetzt?!“ den chronologischen Anschluss an 2009 zu vollenden. Die Programmatik des Films fügte sich in den Lebensweltdiskurs des „Erinnerungsjahres 2009“. „Und jetzt?!“ wurde diakritisch nicht nur als Frage, sondern gleichzeitig auch als Ausruf markiert – und dadurch die zukünftige Geschichte als Möglichkeitsraum, der noch nicht definiert sei, geöffnet. Der Film folgte implizit der Lebenswelttheorie, die Geschichte, Identität und Gesellschaft in einen kausalen Zusammenhang bringt. So hieß es im Begleitheft zur DVD: „Geschichte ist ein facettenreicher, immer fortwährender Prozess und das Vergangene ist Teil unserer Identität. Sie beeinflusst uns alle auch in der Gegenwart (oftmals auch unbewusst), egal wo wir herkommen und was wir bisher erlebt haben.“446 Darüber hinaus, so die Initiatoren, „soll der Film aber auch anregen, sich mit aktueller Politik in Deutschland zu beschäftigen“ und zeigen, „dass Demokratie kein Selbstläufer ist“. Demokratie brauche Menschen, „die mitmachen und sich kritisch mit Gegenwart und Zukunft auseinandersetzen“.447 Geschichte und die Auseinandersetzung mit selbiger erzeuge nicht nur, sozusagen als anthropologische Konstante, Identität und (Selbst-)Bewusstsein, sondern sichere auch die Zukunft der Demokratie. Darin lag die didaktische Konstante um 2009, wenn es um den Anschluss an die Lebenswelt der Zeitgenossen des „Erinnerungsjahres“ ging – in der Herstellung von Demokratie, Engagement, Partizipation und politischem Bewusstsein durch Historisierung. Dies versuchte der Clip auch technisch und ästhetisch einzulösen. Dazu wurden in sechs Städten über die Bundesrepublik verteilt Castings veranstaltet, auf denen 445 Ebd. 446 Bruehl, Thierry/Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Und jetzt?!. Begleitheft zum Filmclip mit DVD. Bonn: BpB 2009, S. 3. 447 Ebd.
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Jugendliche gesucht wurden, die darstellen sollten, „wie vielfältig die Bevölkerung und insbesondere die Jugend in Deutschland geworden sind“ 448, um so das „Gesicht“ der Bundesrepublik im Jahr 2009 widerzuspiegeln. Insgesamt bewarben sich 200 Jugendliche, 128 wurden zum Casting geladen und 13 im Alter von 13-19 Jahren ausgewählt.449 Über die 13 Jugendlichen, die ihre Wurzeln zum Teil in Ghana, der Türkei, Griechenland und Syrien hatten und aus „sozialen Brennpunkten“ 450 ihrer Städte stammten, hieß es im Begleitheft: „Sie alle sind, mit oder ohne deutschen Pass, Jugendliche in Deutschland, die sich manchmal mehr, manchmal weniger stark in die Gesellschaft einbringen. Sie haben Hoffnungen, Wünsche, Träume oder auch Sorgen und sind doch in jedem Fall ein Teil Deutschlands.“ 451 Damit wurde im Vorfeld durch das Casting mobilisierend die Programmatik des Films vorgegeben, eine gesellschaftliche Schnittmenge abzubilden und dadurch Geschichte, Identität und Gesellschaft in Relation zueinander zu setzen: „Herauskommen wird ein Kurzfilm, der 13 Jugendliche aus 6 Städten mit 4 Daten deutscher Geschichte in Verbindung setzt und auf deutsche Leinwände bringt“. 452 Im Film selbst wurden die Jugendlichen durch Spielszenen eingebunden, in denen sie teilweise, zu schwarz unterlegten Silhouetten verfremdet, historische Szenen (oft abstrahiert) nachspielten oder erkennbar als sie selbst in die Collage integriert wurden. So waren die Jugendlichen in dieser doppelten Funktion immer wieder „Teil“ der Geschichte – und diese ein „Teil“ von ihnen. Ästhetisch durchmischte der Film historische Originalaufnahmen und -töne mit Grafikelementen und aktuellen, extra für den Film eingespielten Aufnahmen. So folgte die Narration einer linearen Chronik, in denen groß Jahreszahlen und dazugehörige Schlagworte („Krieg“, „Wirtschaft“, „Demokratie“, etc.) eingeblendet wurden. Diese Linearität wurde aber immer wieder durch- und unterbrochen mittels des anachronistischen Auftauchens der Jugendlichen von 2009 in den historischen Darstellungen. Im Sinne der Hantologie könnte man sagen, dass die Zeit der Geschichte und die Zeit von 2009 dadurch ästhetisch „aus den Fugen“ geriet und, je nach Perspektive, die Lebenswelt von 2009 durch die lineare Geschichte „spukte“ bzw. umgekehrt die Geschichte durch 2009 „geisterte“ – wodurch fortwährend Synchronizität zwischen Geschichte, deren Ereignissen und der Gegenwart von 2009 hergestellt wurde. Ein zweites wiederkehrendes Element des Films waren Szenen mit dem Jugendlichen David Casal, in denen dieser an Erinnerungsorten wie dem Brandenburger 448 Ebd., S. 4. 449 Ebd. 450 Bundeszentrale für politische Bildung: Start des Kurzfilms „Und jetzt?!“ zum Jubiläumsjahr 2009. Pressemitteilung vom 7.4.2009 (URL: http://goo.gl/RXf8K [19.7.2013]). 451 Bruehl/Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 4. 452 Vgl. N.N.: „Und jetzt?“ 4 Daten, 6 Städte, 13 Jugendliche. Bpb.de (URL: http://goo.gl/ koEVQ [19.7.2013]). Hier waren auch der Film selbst und ein Making-of zu sehen.
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Tor oder inmitten des Holocaust-Mahnmals zu sehen war und im Flüsterton aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik zitierte. Das Grundgesetz als Symbol des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik wurde dadurch als Spur durch den gesamten Film gestreut und, in Verbindung mit den historisch aufgeladenen Orten, als kongruenter Effekt der Historisierung dargestellt. Dadurch wurde das Demokratieverständnis verzeitlicht (indem es immer mit historischem Referenten zusammen auftauchte) und zugleich zeitlos dargestellt (indem es sich in jede dargestellte Epoche als Spur einschrieb und dort geflüstert, „gespenstisch“ hindurch hallte). So löste der Film ästhetisch ein, was die Programmatik und Didaktik des Projekts vorsah: Die Lebenswelt der Jugendlichen von 2009, das Demokratieverständnis der Bundesrepublik und die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts miteinander zu verbinden. Nicht zuletzt dadurch, dass der Film „in der Ästhetik eines Musikvideos [...], mit schnellen Schnitten und einer hohen Bildfrequenz“ 453 gehalten wurde, versprach man sich wohl, darüber hinaus die ästhetischen Ansprüche der jugendlichen Lebenswelt um 2009 zu erfüllen. Der Film wurde öffentlich in Kinosälen und auf den Sendern VIVA und MTV, deren Zielgruppe eher popkulturell interessierte Jugendliche und junge Erwachsene waren, vorgeführt. 454 Auch sollte er als Unterrichtsmaterial dienen und zur Auseinandersetzung mit Geschichte und deren Rolle für die Lebenswelt von 2009 anregen. Vor allem für letztgenannten Zweck wurde der Film als DVD mit Begleitheft und zusätzlichen Inhalten wie Interviews mit den beteiligten Jugendlichen, kommentierten Fotostrecken und Dossiers der Bundeszentrale für politische Bildung zu den angesprochenen Themen herausgegeben. In dem Begleitheft fanden sich neben einer Projektbeschreibung vor allem Arbeitsmaterialien zum Film, die dessen Programm fortführten. So sollten die Schüler nach Ansicht des Films beispielsweise zunächst „[ä]hnlich wie die Jugendlichen in ‚Und jetzt?!‘“ ein Kurzporträt ihrer selbst anfertigen, das neben Lebens- und anderen Daten auch Felder für „Mein größter Traum“, „Mein erstes politisches Ereignis“ oder „Demokratie ist für mich...“ enthielt.455 Erneut fiel das Lernsubjekt mit dem Lernobjekt dadurch in eins, dass die Schüler „ihre“ Geschichte und „ihre“ Demokratie definierten und sich so beides aneigneten. Ein Arbeitsblatt beschäftigte sich unter Überschriften wie „Unsere Geschichte – deine Geschichte?“456 damit, welche Rolle Geschichte für den Alltag der Gegenwart hat und fragte die Schüler nach ihrer Meinung zu Sätzen wie „Also, Geschichte 453 Bruehl/Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 3. 454 Bundeszentrale für politische Bildung: Start des Kurzfilms „Und jetzt?!“ zum Jubiläumsjahr 2009. Pressemitteilung vom 7.4.2009 (URL: http://goo.gl/RXf8K [19.7.2013]). 455 Bruehl/Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 6. 456 Ebd., S. 8.
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kann man nur dann richtig verstehen, wenn sie konkret am Beispiel von Menschen und deren Schicksal erzählt wird“ oder „Geschichte wurde und wird nur von einigen großen und mächtigen Männern gemacht“. Ein weiteres Arbeitsblatt regte eine Diskussion an, „ob der 9. November als deutscher Nationalfeiertag besser geeignet wäre als der 3. Oktober“.457 Wiederum andere Beschäftigten sich unter Mottos wie „Nichts gelernt?“ mit Rechtsextremismus in Deutschland458 oder „Kann man aus der Geschichte lernen?“ mit dem Grundgesetz 459. Auf dem letzten Arbeitsblatt wurde „Deutschland 2050“ und damit die Vorstellung der Jugendlichen von Zukunft adressiert. Dort sollten sie unter anderem begründet entscheiden, ob sie eher Optimist oder Pessimist sind.460 Damit wurde die Auseinandersetzung mit Geschichte einmal mehr um einen Zukunftsraum erweitert: Zur „eigenen“ Zukunft gehörte um 2009 nicht nur die „eigene“ Gegenwart, sondern auch die „eigene“ Geschichte. Die Lebenswelt von 2009, welche an die Geschichte nicht nur, aber vor allem auch von 1989 anschließen sollte, erwies sich in dem Diskurs des „Erinnerungsjahres“ als Drehscheibe und Black Box, durch die nicht nur Filmclips, Stipendiengelder, Demokratieverständnisse, Arbeitsblätter und Freeware-Tutorials verliefen, sondern auch die erschlossene Vergangenheit als „eigene“ Geschichte und die „eigene“ Zukunft. Die Lebenswelt um 2009 war der Dreh- und Angelpunkt nicht nur des Umgangs mit dem Vergangenen, sondern auch der Ermöglichung des Zukünftigen im Zeichen der aufgeklärten Demokratie. Dazu gehörten Wertevorstellungen ebenso wie Ideen von Partizipation, Subjektivierung bzw. Individuation, Vergemeinschaftung oder Pluralismus. Geschichte im „Erinnerungsjahr 2009“ war zwar auch, in der berühmten Diktion Reinhart Kosellecks, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“461 – gerade der Demokratie, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft. Allerdings unterlief, wie am Beispiel des Kurzfilms „Und jetzt?!“ gesehen, die tatsächliche Ästhetik ein lineares Verständnis dieser Entwicklung. Vielmehr war die „Kommende Gemeinschaft“ eher ein ungewisses, noch herzustellendes Zukunftsgebilde. Sie war eine Modalität, keine Linearität, die aus Gegenwart und Geschichte ableitbar wäre. Sie war dazu besonders durch die Bewahrung, Erzählung und Erinnerung dieser Geschichten möglich. Der „Erfahrungsraum“ Geschichte war einfach zu abstrakt und unkonkret, weshalb überhaupt die massiven Anbindungsversuche an die Lebenswelt– den eigentlichen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Zielgruppe – unternommen wurden. 457 Ebd., S. 11. 458 Ebd., S. 10. 459 Ebd., S. 12. 460 Ebd., S. 13. 461 Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 349ff.
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Es sollte ein Geschichtsbewusstsein geschaffen werden, wie Jörn Rüsen es in Anschluss an Nietzsches lebensphilosophische Geschichtstheorie unter dem Titel „Historik“ beschrieben hat.462 Darin beschreibt Rüsen die lebensweltliche Funktion von Geschichte als die Ermöglichung eines „Gegenwartssinns“ und stiftet gleichzeitig den Anreiz, weitere Geschichte zu produzieren. Das heißt zu wissen, dass das gegenwärtige Handeln genetisch selbst Prozesse und Dinge hervorbringt, die zur Bedingung der zukünftigen Gegenwart werden. 463 Die Gegenwart wird so als historisches a priori der Zukunft verstanden. Es sollte also das freigesetzt werden, was Friedrich Nietzsche in „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ als „plastische Kraft“ bezeichnete: „[J]ene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben.“464 Nietzsche ging es darum, „Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben“465, damit das Übermaß an Geschichte „nicht zum Todtengräber des Gegenwärtigen“466 wird. Die ähnlich geartete Didaktik im „Erinnerungsjahr 2009“ könnte dabei auch von Nietzsche selbst stammen, der die erzieherischen Tendenzen einer solchen Historisierung mit den Worten beschrieb: „[A]ber wozu du einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch, dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ‚Dazu‘ versetzt, ein hohes und edles ‚Dazu‘.“467 Auch der Diskurs zu 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ nahm sich der Kategorie des „Lebens“ vermehrt an und suchte für die Form und Funktion seiner Historisierung von 1989 Anschluss an das Gegenwärtige und seine „plastische Kraft“, um darin die politischen Verheißungen der kommenden (demokratischen) Gemeinschaft – dem „hohe[n] und edle[n] ‚Dazu‘“ des „Erinnerungsjahres – als Möglichkeitsraum zu öffnen.
462 Rüsen, Jörn: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989. 463 Rüsen 1989, S. 27f. 464 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemäße Betrachtungen II. In: Ders.: Die Geburt der Tragödie u.a. Kritische Studienausgabe herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV 2003, S. 251. 465 Ebd., S. 257. 466 Ebd., S. 251. 467 Ebd., S. 319.
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T HE R EVOLUTION WILL BE TELEVISED – D IE F RIEDLICHE R EVOLUTION IN DEN M EDIEN 2009 „The Revolution will be no re-run, Brother / The Revolution will be live“. Mit diesen Worten wies der Musiker und Dichter Gil Scott-Heron in seinem 1970 veröffentlichten Stück „The Revolution will not be televised“ darauf hin, dass Revolutionen keine Sache von medialer Präsenz seien, sondern eine Sache des Lebens. In einem Interview mit der Tageszeitung vom 18.11.2005 erläuterte Scott-Heron seinen Revolutionsbegriff weiter: „Revolution bedeutet Veränderung, und die Dinge wandeln sich nun mal permanent. Wer hingegen meint, die Revolution auf der Straße beobachten zu können, wird sie dort nicht finden. […] Revolution findet im Kopf statt. In dem Moment, in dem man bestimmte Erscheinungen nicht mehr akzeptiert und der Meinung ist, die Gesellschaft sollte sich in eine andere Richtung entwickeln, in dem Moment wird man zum Revolutionär. All das sind Dinge, die für andere unsichtbar sind, Bewusstseinsprozesse, die in Gang kommen, wenn einem zum Beispiel Ungerechtigkeiten auffallen oder man einen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft leisten möchte.“468
Laut Scott-Heron ist eine Revolution weder eine Sache, die sich in Medien vollzieht, noch auf der Straße zu finden ist. Dem standen sowohl die Ereignisse von 1989 als auch die dazugehörige Geschichtspolitik um 2009 diametral entgegen. Das für Scott-Heron zentrale Element der Revolution, das sich verändernde Bewusstsein, wurde dabei gerade in der Geschichtspolitik nicht ausgeklammert, sondern vielmehr zum Ziel des Erinnerungsprozesses erklärt. Dieses Moment wurde – und für Scott-Heron sowie Anhänger seiner Position müsste dies als Paradox erscheinen – nicht trotz, sondern gerade durch Medialisierung der Friedlichen Revolution vorangetrieben. Diese These wurde bisher durchweg vertreten. Es ging um die Praxis der Verbindung, Übertragung und Übersetzung, die sich um 2009 in der Geschichtspolitik zu 1989 finden ließ. Der dabei verwendete Medienbegriff oszillierte zwischen einem weiten und einem enger gefassten Verständnis dessen, was ein Medium sein kann und was es leistet. Am Beispiel der Friedlichen Revolution wurden so politische und narrative Effekte sichtbar, welche die Art und Weise, wie die Friedliche Revolution im „Erinnerungsjahr 2009“ erscheinen konnte, mitbestimmten. Als Akteure der Vermittlung waren Apparaturen, Baumaterialien, Textgenres, Architek-
468 Broecking, Christian: „Ihr nehmt die Kids zu ernst.“ Die Tageszeitung Online am 18.11.2005 (URL: http://goo.gl/CJZgZ [19.7.2013]).
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turbüros und öffentliche Einrichtungen ebenso auszumachen wie Historiker, Politiker, Zeitzeugen, Filmemacher oder Schulklassen. In diesem Kapitel wird der Begriff des Mediums als zentrale Kategorie in die Geschichtspolitikanalyse eingebracht. Ging es zuvor mehr oder weniger explizit um die Effekte und Organisationen des Medialen, soll nun der Fokus auf der konkreten Praxis von Medialität und Medialisierung der Friedlichen Revolution um 2009 liegen. Medien werden dabei analog zu dem Akteursbegriff Bruno Latours als „Mittler“ verstanden, die „übersetzen, entstellen, modifizieren und transformieren [...], [was] sie übermitteln sollen“ und eine „Spezifität“ ihres Outputs erzeugen. 469 Mittler – im Grunde auch nur eine Übersetzung für das Wort „Medien“ – transformieren also das, was sie vermitteln. Sie machen einen Unterschied in der Art und Weise, wie dies geschieht. Was dies für die Geschichte von 1989 bedeutete, konnte schon in den vorangegangenen Kapiteln vereinzelt gezeigt werden. Nun soll es darum gehen, einige dieser Mittler, die 2009 die Geschichtspolitik zur Friedlichen Revolution bevölkerten, zu identifizieren und ihre Arbeit zu beschreiben – den Akteuren zu folgen. Gleichzeitig wird es darum gehen, den Medienbegriff zu konkretisieren und einzugrenzen, um ihn nicht einer zu offenen Heuristik zu überlassen, die unter „den Medien“ nahezu alles versteht, was irgendwie kommuniziert. Hier geht es, im Sinne Stefan Riegers, um konkrete Apparaturen und ihre „Individualität“ 470, die dazu führt, dass „die Preisgabe einer starren Opposition zwischen dem, was Mensch, und dem, was sein apparativer Konterpart heißt“ ermöglicht wird.471 Die Frage also, wer der Friedlichen Revolution im „Erinnerungsjahr 2009“ gedachte, kann nicht nur eine Auflistung von Menschen und Gesellschaften erzeugen, sondern benötigt auch einen Blick auf die Apparaturen und Techniken, die dieses Erinnern, Historisieren und Gedenken ermöglichten. Es gibt also nicht „die Gesellschaft“, „die Politik“, „die Technik“ und „die Medien“ als singuläre Blöcke, wenn eines stets das andere miteinbezieht. Daher soll im Folgenden einigen dieser Apparaturen und der an sie 469 Vgl. Latour 2010a, S. 70. 470 Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Riegers Argument weitet sich darauf aus, dass Individualität als Episteme der Moderne selbst medial hergestellt wird. Das trifft auch auf den Menschen als Subjekt zu. Vgl. auch Rieger, Stefan: Steigerungen. Zum Verhältnis von Mensch, Medium und Moderne. In: von Graevenitz, Gerhart: Konzepte der Moderne. Stuttgart: Metzler 1999, S. 417-439 und Rieger, Stefan: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Vgl. mit einem ähnlichen Argument auch Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 90ff. 471 Rieger 2003, S. 35.
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anschließenden Dispositive gefolgt werden, um das Programm der AkteurNetzwerk-Theorie zu befolgen und die Black Boxes zu öffnen.472 Der Fernseher gilt gemeinhin als „Leitmedium“ des zwanzigsten Jahrhunderts – zumindest bis zum Anbruch des „Computerzeitalters“. Diese Stellung des Fernsehers verdankt sich nicht zuletzt den Analysen Marshall MacLuhans, der mit dem Fernseher das Ende „Gutenberg-Galaxis“ (sprich: der vom Buchdruck und der Praxis des Lesens geprägten Medienepoche) diagnostizierte.473 Diese hierarchisierenden Mediengeschichten, in der eine Technik die andere in sich aufhebt und überflüssig, altmodisch und anachronistisch macht, soll hier nicht vertreten werden. Wenn nun im Folgenden die Rolle des Fernsehers – und mit ihm das Dispositiv des Fernsehens474 – bei der Historisierung der Friedlichen Revolution beleuchtet wird, so wird dessen Apparatur, Technologie und Praxis nicht gegen die des Buches oder des Computers ausgespielt. Dennoch kann auch der Fernseher eine Individualität für sich beanspruchen, die ihn gegenüber anderen Apparaturen und Technologien funktional bei dieser Historisierung unterschied.475 Lorenz Engell und Oliver Fahle stellen in ihrer „Philosophie des Fernsehens“ drei Konzepte in den Mittelpunkt, anhand derer sich der Fernseher als „Denkzeug“ fassen lässt: Bild, Ereignis und Serie.476 Das Bild, weil sich in ihm „die Form, in der das Fernsehen seine eigene Sinnlichkeit als Visualität […] zunächst organisiert und dann reflektiert“, wodurch „die Wahrnehmung des Fernsehens ihrerseits wahr472 Latour 2002, S. 222ff. und S. 373. Latour bezeichnet ein Prozedere, das den Zusammenhang von Mensch und Apparatur sowie ihre „interne Komplexität“ verhüllt als „Blackboxing“. 473 McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Toronto: University of Toronto Press 2011. 474 Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, da der Fernseher die Apparatur darstellt, die den zentralen Akteurs-Knotenpunkt im Akteur-Netzwerk „Fernsehen“ bildet, zu dem auch Zuschauer, bestimmte Praktiken und andere Apparaturen, Institutionen und Akteure gehören, die sich um den technischen Apparat „Fernseher“ gruppieren. Der Begriff des Dispositivs ist analytisch ähnlich zu verorten wie das Akteur-Netzwerk der ANT. Einen Vergleich der beiden Analysemodelle bietet Ganahl, Simon: Ist Foucaults ‚dispositif‘ ein Akteur-Netzwerk? Foucaultblog am 1.4.2013 (URL: http://goo.gl/ UF8Rz [19.7.2013]). 475 Einer möglichen Variante der Fernsehphilosophie geht es laut Oliver Fahle und Lorenz Engell um „das an Erkenntnis, was das Medium immer schon selbst ist, […] was das Medium an Erkenntnis möglich macht, realisiert und konditioniert“. Vgl. Fahle, Oliver/ Engell, Lorenz: Philosophie des Fernsehens – Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Philosophie des Fernsehens. München: Wilhelm Fink 2006, S. 10. 476 Ebd., S. 11.
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nehmbar“ werde.477 Darüber hinaus – und das ist an dieser Stelle vielleicht die interessanteste Komponente – leistet das Fernsehbild eine „Gleichzeitigkeit“, die es, besonders bei Live-Übertragungen, kommuniziert: „Geschehen“ und „Sichtbarwerden“ fallen im Fernsehbild zusammen, das Bild wird zum Ereignis und vice versa. Was die „Eingelassenheit in die Zeit“ des Bildes angeht, so sei dessen Merkmal, „eben nicht anzudauern, sondern radikal vorüberzugehen“ und eine „Differenz zwischen Vorher und Nachher“ herzustellen.478 Das führt zum dritten Konzept des Fernsehens nach Fahle und Engell: der Serie. Die Serie hat in erster Linie die Funktion, dass „die Ereignisse aneinander gekoppelt werde[n]“, diese allerdings „nicht nur produziert, auftreten und alsbald wieder vergehen läßt, sondern aufeinander bezieht und miteinander verknüpft“.479 Über das Konzept der Serie „bearbeitet, betrachtet und variiert“ das Fernsehen „seine Idee der Wiederholung“. 480 Auch dieser Punkt ist geschichtspolitisch mehr als interessant, da für Fahle und Engell Serienformen durch den Fernseher realisiert werden, „in denen die komplexe und paradoxe Wechselbeziehung von Bekanntem und Unbekanntem – von Redundanz und Information oder Erinnern und Vergessen –, auf der Serialität überhaupt beruht, ihrerseits thematisiert wird“.481 Durch diese Konzeptualisierung kann der Fernseher als ein Zeitmedium avant la lettre gedacht werden – und ist damit geschichtspolitisch von nicht zu unterschätzender Bedeutung.482 Das Fernsehen ist auch laut Vrääth Öhner – in Anschluss an Stanley Cavell und Richard Dienst – in der Lage, mit Hilfe seiner Pro-
477 Ebd., S. 12. In einer weiterführenden Definition sprechen Fahle und Engell von zwei komplementären Bildlichkeiten des Fernsehens: Dem visuellen Fernsehbild und dem auditiven Hörbild. Beide bilden jedoch gemeinsam den Index der Bildlichkeit. 478 Ebd., S. 14f. 479 Ebd., S. 17. 480 Ebd. 481 Ebd., S. 18. 482 Damit ist an dieser Stelle jedoch weniger gemeint, dass das Fernsehen selber Ort von Geschichtserzählungen à la Guido Knopp geworden ist oder diesen Sendezeit bietet und in der Lage ist, Geschichte zu konstruieren und ggf. auch zu ideologisieren, wie Wulf Kansteiner analysiert hat, vgl. Kansteiner, Wulf: In pursuit of German Memory. History, Television and Politics after Auschwitz. Athens: Ohio University Press 2006. Vielmehr soll geschichtspolitisch hier heißen, dass es sich beim Fernseher um eine mediale Technik handelt, die ihre eigene Zeitlichkeit organisiert und voraussetzt – und damit Geschichte und Politik (oder Geschichtspolitik) in actu betreiben kann. Vgl. dazu besonders Katz, Elihu/Dayan, Daniel: Media Events. The live broadcasting of History. Cambridge, MA: Harvard University Press 1996.
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grammstruktur eine fernsehspezifische Zeit als „Flow“ zu erzeugen. 483 Dadurch ließe sich nach Öhner die „Bewegung der narrativen Formeln, deren das Fernsehen sich bedient, […] aus dem Widerstreit von Zeit als Wiederholung und Zeit als Vergänglichkeit“ ableiten.484 Als Konsequenz für die Geschichtspolitik bedeutet dies, dass das Fernsehen mehrere Ebenen der Historisierung zulassen kann: Es kann einerseits Ereignisse überhaupt zum Ereignis machen, indem es diese verbildlicht und als einmalige Gegenwart vergehen lässt.485 Andererseits kann es aber auch bereits Gezeigtes wiederholen (als eine Variante des „Re-präsentierens“), es rekontextualisieren und darüber hinaus so sein eigenes Archiv (re-)organisieren.486 In genau dieser technischen Konstellation ist es möglich, wie Leif Kramp von einer „Gedächtnismaschine Fernsehen“487 zu sprechen. Kramp betont gerade im Hinblick auf Geschichtsjahrestage und -jubiläen das Programmhafte, Serielle und gleichzeitig stark gegenwartsbezogene Geschichts- und Erinnerungsverständnis, das seine Form nicht zuletzt in der Fernsehtechnik finde.488 Das Fernsehen sei daher nicht nur Vermittler von Geschichte, indem es dieser einen Kanal zwecks Vervielfältigung zur Verfügung stelle, sondern gleichzeitig Produzent von Ereignissen wie Jahrestagen, Gedenktagen und Jubiläen, die Anlass werden, die vergangenen Ereignisse „einem ständigen Revisions- und Neubewertungsprozess“ zu unterwerfen.489 Wiederholungen sind somit Formen der Institutionalisierung, die sich durch serielle Rekurrenz stabilisieren. Die immer gleichen Bilder, Worte, Sequenzen und Kommentare, womöglich noch auf mehreren Sendern gleichzeitig, festigen durch die
483 Öhner, Vrääth: Von der Gewöhnlichkeit des Unheimlichen. Serielle Ordnungen und Ordnungen des Seriellen im Fernsehen. In: Fahle/Engell 2006, S. 173. 484 Ebd., S. 179. 485 Vgl. dazu im Sinne der Informationstheorie Gregory Batesons auch Luhmann 2009, S. 32ff. Laut Luhmann lassen sich Informationen „nicht wiederholen, sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation“. 486 Vgl. Ernst 2002, S.116ff. 487 Wobei Kramp in seiner mehr als ausführlichen Analyse des Verhältnisses von Fernsehen und Gedächtnis nicht direkt auf dessen technische Bedingt- und Besonderheiten eingeht und vielmehr seine soziale Dimension betont. Vgl. Kramp, Leif: Gedächtnismaschine Fernsehen. Band 1: Das Fernsehen als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung. Berlin: Akademie Verlag 2011 und Kramp, Leif: Gedächtnismaschine Fernsehen. Band 2: Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung in Deutschland und Nordamerika. Berlin: Akademie Verlag 2011a. 488 Kramp 2011, S.432 und 442ff. 489 Ebd., S. 443 und 445.
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technische Möglichkeit des Fernsehers eine fortwährende ereignishafte Präsenz dessen, was eigentlich Geschichte ist.490 Dass dem so ist, dass das Fernsehen sein eigenes Archiv schreibt, recycelt, reaktualisiert, serialisiert und als wiederkehrendes Ereignis deklariert, zeigte in bemerkenswerter Klarheit die Reihe „Tagesschau vor 20 Jahren“ 491, die von der ARDAnstalten erstmals 1993 im NDR ausgestrahlt wurde.492 Ursprünglich wurde dieses Sendeformat erstellt, um das Tagesschau-Archiv, die darin enthaltenen Bilder und Nachrichten erneut zu speichern, indem sie gesendet wurden – und so wieder in den aktuellen Sendearchiv-Bestand wanderten. So geschehen auch 2009, als die Tagesschau-Sendungen aus 1989 zu sehen waren, die sich durch ihre Ausstrahlung in das Sendearchiv von 2009 einschrieben. Für die Wiederausstrahlung wurde das Material (primär zu Konservationszwecken), überarbeitet und restauriert. Die Ausstrahlung sollte dann die Kosten für diese Archivrestauration rechtfertigen.493 Dass es sich dabei trotzdem nicht nur um eine Wiederholung, sondern um ein wiederholtes Ereignis selbst handelte, wenn die zwanzig Jahre alte Tagesschau von 1989 berichtete, lag auch daran, dass „die einzelnen Alt-Ausgaben des ARDFlaggschiffs eben nie mehr wissen und berichten können als das jeweilige Tagesgeschehen, der heutige Betrachter aber stets die Folgen kennt, die aus ihm erwuchsen – oder eben das völlige Vergessen, dem einst scheinbar so sensationelle Nachrichten alsbald wieder anheimfielen“.494 So erschien jede Ausstrahlung gleichzeitig als alt und neu, war als vergangen gekennzeichnet und befeuerte trotzdem das Erinnern der Gegenwart, wodurch sich jeder Zuschauer der Sendung seiner eigenen Gegen490 Strukturell nähert sich dadurch das fernsehtechnische Gedenken an Luhmanns Konzept massenmedialer Werbung an, die sich erst durch Wiederholung und ihr Auftauchen an mehreren Orten imprägniert und als Information ständig neu ins Spiel zu bringen sucht. Vgl. Luhmann 2009, S. 60ff. 491 Die Internetpräsenz des Formats findet sich in „Der Weg zu Einheit in der Tagesschau. Die Tagesschau vor 20 Jahren: 1989“. Tagesschau.de (URL: http://goo.gl/Td3yx [19.7.2013]). Darin sind jedoch nicht alle Sendungen enthalten, allerdings beginnen die derzeit archivierten und online verfügbaren Sendungen im Dezember 1989, sprich auf dem Stand der Ausstrahlung des Dezembers 2009. 492 So der Artikel in der FAZ vom 29.5.2012 von Jochen Hieber „Die ‚Tagesschau‘ als Zeitmaschine“, online veröffentlicht am 30.5.2009 unter dem Titel „Tagesschau vor zwanzig Jahren – ‚Die Mauer kann auch verschwinden‘“ (URL: http://www.faz.net/gsc-12jkb [19.7.2013]) Interessanterweise begleitete die FAZ 2009 die Ausstrahlung der „Tagesschau vor 20 Jahren“ mit einer Kolumne von Hieber, und generierte somit ein Echo zum Echo, das die Tagesschau mit der seriellen Wiederholung sich selbst archivarisch gewährte. 493 Vgl. Hieber, Jochen: Die „Tagesschau“ als Zeitmaschine. FAZ vom 29. 5. 2009. 494 Ebd.
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wärtigkeit gewahr werden konnte, während auf seinem Bildschirm die Nachrichten ihr hantologisches Spiel aufführten. Genau aus dieser nahezu paradoxen Situation heraus war die „Tagesschau vor 20 Jahren“ auch „[v]on gleichermaßen unheimlichem wie enormem Erkenntniswert […] gerade in diesen Wochen und Monaten“, womit Jochen Hieber die Wochen und Monate des „Erinnerungsjahres 2009“ meinte.495 Das lag für Hieber – der sich 2009 in seiner Medienkolumne in der FAZ über die „Tagesschau vor 20 Jahren“ zu deren exemplarischem Zuschauer machte – auch daran, dass die Wiederholungen „gleichwohl die sichere Erinnerung falsifizieren, das Ende der Teilung sei im Sommer 1989 noch undenkbar gewesen“. 496 Die Tagesschau im Speziellen, der Fernseher im Allgemeinen fungierten dabei vielleicht weniger als „Zeitmaschine“, wie Hieber bildstark suggerierte, sondern eher im Sinne Leif Kramps als „Gedächtnismaschine“. Die „Gedächtnismaschine Fernsehen“ funktioniert nach Niklas Luhmann jedoch weniger als „Speicher für vergangene Zustände oder Ereignisse“, wie eine Sendung des Formats „Tagesschau vor 20 Jahren“ nahelegte: „Vielmehr geht es um ein laufendes Diskriminieren zwischen Vergessen und Erinnern. Frei werdende kommunikative Kapazitäten werden durch Wiederbenutzung benötigter Sinneinheiten ständig neu imprägniert. Gedächtnis konstruiert Wiederholung, also Redundanz, mit fortgesetzter Offenheit für Aktuelles, mit ständig neuer Irritabilität.“497
Die fernsehtechnische Sequenz und der Flow der Programme, die sich wiederholen und beenden, um Raum für die nächsten Programmsequenzen zu machen, bilden ein technologische Analogon zur Geschichtspolitik, wie sie bisher beschrieben wurde, versteht man Elemente wie beispielsweise die Erschaffung eines kommenden Geschichts- und Demokratiebewusstseins, einer bestimmten Narrativität zu 1989 und zu kreierende oder stabilisierende Institutionen als Fundamente des Zukünftigen, das an die erinnernde Gegenwart und die erinnerte Vergangenheit anschließt. So sind in diesem Fall politische und technische Operation auf Augenhöhe zueinander.498 „Denn“, so erneut Luhmann, „ohne Vergessen, ohne Freimachen von Kapazitäten für neue Operationen hätte das System keine Zukunft“.499 495 Ebd. 496 Ebd. 497 Luhmann 2009, S. 54. 498 Dieses eher technische Argument im Verhältnis von Apparatur und Politik soll deshalb betont werden, da dieses Verhältnis oft dem Ideologie- und Manipulationsverdacht unterliegt. Vgl. Kramp 2011, S. 449. Dagegen argumentiert vehement aus systemtheoretischer Perspektive Luhmann 2009, S. 9f. An dieser Stelle soll Luhmann darin gefolgt werden, dass eine bestimmte Art der Realitätserzeugung Massenmedien wie dem
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Einen weiteren Punkt in dieser Theorie der Fernsehtechnik und ihrer Rolle als „Gedächtnismaschine“ verdeutlicht Lorenz Engell, wenn er der Frage nachgeht, ob bei all dem Seriellen, Offenen, bei all den Wiederholungen und Programmatiken, welche Zeit und Bewegung des Fernsehens strukturieren, ein „Ende des Fernsehens“ möglich sei.500 Das Fernsehen gelte für gewöhnlich als „endlos“ – im Gegensatz vor allem zu Printmedien.501 Mache man die Serialität und den Flow zum Fundament des Fernsehens als Medium, so würde diese Position blind sein für jedes Konzept von Endlichkeit, das das Fernsehen für sich selbst besitzt. Daher schlägt Engell vor, dass die „Perspektive des Live-Ereignisses“ eingenommen werden müsste.502 Das Ende des Fernsehens ist „mit dem Eindruck verbunden, die Außenwelt breche herein“ – wodurch die von Luhmann erwähnte operative Geschlossenheit des Massenmediums Fernsehen aufbricht.503 Dieser Gedanke ist insofern geschichtspolitisch interessant, weil er dem scheinbar end- und damit implizit zeitlosen Medium Fernsehen seine Zeitlichkeit zurückgibt. Der Clou in Engells Philosophie liegt darin, dass dieses Zeichen des Endes, des „Einbruchs der Außenwelt“ als Kategorie des Lebens und des Lebendigen („Live“) auch nur im Fernsehen selbst geschehen kann: „Das Ende des Fernsehens ist […] immer ein Ereignis des Fernsehens selbst“.504 Dieser „Einbruch“ und das Ereignis des Endes kann mit Mary-Ann Doane als „Katastrophe“, als das „ultimative Drama des Momenthaften“ gelesen werden. 505 Dies ist weiterhin für die Rolle des Fernsehers in der Geschichtspolitik interessant, da für Doane dieser Moment der Katastrophe nicht nur die Zeitlichkeit des Mediums Fernseher bedingt, sondern diese Zeitlichkeit als permanente Gegenwart ausweist. Denn „das Fernsehen handelt nicht vom Gewicht der toten Vergangenheit, sondern vom Trauma und der Explosivität der Gegenwart“. 506 Wenn also vergangene Ereignisse, Bilder und Sequenzen wie die der Friedlichen Revolution erneut ihren Weg in die Kanäle des Jahres 2009 fanden, so nicht nur als Repräsentation Fernsehen operativ inhärent ist. Diese Realität unterliegt jedoch nicht der Dichotomie wahr/falsch, die dem Manipulationsverdacht innewohnt, sondern der Herstellung eines „Eigenwerts“ der Realität der Massenmedien. Geschichte im Fernsehen ist demnach in erster Linie Geschichte im Fernsehen – und nicht außerhalb dessen. Ein ähnliches Argument liefert Baudrillard 1994, S. 89-105. 499 Luhmann 2009, S. 123. 500 Engell, Lorenz: Das Ende des Fernsehens. In: Fahle/Engell 2006, S. 137-153. 501 Ebd., S. 137. 502 Ebd., S. 140f. 503 Ebd., S. 144. 504 Ebd., S. 152. 505 Doane, Mary-Ann: Information, Krise, Katastrophe. In: Fahle/Engell 2006, S. 102. 506 Ebd.
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eines irgend gearteten medialen und kulturellen Archivs – sondern als punktuelle Vergegenwärtigung dessen, was das Fernsehen im Moment seines Zeigens zeigt. Dieser etwas abstrakte Durchgang durch eine Theorie des Fernsehers sollte in erster Linie verdeutlichen, dass diesem als Apparatur, Massenmedium und Dispositiv eine Eigenständigkeit als Akteur zugewiesen werden kann. Um es nicht nur bei einer theoretischen Einordnung des Fernsehers als Akteur der Geschichtspolitik um 2009 zu belassen, sollen einige Beispiele illustrieren, wie der Fernseher dazu beitrug, die Friedliche Revolution sowohl zu vergegenwärtigen, zu repräsentieren als auch gleichzeitig zu archivieren. Man nehme nur eine Sendung wie „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“: Eine Dokumentation der Regisseure Sebastian Dehnhardt und Matthias Schmidt über die Ereignisse in Leipzig von 1989 bis zum 9. Oktober 1989, die mit Spielszenen angereichert wurde. Damit rückte sich diese Sendung vordergründig in die Nähe der Doku-Fiktionen, die sich zwischen fiktionalisierender Inszenierung und vermeintlich authentischem Material wie Archivaufnahmen und Zeitzeugenaussagen bewegen (Experten wie Historiker und vergleichbare Wissensfiguren kamen in der Sendung nicht zu Wort). Der Dokumentarfilm wurde von der Firma Broadview.TV gemeinsam mit den Fernsehsendern Arte und dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) produziert. Zusätzlich erhielt er Förderung durch die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, die Mitteldeutsche Medienförderung und das MEDIA Programme der Europäischen Union.507 Damit hatte der Film eine breite institutionelle Basis und war als Knotenpunkt eines Akteur-Netzwerks gewissermaßen ein Matter of Concern. Dass dieses Netzwerk sich primär aus dem Bereich europäischer Sende- und Förderanstalten zusammensetzte, unterstrich die Rolle des Fernsehens in der Geschichts- und Tagespolitik von 2009. So wurde der Film, wie generell die Erinnerung an 1989 und die darauf aufbauende (Geschichts-)Politik, als sowohl innerdeutsches als auch europäisches Projekt verstanden. Dementsprechend lief er, neben deutschen (Arte, MDR), auch auf ungarischen (Magyar TV) und polnischen (TVP), aber auch norwegischen (NRK) und finnischen (YLE) Fernsehkanälen. 508 Broadview.TV produzierte zudem
507 Vgl. die Internetpräsenz von Broadview.TV zu der Sendung (URL: http://www. broadview.tv/de/dokumentarfilme/2009/das-wunder-von-leipzig-wir-sind-das-volk.html [25.11.2012]). Mittlerweile ist die Internetpräsenz, mit eingeschränkterem Informationsumfang, nur noch als Archivbestand abrufbar (URL: http://www.broadview.tv/de/ produktion/das-wunder-von-leipzig-wir-sind-das-volk/ 19.7.2013]). 508 Vgl. die archivierte Internetpräsenz „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“. Broadview.tv (URL: http://www.broadview.tv/de/produktion/das-wunder-von-leipzigwir-sind-das-volk/ [19.7.2013]).
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einen internationalen englischsprachigen Trailer für die Dokumentation, die sich vom Ton her explizit an ein nicht-informiertes Publikum wandte. Die für „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ primär verantwortliche Produktionsfirma Broadview.TV verstand sich laut Firmenprofil selbst „in den Bereichen Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kultur als zuverlässiger Partner nationaler wie internationaler Fernsehsender“.509 Wie weit angelegt Produktionen wie „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ waren, wie kosmopolitisch ihr AkteurNetzwerk aussah, verdeutlichte die Selbstempfehlung der Produktionsfirma: „Der routinierte Umgang auch mit höchst kontroversen historischen Themen, einfühlsam geführte Interviews, gewissenhafte weltweite Archivrecherche und die ausgefeilte Dramaturgie der Filme sind Markenzeichen der jahrlangen [sic] erfolgreichen Arbeit. Abgerundet wird das Bild durch die Zusammenarbeit mit bedeutenden Komponisten und Orchestern, die durch aufwendige Musikproduktionen den Filmen der häufig preisgekrönten Autoren eine zusätzliche Note verleihen. BROADVIEW TV ist im Besitz wertvoller Film- und Musikrechte, die sowohl im Eigenverlag als auch in Zusammenarbeit mit Weltvertrieben und verschiedenen Verwertungsgesellschaften ausgewertet werden.“510
Der Bogen an mobilisierten Instanzen, wie diesem Selbstverständnis nach auch „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ unterliegen müsste, spannte sich von kontroversen historischen Themen über das psychologische Gespür der Rechercheure, die Akquise von Interviewpartnern, Komponisten und Orchestern bis hin zu Medienpreisrenommee sowie dem Copyright auf Musikstücke und dem Zugriff auf Bild- und Tondatenbanken. Dies mag nicht singulär für solche Produktionen oder diese spezielle Produktionsfirma sein. Aber es ist doch zu berücksichtigen, dass ein Dokumentarfilm wie „Das Wunder von Leipzig“ schon von Beginn an nicht anders funktionierte und kaum anders zu beschreiben war als kosmopolitisch. Was die Fernsehspezifik anging, so stach bei Filmen wie „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ hervor, dass es alle drei von Engell und Fahle bemühten Kategorien – Bild, Ereignis, Serie – miteinbezog. Bildhaft war der Film in der Reproduktion des Archivs „Fernsehen“, da es besonders im Rückgriff auf die Rundfunkarchive als „authentisches“511 Material Bilder wiederverwendete, die Kamera509 Vgl. Firmenprofil von BroadviewTV (URL: http://www.broadview.tv/de/firma/profil. html [25. 11. 2012]). 510 Ebd. 511 Dass „authentisch“ in diesem Untersuchungszusammenhang des Öfteren in Anführungszeichen gesetzt wird soll nicht heißen, dass nicht an die Realität der Aufnahmen geglaubt wird, sondern lediglich auf den hier bemühten analytischen Zusammenhang des Recyclings hinweisen, der es in der Praxis der angeführten Beispiele erlaubt, archivierte Aufnahmen zu reproduzieren, zu wiederholen, zu repräsentieren und zu rekontex-
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teams 1989 in Leipzig aufnahmen und für den Film bereitstellten. Darunter sollte auch „bislang unbekanntes Archivmaterial“ sein, das zusammen mit „[a]ufwändig nachgestellte[n] Szenen […] die dramatischen Ereignisse des Herbstes 1989 lebendig werden“ ließe.512 Das Motiv der „Lebendigkeit“ bei Geschichtserzählungen konnte um 2009 als mindestens geläufig gelten. Wichtig scheint aber, dass gerade das Zusammenspiel von Archiv und Inszenierung, von Bild und Ereignis – zudem seriell realisiert, indem es über das „Erinnerungsjahr 2009“ hinweg immer auf anderen Kanälen, in anderen Programmzusammenhängen wiederholt513 wurde – zu dieser „Lebendigkeit“ beitragen sollte. Programmtechnisch lief „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ auf dem MDR beispielsweise im Rahmen einer Programmnacht zur Friedlichen Revolution, die sich nicht nur auf das Fernsehangebot des Senders beschränkte, sondern, wie später noch gezeigt wird, sich in andere mediale Kontexte wie Radio, DVD oder Internet übersetzen ließ. Gleiches galt für das Programm von Arte, in dem „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ seine Premiere feierte. Sogenannte „Themenabende“ oder „Programmschwerpunkte“ belegten den Stellenwert der Erzählungen und Programme, die sich zunächst als Sonderfall ereignishaft gaben und sich so seriell bündelten. In diesem Ereignis-Kontext hieß es dann auch von Co-Produzent und Premierenkanal Arte: „Zum ersten Mal werden die dramatischen Geschehnisse in Leipzig im Herbst ‘89, die Ängste und Hoffnungen aller Beteiligten anhand persönlicher Erlebnisse beleuchtet. Damit trägt der Film dem besonderen Stellenwert dieses historischen Ereignisses Rechnung.“514 Dieses „zum ersten Mal“, die informationstheoretische Voraussetzung des Ereignishaften schlechthin, zeichnete den Film programmatisch aus – und stellte es zugleich als Analogon zu den historischen Ereignissen dar, indem es aufgrund seiner Machart erstmalig „dem besonderen Stellentualisieren, sodass sie immer in einen anderen Zusammenhang übertragen und übersetzt werden, der sie nicht minder real macht, aber, und das ist kein Widerspruch, immer auch als Konstruktionsbaustein verwendet. Der Begriff „authentisch“ in der Bedeutung als substanziell unantastbares „Für sich“ des Materials wird dafür verworfen. 512 N.N.: Das Wunder von Leipzig – Dokumentation im MDR Fernsehen. Leipzig.de am 7.10.2009 (URL: http://goo.gl/bMVLq [19.7.2013]). 513 Premiere hatte der Film in Deutschland auf Arte am 25.9.2009 um 22.30 Uhr. Wiederholt wurde er auf dem MDR am 8.10.2009 zur sogenannten Primetime um 20.15 Uhr und auf Phoenix am 10. Oktober um 22.30 Uhr. Die letzten beiden Termine rahmten den Leipziger Gedenktag am 9. Oktober 2009 ein, an dem die Sendung um 14.30 Uhr auf dem MDR wiederholt wurde. 514 N.N.: Das Wunder von Leipzig. Arte.tv am 24.9.2009 (URL: http://www.arte.tv/de/daswunder-von-leipzig/2816512.html [26. 11. 2012]).
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wert dieses historischen Ereignisses Rechnung“ trage. Ganz im Sinne des um 2009 virulenten Diskurses ging es auch in dem Dokumentarfilm insbesondere um eine Geschichte „von unten“ – aus Sicht der beteiligten, die Geschichte herstellenden Subjekte. Das „Wahrsprechen“ lag also nicht in den Händen von Wissenschaftlern oder anderen Experten, sondern in der Stimme der Zeugen, den Bildern und Tönen der Archive und in den inszenierten Szenen, die sich oft komplementär zu den Zeugenaussagen verhielten und deren Erzählungen illustrativ begleiteten. Daraus ergab sich ein Erzählfluss, der weniger wie eine Collage als vielmehr eine chronologischdramaturgische Linie erschien, welche die Erzählung einer Massenbewegung entwarf, die im „Mut“515 einiger weniger begann und sich gegen alle Wahrscheinlichkeit und alle Gewalt durchsetzte. Gerade die Massenmedienpräsenz von Geschichte führt nicht selten dazu, dass besonders von wissenschaftlich-professioneller Seite der Vorwurf erhoben wird, es handele sich dabei eher um bloße Unterhaltung als um Bildung oder genaue Wiedergabe der Ereignisse und damit einhergehender Erkenntnisse.516 Das sei besonders bei Jubiläumsanlässen wie dem „Erinnerungsjahr 2009“ der Fall. 517 Diese zeichneten sich in erster Linie durch ein kommerzielles Denken aus, das sich seriell produziert und damit Massenprodukte zum Massenkonsum für ein Massenpublikum bereitstelle.518 Dabei blieben Tugenden wie Reflexion oder Wahrheitsfindung zu Gunsten von Unterhaltung und (oft nationalem) Wohlgefühl auf der Strecke. 519
515 Auch hier sollte der Hinweis erfolgen, dass die Anführungszeichen nicht diskreditieren, sondern den Topos des „mutigen Subjekts“ als Eigenwert der Erzählung zur Friedlichen Revolution unterstreichen sollen. 516 Vgl. Kramp 2011, S. 431ff. Eine differenzierende Darstellung dieses Problems bietet Hardtwig, Wolfgang: Verlust der Geschichte oder wie unterhaltsam ist Vergangenheit? Berlin: Vergangenheitsverlag 2010. 517 Vgl. Kramp 2011, S. 434ff. 518 Diese Kritik stand in der Kontinuität der frühen Frankfurter Schule, vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer 2011. Darin besonders das Kapitel „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“. Ähnliche Beiträge im Umfeld der Frankfurter Schule vertrat auch Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Aleida Assmann setzt in einer etwas milderen Geste Markt und Massenmedien der Erinnerungen in dasselbe Feld. Massenmedial ginge es eher um „Austausch von Produkten und Informationen im Hier und Jetzt“, statt um die Ausbildung eines funktionierenden kulturellen Gedächtnisses. Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2006, S. 242f. 519 Vgl. Kramp 2011, S. 440ff. und Katz/Dayan 1996, S. ix.
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Eine gängige Kürzung dieser Haltung reduziert sich oft auf den Begriff der „Eventkultur“ oder „Erlebnisgesellschaft“.520 Diese Diagnosen begründen sich nicht selten im Zusammenhang mit einer weitgehend technisierten und technisch produzierten (sprich: medialisierten) Welt(wahrnehmung). „Erlebniswelten“ und „Eventkulturen“ sind dabei künstlich und/oder virtuell hergestellt und werden, laut Horst Opaschowski, gerade was „Jugendliche“ angeht immer mehr zur eigentlichen Lebenswelt.521 Opaschowski spricht dabei von „Kunstwelten“ und „Reproduktionskultur“, die zudem eine „Krise des Originals“ hervorriefen.522 Auch das Fernsehen in den von Engell und Fahle angeführten Kategorien verfügt mit „Ereignis“ und „Serie“ über Bereiche, die sich komplementär zu dieser Gesellschaftsdiagnose verhalten – und diese darüber hinaus ermöglichen und reproduzieren. Was ist das Erscheinen des Originals anderes als ein „Ereignis“, was die Reproduktion und Kopie anderes als Serialität? Da, wenn man Engell und Fahle folgt, beide Kategorien das Fernsehen technisch wie philosophisch bedingen, ist es ein leichtes, das Fernsehen als Garant der „Eventkultur“ und „Erlebnisgesellschaft“ auszumachen. Einer eher weiten analytischen Grundlage des Verhältnisses von Fernsehen, Historisierung und Event/Ereignis523 widmen sich hingegen Elihu Katz und Daniel
520 Vgl. zu dieser durchaus streitbaren Kategorie einer Gegenwartssoziologie besonders Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Campus 2005 sowie das Themenheft „Erlebnisgesellschaft“ APuZ B12/2000 (online unter http://www.bpb.de/apuz/25679/erlebnisgesellschaft [26.11.2012]). 521 Opaschowski, Horst: Jugend im Zeitalter der Eventkultur. In: APuZ B12/2000 (digital unter http://goo.gl/v6nn6 [19.7.2013]). 522 Die „Krise des Originals“ unter expandierenden technischen Bedingungen beschrieb bereits scharfsinnig Benjamin in: Wirth 2008. Darin Tauchen auch die Topoi von Markt, Masse und Kunst schon in der Form auf, wie sie von Horkheimer über Adorno bis zu Aleida Assmann aufgenommen wurden (ohne damit jedoch zu sagen, dass diese Aufnahme homogen und stets affirmativ erfolgte). 523 Da sich Event leicht als „Ereignis“ aber auch „Erlebnis“ übersetzen lässt und im deutschen Sprachgebrauch im Sinne der Kulturkritik eher diffamierend verwendet wird, muss darauf hingewiesen werden, dass hier zu Dekonstruktionszwecken zunächst von einer Doppelbedeutung Event/Ereignis ausgegangen wird. Die etymologische Herleitung von lat. eventus im Sinne von „Ausgang“ soll hier beibehalten werden, da daraus ableitbare Bedeutungen wie „Erscheinung“, „Verlauf“, etc. durchaus interessante Kategorien des Begriffs im Kontext der Geschichtspolitikanalyse bilden, wohingegen eine eher polemisch-diffamierende kulturkritische Dekadenzbehauptung aus dem Eventbegriff ausgeklammert werden soll, da diese in ihrer ablehnenden Haltung zu ihren Untersuchungsobjekten analytisch unproduktiv erscheint.
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Dayan in ihrer Studie „Media Events – The live broadcasting of History“.524 Katz und Dayan definieren Media Events wie folgt: „Unique to television, they differ markedly from the genres of the everynight. […] In fact, they are interruptions of routine; they intervene in the normal flow of broadcasting and our lives.“525 Katz und Dayan fassen Media Events ins Auge, die „proclaimed historic“ sind.526 Was die Autoren damit meinen ist, dass diese Media Events selbst in ein Archiv übergehen und irgendwann als historische Ereignisse erinnert, reproduziert und repräsentiert werden.527 Was aber, wenn das „Event“ selbst schon diese Reproduktion und -präsentation ist? Diese Frage führt wieder zurück zum Kernproblem, inwiefern sich das Ereignis 1989 zur Gegenwart 2009 verhielt. War das „Erinnerungsjahr 2009“ überhaupt ein Ereignis? Und wenn ja, war es die gleiche Art Ereignis wie 1989? Der common sense gebietet, diese Frage zu verneinen. Das scheint, nach all dem Dargestellten, zumindest voreilig. Vielmehr muss auch an dieser Stelle betont werden, dass die Antwort dazwischen zu suchen ist. Dazu ein weiteres Beispiel aus der Praxis des „Erinnerungsjahres 2009“: Am Vorabend des „Erinnerungsjahres“ war auf Sat.1 ein sogenanntes „TV-Event“ zu sehen. Der Spielfilm „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ wurde am 6. und 7. Oktober 2008, also kurz vor dem Jahrestag des 9. Oktober 1989, in zwei Teilen á 93 Minuten ausgestrahlt. Regie führte Thomas Berger, unter den Darstellern waren bekannte Film- und Fernsehschauspieler wie Anja Kling, Hans-Werner Meyer, Heiner Lauterbach, Anna Fischer und Felicitas Woll. Der Zweiteiler war 2009 für mehrere Filmpreise nominiert und gewann letztlich drei.528 Mit einem Quotenanteil von 12,8% (3,97 Mio. Zuschauer) für den ersten und 14,6% (4,41 Mio. Zuschauer) für den zweiten Teil konnte das „TV-Event“ darüber hinaus auch als Publikumserfolg gelten.529 524 Katz/Dayan 1996. Katz und Dayan gehen exemplarisch davon aus, dass Media Events kanalübergreifende, außergewöhnliche, live-übertragene Ereignisse sind. Als Beispiele dienen ihnen u.a. die Olympischen Spiele oder eine Heirat der Royals. An dieser Stelle soll das Untersuchungsfeld jedoch auf spezielle Programmkomplexe im Fernsehen ausgeweitet werden, die sich selbst als Events bezeichnen oder sich strukturell ähnlich verhalten. 525 Katz/Dayan 1996, S. 4f. (Hervorhebung im Original). 526 Ebd., S. 8. (Hervorhebung im Original). 527 Ebd., S. 147ff. und S. 211ff. 528 Die Preisträger des Deutschen Fernsehpreises 2009 sind einzusehen unter N.N.: Der Deutsche Fernsehpreis: Die Preisentscheidungen 2009 (URL: http://goo.gl/xxN2w [19.7.2013]. „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ gewann die Preise für „Bester Mehrteiler“, „Beste Schauspielerin Nebenrolle“ und „Bestes Buch“. 529 Vgl. Brixus, Sabrina: „Sat.1: Zweiteiler ‚Wir sind das Volk‘ mit guten Quoten“. Cinefacts.de am 8.10.2008 (URL: http://goo.gl/3NT5Bg [18.8.2013]).
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Der Film erzählte in reinen Spielfilmsequenzen die Geschichte der letzten Monate der DDR anhand fiktiver Einzelfiguren, deren Schicksale sich mit den historischen Ereignissen verwoben. So spielte Anja Kling eine Mutter, die im Sommer 1989 versuchte, zu ihrem bereits nach Westdeutschland geflohenen Partner (HansWerner Meyer) über die ungarische Grenze zu fliehen. Dies misslingt jedoch und Klings Figur wird von der Staatssicherheit (verkörpert durch Heiner Lauterbach) in Hohenschönhausen inhaftiert, verhört und gefoltert. Außerhalb des Gefängnisses versucht Meyers Figur, die aufkeimenden Oppositionsbewegungen im Westfernsehen präsent zu machen und arbeitet mit einem Kamerateam zusammen, das entsprechende Bilder der Montagsdemonstrationen liefern soll. Gleichzeitig wird erzählt, wie Felicitas Woll als Mandy und Anna Fischer als Jule sich in der Opposition engagieren und diese mehr und mehr den bekannten Verlauf nimmt, bis schließlich am 9. November 1989, dem Druck der Straße nachgebend, die Grenzen geöffnet werden.530 Erzähltechnisch bediente sich der Film gängiger Elemente, die zugunsten eines Spannungsbogens und einer konkreten Dramaturgie individuelle Geschichten mit der Geschichte von 1989 in Verbindung brachte. Der Diskurs zu 1989 arbeitete sich hierin einmal mehr an Individuen ab, die, sofern Identifikationsfigur, zu Subjekten wurden, indem sie sich mutig engagierten und für aufklärerisch-demokratische Werte einsetzten. Interessant an der Erzählung war jedoch die Rolle des Medialen, sprich der Westmedien und der Filmkamera als Apparat, die zum politischen Akteur wurden. So arbeitet nicht nur Meyers Figur nach der Flucht über die Grenze bei einer westdeutschen Rundfunkanstalt. Ein ganzer Spannungsbogen drehte sich darum, Bilder für die Friedliche Revolution und gegen die Staatsorgane der DDR einzufangen. Eine ähnliche Geschichte war auch in dem Dokumentarfilm „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ zu sehen.531 Dass das Fernsehen nun selbst auch in Filmen verhandelt wurde, die archivarisch und erzähltechnisch auf dessen Material zurückgriffen, fügte dem Ganzen eine doppelbödige Medialität hinzu. Exemplarisch dafür standen Spielszenen, die sowohl in „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ und „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ vorkamen, in denen Schauspieler vor ihrem Fernseher sitzen, auf dem das im
530 Eine von Sat.1 erstellte Kurzfassung des Inhalts findet sich online für Teil 1 (URL: http://www.sat1.de/filme_serien/wirsinddasvolk/story/teil1/index.html) und für Teil 2 (URL: http://www.sat1.de/filme_serien/wirsinddasvolk/story/teil2/index.html) [beide URLs zuletzt eingesehen am 29.11.2012]. 531 Darin ging es um ein belgisches Kamerateam, das unter dem Vorwand, eine Naturdokumentation über Bieberpopulationen in der DDR zu drehen, einreiste, um letztendlich an Bildmaterial von den oppositionellen Bewegungen in Leipzig zu kommen, das zwei Oppositionelle ihnen unter riskanten Bedingungen zuspielten.
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Film verwendete Archivmaterial abgespielt wird.532 Das archivarische Bildereignis fügte sich so in andere, meist neuere Bildereignisse („TV-Events“) ein. Serialität wurde dadurch produziert, dass das „TV-Event“ „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ von Sat.1 am 2. Oktober 2012, ein Tag vor dem „Tag der Deutschen Einheit“, sozusagen als Festtags-Programm, wiederholt wurde. Zudem gab es einen Tag nach der Erstausstrahlung eine DVD-Veröffentlichung des Films, der so auf einer digitalen Speicher- und Verbreitungstechnologie erneut archiviert und serialisiert wurde. Dass der Film nicht nur als TV-, sondern auch als Gedenkereignis im Rahmen des „Erinnerungsjahres 2009“ fungierte, zeigte sich unter anderem daran, in welchem Kontext er öffentlich gezeigt wurde. So lud beispielsweise die Leipziger Außenstelle der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) zu einer Vorführung am 7. Oktober 2009 (also genau ein Jahr nach dessen Erstausstrahlung) in ihren Räumlichkeiten am Dittrichring ein.533 Gerahmt wurde der dramatisiert fiktionalisierte Film durch ein Gespräch des Journalisten Daniel Heinze mit Siegbert Schefke, ein „Zeitzeuge und Protagonist im Film“534 Filmvorführung und Zeitzeugengespräch hatten in einer Filmsequenz ihre konkrete Verbindung zueinander, weshalb beide auch in derselben Veranstaltung nicht neben-, sondern miteinander stattfinden konnten: „Eine auf den Erzählungen von Siegbert Schefke und seinen Freunden basierende Filmsequenz erzählt von der aufregenden Aktion dreier junger Männer, die versuchen Videoaufnahmen von der Montagsdemonstration für die Westmedien aufzuzeichnen. Kein einfaches Unterfangen, da in die eigenen Reihen ein Spitzel von der Staatssicherheit eingeschleust wurde und die Stasi den Männern somit immer dichter auf die Spur kommt. Trotz hohem Risiko und der Gefahr[,] dass die Staatssicherheit ein Zeichen setzt und mit militärischer Unterstützung die Demonstration am 9. Oktober zerschlägt, gelingt es Micha, Dirk und Andreas ihren Plan umzusetzen und die Bilder weltweit zu veröffentlichen.“ 535
Spätestens an dieser Stelle verließ der Film das Medium Fernseher, war nicht mehr zwangsläufig auf dessen Technik und Rahmung angewiesen. Es wäre auch zu kurz gegriffen würde angenommen werden, dass Filme wie „Wir sind das Volk – Liebe 532 So saß in „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ beispielsweise ein Protagonist vor seinem Fernseher und betrachtete sorgenvoll aus Archivmaterial rekrutierte Bilder der Ereignisse von 1989 in China auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“. 533 Die Einladung ist einzusehen bei N.N.: „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“. Leipzig.de am 6.10.2009 (URL: http://goo.gl/KizVn [19.7.2013]). 534 Vgl. N.N.: „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“. Auf leipzig.de 6.10.2009 (URL: http://goo.gl/KizVn [19.7.2013]). 535 Ebd.
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kennt keine Grenzen“ nur im Kontext des Fernsehens realisierbar seien, nur weil sie diesem entspringen. Vom Knotenpunkt des Akteurs Fernseher ausgehend verbreiteten sich dessen Erzeugnisse im „Erinnerungsjahr 2009“ weiter und fanden in anderen Kontexten Anschluss. Umgekehrt konnten die Apparatur Fernseher und dessen Programmerzeugnisse andere Akteure an sich binden und dazu bringen, für ihre Verbreitung zu sorgen. Damit sind nicht nur an derartigen Produktionen beteiligte Sendeanstalten, Produktionsfirmen, Filmsets, Marketingabteilungen, Schauspieler, Interviewer und Medienarchive in hohem Maße beteiligt; auch nicht nur mehrere Millionen Zuschauer, DVD-Käufer, Teilnehmer an öffentlichen Vorführungen und andere Vertriebs- und Rezeptionswege. Das Dispositiv Fernsehen konnte auch andere Medien, andere Apparaturen und andere Technologien mobilisieren und an sich binden. Ein Beispiel dafür war im Fall von „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ die vordergründig werberelevante Einbindung eines Stücks von Udo Lindenberg. Der Song „Was hat die Zeit mit uns gemacht“ lieferte die Begleitmusik zu dem Zweiteiler und wurde in diesem Rahmen auch offensiv beworben. Dennoch war das Zusammenspiel von Lindenberg, diesem speziellen Song und dem TV-Film keine Zufallsproduktion. Das wurde schon daran deutlich, dass Lindenberg seine Singleauskopplung am 3. Oktober 2008, dem „Tag der Deutschen Einheit“, veröffentlichte und am 5. Oktober, also einen Tag vor der Erstausstrahlung des „TVEvents“, den Song erstmalig im Fernsehen aufführte – ebenfalls auf Sat.1, in der Sendung „Nur die Liebe zählt“.536 „Liebe“ mochte auch der kleinste gemeinsame thematische Nenner sein, auf den man diese Zusammenhänge bringen konnte – handelte Lindenbergs Stück doch auf den ersten Blick von einer kriselnden Liebesbeziehung. Aber auch der TV-Zweiteiler hatte schließlich als Untertitel „Liebe kennt keine Grenzen“ gewählt – und diese so zu einem universalen Prinzip erhoben sowie in die Ereignisse von 1989 eingeschrieben. Auch wurde in der PR-Info des Künstlers auf dessen biographischen Bezug zum im Geschehen von 1989 hingewiesen.537 Der Song passte aber auch aufgrund seiner metaphorischen Qualitäten in den Kontext des anstehenden „Erinnerungsjahres“ und den Erzählungen zur Friedlichen Revolution. So hieß es im Text von „Was hat die Zeit mit uns gemacht“: „Auf dieser Autobahn / lass uns nicht weiterfahr´n / die letzte Ausfahrt hier / Ey, komm, die nehmen wir / Da ist die letzte Bar / ist der letzte Drink / vor der Grenze da / Was hat 536 Informationen entnommen der PR-Seite des Künstlers selbst: N.N.: Neue Single „Was hat die Zeit mit uns gemacht“. Udo-lindenberg.de am 15.9.2008 (URL: http://goo.gl/ AXiQr [19.7.2013]). 537 „Der TV-Film handelt um den Mauerfall, wahrscheinlich das historisch bedeutsamste Ereignis für Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Udo Lindenberg hat wie nur wenige andere deutsche Künstler den Bruch, den die Mauer zwischen die deutschen Staaten gebracht hat, miterlebt.“ Vgl. ebd.
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die Zeit mit uns gemacht / Was ist denn blo[ß] aus uns geworden / […] In so ein Land, wo weit und breit / nichts ist als Schweigen oder Streit / Da will ich nicht hin / das macht mich kaputt.“538 Nach dem bisher in diesem Kapitel zur Friedlichen Revolution Festgestellten, lässt sich leicht erkennen, dass Lindenberg in seinem Songtext metaphorisch Topoi aufgriff, die die Erzählungen zur Friedlichen Revolution im „Erinnerungsjahr“ auf Schritt und Tritt begleiteten. Das Gefühl des nahenden Endes, das Schweigen und die Missverständnisse, die mehr trennen als vereinen. Zeilen wie „Egal, was ich auch sag‘ /alles verstehst du falsch / Dabei möchte ich so gern / wir sind doch beide vom selben Stern“ illustrierten den Sprach-Topos weiter und fassten auf einer anderen Ebene die Haltung der Oppositionellen von 1989 in eine Liebesanalogie: Man lebte zwar gemeinsam, hatte sich aber nichts mehr zu sagen, stieß an Grenzen und wünschte sich Veränderung, da das gemeinsame Zusammenleben unter den gängigen Verhältnissen nicht mehr möglich schien. Die titelgebende Frage „Was hat die Zeit mit uns gemacht?“ beinhaltete dazu eine latent historische Perspektive, dass sich anhand eines Zeitstrahls Dinge anders, bisweilen schlecht entwickelt haben und ein Ende oder Veränderung, so könnte weiter gedeutet werden, eine andere, bessere Zeit anbrechen lassen würden. So ließ sich Lindenbergs Song, indem er durch das Fernsehen, durch das „Erinnerungsjahr“ rekontextualisiert und mit diesen verknüpft wurde, von einem Liebeslied in eine Geschichtsmetapher übersetzen, die an die Geschichtspolitik zu 1989 anschlussfähig war. Eine weitere Form der Anknüpfung des Fernsehens an andere Medienkontexte war die Präsenz der hier besprochenen Filme im Internet. Sowohl „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ als auch „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ hatten eigene Websites – allerdings nur im Rahmen bereits bestehender Kontexte wie der Bradview.TV-Firmenseite539 und einem Portal bei Arte540 bzw. der Einbettung in die Senderseite bei Sat.1 im Fall von „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“541. Diese Einbettung in größere Produktions- und Sendezusammenhänge konnte unter Umständen als Generator von Aufmerksamkeit funktionieren, wenn beide Sendungen als Programmhinweis vorgestellt und dem Besu-
538 Der Text ist einzusehen auf der Homepage des Künstlers: Lindenberg, Udo (u.a.): Was hat die Zeit mit uns gemacht? Online auf Udo-lindenberg.de (URL: http://goo.gl/34JUl [19.7.2013]). 539 Vgl. die archivierte Internetpräsenz von N.N.: „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ (URL: http://www.broadview.tv/de/produktion/das-wunder-von-leipzig-wir-sinddas-volk/ [19.7.2013]). 540 N.N.: Das Wunder von Leipzig. Arte.tv am 24.9.2009 (URL: http://www.arte.tv/de/daswunder-von-leipzig/2816512.html [19.7.2013]). 541 URL: http://www.sat1.de/filme_serien/wirsinddasvolk/ [19.7.2013].
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cher der Seiten über andere Zusammenhänge, die ihn möglicherweise ursprünglich mehr interessieren, ans Herz gelegt wurden. So war beispielsweise die Website von „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ bei Arte in den gesamten Sonderprogrammkontext zu allen Beiträgen des Senders im „Erinnerungsjahr 2009“ eingebettet, der über eine Navigationsleiste alle dazugehörigen Sendungen miteinander verband. Neben einer kurzen Beschreibung der Ereignisse in Leipzig 1989 und Hinweise auf die Machart des Films sowie dessen Ausstrahlungstermin fanden sich im selben Kontext zwei weitere verlinkte Hinweise auf der Homepage zum Film: Einer führte zum Arte Live Web, auf dem am 9. Oktober 2009 das „Festkonzert zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution“, das, dirigiert von Kurt Masur, in der Leipziger Nikolaikirche (einem der Hauptorte der Friedlichen Revolution in Leipzig) live übertragen wurde. Der zweite Link führte den am Filmprogramm zum „Erinnerungsjahr 2009“ interessierten Besucher zu einer interaktiven Animation („Das Wunder von Leipzig“), die mit dem Text warb: „Hier können Sie die dramatischen Ereignisse des 9. Oktobers 1989 in Leipzig nacherleben und vertiefende Informationen abrufen“.542 Diese Übersetzung des Dokumentarfilms in einen interaktiven Zusammenhang, der, neben informativer Vertiefung, ein „Nacherleben“ möglich machen sollte, führte zu mehreren Optionen: Zunächst wurde auf interaktive Foren verwiesen, in denen die Seitenbesucher über Themen im Zusammenhang mit der Friedlichen Revolution diskutieren konnten. Dort gab es Foren zu Themen wie „Mit Fantasie gegen die Staatsgewalt“543, in denen Zeitzeugen zu Fragen wie „Wie haben Sie sich gewehrt gegen die alltäglichen Einschränkungen Ihrer persönlichen Freiheit? Haben Sie, Ihre Eltern oder Freunde Verbote umgangen? Was haben Sie dabei riskiert? Welchen Sanktionen waren Sie ausgesetzt?“ berichten sollten. Alternativ wurden auch NichtZeitzeugen angeregt über die Frage „Twitter, YouTube und Blogosphäre – Mehr Demokratie dank Internet?“ zu diskutieren. Diese Frage verknüpfte erneut die politischen Fragen von 2009 – gerade der Demokratie – mit denen von 1989, was auch in dem Begleittext zu der angestoßenen Diskussion ersichtlich wurde, der auf die Rolle von Medien und Apparaturen in der Politik beider Zeitebenen hinwies: „An der Friedlichen Revolution in der DDR hatte auch das Westfernsehen seinen Anteil. Ohne die Fernsehbilder aus Leipzig und Berlin bei ARD und ZDF hätte die Wende ein langsameres Tempo gehabt. Heute scheint das Internet mit entscheidenden Einfluss auf politische
542 N.N.: Das Wunder von Leipzig. Arte.tv am 24.9.2009 (URL: http://www.arte.tv/de/daswunder-von-leipzig/2816512.html [19.7.2013]). 543 N.N.: Mit Fantasie gegen die Staatsgewalt. Arte.tv am 14.10.2009 (URL: http://www. arte.tv/de/mit-fantasie-gegen-die-staatsgewalt/2871494.html [19.7.2013]).
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Entwicklungen zu haben: Hätte es ohne Twitter keine Revolte im Iran gegeben? Wäre Obama ohne Facebook Präsident geworden? Was meinen Sie?“544
Andere Foren fragten: „Feiern wir in Deutschland den falschen Nationalfeiertag?“545 – und verhandelten, ob der 3. Oktober, der 9. Oktober oder der 9. November geeignete Feiertage wären (ähnlich hatte das schon das Begleitheft des Kurzfilms „Und jetzt?!“ verhandeln wollen). Ein anderes Forum gab es zur Rolle der Kirche in 1989 und ihrer politischen Funktion546 Alle Foren verwiesen wiederum auf die Hauptattraktion: eine interaktive Animation des 9. Oktober 1989.547 Diese war die eigentliche Übersetzung des Films „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ in den interaktiven Kontext des Internet und wurde von Arte gemeinsam mit dem MDR erstellt. Darüber hinaus wurde sie mit dem „Grimme Online Award 2010“ in der Kategorie „Wissen und Bildung“ ausgezeichnet.548 Die Begründung der Grimmepreis-Jury legte erneut den Topos des immersiven „Nacherlebens“ offen: „Die mit liebevollen Details gestaltete Website ‚Das Wunder von Leipzig‘ ermöglicht das Eintauchen in die Stimmung, die Schauplätze und Ereignisse dieses historischen entscheidenden Tages. Texte, authentisches Foto-, Film- und Audiomaterial, besonders die Archivraritäten, die man sonst nicht so häufig sieht, sprechen nicht nur den Verstand an, sondern wecken Neugierde und Faszination für diese in der Geschichte einzigartige Demonstration. […] Der sehr enge Zeitraum der Geschehnisse wird so unmittelbar fassbar. […] Jede der Stationen eröffnet sich dem Besucher über unterschiedliche Medien mit einer Fülle von authentischen Informationen.“549
Die Startseite der Animation zeigte in gelblichen Tönen gehalten einen Stadtplan der Leipziger Innenstadt, in dem prominente Gebäude (z.B. die Nikolaikirche, die „Runde Ecke“ oder auch ein „Stadtfunk Lautsprecher“) als Stationen der Demonstration vom 9. Oktober 1989 in gezeichneter Darstellung herausragten und mit ihrem jeweiligen Namen kenntlich gemacht wurden. Zudem war den meisten Stationen 544 Ebd. 545 N.N.: Das Wunder von Leipzig. Friedliche Revolution. Animation auf Arte.tv (URL: http://goo.gl/I2qPU 19.7.2013]). 546 N.N.: Eine feste Burg. Arte.tv am 8.10.2009 (URL: http://goo.gl/tRHTe [19.7.2013]). 547 N.N.: Das Wunder von Leipzig. Animation auf Arte.tv (URL: http://goo.gl/KYaH8 [19.7.2013]). 548 Vgl. Grimme-Institut: Preisträger 2010. Grimme-Institut.de (URL: http://goo.gl/8oylr [19.7.2013]). 549 Die Begründung der Jury mitsamt einem Einspielclip zur Animation findet sich online auf Grimme-Institut.de (URL: http://goo.gl/1A6gS [19.7.2013]).
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eine konkrete Uhrzeit zugeordnet, die eine eigene Chronologie der Ereignisse am unteren Bildrand in einer Zeitleiste aufführte. Zu Beginn der Animation zog eine orangene Linie um das hervorgehobene „Leipziger Rund“ von der Nikolaikirche bis zum damaligen Karl-Marx-Platz, unterlegt von aus dem Tonarchiv stammenden Aufnahmen zeitgenössischer Losungen wie „Wir sind das Volk“. Als Hintergrund des animierten historischen Stadtplans wurde ein Originalfoto der demonstrierenden Menge verwendet, auf dem besonders ein rufender Mann und eine Frau mit Kerze hervorstachen. In der oberen rechten Ecke der Animation war ein Kalenderblatt mit dem Datum des 9. Oktober 1989 unter dem Logo der Animation („Das Wunder von Leipzig – Friedliche Revolution“) angebracht, das nach einem Mausklick die Geschehnisse dieses Montags, „an dem sich in Leipzig die Zukunft der DDR“ entschied, in Textform wiedergab. Mit einem Klick auf die einzelnen Schauplätze gelangte man zu weiterführenden Informationen, aus dem Archiv oder dem Dokumentarfilm entnommenen Medien und Inhalten sowie den oben bereits erwähnten Foren. So fand sich beispielsweise am „Stadtfunk Lautsprecher“ der originale Aufruf der „Leipziger Sechs“ animiert an einem altertümlichen Radio, das per Mausklick bedient werden konnte. Das Radio wurde auch herangezogen um vom MDR produzierte Radiobeiträge zum „Erinnerungsjahr 2009“ einzuspielen – und wurde so simuliertes Medium der Gleichzeitigkeit von 1989/2009. In einem ebenfalls dem technischen Look der 1980er nachempfundenen550 animierten Fernseher liefen thematisch sortierte und den einzelnen Ereignisorten zugeteilte Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“. Zusätzlich gab es auf einer simulierten Schreibmaschine eingezogene Informationstexte des Historikers Bernd Lindner, original Archivmaterial, Fotos, Schriftdokumente sowie chronologische Überblicke. Jeder dieser simulierten Medienbereiche wurde in einer Navigationsleiste durch ein eigenes Icon angezeigt, das auf das Fernsehen, das Radio, das Archiv, etc. bildlich verwies. Dieser Internetauftritt verdeutlichte in mehreren Facetten, wie das Fernsehen und seine Medialität bzw. seine dadurch möglichen Produkte in einen anderen technischen Kontext übersetzt wurden. Das ging so weit, dass der Fernseher selbst als simulierte Apparatur, wenn auch als historisch anmutendes Gerät, im Internetauftritt der Dokumentation animiert wurde. Gleiches galt für das Radio, das Archiv, das Fotoalbum. Nicht selten gilt das Internet als Medium der Aufhebung, da es in der Lage sei, ältere Medien in sich aufzunehmen und ihre Funktionsweise zu simulieren, ihnen darüber hinaus sogar eine Simultaneität zu gewährleisten, die andere Medien obso-
550 Es wäre noch medienarchäologisch zu klären, ob diese Geräte nur Zeichen älterer Apparaturen oder tatsächlich zeitgenössische Geräte waren. Darauf fand sich jedoch auf der Homepage kein Hinweis.
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let machen könnte.551 Dem mag das Internet empirisch nicht immer entsprechen. Im Fall des Internetauftritts von „Das Wunder von Leipzig – Wir sind das Volk“ jedoch kann man von einer beispielhaften Aufhebung reden. So handelte es sich nicht um tatsächliche Radios, Archivregale, Fotoalben oder Fernseher. Deren technische Bedingtheiten, von denen hier besonders die des Fernsehers interessierten, wurden nicht mit übertragen, da die Videos nicht seriell, sondern vielmehr sequenziell nacheinander angewählt werden konnten. So wurde der Flow nicht mit realisiert, der dem Fernsehen so inhärent ist. Auch waren keine simultanen Kanäle verfügbar und auch kein vorgegebener Programmfluss. Das ist auch einer der Hauptunterschiede, der bei der Übersetzung anderer Medien ins Netz immer zu berücksichtigen ist: Zwar können diese auf Codes übersetzte und in Datenformate komprimierten Medien – in diesem Falle sogar mitsamt ihrer Oberfläche – simuliert und angezeigt werden. Allerdings erscheinen sie dort nur als Segmente eines vormals Ganzen, dessen Versatzstücke der Nutzer selbst kombinieren muss, kann und soll. Der multimediale Access, der den Nutzer auf Websites wie dieser erwartete, machte ihn selbst zum Programmdirektor und Rechercheur. Die Navigation durch alle grafischen Übersetzungen des Geschehens, die Datenformate und den Stadtplan sowie die Chronik des Herbst 1989 zeichnete die Linie nach, anhand derer sich jeder einzelne Seitenbesucher das Wissen über dieses Ereignis aneignen konnte. Der Informationstext von Arte betonte diese Navigations-Komponente: „Die Grafik [...] nimmt den User mit auf den Weg der Demonstranten durch die Stadt, zieht ihn hinein ins Geschehen und lässt ihn zugleich je nach Bedarf verweilen – ohne dass er sich, dank einer übersichtlichen Navigation, verlieren kann.“552 Praktisch ähnelte dieser animierte und interaktive Auftritt dadurch weniger dem Fernsehen als vielmehr den Ausstellungen und Aktionen in Berlin und Leipzig, wie sie zuvor beschrieben wurden. Auch dort setzten die Organisatoren und Akteure auf einen Immersionseffekt, auf das „Nacherleben“ und gleichzeitige Informieren durch Authentizität. Und so wunderte es auch nicht, wenn die Jury des Grimmepreises 2010 in ihrer Begründung für die Preisvergabe mit dem Satz schloss: „Hier wurde ein virtuelles Denkmal geschaffen, das – auch Geschichtsmuffel – für ein Datum [den 9. Oktober 1989] sensibilisiert, welches sonst neben dem 9. November 1989 möglicherweise verblassen würde.“553
551 Einen Überblick zur medientheoretischen und -geschichtlichen Einordnung des Internet bietet Warnke, Martin: Theorien des Internet. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2011. 552 N.N.: Interaktiv. Das Wunder von Leipzig. Auf Arte.tv am 27.9.2011 (erstellt am 21.9.2009) (URL: http://goo.gl/29tKY [19.7.2013]). 553 Grimme Institut: Begründung der Jury auf Grimme-Institut.de (URL: http://goo.gl/ 1A6gS [19.7.2013]).
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Weit weniger ausgefeilt war der Internetauftritt von „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ auf sat1.de, wo das Plakatmotiv, mit dem der Film beworben wurde und das die Hauptdarsteller vor einem gewittrigen dunklen Himmel abbildete, prominent platziert war. Der Schriftzug des Filmtitels war mit dem Motiv der Berliner Mauer hinterlegt, auf der sich eine demonstrierende Menge mit Plakaten und Transparenten als Silhouetten abbildete. Bildlich wurden hier die Einzelfiguren überbetont und die Berliner Mauer als Repressionssymbol nahezu sprichwörtlich von den Demonstranten in den Schatten gestellt, während im Hintergrund, ebenso bildgewaltig, nicht nur ein meteorologischer Sturm heraufzog. Neben Informationen zu Handlung und Darstellern sowie Links zum Sat.1-Shop, auf dem sowohl die DVD zum Film als auch Udo Lindenbergs Single geordert werden konnten, einigen Foto- und Videoausschnitten mitsamt Bildern von der Premiere hatte die Seite keine interaktiven Elemente oder Information zum historischen Hintergrund zu bieten. Die Übersetzung des Films in eine Website war demnach keine weiterführende Archivierung oder Mobilisierung seiner Inhalte. Interessant jedoch war das Gewinnspiel zum Film 554, das, wenn man so möchte, das interaktive Element des Ganzen bildete. Denn zu gewinnen gab es nicht nur die DVD zum Film unter allen Einsendungen. Jeder DVD lag dazu noch ein als Original zertifizierter, wenn auch kleiner Stein der Berliner Mauer bei. So gab es, im übertragenen Sinne, nicht nur die erzählte, sondern auch ein materielles Stück Geschichte zu gewinnen, die beide stets an eines erinnerten: Die Mauer ist weg.
554 N.N.: DVD-Gewinnspiel „Wir sind das Volk“. Auf Sat1.de (URL: http://goo.gl/ DXtHw [19.7.2013]).
Zweites Kapitel Der 9. November 1989/2009
Als der Fotograf Stephan Kaluza 2008 mit seiner Kamera um den ehemaligen Berliner Mauerstreifen reiste, um seinen „Akt der Bildbeschwörung“ 1 durchzuführen, der in seiner „widersprüchlichen Aufgabe, das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen“2 die „Unsichtbare Mauer“ gleichzeitig zeigte und auch nicht zeigte, bebilderte er das geschichtspolitische Hauptmotiv des „Erinnerungsjahres 2009“. Und nicht nur das Leitthema des gleichzeitig An- und Abwesenden (der Latenz im Sinne Hans Ulrich Gumbrechts) war in Kaluzas Bildern präsent, sondern auch ein Protagonist der Erinnerung an 1989: Die Berliner Mauer. Die Fotostrecke stellte die scheinbar widersprüchliche Frage: Wenn die Mauer doch unsichtbar, verschwunden ist, warum ist sie noch nicht verschwunden – die Mauer, „die am Abend des 9. November 1989 zu verschwinden begann“?3 Neben der Friedlichen Revolution gehörte der Mauerfall vom 9. November 1989 zu den erinnerten Großereignissen des „Erinnerungsjahres 2009“. Zwar ließen sich Friedliche Revolution und Mauerfall als zwei Seiten derselben Medaille des Ereignisses 1989 darstellen, allerdings war dies nicht zwangsläufig der Fall. Die Friedliche Revolution hatte mehrere Gedenktage, am prominentesten den 9. Oktober oder den 4. November. Inwiefern der 9. November, und mit ihm der Mauerfall, als Effekt, Höhepunkt oder gar vorläufiges Ende der Friedlichen Revolution gelten
1
Galloway, David: Entlang der Linie. In: Kaluza 2009, S. 342.
2
Ebd., S. 343.
3
Ebd., S. 344. Baudrillard weist darauf hin, dass der Akt der Photographie in dem Moment, wo sie digital wird, den Prozess des Verschwindens des Originals noch beschleunigt. Vgl. Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden? Berlin: Matthes & Seitz 2008, S. 24ff.
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konnte war um 2009 umstritten und ist auch bis heute ungeklärt.4 Strukturell ließ sich die Friedliche Revolution als demokratisches Projekt, das es weiterhin einzulösen gilt, erzählen, das von den Bürgern als Subjekten ausgeht. Der Mauerfall konnte ähnlich erzählt werden (und wurde es auch). Jedoch ließ sich ihm genauso gut die Semantik des Zufälligen, des Unfalls, der Panne, des Überraschenden, des Einmaligen und Unkontrollierten zuteilen. Diese Semantik, die letztlich auch die Geschichtspolitik zum Mauerfall im „Erinnerungsjahr 2009“ dominierte, war die des Ereignisses. Und eines doppelten Ereignisses obendrein: So plötzlich, wie der Mauerfall 1989 auftrat, so kontinuierlich wiederholte er sich 2009 als Erinnerungsereignis. Diese Doppelstruktur hatte zur Folge, dass die Mauer, wie auf Kaluzas Bildern, immer wieder gleichsam präsent gemacht und zum Verschwinden gebracht werden musste.5 Nicht zuletzt in den immerwährenden Wiederholungen der weltberühmten Fernsehbilder dieses Tages recycelte sich im „Erinnerungsjahr 2009“ das Ereignis des Mauerfalls fortlaufend. Wenn Günter Schabowski seine 1989 geäußerten Worte, die neuen Reiseregelungen, die letztlich die Mauer und Grenzen mehr oder minder obsolet machten, treten „sofort, unverzüglich“6 in Kraft, im „Erinnerungsjahr 4
Wenn es darum ging, welches der Daten (9. Oktober, 4. November, 9. November) als wichtigstes geschichtspolitisches Datum zum Ereigniskomplex 1989 gelten könne, war und ist auch immer zu bedenken, dass der 9. November mehrere Jahrestage der deutschen Geschichte in sich versammelte, darunter die Hinrichtung des liberalen Oppositionellen Robert Blum 1848, den Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 und nicht zuletzt die November-Pogrome 1938. Als sogenannter „Schicksalstag der Deutschen“ vereint der 9. November bis heute seine eigenen Pro- und Contra-Argumente als bundesdeutscher Gedenktag, was es weiterhin schwer macht, die Kontroverse um diesen Tag als (nicht zuletzt semantisch) fixes Erinnerungsdatum oder gar Feiertag zu institutionalisieren. Im „Erinnerungsjahr 2009“ wiesen besonders folgende Publikationen auf diese Mehrfachbesetzung hin: Koch, Jörg: Der 9. November in der deutschen Geschichte. 1918-19231938-1989. Freiburg u.a.: Rombach 2009 und auch Wilke, Manfred: Der 9. November. Fall der Berliner Mauer. In: Henke 2009, S. 224f.
5
Damit teilte sich die Mauer geschichtspolitisch das Schicksal mit MfS und SED, wie in dem Kapitel „Der Geist der Staatssicherheit und das Erbe der SED“ beschrieben wurde. Auch diese mussten immer wieder erinnert gebannt – und damit ausschließend in die Geschichtspolitik eingeschlossen werden. Nicht zuletzt lag das daran, dass die Berliner Mauer als repressives Instrument der SED dargestellt wurde, dessen wiederholtes Auftauchen oder Weiterbestehen in jedweder konkret oder symbolisch realer Form es politisch zu verhindern galt und gilt.
6
Ein Protokoll der berühmten Pressekonferenz Schabowskis, auf der er die neue Reisereglung vortrug und „sofort, unverzüglich“ in Kraft treten ließ, und ihres Wortlautes findet sich in Hertle, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereig-
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2009“ auf Archivmaterial und mehreren Kanälen, gedruckt, vertont, wiederholt aussprach, dann meinten diese adverbialen Zeitbestimmungen, wenngleich im übertragenen Sinne, immer auch die Zeit des „Erinnerungsjahres 2009“. Gleichzeitig offenbarten sie auch den Archivcharakter dieses Ereignisses, das letztlich als Ereignis um 2009 in der Form von 1989 nicht mehr gleichwertig reproduzierbar war. Nicht zuletzt können Jahrestage, mit ihrem fest getakteten Rhythmus, kaum für sich beanspruchend, plötzlich und überraschend aufzutreten. Auch der zwanzigste Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 2009 war von langer Hand und höchst aufwändig geplant. Dass es sich dabei jedoch trotzdem um ein Ereignis – wenngleich ein wiederholendes – handelte, ist eine der Thesen, die in diesem Kapitel durchweg vertreten und an mehreren Exempeln untersucht werden wird. Jacques Derrida, der in dieser Arbeit bereits mehrfach Gewährsmann der hantologischen Ausrichtung der Geschichtspolitik zur DDR und zu 1989 war, sagte in einem 1997 in Montréal gehaltenen Vortrag mit dem sperrigen Titel „Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen“, dass „ein Ereignis Überraschung, Unvorhersehbarkeit und Exponiertheit bedeutet[.] […] Wenn es Ereignis geben soll [sic] […], dann darf es nicht vorhergesagt oder im voraus [sic] festgelegt und noch nicht einmal wirklich entschieden werden“.7 Laut Derrida ist ein Ereignis aber „auch das, was kommt, was eintrifft“ – ähnlich dem Gespenst, dessen Wiederkehr jederzeit die Gegenwart heimzusuchen imstande ist, dessen Spuk aber niemals genau vorhersagbar und datierbar sei.8 Aus diesem Grund sei dem Ereignis eine „gespenstische Struktur der Erfahrung“ wesentlich zu eigen.9 Vieles von Derridas Philosophie des Ereignisses traf auf den Mauerfall selbst zu: Er wurde weder eindeutig vorhergesagt (was später unter dem Schlagwort „Prognosedebakel“ zur Niederlage von Politik und Wissenschaft gestempelt wurde) noch von vornherein festgelegt. Letzteres lässt sich schon daran erkennen, dass die Reiseregelungen, die Günter Schabowski verkündete, erst am 10. November 1989 in Kraft treten sollten, sein „sofort, unverzüglich“ diesen Plan jedoch unversehens vereitelte.10 Mit Goethes Zauberlehrling hantologisch gesprochen, rief die SED mit dem neuen Reisegesetz und Schabowskis Pressekonferenz Geister, die sie nicht mehr los wurden und die ihre Politik fortwährend heimsuchten. Den 9. November nisse um den 9. November 1989. 11., erweiterte Auflage. Berlin: Ch. Links 2009, S. 141-146. 7
Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin: Merve 2003, S. 7f.
8
Derrida spielt dabei mit dem Wort Heimsuchung, indem seiner Darstellung nach ein ungeladener Gast in einen ihm fremden Ort zeitlich unvorhergesehen eintritt oder -dringt und dementsprechend ereignishaft erscheint. Vgl. ebd., S. 33ff.
9
Ebd., S. 38.
10
Zur Planung des Reisegesetzes vgl. Hertle 2009, S. 123ff.
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1989 und den Mauerfall ein Ereignis zu nennen, erscheint demnach auch in Derridas Sinne angemessen. Aber auch das Erinnerungsereignis 2009 lässt sich derartig beschreiben, gerade unter hantologischen Gesichtspunkten. Denn, folgt man Derrida weiter, so muss ein Ereignis, das sich wiederholt, mit seiner Wiederholung „die Auslöschung des ersten Erscheinens“ ermöglichen um selbst als singuläres Ereignis gelten zu können.11 In gewisser Weise wiederholte 2009 den Mauerfall nicht nur in zahlreichen Rundfunkprogrammen, sondern auch konkret – nicht zuletzt im „Fest der Freiheit“, an dem in Berlin am 9. November 2009 zahlreiche mannshohe „Dominosteine“ aus Styropor als symbolische Mauer wörtlich „fielen“. Diese zahlreichen Wiederholungsgesten beanspruchten durchaus selbst als Ereignis gelten zu können und nicht bloßer Schatten des historischen und erinnerten Ereignisses zu sein. Zwar kann man nicht so weit gehen und behaupten, das „Erinnerungsjahr 2009“ als Ereignis habe den Mauerfall als historisches Ereignis ausgelöscht. Allerdings kann kaum geleugnet werden, dass 2009 das Ereignis 1989 im mehr oder minder dialektischen Sinne aufgehoben und damit auch ein Stück weit transformiert hat. Dieser doppelten Ereignisstruktur gilt es nun nachzuspüren.
U NFALL , G LÜCKSFALL , M A UERFA E RZÄHLUNGEN EINES E NDES
LL :
Am 2. November 2009 war auf dem Titelblatt des Spiegel zu lesen: „Der Irrtum, der zur Einheit führte – Wie es zum Fall der Mauer kam“.12 Der Ausgabe lag eine DVD bei, die einen Dokumentarfilm zum selben Thema enthielt und eine ähnliche Semantik verfolgte, indem sie ihre Rekonstruktion des 9. November 1989 als „Protokoll eines historischen Versehens“13 bezeichnete. Auch die ARD zeigte am 2. November 2009 diesen mit Spielszenen durchsetzten Dokumentarfilm unter dem Titel „Schabowskis Zettel – Die Nacht, als die Mauer fiel“. Die dazugehörige Begleitpublikation des Journalisten Florian Huber änderte den Titel in „Schabowskis Irrtum – Das Drama des 9. November“14. Auch Hans-Hermann Hertle und Kathrin Elsner betitelten in ihrer Dokumentation zum 9. November 1989 das erste Kapitel,
11
Derrida 2003, S. 40.
12
Der Spiegel 45/2009, Titelblatt.
13
Basse, Marc/Huber, Florian: 9. November ‘89. Das Protokoll eines historischen Versehens. Spiegel TV 2009 [DVD].
14
Huber, Florian: Schabowskis Irrtum. Das Drama des 9. November. Berlin: Rowohlt 2009.
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das mit Schabowskis Pressekonferenz endete, schlicht „Der Irrtum“. 15 Andreas Rödder wiederum nannte den Mauerfall „ein ungeplantes Ereignis, das schließlich zur eigentlichen Ikone des deutschen Herbstes 1989 wurde“.16 Der 9. November 1989 als Irrtum und Versehen – diese Interpretation war um 2009 mehr als geläufig. Sie diente nicht zuletzt dazu, den Mauerfall als Ereignis ein Stück weit von der Friedlichen Revolution zu unterscheiden, die als Projekt mündiger und tätiger Bürger wie ein gewolltes, erkämpftes und nicht kontingentes Ereignis erschien. Zu der Kontingenz des Mauerfalls trat jedoch nicht nur die UnfallSemantik, die ihn als politische Panne darstellte, sondern auch dessen Kehrseite: Das Glück, das Unverhoffte, das Geschenk. Konrad Jarausch bezeichnete den Erinnerungsort „Umbruch 1989/90“ sogar als „doppelten Glücksfall“ – und zwar „des Endes der kommunistischen Diktatur und der Überwindung der europäischen Teilung“.17 Am Jahrestag des Mauerfalls, dem 9. November 2009, wies die Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenfalls auf diesen Umstand des doppelten Glücks hin: „[D]er 9. November markiert eine wahrhaft glückliche Stunde der deutschen und der europäischen Geschichte. […] Für mich war es einer der glücklichsten Momente meines Lebens.“18 Und auch Peter Bender resümierte in seiner „ungeteilten Nachkriegsgeschichte“ über den Umbruch 1989/90: „Es hätte auch anders kommen können […] – wir hatten Glück“.19 Diese mehrfache Semantik des Mauerfalls als Glücks- und Unfall wurde schon 1989 geprägt. Im „Erinnerungsjahr 2009“ wurde sie jedoch – nicht zuletzt auf Grundlage der archivarischen Nacherzählungen, wie Hans-Hermann Hertles Chroniken oder der auf archiviertem Filmmaterial basierenden Dokumentarfilme wie dem Florian Hubers, wiederholt und auch nicht infrage gestellt. Diese eigene Sem15
Hertle, Hans-Hermann/Elsner, Kathrin (Hg.): Der Tag, an dem die Mauer fiel. Die wichtigsten Zeitzeugen berichten vom 9. November 1989. Berlin: Nicolai 2009, S. 1545.
16
Rödder 2009, S. 104.
17
Jarausch, Konrad H.: Der Umbruch 1989/90. In: Sabrow 2009, S. 527.
18
Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im Rahmen des „Fests der Freiheit“ am 9. November 2009 in Berlin. Nr. 111-3 vom 9. November 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 19962009.
19
Bender, Peter: Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 19451990. Bonn: BpB 2008, S. 284. Benders Monografie wurde, laut Verlagswerbung „[r]echtzeitig zum 20. Jahrestag der ‚Friedlichen Revolution‘ von 1989“, im „Erinnerungsjahr 2009 unter dem Titel „Zweimal Deutschland“ neu aufgelegt und um einen Essay ergänzt, vgl. Bender, Peter: Zweimal Deutschland. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945–1990. München: Pantheon 2009. Zur Verlagswerbung vgl. die Homepage des Buches auf randomhouse.de (URL: http://goo.gl/mVtjN [29.7.2013]).
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antik des Ereignisses Mauerfall und der sich daran anschließende geschichtspolitische Diskurs im „Erinnerungsjahr 2009“ soll in diesem Kapitel erschlossen werden. Der 9. November 1989 wird sich dabei als Wendepunkt darstellen, der zum Scharnier zwischen der Friedlichen Revolution und dem Einheitsvertrag vom 3. Oktober 1990 wurde. Da der Mauerfall zuweilen nicht als der „Anfang vom Ende“, sondern als weltgeschichtliches Ereignis, als tatsächliches Ende der DDR und des Kalten Krieges dargestellt wurde, markierte er zugleich den Übergang in die gegenwärtige Form der Bundesrepublik und den Ursprung der Realität des „Erinnerungsjahres 2009“. An dem Punkt, als die DDR aufhörte zu existieren und die Mauer zu verschwinden begann, war auch der Ursprung ihrer Historisierung zu suchen – und damit auch der Ursprung des „Erinnerungsjahres 2009“.20 Wie hingen Friedliche Revolution und Mauerfall im „Erinnerungsjahr 2009“ zusammen? Die Friedliche Revolution in ihrer Erzählung von Kritik und Krise innerhalb der DDR konnte als unmittelbare Vorgeschichte des 9. November gelten. Das Erstarken sowohl der Bürger- als auch der Fluchtbewegung, die im 9. Oktober in Leipzig und dem 4. November in Berlin ihre ersten Erfolge feierten, übten unmittelbaren politischen Druck auf die SED aus. Die politische Krise der SED und ihres Staates, ausgelöst durch die Friedliche Revolution, zwang zur Handlung: „Der Handlungsrahmen [des 9. November 1989] wurde durch den Verlauf der Revolution im Oktober vorgegeben“.21 Das Problem der Verknüpfung von Friedlicher Revolution und Mauerfall als ein unmittelbar zusammenhängendes Ereignis bestand darin, dass der 9. November durch eine Pressekonferenz ausgelöst wurde, auf der in unscharfer Formulierung ein von der SED beschlossenes Reisegesetz vorgestellt wurde. Und dieses wiederum war eine politische Reaktion der SED auf die Fluchtbewegung, die nicht zuletzt dadurch ermöglicht wurde, dass das reformkommunistische Ungarn im Mai 1989 mit dem Abbau der Grenzanlagen zu Österreich begann, wodurch „[d]ie DDR-Grenze unkontrollierbar porös geworden“ war.22 Das Zustandekommen dieses Reisegesetzes wurde um 2009 als weiteres Krisensymptom der SED dargestellt. So schrieb beispielsweise Andreas Rödder, das Gesetz sei „ein Produkt von Handlungsdruck und mangelndem Überblick über die 20
Es sei darauf hingewiesen, dass das „Ursprüngliche“ hier als Diskurseffekt der Geschichtspolitik zum Mauerfall gilt und nicht als analytischer Begriff. Dieser ist mit den meisten der hier angewandten Methoden wie der Diskursanalyse oder der ANT unvereinbar.
21
Neubert 2008, S. 218.
22
Vgl. Rödder 2009, S. 106. Auch Ilko-Sascha Kowalczuk beantwortete die Frage „Warum fiel die Mauer gerade am 9. November 1989?“ nicht mit dem Erfolg der Montagsdemonstrationen, sondern mit dem Druck, den die Fluchtbewegung ausübte. Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die 101 wichtigsten Fragen – DDR. München: Beck 2009a, S. 137ff.
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Situation – in inhaltlicher Hinsicht ebenso wie im Hinblick auf die Umstände der Veröffentlichung“ gewesen. Mit dem irrtümlich herbeigeführten Mauerfall habe „die Staatspartei endgültig die Kontrolle über den Gang der Dinge verloren“, das Ergebnis war „offene Konfusion“.23 Auch das Motiv der ungenauen Sprache der SED und die daran geknüpfte Unfähigkeit zu politischem Handeln griff Rödder auf. So „stolperte die SED der stürmischen Entwicklung der Gesellschaft nur noch hinterher“ und „schaffte es nicht, ihre Sprachformeln und Denkweisen mit den veränderten Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen“, wodurch „alle Anstrengungen, um Initiative und Handlungssouveränität zurückzugewinnen […] vergeblich“ blieben.24 György Dalos nannte das Reisegesetz „ein hektisch verfasstes Dokument“25, für Ilko-Sascha Kowalczuk waren Arbeit und „Bild dieser Parteispitze [der SED unter Egon Krenz] […] mit chaotisch, kopflos und handlungsunfähig noch schmeichelhaft umschrieben“26. Und, in Anspielung auf das geflügelte Wort vom „Wahnsinn“ des 9. November 1989, konstatierte Hedwig Richter: „Die Öffnung [der Mauer] war um so ‚wahnsinniger‘, als niemand sie geplant hatte“ und erfolgte „mehr oder weniger versehentlich“.27 Vor dem Mauerfall stand also eine „chaotische Tagung des Zentralkomitees“, Schabowskis anschließende Pressekonferenz, auf der das so zustande gekommene Reisegesetz vorgestellt wurde, war ein „folgenreiche[s] Mißverständnis“ voll „sprachliche[r] Ungenauigkeit“. 28 Alles in allem verdichteten sich die politischen Krisensymptome der SED bis zum 9. November 1989 in den Erzählungen um 2009 massiv. Die meisten Topoi waren schon in den Narrativen zur Friedlichen Revolution anzutreffen. So waren auch dort schon die SED-Politiker als Unfähig zur Reform und vor allem sprachlich erstarrt gezeichnet worden, sodass letztlich die Souveränität der SED infrage gestellt werden konnte. Erzählungen zum 9. November betonten vor allem, dass dort das politische Verhältnis endgültig kippte und die Souveränität nicht nur der SED, sondern auch der Staatsgrenze fraglich wurde. Kurz: Auch der Staat der DDR war nun im Verschwinden begriffen und die Öffnung der Mauer war auch die Öffnung in eine neue politische Zukunft, die erst auszuhandeln war. Es überraschte daher nicht, dass der Gegensatz von Chaos und Kontrolle die Krisenhaftigkeit der politischen Situation mehrheitlich in den Erzählungen für den 9. November 1989 bestimmte. Folgten die Erzählungen zur Friedlichen Revolution größtenteils den tropologischen Regeln der Romanze, handelte es sich beim Mauerfall eher um eine Komö23
Rödder 2009, S. 107 und 110.
24
Ebd., S. 110f.
25
Dalos 2009, S. 133.
26
Kowalczuk 2009, S. 455.
27
Richter 2009, S. 95f.
28
Neubert 2008, S. 218.
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die. Hayden White beschreibt diesen erzähltechnischen Archetypen als eine einstweilige „Erlösung aus dem Zustand der Entzweiung, in dem sich die Menschen in der Welt befinden“, getrieben von „Hoffnung“ und „Aussicht auf gelegentliche Versöhnungen“, die sich zum Ausklang der meist „dramatischen Berichte von Wechsel und Veränderung“ in Form von „festlichen Anlässen“ darstellen.29 „Die Versöhnungen, die am Ende der Komödie stattfinden, sind Versöhnungen zwischen Menschen“, so White weiter, „der Menschen mit ihrer Welt und ihrer Gesellschaft; der Zustand der Gesellschaft scheint nun reiner, vernünftiger und verbessert, als Ergebnis des Konflikts zwischen scheinbar unveränderlich widerstreitenden Kräften, von denen sich jetzt herausstellt, daß sie auf lange Sicht miteinander vereinbar und mit sich selbst und untereinander eins sind.“30 Selbst wenn man Whites etwas formalistischer Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie skeptisch gegenüberstehen sollte, so sind doch die metaphorischen und strukturellen Eigenschaften, die der 9. November 1989 und der Mauerfall mit der Komödie teilen, kaum von der Hand zu weisen. Aus dieser Erzähltypologie heraus lässt sich auch die etwas ahistorische Verknüpfung von Mauerfall und der erst ein knappes Jahr später vollzogenen Wiedervereinigung erklären. Durch diesen eher formalen Akt wurde die Versöhnung, das „Miteinander vereinbar und mit sich selbst und untereinander eins“-Werden des wiedervereinigten Deutschlands politisch-juristische Realität. Diese Realität war am 9. November 1989 noch nicht gegeben. Das lag auch daran, dass in den Darstellungen der Mauerfall als Wendepunkt und Öffnung ins Ungewisse geschildert wurde. Der 9. November 1989 war sowohl letzte Niederlage der chaotischen SED als auch Erfolg der Bevölkerung, das die Kontrolle über das Geschehen an sich riss. Damit reproduzierten auch die Narrative zum Mauerfall das Kippen der Souveränität von den repressiven Staatsorganen hin zur aktiven Bevölkerung.31 Oder wie Roland Koch es ausdrückte: „Am 9. November aber haben die Menschen mit ihrer Freiheitsliebe und ihrem Freiheitswillen gesiegt und den Gang der Geschichte entscheidend mitbestimmt.“32 Bob Geldof brachte es schließlich auf die schlichte Formel „People had won.“ 33 Dieser Punkt ist nicht unerheblich, ging es doch vornehmlich darum, in welche geschichtliche Kontinuität der Mauerfall zu stellen, in welche Erzähllogik er einzu29
White 2008, S. 23 (Hervorhebung im Original).
30
Ebd.
31
So war beispielsweise Peter Benders Kapitel zum Mauerfall überschrieben mit „Entscheidung durch das Volk“ – und nicht etwas durch einen Irrtum oder die SED bzw. ihre Exekutivorgane, vgl. Bender 2008, S. 236.
32
Diekmann, Kai/Reuth, Ralf Georg (Hg.): Die längste Nacht, der größte Tag. Deutschland am 9. November 1989. München/Zürich: Piper 2009, S. 117.
33
Ebd., S. 62.
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reihen sei. Kurz: Welche Geschichtspolitik war mit und für den Mauerfall um 2009 möglich? Dass der Mauerfall nicht nur als Irrtum, Panne oder Unfall geschildert, sondern auch als Effekt des Drängens der nunmehr souverän werdenden Bevölkerung darstellbar wurde, machte ihn wiederum anschlussfähig für die Erzähllogik zur Friedlichen Revolution. Dazu gehörte auch die andere Seite: Die wenig souveräne SED, deren Unfähigkeit sich nicht zuletzt in Schabowskis unklarer Ausdrucksweise zeigte: Nachdem Günter Schabowski die neue Reiseregelung „leicht stotternd“34 und „unklar“35 vorgetragen hatte, ging die Neuigkeit, dass in Schabowskis Worten „ab sofort, unverzüglich“ Privatreisen ins Ausland für DDR Bürger ohne besonderen Grund möglich seien, durch verschiedene Nachrichtenagenturen über den Äther. Zwar wurde auch die Pressekonferenz live im Staatsfernsehen der DDR übertragen, jedoch berichteten die wenigsten Zeitzeugen davon, dass sie Schabowskis Nachricht tatsächlich live gesehen haben. Die meisten erfuhren im weiteren Laufe des Abends davon, meist aus dem Fernseher, andere durch mündliche Unterrichtung. Die Reaktionen in den Zeitzeugenberichten waren oft Ungläubigkeit, Unverständnis darüber, was Schabowskis Vortrag genau bedeuten sollte und auch Neugier, was nun an den Grenzposten geschehen würde.36 Im Endeffekt führte die Gemengelage aus Unklarheit dazu, dass am späten Abend immer mehr Berliner aus Ost und West an den Grenzposten und -übergängen auftauchten.37 Sowohl die Vorbereitung als auch Verkündung der neuen Reiseregelungen wurden bislang als chaotisch dargestellt. Die Berliner erschienen an der Grenze wegen der „ersten verwirrenden Nachrichten“, die sie hörten. 38 Die SED ließ sprachliche Klarheit weiterhin vermissen. Was nun einsetzte, war eine Kette von Übersetzungen39 – sowohl medialer Übertragung als auch von Inhalt und Bedeutung des Gesetzes: „Überall hatten Wünsche Schabowskis Stottern in eine gute Nachricht verwandelt“, hieß es beispielsweise bei Neubert:40 „Darauf machten sich einige Berliner auf, um zur Mauer zu gehen. ‚Nur mal gucken!‘, sagten viele, denn das bislang Unvorstellbare hätte doch auch immer noch eine Sinnestäuschung sein 34
Dalos 2009, S.136.
35
Neubert 2008, S. 218.
36
Eine Umfassende Dokumentation dieser Vorgänge aus Zeitzeugensicht fand sich vor allem bei Hertle/Elsner 2009, vgl. besonders das Kapitel „Die Fiktion“ (S. 51-71).
37
Da Schabowskis Pressekonferenz als Ereignis ein eigenes Kapitel gewidmet wird, soll diese verkürzte Darstellung zunächst genügen.
38 39
Wolle 2009, S. 444. Manfred Wilke bediente sich in seiner Darstellung zum 9. November 1989 implizit der Sprache der Akteur-Netzwerk-Theorie, indem er konstatierte, die „Nachricht über die neue Reiseregelung wirkte in der DDR mobilisierend“. Wilke in: Henke 2009, S. 229.
40
Neubert 2008, S.219.
320 | 1989 UND WIR können. […] Auch die westlichen Journalisten hatten die unklaren Signale Schabowskis als Maueröffnung dechiffriert, obwohl es noch eine Fiktion war. Es erschien als wirklich, was erst für möglich gehalten wurde.“41
Unklarheiten in der offiziösen Sprache der SED, die dechiffriert werden musste und so durch Übersetzungen von einer Möglichkeit in Wirklichkeit transformiert wurde: Wenngleich auf andere Art als in den Erzählungen zur Friedlichen Revolution, so besetzte doch auch hier die Bevölkerung die semantischen Leerstellen der politischen Sprache und ermächtigte sich ihrer Bedeutung. „Die Deutschen begannen, sich in ihre eigenen Angelegenheiten aktiv einzumischen“, hieß es bei Manfred Wilke – und meinte zuvorderst die Berliner, „die selbst die Entscheidung trafen, die Mauer zu öffnen“, sodass letztlich die SED „Opfer ihrer fehlenden Glaubwürdigkeit“ wurde.42 An den Grenzposten angekommen, fanden die Berliner ratlose Beamte vor, die in Unkenntnis über die Informationslage waren. Gerade Hans-Hermann Hertle und Kathrin Elsner dokumentierten minutiös die Verwirrung unter den diensthabenden Grenzern und ihren Vorgesetzten. Diese „sehen die Pressekonferenz [Schabowskis], sind verwundert – und gehen dann auseinander“.43 Ähnliches berichtete Günter Leo, Stabs-Chef im Grenzkommando Mitte: „Und als Schabowski auf einmal die Grenzöffnung veröffentlicht hat, haben wir uns angeguckt und gesagt: ‚Was ist denn nun los? […] Was machen wir jetzt?‘ Alle guckten wir uns an und waren im Prinzip erst einmal ratlos. Aber dann gab es nur eine Schlußfolgerung: ‚Wir machen nichts!‘ […] Es gab keinerlei Befehle oder sonst irgend etwas.“44 Manfred Sens, damals bei den Grenztruppen an der Bornholmer Straße, gab zu Protokoll: „Mein Vorgesetzter […] reagierte folgendermaßen: ‚Mach das, was du für richtig hältst, aber mach es richtig!‘ Er war genauso überfordert und überfahren worden wie wir alle.“45 Schließlich wurde der „Druck […] immer größer“, sodass, wie Harald Jäger von der Paßkontrolle Bornholmer Straße berichtete, erste Bürger den Grenzübergang passieren konnten. Diese Passiererlaubnis sollte allerdings vor allem „provokatorische Personen“ betreffen, deren Pässe per Stempel entwertet wurden – sodass sie faktisch ausgewiesen und an der erneuten Einreise gehindert wurden.46 Die Strategie ging jedoch nicht auf: „Aus dieser Situation heraus“, so Jäger weiter, „ergab sich, daß der Druck noch stärker wurde. Die DDR-Bürger sahen, daß wir einige Personen ausreisen ließen. Der Grund war ihnen nicht klar. Sie 41
Ebd.
42
Wilke in: Henke 2009, S. 230f.
43
Hertle/Elsner 2009, S. 82.
44
Ebd., S. 83.
45
Ebd., S. 93.
46
Ebd., S. 96f.
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nahmen an, es geht jetzt los.“47 Gerhard Niebling vom MfS schätzte dieses Vorgehen rückblickend wie folgt ein: „Ich glaube, daß das eine Maßnahme war, um einen kleinen leichten Schritt zu tun, um die Ordnung wiederherzustellen […], um wenigstens ein kleines Stück Souveränität zu demonstrieren: Wir sind auch noch da.“48 Aus diesen 2009 veröffentlichten Zeitzeugenberichten für die Grenzsicherung der DDR Zuständiger ging hervor, wie sehr die politischen und Sicherheitsorgane der SED darum bemüht waren, die durch unklare Sprache und politische Missverständnisse generierte Situation zu kontrollieren. Bezeichnend war auch, dass die Bevölkerung nun in der Lage war derartig Druck auszuüben und die diensthabenden Offiziere zur Handlung zu zwingen. Agierten die Staatsorgane bisher meist restriktiv, schien der Damm in den Erzählungen bereits am 9. Oktober in Leipzig gebrochen. Gewalt wäre demnach theoretisch auch eine der wenigen – auch am 9. November 1989 befürchteten – Optionen der Staatsorgane gewesen, um die Kontrolle über die politische Situation an den Grenzposten wieder herzustellen. Niebling berichtete jedoch weiter: „Niemals hat die Frage gestanden, wir zücken die Waffen und gehen mit Gewalt vor.“49 Und auch Harald Jäger gab zu Protokoll: „Es gab keinerlei Weisung, die Waffen in Anwendung zu bringen, egal welche Situation entstanden wäre“. Darüber hinaus „war befehlsmäßig abgesichert, […] an der Grenze selbst keine Schußwaffe anzuwenden“.50 Die Öffnung der Grenze als eine Reihe von Kommunikationspannen ähnelte in den meisten Erzählungen um 2009 strukturell der Erzählung vom 9. Oktober 1989. Auch da war die Angst vor einem gewaltsamen Ende der Demonstration groß, auch dort gab es keinen Befehl zum Waffengebrauch von höchster Stelle: Auch in Leipzig wollte keiner aus SED, NVA oder MfS die Verantwortung für die Konsequenzen eines militärischen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung übernehmen. „Die lange Nacht des Schweigens“ nannte der Spiegel den 9. November 1989 in seiner Mauerfall-Titelstory von 2009.51 Das Schweigen der politisch Verantwortlichen war auch am 9. November 1989 Symptom ihrer Unfähigkeit, die letztlich die
47
Ebd., S. 97.
48
Ebd., S. 98.
49
Ebd., S. 99.
50
Ebd. An dieser Stelle sollte nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Problematik der Glaubwürdigkeit von Zeitzeugen generell bei der Ergründung und Wiedergabe des Geschehenen dem Verfasser zwar bewusst ist, für diese Untersuchung aber keine große Rolle spielt, da es hier vor allem um die positiven Modalitäten, Eigenlogiken und Semantiken der Aussagen geht, die zum Mauerfall getätigt wurden und nicht, ob diese der „Wahrheit“ entsprachen.
51
Vgl. Schnibben, Cordt: Die Nacht der Wildschweine. Der Spiegel 45/2009.
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souveränen Grenzen der DDR preisgab.52 Folge war die Aufhebung jeder Regel und der Verlust der Kontrolle an die Bevölkerung, die an den Grenzposten ihr Recht einforderte – und schließlich auch bekam. Dass der 9. November 1989 im Grunde eine Mediengeschichte, ein Media Event war, das bei einer Reihe von Übersetzungen, Vermittlungen und Übertragungen eine eigenständige Dynamik erhielt, unterstrich das dialektische Erzählverhältnis von Chaos und Kontrolle beim Mauerfall. Ob diese Erzählfigur, die letztlich auch die Form der Komödie beherrscht53, dem damals schon einsetzenden Informationszeitalter ursächlich entstammte oder dieses erst in die Geschichte des 9. November 1989 eingeschrieben wurde, muss zunächst nicht entschieden werden.54 Wichtig ist an dieser Stelle, dass sich auch um 2009 diese der Regelungs- und Nachrichtentechniken55 entstammenden Tropen als Hauptmotive der Geschichte des Mauerfalls wiederfanden: „Die Generale [sic]“, schrieb Erhart Neubert in seiner Darstellung der Ereignisse, „gewohnt, auf politische Vorgaben zu reagieren, waren ebenso hilflos wie ihr Personal. So scheiterten alle Regulierungsmaßnahmen und auch die Versuche, zumindest die Personalausweise zu kontrollieren. […] Das Chaos führte zur Kapitulation, zur Einstellung der Kontrollen als einzig möglicher Handlungsoption.“56 Davon zeugten nicht nur die Geschichten an den Grenzposten – die gewissermaßen von der Kommunikation mit ihren Vorgesetzten ausgeschlos52
Wie viele andere Topoi war auch diese Erzählung des „Schweigens“ und der verhinderten Kommunikation um 2009 nicht neu, aber sehr stark vertreten. Bereits 1991 veröffentlichte Günter Schabowski selbst seine Erinnerungen mit dem Titel „Der Absturz“, in denen beispielsweise das Kapitel über den Sommer 1989 mit „Zeit der Sprachlosigkeit“ überschrieben wurde, vgl. Schabowski, Günter: Der Absturz. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 218.
53
Aus diesem Grunde sprach Peter Bender auch vom „fröhlichen Chaos“ des 9. November 1989, vgl. Bender 2008, S. 237.
54
In den Gesamtdarstellungen zu Bundesrepublik und/oder DDR wurde dem Aufstieg der Massenmedien, wie dem Fernsehen, bisweilen eine immer größere Rolle zugeschrieben, ohne jedoch die mediengeschichtliche und -theoretische Erdung dieses Phänomens vorzunehmen. Dass auch der 9. November 1989 nicht zuletzt um 2009 als Media Event wahrgenommen wurde lag sicherlich auch an diesem historiographischen a priori. Vgl. aktuelle Darstellungen, die das sogenannte Zeitalter der Massenmedien eher soziologisch deuteten, wie Wehler 2009, S. 394ff. oder Schildt, Axel/Siegfried, Detlef: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser 2009, S. 403ff. Gerade Siegfried und Schildt versetzten den Durchbruch des Medialen im Alltag in die Achtziger Jahre.
55
Hinweise darauf, wie Nachrichtentechniken selbst Ereignisse produzieren, liefern Derrida 2003, S. 22f. und Baudrillard 1994.
56
Neubert 2008, S. 221.
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sen waren und demnach eigenständig handeln mussten – sondern auch die Versuche der Verantwortlichen oder betroffenen Politiker, Informationen über die Vorgänge in Berlin zu gewinnen oder ihre Reaktionen darauf zu vermitteln. Entscheidend war, wie die Regierung Gorbatschow auf die Vorgänge reagieren würde. Gorbatschow war jedoch nicht telefonisch zu erreichen, denn „Moskau schlief“57 – und „verschläft die ‚Nacht der Nächte‘“58. Die Versuche, beispielsweise von Egon Krenz, Gorbatschow ans Telefon zu bekommen, scheiterten. Das lag vor allem an einer speziellen, nur intern funktionierenden Telefonapparatur, dem „WTsch“.59 Krenz erklärte rückblickend, dass die Moskauer Zentrale „nicht mehr bereit [war], eine Verbindung herzustellen“.60 Auch hier war ein Kommunikationsvakuum entstanden, das durch unterbrochene oder nicht zustande kommende Übertragungen keinerlei Reaktion zur Folge hatte. Aber auch umgekehrt scheiterte die Kommunikation zwischen SED und KPdSU. Der Spiegel zitierte den damaligen Moskauer Gesandten in Berlin, Igor Maximytschew, mit den Worten: „Keiner der DDR-Offiziellen hat uns angerufen, und wir konnten niemanden von ihnen ans Telefon bekommen. Wir hatten den Eindruck, dass die ganze Führung der DDR wie vom Erdboden verschluckt war.“61 Hertle und Elsner zitierten ebenfalls Maximytschew, der von den neuen Reiseregelungen, Schabowskis Pressekonferenz und deren Folgen nur aus dem Fernsehen erfuhr, und „[d]ie traurige Farce der Ankündigung des schicksalhaften Schrittes von einmaliger Reichweite zwischen Tür und Angel“ als höchst deprimierend empfand.62 Aber auch auf westdeutscher Seite ging es darum, eine möglichst lückenlose Kommunikation herzustellen. Das lag vor allem daran, dass der damalige Kanzler Helmut Kohl auf Staatsbesuch in Polen weilte und daher nicht direkt kontaktierbar war. Kohls Berater in Außen- und Sicherheitspolitischen Fragen, Horst Teltschik, berichtete, dass „über Journalisten erste Hinweise, daß irgend etwas an der Mauer los sei“ ihn und den Kanzler erreichten.63 Als Kohl sich im Bundeskanzleramt über die tatsächliche Lage informieren wollte, war es ebenfalls ein Telefonapparat, ein „sogenanntes Standgerät“, das die Kommunikation innerhalb der politischen Ebenen behinderte. Teltschik erklärte den Apparat: „Dieses Gerät mußte man ankurbeln, um eine Verbindung zum Lagezentrum des Bundeskanzleramtes herzustellen. Und das Lagezentrum hat dann die jeweiligen Büros oder die 57
Wilke in: Henke 2009, S. 234.
58
Hertle/Elsner 2009, S. 111.
59
Ebd., S. 109.
60
Ebd.
61
Zitiert nach Schnibben, Cordt: Die Nacht der Wildschweine. Der Spiegel 45/2009.
62
Hertle/Elsner 2009, S. 111.
63
Ebd., S. 89.
324 | 1989 UND WIR anderen Partner angewählt und zu ihnen durchgestellt. Am Abend des 9. November bedeutete das, daß wir nicht sofort verifizieren konnten, ob die Hinweise der Journalisten zutreffend waren, sondern es mußte ein umständliches Verfahren benutzt werden, um Kontakte nach Bonn herzustellen.“64
Die Rolle des Telefons für den politischen Verlauf des 9. November mag als ein Beispiel dafür gelten, wie in den Erzählungen zum Mauerfall Medien und Apparaturen nicht nur das a priori der Politik bildeten, die auf zeitnaher Kommunikation, Information, sowie Feedback und Reaktion aufbaute.65 Hier manifestierte sich materiell die Erzählung von Chaos und Kontrolle, die nicht zuletzt auf dieser Kommunikation, ihrem Gelingen oder Scheitern, ja sogar ihrer Nicht-Existenz (wie im Fall derjenigen zwischen SED und Grenzposten) beruhte. Damit korrespondierte auch ein weiteres Motiv, das des „Wahnsinns“, dem „Wort des Tages“ am 9.11.1989, laut Wolfgang Thierse.66 Renatus Deckert schrieb dazu: „‚Wahnsinn‘ war das Wort, das in diesen Stunden [des Mauerfalls] in aller Munde war. In diesem Ausruf entlud sich die ganze Sprachlosigkeit angesichts des unerhörten Ereignisses, an das zu glauben auch denen schwerfiel, die unmittelbar dabei waren.“67 Auch Thomas Rosenlöcher griff dieses Motiv in seinem Essay „Warum ich den 9. November verschlief“ auf: „Freilich, am 9. November war fast jeder dabei, so daß das Datum Gelegenheit gibt, sich selbst nach Jahrzehnten noch als ‚Wahnsinn‘ murmelndes Einverständnispartikel in die Geschichte einzuklinken.“68 Und weiter: „Kein Wunder hingegen die plötzliche Sprachlosigkeit im deutsch-deutschen Umarmungsprozess. Die immerhin auch schon eine gesamtdeutsche Sprachlosigkeit war. So daß wir Deutschen ausgerechnet in Form von Sprachlosigkeit erstmals wieder eine gemeinsame Sprache fanden. Indem die Sprache Schillers und Goethes in einem einzigen Wort kollabierte. Ich meine das Wort ‚Wahnsinn‘, das bis nach Ohio zu hören gewesen sein soll. […] ‚Liebes Tagebuch, mir fehlen die Worte!‘, schrieb ich in mein Tagebuch – was auch nichts anderes als ‚Wahnsinn‘ heißt.“69 64
Ebd.
65
Die anderen maßgeblichen Medien, die des Rundfunks, besonders das Fernsehen, werden in dem Kapitel „Verzettelte Geschichte – Schabowskis Pressekonferenz als Ereignis“ nochmal separat und, ihrer Rolle angemessen, eingehender verhandelt.
66
Diekmann/Reuth 2009, S. 200.
67
Deckert, Renatus: Vorwort. In: Deckert, Renatus (Hrsg.): Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 7.
68
Rosenlöcher, Thomas: Warum ich den 9. November verschlief. In: Deckert 2009, S. 90.
69
Ebd., S. 96f.
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Deckert und Rösenlöcher boten eine Interpretation des „Wahnsinn“-Topos für den 9. November 1989, die ebenfalls auf einer Erzählung von Sprachunfähigkeit basierte. Analog zu dem Chaos, der Panne, dem Irrtum und dem Missverständnis, die die Mauer schließlich öffneten und „zu Fall“ brachten, entstand eine Sprachlücke, die dem Geschehen und Erleben des Mauerfalls – gerade als Glücksfall – vor allem Sprachlosigkeit entgegenbrachte. Diese Lücke wurde in der Interpretation Deckerts und Rosenlöchers durch den Ausdruck „Wahnsinn“ besetzt. Allerdings ging deren Interpretation noch weiter: Durch die gemeinsame Verwendung dieses Wortes, die gemeinsame Sprachlosigkeit und -unfähigkeit, entstand auch eine Sprachgemeinschaft. Jedem war es durch diese Lücke möglich, so Rosenlöcher, sich „als ‚Wahnsinn‘ murmelndes Einverständnispartikel in die Geschichte einzuklinken“. 70 Die „gesamtdeutsche Sprachlosigkeit“ kollabierte in dem „Wort ‚Wahnsinn‘“71 – und wurde dadurch zur gemeinsamen Sprache. Rosenlöcher deutete damit an, dass Erinnerungsgemeinschaft und Sprachgemeinschaft in diesem gemeinsamen Ausdruck deckungsgleich wurden. „Wahnsinn“ war andererseits nicht nur ein Ausdruck von Sprachlosigkeit und (Erinnerungs-)Gemeinschaft, sondern auch komplementär zum Motiv des komödiantischen „fröhlichen Chaos“: „‚Wahnsinn‘ wurde zum Wort des Tages: Heute durfte man, was jahrzehntelang für die Ostler mit Haft oder Tod bedroht und für Westler mit ermüdender, zuweilen erniedrigender Bürokratie erschwert war. Das Überschreiten der Grenze war in dieser Nacht wichtiger als alles, was jenseits der Grenze lag und lockte.“72 Diese karnevalistische Schilderung von der Aufhebung der Regeln und Sanktionen setzte den Grenzüberschritt absolut – und interessanterweise das Chaos als Souveränitätsgeste gegenüber dem Reglement, dem „Schrecken“ und der „Tyrannei“: „Achtundzwanzig Jahre lang war die Mauer der Schrecken Deutschlands, Werkzeug und Symbol der Spaltung, Sinnbild der Tyrannei, nun fiel sie in die Macht des Volkes.“73 Auch das Chaos des bürokratischen Irrtums, der fehlenden Kommunikation und Kooperation war in diesem Wort aufgehoben. „Die Öffnung der Mauer“, hieß es bei Hedwig Richter, „war um so ‚wahnsinniger‘, als niemand sie geplant hatte.“74 Eine weitere Dimension der Erzählung um den „Wahnsinn“, die um 2009 so viele Erzählungen zum Mauerfall kennzeichnete, war der Ausdruck des Surrealen, Unglaublichen, Unvorstellbaren. Was bei der Friedlichen Revolution noch der Diskurs um das „Wunder“ war, schlug sich in den Erzählungen zum Mauerfall im Motiv des Unglaublichen nieder. So berichtete Wolfgang Thierse, nach seinen Erinne70
Ebd., S. 90.
71
Ebd., S. 96.
72
Bender 2008, S. 237.
73
Ebd.
74
Richter 2009, S. 95.
326 | 1989 UND WIR
rungen an den Mauerfall befragt: „Der 9. November war Wahnsinn, weil die Öffnung der Mauer Überraschung, ja Sensation war, ganz und gar unglaublich und unvorhersehbar. Ein […] so unendlich lange erhofftes, ersehntes Ereignis, das dann so plötzlich und überraschend eintrat, dass es ans Unwirkliche grenzte: eben ‚Wahnsinn‘!“75 Auch Rainer Eppelmann bediente die Motive der Sprachlosigkeit und des Unglaubens: „Fassungslosigkeit, ungläubige Freude, Tränen, Stammeln […]. Das Wort, das man an diesem Abend immer wieder hörte und das die unfassbare Situation wohl am ehesten beschrieb, lautete schlicht: ‚Wahnsinn!‘“76 Erhart Neubert widmete der Allgegenwart des „Wahnsinn!“ eine eigene Interpretation: „Das Unvorstellbare war Wirklichkeit, und die Menschen riefen sich zu: ‚Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn!‘“ Dann zitierte er Hans Joachim Schädlich mit den Worten: „Wahnsinn? Das Unnormale, die Einsperrung, war so sehr zur Normalität geworden, dass das Normale, die Freiheit, nur noch mit einem Wort für Trugwahrnehmung zu beschreiben blieb... […] Unbeschreiblich? Die Diktatur hatte den Eingesperrten die Sprache genommen, um Ausdrücke für das Normale, Lebendige zu finden.“77 Neubert Schlussfolgerte daraus für die Ereignisse des 9. November 1989: „Die Berliner waren dabei, ihre ‚Mauerkrankheit‘ zu therapieren.“78 Damit bediente sich Neubert einer Pathologie, die schon Hans-Joachim Maaz in seinem 1990 erstmals erschienen Buch „Der Gefühlsstau – Ein Psychogramm der DDR“ insinuiert hatte.79 Implizit wurde dadurch enthüllt, dass der „Wahnsinn“ im Grunde einen psychopathologischen Zustand beschreibt, in dem der Diskurs um das Irreale, den Unglauben, oder, wie Schädlich es beschrieb, die „Trugwahrnehmung“ eine Art Pathologie des Ereignisses darstellten. Viele Zeitzeugen betonten dieses Irreale. So zum Beispiel auch Dieter Biegalik: „Es war unfassbar. […] Ich begriff es nur langsam. […] Ich dachte einfach nur: Das kann nicht wahr sein!“80 Martina Malinowski berichtete: „Unglaublich! […] Die Menschen schienen irgendwie alle wie von Sinnen.“81 Angela Merkel erzählte: „Was ich damals gefühlt habe, dafür kann ich keine Worte finden. Es war einfach unfassbar und überwältigend zugleich“ und hielt fest, ihre politische Lehre aus dem 9. November 1989 laute „Nichts muss so bleiben, wie es ist.“ 82 Markus Meckel sah
75
Diekmann,/Reuth 2009, S. 200.
76
Ebd., S. 54.
77
Gekürzt zitiert nach Neubert 2008, S. 223.
78
Ebd., S. 224.
79
Vgl. Maaz, Hans-Joachim. Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Berlin: Argon 1992. Maaz’ Buch wurde zu dessen zwanzigstem Jubiläum neu aufgelegt.
80
Diekmann/Reuth 2009, S. 27.
81
Ebd., S. 142.
82
Ebd., S. 151.
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im Fernsehen „das Unfassbare, und mir war sofort klar: Nun ist alles anders.“83 Und Franz Sauter gab an: „Ich war mir nicht sicher, ob das alles wahr ist.“84 Das hieß nicht, dass kein „Wunder“ als Topos vorkam. Hier war es vor allem das dem 9. Oktober in Leipzig ähnliche „Wunder“, dass kein Schuss fiel und keine Gewalt oder andere allzu repressive Maßnahmen85 gegen die Berliner Bürger eingesetzt wurden. So berichtete Manfred Stolpe in einem Zeitzeugenbericht, er wäre „glücklich, denn es gab keine Krawalle, keine Gewalt und keine Schüsse. Die Mauer war gefallen. Das war der endgültige Sieg der friedlichen Revolution. Die Menschen hatten […] sich selbst die Freiheit genommen.“ 86 Ohne von einem „Wunder“ direkt zu sprechen, sah Stolpe den Mauerfall in der Kontinuität der Friedlichen Revolution gerade auch darin, dass beide letztlich nicht durch Gewalt aufgelöst und verhindert wurden. In diesem Kontinuitätsdenken, das den Mauerfall (und nicht zuletzt auch die Wiedervereinigung) als einen Höhe- oder gar Endpunkt der Friedlichen Revolution begriff, hatte der Wunder-Diskurs seinen Platz: „Dass es gelang, die angestrebten Ziele in einer friedlichen Revolution ohne Blutvergießen zu erreichen, grenzt an ein Wunder. Viele Beispiele friedlicher und erfolgreicher Revolutionen gibt es in der Geschichte wahrlich nicht. Wir durften ein solches Beispiel erleben. Auch deshalb ist die Wiedervereinigung ein besonderer Glücksfall in unserer Geschichte.“87 Diese Kontinuität von Wunder und Glück, Friedlicher Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung machte jedoch nicht an diesem Punkt halt. Ihr Endpunkt war nicht zuletzt, wie so oft in der Geschichtspolitik zu 1989 im „Erinnerungsjahr“, das vereinte Europa. Vor dem Hintergrund des siebzigsten Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2009 äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Ja, es ist ein Wunder, dass wir in diesem Jahr nicht nur an die Abgründe europäischer Geschichte vor 70 Jahren denken müssen. Es ist ein Wunder, dass wir auch an die glücklichen 83
Ebd., S. 143.
84
Ebd., S. 170.
85
So wurden beispielsweise am Brandenburger Tor Wasserwerfer eingesetzt, um Leute von der Mauer zu vertreiben. Allerdings wurden die Maßnahmen vor allem deshalb angewandt, weil die Grenzposten am Brandenburger Tor keinerlei Informationen über die Vorgänge an den anderen Grenzübergängen wie der Bornholmer Straße besaßen, sodass ihnen die Besetzung der Mauer als Akt der „Konterrevolution“ erschien, der verhindert werden musste. Vgl. Hertle/Elsner 2009, S. 190ff.
86 87
Diekmann,/Reuth 2009, S. 200. Müller, Peter: Rede des Präsidenten des Bundesrates und Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller, beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2009 in Saarbrücken. Nr. 99-1 vom 3. Oktober 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
328 | 1989 UND WIR Tage denken können, die vor 20 Jahren zum Fall der Berliner Mauer, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Einheit Europas geführt haben. Denn vollendet wurde der Weg Europas zur Freiheit erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs.“ 88
Der Mauerfall als Anfang des vereinten, neuen und zukünftigen Europa, sowie als Ende und Überwindung des Zweiten Weltkriegs stellte eine Kontinuität dar, die die Geschichtspolitik zu 1989 um 2009 und deren diskursive Eigenlogik fest im Griff hatte. Dieser Diskurs war eine Mischung aus verschiedenen Motiven, die vom Irrtum, von Sprachlosigkeit, vom „Wahnsinn“ und vom Glück sprachen. Wenn eingangs die Rede davon war, dass der Mauerfall nicht als Projekt politisiert wurde, wie es für die Friedliche Revolution der Fall war, sondern als Ereignis, dann entstand dieser Eindruck nicht zuletzt aus der zuvor geschilderten Diskurslogik. Was beschrieben wurde, war ein Ende im Sinne einer Zeitenwende, eines Einbruchs, Einschnitts, Umbruchs, der Beginn von etwas Neuem und noch Ungewissen. „The time is out of joint“, heißt es im „Hamlet“ – die Zeit aus den Fugen. Derrida macht daraus das Motiv der Gegenwart, die sich selbst nicht mehr gegenwärtig ist. Genau das war in den Erzählungen zum Mauerfall präsent. Wenn Markus Meckel zu Protokoll gab, dass ihm „sofort klar [war]: nun ist alles anders“, während er die Bilder des Mauerfalls im Fernsehen sah, sprach das genau dieses Empfinden der Zeitenwende an, die sich vor den Augen der Zeitgenossen als „das Unfassbare“ abspielte.89 Derrida nannte das den Spuk, der mit der „Erfahrung des Unmöglichen […], die das Mögliche Heimsucht“ in Beziehung steht.90 Ein Ereignis ist für Derrida etwas, das „den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbricht“.91 Wenn sich demnach am 9. November 1989 die Gegenwart nicht mehr gegenwärtig, die Zeit aus den Fugen war und zwar in erster Linie dadurch, dass dieses Ereignis sowohl den „Gang der Geschichte“ unterbrach, als auch noch nicht ausgesprochen werden konnte – außer in dem Wort „Wahnsinn“ – dann zeigte sich darin, „dass das Sprechen immer zu spät kommt“, und nicht im Ereignis selbst. 92
88
Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2009 in Danzig. Nr. 90-1 vom 1. September 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 1996-2009.
89
Diekmann/Reuth 2009, S. 143.
90
Derrida 2003, S. 37.
91
Ebd., S. 21.
92
Ebd.
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Geschichtspolitisch bedeutete das vor allem, dass die Singularität des Mauerfalls nicht wiederholt werden konnte.93 Das unterschied den Mauerfall um 2009 strukturell von der Friedlichen Revolution, deren Prinzip des souveränen Volkes immer wiederholbar sein sollte. Die Friedliche Revolution konnte in diesem Sinne gar nicht als Ereignis erscheinen, da diese Singularität jede Wiederholung strukturell unmöglich machen würde. Der Mauerfall hingegen fungierte als ein Ereignis in Derridas Sinne. Als möglicher Erinnerungsort konnte er daher nur, wie Konrad H. Jarausch schrieb, als „beispielhafte Erfolgsgeschichte“ mit „positive[r] Botschaft“ zu den „Kristallisationspunkten einer demokratischen Erinnerung“ werden. 94 Die Erinnerung an den Mauerfall war um 2009 die Geschichte eines Endes, das den Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft markierte. Die DDR gehörte darin der Vergangenheit an, die Gegenwart hatte dort ihren Ursprung, und die Zukunft wurde durch ihn möglich. Michel Serres stellte in einem Interview mit France info anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Mauerfalls fest: „Die Geschichte zeigt, dass es das Niederreißen von Mauern ist, das in die Zukunft führt.“ 95 Diesen Gedanken zu verankern und gleichzeitig immer wieder als beendet zu markieren war das Programm der Geschichtspolitik zum Mauerfall im „Erinnerungsjahr 2009“.
V ERZETTELTE G ESCHICHTE – S CHABOWSKIS P RESSEKONFERENZ
ALS
E REIGNIS
Die Szene ist Berlin am 9. November 1989 nach 18:52 Uhr. Günter Schabowski war kurz davor, seine internationale Pressekonferenz zu aktuellen Fragen der DDRPolitik zu beenden, als ihm ein Journalist der italienischen Nachrichtenagentur ANSA die Frage stellte, ob „es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“.96 Über den gesamten Sommer 1989, der in einer Spiegel TV Reportage von 2009 als „Der letzte Sommer der DDR“97 bezeichnet wurde, kam es zu einer immensen Ausreisewelle. Ein erster
93
Außer man sah den Mauerfall in der Kontinuität der Friedlichen Revolution und als deren Effekt. Dann wurde der Mauerfall dieser zu- und untergeordnet und reihte sich in deren Diskurslogik des Projekts ein. Vgl. das Kapitel „Kritik und Krise – Erzählungen von der Friedlichen Revolution“.
94
Jarausch in: Sabrow 2009, S. 535.
95
Serres 2012, S. 101.
96
Die Wiedergabe folgt hier dem Protokoll der Pressekonferenz in Hertle/Elsner 2009, S. 40ff.
97
Spiegel TV Reportage: Der letzte Sommer der DDR. Polyband 2009 [DVD].
330 | 1989 UND WIR
Gesetzesentwurf der SED, der diese Ausreisen politisch regeln wollte, wurde harsch kritisiert und abgelehnt. Bis zum 9. November 1989 arbeitete das Innenministerium der DDR unter Hochdruck an einem neuen Entwurf. Dieser lag Schabowski nun als Zettelnotiz vor. Auf den alten Reisegesetzentwurf angesprochen, reagierte Schabowski nun wie folgt: „Günter Schabowski: […] Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen. Frage: (Stimmengewirr) das gilt...? […] Frage: Ab wann tritt das...? (...Stimmengewirr...) Ab wann tritt das in Kraft? Günter Schabowski: Bitte? Peter Brinkmann, Journalist: Ab sofort? Ab...? Günter Schabowski: … (kratzt sich am Kopf) Also Genossen, mir ist das hier so mitgeteilt worden (setzt sich, während er weiterspricht, seine Brille auf), daß eine solche Mitteilung heute schon (äh) verbreitet worden ist. Sie müßte eigentlich in Ihrem Besitz sein. Also (liest sehr schnell [den Text der neuen Reiseregelung auf seinem Zettel] vor)[.] […] Frage: Wann tritt das in Kraft? Günter Schabowski: (blättert in seinen Papieren) Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich (blättert weiter in seinen Unterlagen)...“98
Diese Aussage bekräftigte Schabowski mit den oft von ihm wiederholten Worten „Ich habe nichts Gegenteiliges gehört“.99 Jene Szene wurde seither zur Schlüsselszene des 9. November 1989 und des Mauerfalls erklärt – neben der späteren Öffnung des Grenzübergangs Bornholmer Straße. So auch im „Erinnerungsjahr 2009“. Hier verdichtete sich die Unfähigkeit zur Politik der SED sowie die Unfähigkeit zur Kommunikation und löste kurzerhand eine Kettenreaktion aus, die letztlich zur Öffnung der Grenze führte. Würde man den Mauerfall unter den Vorzeichen der Akteur-Netzwerk-Theorie historisieren, käme man sicher schnell zu dem Schluss, dass diese Pressekonferenz Schabowskis ein entscheidender Knotenpunkt in einem Akteur-Netzwerk war, das unter anderem aus Politikern, Journalisten, Fernsehkameras, Telefonen, Arbeitsgruppen des Innenministeriums, Ausreisewilligen, Grenzbeamten und Gesetzestexten bestand. Im Vokabular Bruno Latours wäre die Pressekonferenz eine Black Box,
98
Vgl. das Protokoll der Pressekonferenz in Hertle/Elsner 2009, S. 42f. (Hervorhebungen im Original).
99
Vgl. ebd., S. 44.
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die es zu öffnen, deren Elemente und Zusammenhänge zu bestimmen wären. 100 So, wie die DDR, die Mauer, Schabowski, sein Zettel oder gar die weltpolitische Lage den Konferenzsaal betraten haben sie ihn nicht wieder verlassen. Nun soll hier nicht die Geschichte des 9. November 1989 geschrieben, sondern dessen Historisierung und Politik um 2009 dargestellt werden. Die Pressekonferenz Schabowskis war auch um 2009 ein Ereignis – allerdings ein Erinnerungsereignis, welches das politische und mediale Ereignis von 1989 zum a priori hatte. Wie dieses Verhältnis gestaltet war und was dies über die Geschichtspolitik zum Mauerfall im „Erinnerungsjahr 2009“ aussagte ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Abbild des Status, den Schabowskis Pressekonferenz in der Erinnerung an 1989 hatte, war schon die akribisch genaue Wiedergabe des Transkripts in einigen Dokumentationen, wie es beispielsweise hier zitiert wurde. Zu finden war es in dem Sammelband „Der Tag, an dem die Mauer fiel“ Hans-Hermann Hertles und Kathrin Elsners in dem Kapitel „Der Irrtum – Schabowskis Zettel oder ‚Ab wann tritt das in Kraft?‘“.101 Dass es überhaupt zu diesem Protokoll kommen konnte lag nicht zuletzt daran, dass die Pressekonferenz selbst schon in aufgezeichneter Form vorlag. Schließlich waren Journalisten mitsamt ihren Kamerateams und Diktiergeräten zugegen, die Pressekonferenz wurde live in das Staatsfernsehen der DDR übertragen. Die Live-Schaltung barg also ein gewisses Risiko. In ihrer Theorie des Media Events gehen Daniel Dayan und Elihu Katz auf genau dieses Risiko von Live ein: „The events are transmitted as they occur, in real time […]. They are therefore unpredictable at least in the sense that something can go wrong.“ 102 Letztlich geschah am 9. November 1989 genau das: Etwas ging schief. In den Erzählungen zum Mauerfall war es allerdings nur bedingt die LiveÜbertragung der Pressekonferenz, die dazu führte, dass das Ereignis des Mauerfalls eintrat. Vielmehr wurde betont, dass die Pressekonferenz nebenher lief, da sich niemand mehr als die üblichen Politfloskeln von ihr versprach – abgesehen davon, dass das Staatsfernsehen der DDR von vielen Bürgern gar nicht erst geschaut wurde.103 Entscheidend schien, dass die Konferenz von Kameras aufgezeichnet wurde, deren Material von Schabowskis Auftritt sich im Laufe des Abends und der Nacht über verschiedene Kanäle verbreitete. Ein Abbild dieser Verkettung von Übersetzungen, in deren Mittelpunkt die Meldung „DDR öffnet Grenze“ der Tagesschau stand – welche wahrscheinlich für die meisten Zeitgenossen die eigentlich wahrge100 Vgl. Latour 1987. Nicht von Ungefähr verwendete Henning Schmidgen in seiner Einführung zu Latours Denken Schabowskis Pressekonferenz als illustrierendes Beispiel, vgl. Schmidgen 2011. S. 135f. 101 Hertle/Elsner 2009, S. 15-45. 102 Dayan/Katz 1996, S. 5. 103 Erzählungen vom Nebenher der Übertragung fanden sich beispielsweise in Huber 2009, S. 112ff. oder in dem Kapitel „Die Fiktion“ in Hertle/Elsner 2009, S. 51ff.
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nommene Meldung war – gab der Dokumentband von Hertle und Elsner zum 9. November 1989. In dem Kapitel „Die Fiktion“ – dessen Titel auf die prekäre Übersetzung der Informationen Schabowskis in die „DDR öffnet Grenze“-Meldung Bezug nahm – fand sich am unteren Seitenrand eine Art Live-Ticker, der die Verbreitung der Pressemitteilungen von den ersten Eilmeldungen durch Reuters und Associated Press (ab 19:02 Uhr) bis zu den RIAS-Nachrichten um 20:16 Uhr im Originalton wiedergab. Auch Florian Hubers Dokumentarfilm „Schabowskis Zettel“ und der dazugehörige Band „Schabowskis Irrtum – Das Drama des 9. November“ verwendeten diese chronologische Form mit exakten Zeit- und Ortsangaben, wenn sie von der Verkettung der Ereignisse erzählten. Gleiches galt für die SpiegelTitelstory zum Mauerfall-Jubiläum. Der Punkt für das Verhältnis 1989/2009 war, dass es sich hierbei um ein mehrschichtiges Spiel von Archiv, Protokoll und Ereignishaftigkeit handelte, das eine Kette von Übersetzungen sowohl nachzeichnete als auch immerzu wiederholte. Dass Schabowski auf die Frage, wann die neue Regelung in Kraft trete, mit seinem Ausspruch „Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“ plötzlich den Mauerfall herbeigeführt habe, kann dabei insofern als Mythos gelten, als dass diesem eine antik-dramatische Einheit von Handlung und Zeit unterlegt würde, welche die Übersetzungskette ausklammert. Vielmehr ließ sich am geschichtspolitisch-narrativen Umgang mit diesem Sprechereignis zeigen, dass es seine Archivierung, Vermittlung und Wiederholung war, die das Ereignis Mauerfall maßgeblich vorantrieb und dadurch zum Schlüsselereignis wurde – 1989 wie 2009. Das Genre dieser Wiederholung und Verkettung war um 2009 das des Protokolls und Live-Tickers. Letzterer enthielt bereits in seiner Bezeichnung die Kategorie „live“. So fand sich auf Focus Online ein chronologisch mit Zeitangaben gegliedertes „Protokoll einer Schicksalsnacht“ (nämlich des 9.11.1989). Dieses versprach im Präsens „24 Stunden, die die Welt verändern“.104 Die Welt lieferte ein ebenso detailliertes „Protokoll“, das ebenfalls chronologisch mit exakten Datums- und Zeitangaben aufgebaut war, jedoch einen weit längeren Zeitraum umfasste.105 Umrahmt wurde die Erzählung durch eine Reihe von Originaldokumenten, darunter zeitgenössische Zeitungsausschnitte oder Fotos der im Artikel auftretenden menschlichen Akteure von damals und heute sowie der Ereignisse des 9. November 1989. Bemerkenswert an dieser Darstellung war, dass der Passus, in dem Schabowski die ihm vorliegende Reiseregelung vorzulesen begann, einen eigenen Zeit- und Erzähl-
104 Bauszus, Jens: 9. November 1989. Protokoll einer Schicksalsnacht. Focus Online am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/PWjSN [19.7.2013]). 105 Kellerhoff, Sven Felix: Der 9. November – die große Freiheit. Welt Online am 8.9.2009 (URL: http://goo.gl/LNhbZ [19.7.2013]). Der Bericht ging bis einschließlich des 12. November 1989.
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abschnitt („9. November 1989, 18.57 Uhr“106) zugeteilt bekam – und dadurch als ereignishafte Zäsur markiert wurde. Dem folgte als nächste Zäsur die erste Eilmeldung von Reuters: „9. November 1989, 19.02 Uhr[.] Am schnellsten fängt sich der Vertreter der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Nur eine Minute nach dem Ende der Pressekonferenz gibt der deutsche Dienst seines Unternehmens bereits die erste Eilmeldung heraus“107 So verkürzten sich die Zäsurabschnitte, wodurch das Erzähltempo des „Protokolls“ angezogen wurde. Es ging sprichwörtlich Schlag auf Schlag. Interessanterweise war auch dieser Artikel im Präsens gehalten und suggerierte dadurch eine Unmittelbarkeit des Geschehens – fast genau zwanzig Jahre nach ihrem tatsächlichen Eintreten. Ähnlich war auch die Erzählstrategie zu werten, die präzise Zeitangaben, chronologische Folgen und Originaldokumente vermischte, um ein unmittelbares Live-Erlebnis zu erzeugen. Am konsequentesten wurde diese Strategie wohl von Spiegel Online am 9. November 2009 umgesetzt. Zeitnah auf die Minute abgestimmt, veröffentlichte das Nachrichtenportal exakt zwanzig Jahre nach dem Mauerfall einen Live-Ticker der Ereignisse von 1989.108 Den ganzen 9. November 2009 über drang so minutiös, chronologisch und detailliert das historische Ereignisarchiv des Mauerfalls in die Gegenwart des „Erinnerungsjahres 2009“. Dabei erwiesen sich die geschichtspolitisch agierenden Redakteurinnen von Spiegel Online weniger als narrativ strukturierende Erzählstimmen, sondern vielmehr als kompilierende Kuratorinnen, da sie, von einigen eigenen Ergänzungen abgesehen, vor allem „Berichte der westlichen Agenturen AP, DPA, AFP und der DDR-Agentur ADN vom 9. November 1989“ zusammentrugen.109 Deren Archiv bildete das a priori dafür, dass das Ereignis Mauerfall auch 2009 ein Live-Ereignis wurde. Diese Überlappung machte auch Bild auf seiner Website manifest, als in zwei symmetrisch zueinander stehenden Schaukästen sowohl mit „1989: Der Tag der Freiheit[.] Das Protokoll des 9. November 1989“ als auch „2009: So feiert die Stadt[.] Das Protokoll des 9. November 2009“ angeboten wurden – und ebenfalls 1989/2009 auf Grundlage des chronologisch verfahrenden Protokoll-Genres miteinander in Gleichzeitigkeit brachte.110 Auffällig war an diesen Formaten die Beharrung darauf, ein mehr oder minder unmittelbares Live-Erlebnis zu evozieren und sich gleichzeitig exzessiv des 1989 entstandenen (medialen, nachrichtendienstlichen) Archivs zu bedienen. Dabei um106 Ebd. 107 Ebd. 108 Die vollständige Version des Live-Tickers findet sich archiviert bei Peters, Katharina/ Meiritz, Annett: Liveticker vom 9. November 1989: So fiel die Mauer. Spiegel Online am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/uZbrX [19.7.2013]). 109 Ebd. 110 Vgl. N.N.: „Vor 20 Jahren fiel die Mauer. Berlin ist heute wieder die glücklichste Stadt der Welt“. Bild Online am 14.11.2009 (URL: http://goo.gl/BSgB2n [19.7.2013]).
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fasste diese geschichtspolitische Praxis genau das, was Wolfgang Ernst die „permanente[] Übertragung“ nennt, welche „die posthistorische Bedingung dafür darstellt, nicht mehr in Stetigkeiten und Linearitäten, sondern in diskreten Zuständen, mithin: archivarisch zu denken“.111 Insofern wunderte auch nicht, dass diese Form des Live-Ereignisses vor allem im Internet auftauchte, dem laut Ernst prototypischen „dynamischen Archiv“.112 So wurde auch die Wiederholung des Archivs von 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ selbst archiviert und über 2009 hinaus online verfügbar gemacht. Gleiches galt für die Bild- und Tondokumente von 1989, die 2009 wiederholt wurden. Ob es sich dabei bereits um ein posthistorisches Symptom handelte, wie Ernst suggeriert, mag dahingestellt sein. In dieser Geschichtspolitik des doppelten Media Events 1989/2009 trat zumindest wieder der von Jacques Derrida beschriebene Spektraleffekt zutage und verband vergangene und gegenwärtige Gegenwarten zu einem Parallelereignis. Die in den Protokollen und Live-Tickern zusammengetragenen Ereignisse umfassten nicht nur Schabowskis Pressekonferenz. Allerdings liefen im Ereignis der Pressekonferenz deren narrativen wie archivarischen Bedingungen zusammen. Daher erscheint auch das von Bruno Latour entlehnte Bild der Black Box als treffend, da sich in dem Pressekonferenz-Ereignis sowohl der Input als auch Output bündelten, die letztlich das Ereignis Mauerfall und dessen Geschichtspolitik um 2009 weitestgehend ermöglichten. Dazu kam, dass Schabowskis Pressekonferenz vor allem auch das war, was Derrida, in Anlehnung an die Sprechakttheorie, ein „SprechEreignis“ oder „Rede-Ereignis“ nennt.113 Die Wendung „sofort, unverzüglich“ markierte in den meisten Erzählungen mit ihrer Plötzlichkeit die sprachlich klarste Zäsur – und war meist dafür verantwortlich, dass diejenigen, die diese Neuigkeiten vernahmen, zu den Grenzübergängen gingen um „nur mal zu gucken“. 114 „Der digitale Time-Code auf den Monitoren der Fernsehstationen zeigte 19 Uhr und 54 Sekunden – eine neues Weltzeitalter hatte angefangen“, beschrieb Stefan Wolle die durch Schabowskis „Sprech-Ereignis“ ausgelöste Zäsur. Der damalige RIASJournalist Manfred Rexin erinnerte sich: „Sie [eine Kollegin Rexins] sagte, ich sollte mal den Fernseher einschalten [um die Nachrichten zu sehen]. Das tat ich – und befand mich in einem anderen Zeitalter.“ 115 Der Clou an diesem „Sprech-Ereignis“ lag darin, dass es sowohl live als auch in Echtzeit funktionierte. So wurde die Pressekonferenz im Rundfunk der DDR live übertragen, gleichzeitig aufgezeichnet und immer wieder versendet. Darüber trat 111 Ernst 2002, S. 139. 112 Ebd. (Hervorhebung im Original). 113 Vgl. Derrida 2003, S. 20. 114 Vgl. u.a. Wolle 2009, S. 444 oder Hertle/Elsner 2009, S. 76 und Neubert 2008, S. 219. 115 Hertle/Elsner 2009, S. 67.
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das momentgebundene „sofort, unverzüglich“ mittels Wiederholung immer wieder in Kraft. 2009 konnte das Live-Erlebnis lediglich simuliert werden. Das EchtzeitErlebnis hingegen blieb erhalten, wenn beispielsweise die Sendung „Tagesschau vor 20 Jahren“ die Archivaufnahme erneut sendete (die auch schon in der originalen Tagesschau-Sendung nicht live, sondern aufgezeichnet versendet wurde) oder der Ausschnitt auf Youtube so oft abspielbar war, wie es die Technik und die Zeit des Nutzers zuließ. Wenn mit Live gemeint ist, dass Handlung und Zeit in einem singulären Moment eine Einheit bilden, und „Echtzeit“ heißt, dass das Erleben des Ereignisses mit seinem jeweiligen Auftreten zusammenfällt, so ließe sich daraus schlussfolgern, dass die Echtzeit von 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ nacherlebbar war und in dieses auf Grundlage von Archiven übertragen werden konnte. Kurz gesagt: Das „sofort, unverzüglich“ Schabowskis trat in seiner wiederholten Vermitteltheit auch 2009 in Echtzeit sofort und unverzüglich auf. Dass allerdings nicht nur aufzeichnende Archivmedien, aufgezeichnete wie übermittelte Medienarchive und deren Apparaturen sowohl Akteure der MauerfallErzählung als auch der Geschichtspolitik waren, zeigte im speziellen Fall von Schabowskis Pressekonferenz auch die Rolle seines berühmten Zettels. Im Sinne Bruno Latours ließ sich dieser als Faitiche116 verstehen: ein Ding, ein Objekt, um den herum sich ein ganzes Netzwerk von Akteuren und Aktionen versammelte und durch den schließlich die gesamte Erzählung zum Mauerfall hindurch lief. Gerade Schabowskis Zettel hatte eine fetischähnliche Stellvertreterfunktion inne: Er stand sowohl für den Beschluss seiner Partei als auch für das, was in den Narrativen zum Mauerfall als „Irrtum“ bezeichnet wurde. Gleichzeitig konstruierte das AkteurNetzwerk um den Zettel den Fakt der Grenzöffnung. Aus diesem Grund konnte „Schabowskis Zettel“ auch Titelheld von Florian Hubers Dokumentation zum Mauerfall aus dem Jahr 2009 werden, zu dem es dann im Klappentext der gleichnamigen Publikation hieß: „Eine besondere Rolle spielt dabei [d.h. bei der Geschichte des 9. November 1989] jener ominöse Zettel, den Günter Schabowski auf der Pressekonferenz hervorkramte und der den Lauf der Geschichte für immer verändert hat.“117 Wohlgemerkt: Nicht Schabowski (zumindest nicht er allein) veränderte „den Lauf der Geschichte für immer“, sondern der Zettel. Zur Irrtums-Erzählung gehörte um 2009 auch das Bild des in seinen Unterlagen kramenden, den Zettel mit dem Reisegsetzentwurf suchenden Schabowski, der stotternd und etwas unkoordiniert versuchte an die ihm vorliegenden Informationen zu gelangen um Souveränität 116 Vgl. Latour 2002 S. 327ff. Ein Faitiche (eine Wortkombination aus fait und fétiche) ist für Latour ein Ding, das an der Konstruktion des Faktischen (fait) maßgeblich beteiligt ist, gleichzeitig selbst als Repräsentant für etwas anderes (fétiche) konstruiert ist. In den Erzählungen zum Mauerfall ließen sich für Schabowskis Zettel ebendiese beiden Merkmale ausmachen. 117 Vgl. Buchrückentext von Huber 2009.
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über die Lage zu gewinnen. Schabowski selbst stellte die Situation folgendermaßen dar: „Für die Pressekonferenz hatte ich mir im Vorfeld ein paar Notizen gemacht und zuunterst diese Vorlage [des Reisegesetzes] platziert. Als ich sie schließlich vorlesen wollte, konnte ich sie nicht sofort finden, weil sie zwischen die anderen Notizen geraten war. Ich blätterte daher meine Unterlagen durch, dann kam ein Mitarbeiter hinzu, um mir dabei zu helfen, und zog das Papier hervor. So entstand der Eindruck, als hätte man mir erst in dieser Situation einen Zettel zugesteckt. […] Mein flinkes Verlesen mag den Journalisten ebenfalls so merkwürdig vorgekommen sein, dass sie glaubten, ich hätte in diesem Augenblick erst von dem Sachverhalt erfahren.“118
Zur Genese des Zettels berichtete Schabowski an anderer Stelle: „Die Beratungen im Politbüro an diesem Tag führten zu dem Papier, aus dem ich dann auf der Pressekonferenz zitiert habe. Krenz hat es mir vor der Pressekonferenz gegeben – ohne ein Wort von einer Sperrfrist, nichts dergleichen. Im Nachhinein hat er versucht, sich vor den Gremien damit zu rechtfertigen, dass er mir das Papier übergeben hätte und dabei sei eine Sperrfrist gewesen.“119
An dieser Stelle braucht nicht zu interessieren, ob Krenz oder Schabowski für den „Irrtum“ verantwortlich war.120 Interessant erscheint vielmehr, dass sich auch in Schabowskis Darstellung die Irrtumsfrage um Form und Funktion des Zettels drehte. Hertle und Elsner druckten in ihrem Dokumentband zum Mauerfall sowohl die komplette Ministerrats-Beschlussvorlage (mit dem in Klammern und Anführungszeichen hinzugefügten Titel „Schabowskis Zettel“) als auch Schabowskis handschriftliche Notizen zur Pressekonferenz ab.121 Durch diese dokumentarische Vergegenständlichung, die die Aura des Authentischen vermitteln sollte, wurde dem Original ein großer Stellenwert eingeräumt, das im Zweifel Zeuge dafür sein konnte, was tatsächlich an Schabwoski weitergereicht wurde, was tatsächlich auf dem Zettel stand. Zu dem Inventar der Mauerfall-Erzählungen um 2009 gehörten also ebenso der Zeitausdruck „sofort, unverzüglich“ als auch Schabowskis Zettel und der darauf zusammengetragene Inhalt, auf dem auch ein ganzes politisch-bürokratisches Ak118 Vgl. Diekmann/Reuth 2009, S. 173f. 119 Vgl. das Interview mit Günter Schabowski von Schlegel, Matthias/Tretbar, Christian: „Wir wollten uns mit dem Westen arrangieren“. Der Tagesspiegel vom 9.11.2009. 120 Eine Gegenüberstellung der Aussagen Schabowskis und Krenz‘ dokumentierte Hertle/ Elsner 2009, S. 37ff. 121 Ebd., S. 34f. und 38.
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teur-Netzwerk versammelte war122. Hinzu traten der wirre Akteur Schabowski, der nach diesem Zettel-Ding unbeholfen kramte und zu schnell und unverständlich vortrug, sowie die aufzeichnenden, vermittelnden und übersetzenden Journalisten und Apparaturen vor Ort. An diesem Punkt kippte laut dem Narrativ von 2009 die alte in eine neue, andere Zeit. Dies war die Kette von Akteuren die dazu führte, dass das Ereignis der Pressekonferenz als „historisches Ereignis“ bezeichnet werden konnte – nicht zuletzt auch im „Erinnerungsjahr 2009“. Als wären das nicht Anzeichen genug dafür, dass das Ereignis „Schabowskis Pressekonferenz“ als historisches und geschichtspolitisches Phänomen in Jean Baudrillards Idee der Hyperrealität zu denken wäre, gab es um 2009 eine kurze Diskussion darüber, ob das ganze nicht doch inszeniert gewesen sei. Der Ansicht zumindest war Ilko-Sascha Kowalczuk, in dessen „Endspiel“ die Pressekonferenz wie folgt beschrieben wurde: „Und nun kam Schabowskis großer Auftritt. Die ganze Welt sollte glauben, er sei der Grenzöffner, gewissermaßen nebenbei und aus Versehen. Er las stotternd, sich nach links und rechts umschauend, die Pressemitteilung vor und tat so, als wüsste er nicht, was er da soeben vorgelesen hatte. […] Sein Auftreten demonstrierte, hier handelte kein Politiker, sondern ein Funktionär. Die Folgen seiner Bemerkung, die Regelung gelte ‚ab sofort‘, waren von ihm nicht einkalkuliert worden. […] Die von Schabowski gemimte Ahnungslosigkeit über die Bedeutung des Beschlusses war großes Schauspiel eines politischen Dilettanten.“ 123
Kowalczuk war mit seiner Grundthese, es handele sich um eine Inszenierung seitens des SED-Politbüros, nicht allein. Allerdings stützten sich andere Darstellungen eher auf die Rolle des ersten Journalisten, der Schabowski nach einer neuen Reiseregelung am 9. November 1989 fragte: Riccardo Ehrmann. Dieser äußerte 2009 gegenüber dem MDR und dem Tagesspiegel, er sei vor der Pressekonferenz von Günter Pötschke, dem Generaldirektor der ADN, angerufen worden mit der Bitte, Schabowski nach dem Reisegesetz zu fragen.124 Warum und in wessen Interesse blieb jedoch offen und konnte weder von Ehrmann noch von Schabowski eindeutig geklärt werden.125 Ehrmann selbst wies diese Behauptungen „ein ‚Werkzeug der
122 Der Zettel war ein weiteres Beispiel für ein „Drawing Things Together“, vgl. Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Belliger/Krieger 2006, S. 259-307. 123 Kowalczuk 2009, S. 457. 124 Vgl. Schlegel: Matthias: Ein mysteriöser SED-Anruf beschleunigte den Mauerfall. Zeit Online vom 17.4.2009 (URL: http://goo.gl/XCVgf [19.7.2013]). 125 Drei Thesen dazu veröffentlichte der Tagesspiegel: N.N.: Ehrmann, Schabowski und die Folgen. Zeit Online am 21.4.2009 (URL: http://goo.gl/bEY0r [19.7.2013]).
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SED‘ gewesen zu sein“ entschieden zurück.126 Weiter sprach er von „Bitterkeit“ seiner deutschen Journalistenkollegen darüber, dass diese nicht die entscheidende Frage nach dem Reisegesetz gestellt hätten, und einer regelrechten „Hetzkampagne“ gegen ihn. Dass Ehrmann sich habe von der SED instrumentalisieren lassen sei nicht nur eine „absolut falsche, sondern auch absurde Annahme“. Diese widersprüchlichen Auskünfte Ehrmanns trugen bis dato nicht dazu bei, seine Rolle und den Grad der Inszenierung von Schabowskis Pressekonferenz zu klären. Für die Geschichtspolitik zum Mauerfall bedeutete dieser Verdacht lediglich, dass das Ereignishafte des Vorgangs, sein Zäsurcharakter und seine Bedeutung einmal mehr als riskante Unterfangen erschienen. Der Verdacht, es könnte sich um eine Inszenierung gehandelt haben, hob das Ereignis nur auf ein noch höheres Podest.
Z WISCHEN M ONSTRUM UND S OUVENIR – D IE B ERLINER M AUER ALS ARTEFAKT Anfang Januar 2009 fand in der Temporären Kunsthalle Berlin eine Ausstellung unter dem Titel „20 Jahre Mauerfall – Freiräume“ statt. Hier präsentierten sich Berliner Künstler und junge Kreative aus dem Umfeld des Künstlernetzwerks Create Berlin mit ihren Projekten zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls. Dabei ging es zwar vorrangig darum, „die Akteure der Kreativwirtschaft und ihre Botschafter noch intensiver miteinander zu vernetzen“. Betont wurde von den Veranstaltern allerdings auch, dass die Kreativen auch die ersten seien, „die sich dem Thema ‚20 Jahre Mauerfall 1989-2009‘ thematisch nähern“.127 Präsentiert wurden 20 Projekte, die im Rahmen der UNESCO-Initiative „City of Design“ (zu welcher Berlin 2006 erkoren wurde128) erstellt und im September 2008 bereits auf der Ausstellung „Create Berlin goes London“ gezeigt wurden.129 Dazu hatte Create Berlin eigens einen Projektwettbewerb ausgerufen, der sich dem zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls widmen sollte und zu dem über 80 Designerteams Beiträge einreichten.130
126 Ehrmanns Aussage, aus der die folgenden Zitate stammen, fand sich in Diekmann/ Reuth 2009, S. 43-46. 127 Vgl. Create Berlin: „Neujahrsempfang der Kreativen“. Pressemitteilung auf createberlin.de (URL: http://goo.gl/cvwMK [19.7.2013]). 128 Vgl. UNESCO: Berlin wird UNESCO-Stadt des Designs. Pressemitteilung vom 10. Januar 2006 (URL: http://www.unesco.de/530.html [20.8.2013]). 129 Vgl. Create Berlin: „Neujahrsempfang der Kreativen“. Pressemitteilung auf createberlin.de (URL: http://goo.gl/cvwMK [19.7.2013]). 130 Ebd.
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Die Besucher der Ausstellung erwarteten entsprechend vielseitige und ausgefallene Exponate, die besonders Bild und Design der Berliner Mauer aufgriffen und umwandelten. So auch die sogenannten „Mauermatratzen“ der Designerinnen Josephine Rank, Carolin Biegert und Juliane Zöller, in deren Team „eine West-, eine Ostberlinerin sowie eine ‚Dazugezogene‘ aufeinander[treffen]“, wodurch laut eigener Aussage „unterschiedliche und spannungsvolle Blickwinkel auf das Thema ‚Mauerfall‘“131 entstünden. Die „Mauermatratzen“ wurden im Pressetext zum Produkt folgendermaßen beschrieben: „Das Typische an der Berliner Mauer war die runde ‚Überwindungsbarriere‘. Das machte sie unverwechselbar. Genau diese spezielle Form haben die Designerinnen bei der Gestaltung und Entwicklung ihrer ‚Mauermatratzen‘ aufgegriffen. Hängend fungieren sie als Raumtrenner, liegend werden sie zu Sitzmöbeln oder Liegeflächen und laden zum relaxen, nachdenken und träumen ein. Eine vielschichtige Oberfläche aus Zitaten und Mauersprüchen fordert zur Auseinandersetzung mit der Geschichte heraus.“132
Die auf den so umfunktionierten Mauersegmente zierten „Mauersprüche“ waren „Wir sind ein Volk“, „Arbeiter und Bauern brauchen keine Mauern“ oder eine durcheinandergewirbelte Variante des berühmten Ausspruchs Walter Ulbrichts „Errichten zu Mauer eine Absicht hat die Niemand“.133 Die Designerinnen verfolgten damit folgende Idee: „Nachdem die Berliner Mauer 40 Jahre lang den Austausch von Ideen und Gedanken verhinderte, ist Berlin heute ein Ort der Kommunikation. Die Stadt inspiriert Menschen aus aller Welt, die hier ihren Träumen und Einfällen nachgehen. Mit den Mauermatratzen wird dieser Prozess auf augenzwinkernde Weise aufgezeigt und den vielen historischen Bildern von der trennenden Berliner Mauer ein neues hinzugefügt [...]. Die Stadt ist vereint, offen und weiter im Wandel; ihre Bewohner und Besucher sind kommunikativ und neugierig. Die Mauermatratzen sind Ausdruck dieses Berlin-Gefühls[.]“134
Die „Mauermatratzen“ waren auch als Gastbetten zu erwerben, die von den Designerinnen mit den Worten „Was früher Menschen trennte, ist heute Gästebett für
131 Vgl. Rank, Josephine u.a.: Mauermatratzen. Pressemitteilung vom 29.5.2009 (URL: http://goo.gl/Vo7yPB [19.7.2013]). 132 Ebd. 133 Einige Exemplare der Mauermatratzen sind in der Galerie auf mijulyundca.de zu sehen (URL: http://www.mijulyundca.de/mauermatratzen/galerie.html [19.7.2013]). 134 Vgl. den Informationseintrag von N.N.: Die Mauermatratzen. Mijulyundca.de (URL: http://goo.gl/ByJrT [19.7.2013]).
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Freunde – die Berliner Mauer“135 angepriesen wurden: „Ein Stück Mauer zum drauf Schlafen. Stadtgeschichte als Nachtlager. Zeitgeschichte als Bettstatt.“136 Ein anderes Designprojekt war das „Crystal City Mind“ der Designteams COORDINATION und diephotodesigner.de. Dabei handelte es sich um „ein vielfach gefaltetes Designobjekt aus hochglanz poliertem Edelstahl und matten schwarzen Flächen“.137 Dadurch reflektierte die Skulptur aus vielfachen Winkeln spiegelartig seine Umgebung und nahm diese bildlich in sich auf. Im Sommer 2008 fotografierten die Designer die Skulptur an verschiedenen Orten des ehemaligen Mauerstreifens. „Die dabei entstandenen Bilder zeigen, wie sich Berlin in den letzten 20 Jahren gewandelt hat, wie lebendig Altes und Neues zusammentreffen“, hieß es in der Presseerklärung zu dem Objekt von Seiten der Künstler. „Als Botschafter von Europas angesagtester Stadt kommuniziert Crystal City Mind aber auch mit seinen Betrachtern und vermischt Vergangenheit und Gegenwart“.138 Ein weiteres Exponat war die „Timescope Berlin Reunited“ der „Stadtmöbel“ herstellenden Wall AG und des Design- und Architekturbüros Art+Com. Dieses war eine Fortführung der Timescope-Reihe, die seit 2007 an unterschiedlichen Orten in Berlin zu finden war.139 So wurde beispielsweise Unter den Linden auf dem Schlossplatz ein Timescope-Gerät aufgestellt, das ähnlich den an vielen touristisch ausgerichteten Orten aufgestellten Ferngläsern mit Münzeinwurf funktionierte. Die Timescope-Apparate waren jedoch laut ihrem Hersteller ein „Fernglas in die Vergangenheit und Zukunft“140: „Das timescope zeigt die Stadt in verschiedenen Zeiten und Zuständen. Hierzu setzt das timescope eine Verbindung aus Binokularoptik und Webcam ein. Der Betrachter blickt durch das ‚Fernglas‘ und sieht den vor ihm liegenden Stadtbildausschnitt per Webcam-Aufzeichnung in der Gegenwart und durch mediale Einspielungen in der Vergangenheit und Zukunft. So wird Geschichte erlebbar und Zukunftsvisionen werden greifbar.“ 141 135 Rank, Josephine u.a.: Mauermatratzen. Pressemitteilung vom 29.5.2009 (URL: http:// goo.gl/Vo7yPB [19.7.2013]). 136 Ebd. 137 Vgl. N.N.: „Crystal City Mind von Coordination und Diephotodesigner.de zu Gast in Köln“. Pressemitteilung auf diephotodesigner.de am 5.1.2009 (URL: http://goo.gl/ BzlBP [19.7.2013]). 138 Ebd. 139 Vgl. Stadt Berlin: „Wall AG führt timescope in Berlin ein. Virtuelle Zeitreisen auf dem Schlossplatz“. Pressemitteilung Nr. 411/2007 vom 6.7.2007 (URL: http://goo.gl/9yBsf [20.7.2013]). 140 Produktbeschreibung unter N.N: Produkte. Wall.de (URL: http://goo.gl/YinWr [20.7.2013]). 141 Ebd.
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Zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls wurde mit „Timescope Berlin Reunited“ ein eigens auf den ehemaligen Mauerstreifen und dessen Geschichte fokussierendes Gerät entwickelt. Darin sah der Betrachter den Mauerstreifen zu verschiedenen Zeiten, konnte Bau und Fall der Mauer durch Navigation nachvollziehen. Auch in dieser Timescope-Variante sollte speziell für die Berliner Mauer als historischer Gegenstand dargestellt werden, was die Wall AG mit den Timescope-Geräten generell zeigen wollte: „Die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden aufgehoben. So wird Geschichte erlebbar und die Zukunft rückt in greifbare Nähe.“142 Diese drei der 20 Exponate konnten als exemplarisch dafür gelten, wie die Berliner Mauer im „Erinnerungsjahr 2009“ transformiert wurde. Jedes der vorgestellten Beispiele nahm auf seine Weise die Berliner Mauer als Gegenstand in sich auf und veränderte sie gleichzeitig. Alle drei verwiesen auf die konkrete Materialität der Berliner Mauer beziehungsweise ihrer Überreste. Zudem brachten sie ihre eigene Materialität, Technik und Anwendbarkeit ins Spiel um die Mauer als Objekt erfahrbar zu machen. Dabei konnten die drei Beispiele schon kategorisch für die verschiedenen Arten stehen, wie um 2009 mit der Mauer als Erinnerungsgegenstand umgegangen wurde. Das Timescope verdeutlichte die Praxis, die Mauer durch technische Verfahren wieder sicht- und erfahrbar zu machen. Vergleichbar zu Stephan Kaluzas Fotoprojekt der „Unsichtbaren Mauer“ ging es den Timescope-Ingenieuren darum, die Mauer zu rekonstruieren – und zwar so real wie möglich. Dazu sollte das „Timescope Berlin Reunited“ auch, wie die ihm verwandten Geräte, an authentischen Orten aufgestellt werden, wo der Blick durch das Gerät die Mauer wieder als Abbild erscheinen ließ. Eine weitere Funktion der Apparatur war es, den Nutzer durch verschiedene Zeiten navigieren zu lassen, sodass eine Narration des Wandels entstand – und eine Grundkategorie der historischen Erfahrung eingelöst wurde. Wenn Angela Merkel behauptete, die Lehre aus dem Mauerfall hieße „Nichts muss so bleiben, wie es ist“143, dann lieferte das „Timescope Berlin Reunited“ die entsprechende visuelle Umsetzung davon. Nicht zuletzt verdeutlichte das Timescope die hantologische Dimension des geschichtspolitischen Dispositivs, das dem „Erinnerungsjahr 2009“ innewohnte. Wenn der interessierte Nutzer beim Blick durch das Fernglas „den vor ihm liegenden Stadtbildausschnitt per Webcam-Aufzeichnung in der Gegenwart und durch mediale Einspielungen in der Vergangenheit und Zukunft“144 sah, war das eines der besten Beispiele für den von Derrida beschriebenen „Spektral-Effekt“, durch den sich die Gegenwart nicht mehr gegenwärtig wurde 142 Vgl. die Herstellerinformationen in N.N.: „Zeitreise durch die Stadt: timescope“. Auf wall.de (URL: http://goo.gl/yxUIv [20.7.2013]). 143 Diekmann/Reuth 2009, S. 151. 144 N.N: Produkte. Wall.de (URL: http://goo.gl/YinWr [20.7.2013]).
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und sich die Zeitebenen vermischten. Die Mauer war der Geist in der Maschine des Timescope. Das „Crystal City Mind“ hingegen stand für eine Kategorie an geschichtspolitischen Techniken, die durch ihre Form und Funktion ihren Gegenstand transformierten und integrierten. Zwar argumentierten dessen Designer etwas ungenau herbei, dass in dem Kunstwerk „lebendig Altes und Neues zusammentreffen“145 (gemeint war wohl, dass die Überreste der Mauer das „Alte“, das Kunstwerk selbst das „Neue“ darstelle, in dem sich das Alte gebrochen spiegelte). Allerdings ließ das „Crystal City Mind“ sich eher als Hybrid beschreiben: Durch das spiegelnde Material und die gefaltete Form gab das Kunstwerk zwar ein Bild der Berliner Mauer wieder, allerdings zersplittert und verzerrt. Die Materialität des „Mind“, das sich als Analogie zum Gedächtnis146 der Geschichtspolitik und Historisierung deuten ließ, veränderte im Gegensatz zum Timescope das Erscheinungsbild der Mauer, benötigte aber den authentischen Ort, um seinen Erinnerungsgegenstand überhaupt auf sich abbilden zu können. Versuchte sich das Timescope also weitestgehend in Mimesis, leistete das „Crystal City Mind“ schon eine Transformation. Die „Mauermatratzen“ und Gästebetten gingen noch einen Schritt weiter. Zwar verwendeten sie absichtlich das Design der Mauersegmente mitsamt deren Überwindungsbarriere; ebenso waren auf den Einzelstücken aus dem historischen Kontext von DDR, Mauer und 1989 entnommene Zitate zu lesen. Dadurch parodierten die Designerinnen der „Mauermatratze“ gleichzeitig deren trennenden und repressiven Charakter: „Was früher Menschen trennte, ist heute Gästebett für Freunde – die Berliner Mauer.“147 Die Mauer wurde so in ihr Gegenteil verkehrt. Gewissermaßen revoltierten die „Mauermatratzen“ damit gegen ihr historisches Vorbild und lieferten durch ihr Design und ihre Funktion eine verdinglichte Antwort auf die Frage, wie die Mauer nicht nur als Erinnerungs-, sondern als konkreter Gegenstand in der Gegenwart existieren könnte: indem ihre Ursprünglichkeit getilgt, parodiert, umcodiert und umfunktioniert wurde. Die „Mauermatratzen“ verbanden den mimetischen Charakter des Timescope und die transformierende Geste des „Crystal City Mind“, um ihren Gegenstand neu zu übersetzen. Der Umgang der „Mauermatratzen“ mit
145 Vgl. N.N.: „Crystal City Mind von Coordination und Diephotodesigner.de zu Gast in Köln“. Pressemitteilung online einzusehen auf diephotodesigner.de am 5.1.2009 (URL: http://goo.gl/BzlBP [19.7.2013]). 146 Die englischsprachige Redensart „to keep something in mind“ als Erinnerungsgeste passt hierzu. 147 Vgl. Rank, Josephine u.a.: Mauermatratzen. Pressemitteilung vom 29.5.2009 (URL: http://goo.gl/Vo7yPB [19.7.2013]).
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ihrem historischen Konterpart stand für eine dritte Art der Geschichtspolitik zur Berliner Mauer – der Revision.148 Die Berliner Mauer als Erinnerungsgegenstand des Jahres 2009 war jedoch nicht ohne Probleme. Erinnert wurde an den Mauerfall, der seine eigenen geschichtspolitischen Topoi mit sich brachte. Einer der Protagonisten dieser Erinnerung war die Berliner Mauer selbst. Nicht nur als historischer Gegenstand und Akteur, sondern auch als Matter of Concern der Geschichtspolitik zur DDR und zu 1989 gehörte die Berliner Mauer zu den riskanten Elementen einer Geschichte von 1989. Riskant deshalb, weil sie ein doppelbödiger Gegenstand war: Die Mauer taugte konkret und symbolisch als Beispiel für Repression und Unmenschlichkeit und war demnach negativ besetzt. In der Erinnerung an 1989 jedoch wurde ihrem Verschwinden, ihrem „Fall“, gedacht – und damit der Überwindung von Repression und Unmenschlichkeit. Ähnlich der Geschichtspolitik zum MfS oder der SED, aus deren Politik die Mauer hervorging, musste sie gleichzeitig in die Erinnerung und Politik zu 1989 eingeschlossen und ausgeschlossen werden. Erinnert wurde daher nicht die Mauer als Ding für sich, sondern ihr Ende. Auch die drei bereits angeführten Beispiele hatten eines gemeinsam: Sie betonten den Wandel, das Verschwinden der Mauer und ihre Nicht- oder umcodierte Existenz in der Gegenwart von 2009. Davon zeugte auch die Strategie der Mimesis. Die meisten Projekte, die sich der Mimesis verschrieben hatten, pointierten den historischen Wandel, dem die Berliner Mauer und der Grenzstreifen unterlagen. Oft hatten diese Projekte mit konkreten Abbildungen und Fotografien zu tun. Das Beispiel der „Unsichtbaren Mauer“ des Fotografen Stephan Kaluza wurde bereits mehrfach angeführt. Ein fast mit Kaluzas Fotografien identisches Projekt war der Film „Invisible Frame“ der Regisseurin Cynthia Beatt. 1988 drehte Beatt einen Film namens „Cycling the Frame“, in dem die Schauspielerin Tilda Swinton auf einem Fahrrad die Berliner Mauer entlang fuhr und verschiedene Begegnungen mit anderen Menschen an der Mauer erlebte. Für „Invisible Frame“, der sich wie Kaluzas Fotografien die Metapher des Unsichtbaren in den Titel schrieb, wiederholte Swinton ihre Radtour anlässlich des „Erinnerungsjahres 2009“.149 Beide Filme zusammenmontiert ergaben so eine Erzählung des Verschwindens bei gleichzeitiger Präsenz der Berliner Mauer. 148 Die drei hier aufgestellten Kategorien (Mimesis, Transformation und Revision) sind nicht so kategorisch und schematisch gedacht, wie es vielleicht den Anschein hat. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, im Gegenteil: Um 2009 ließen sich etliche Überschneidungen dieser drei Strategien in ein und demselben Werk festmachen, was in den folgenden Beispielen auch deutlich werden wird. Sie sollen hier dazu dienen, bestimmte Nuancen und Schwerpunkte einzelner Werke, Aktionen oder Projekte hervorzuheben, ohne dass dabei die anderen Strategien automatisch ausgeschlossen sind. 149 Rodek, Hans-Georg: Die unsichtbare Grenze entlang. Welt Online am 7.11.2009 (URL: http://goo.gl/32TFu [20.7.2013]).
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Ähnlich funktionierte auch der Fotoband „Die Mauer – Früher und heute“150: „20 Jahre danach erkennt man nur noch an wenigen Stellen, wo einst der Todesstreifen durch Berlin und die Republik führte. Dieser Band dokumentiert in anschaulichen Bildpaaren, wie so manche Straße, so mancher Ort wieder zusammengewachsen ist und ‚zusammengefügt wurde, was zusammengehört‘ (Willy Brandt).“151 Damit hob der Fotoband darauf ab, Wandel visuell darzustellen, indem er direkt Altes und Neues in „Bildpaaren“ gegenüberstellte. So war beispielsweise einerseits das abgezäunte Brandenburger Tor zu sehen, direkt daneben jedoch ein Foto der ebenfalls am Brandenburger Tor zur Fußballweltmeisterschaft 2006 errichteten „Fanmeile“.152 Andere Fotos stellten ehemalige Grenzübergänge wie die Invalidenstraße153 oder die Chausseestraße154 in fotografischen Ansichten zu Zeiten der Mauer und nach 1989 gegenüber. Auch die innerdeutsche Grenze wurde auf dieselbe Weise dargestellt155. Die Begleittexte zu den Früher/Heute-Fotografien betonten den Wandel, der durch die visuelle Gegenüberstellung verdeutlicht wurde. So hieß es über einen dem Brandenburger Tor benachbarten Mauerabschnitt: „Der Straßenverkehr hat sich längst das Mauergelände und den früheren Todesstreifen erobert.“156 Über den Grenzübergang Bornholmer Straße stand dort: „Heute erinnert nur noch ein Gedenkstein […], gefertigt aus einem Stück Mauer, an den damaligen Grenzverlauf“157. Über die Invalidenstraße lautete der Text: „Von Mauer, Wachturm und Kontrollgebäuden an der einstigen Grenzübergangsstelle Invalidenstraße ist nichts mehr zu sehen.“158 Im Gegensatz zu Kaluza zeigte der Fotoband das, was nicht mehr von der Mauer zu sehen war, direkt. Genau dadurch wurde visuell und narrativ verdeutlicht, dass die konkreten Orte der Mauer und der Grenze zu Orten des Wandels geworden sind, an denen keine oder nur wenige Spuren der Mauer zu finden sein werden. 150 Bedürftig, Friedemann: Die Mauer. Früher und Heute. Köln: Komet 2009. 151 Klappentext auf Bedürftig, Friedemann: Die Mauer. Früher und Heute. Köln: Komet 2009 Der Klappentext zitierte Brandts berühmt gewordenen Ausspruch vom 10. November 1989 nicht in den gängigen Versionen. Ob und wie Brandt den Satz im Kontext des Mauerfalls überhaupt geäußert hatte, ist jedoch überhaupt umstritten. Zur Genese des Zitates vgl. Rother, Bernd: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“. Oder: Warum Historiker Rundfunkarchive nutzen sollten. In: Bundeskanzler-Willy-BrandtStiftung Schriftenreihe Heft 8/1999 S. 25-30. 152 Bedürftig 2009, S. 26f. 153 Ebd., S. 36f. 154 Ebd., S. 40f. 155 Ebd., S. 93ff. 156 Ebd., S. 28. 157 Ebd., S. 23. 158 Ebd., S. 36.
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Eine radikalere Idee verfolgten der Autor Rainer Hartmann und der Fotograf Frank Paul Kistner mit ihrem Band „Berlin. Ein Rundgang vor und nach dem Mauerfall“159, der sich nicht nur (aber vor allem auch) auf die konkreten Mauerabschnitte konzentrierte. Der Mauerfall wurde dabei als Ausgangszäsur für den dargestellten Wandel genommen. Der Fotograf Kistner rekonstruierte insgesamt 20 Perspektiven historischer Fotografien, um aus derselben Ansicht heraus eine aktuelle mimetische Aufnahme zu machen. Das war deshalb nötig, da der Fotoband nicht die Ästhetik der direkten oder impliziten Gegenüberstellung verwendete, sondern der Schichtung, Überschreibung und Überlappung: Denn die historischen Aufnahmen waren auf eine Folie gedruckt, die, legte man sie über die aktuelle Fotografie, auf hantologische Weise Vergangenes mit den gegenwärtigen Ansichten vermischte. Die Vergangenheit überlagerte in gewissem Sinne so die Gegenwart, welche wiederum den Hintergrund der historischen Szene bildete. Damit ähnelte der Fotoband mehr dem Timescope-Prinzip, in dem sich auch computergenerierte Szenerien und Gegenstände aus der Vergangenheit in die gegenwärtigen Perspektiven und Ansichten mischten. Die Technik des Bildes und der Fotografie, die versuchte, auf authentische Weise sowohl vergangene Gegenstände an ihren konkreten Orten abzubilden als auch gleichzeitig ihr Verschwunden-Sein festzuhalten, trugen auf mimetische Weise dazu bei, die Mauer als Ding der Vergangenheit und des Wandels festzuschreiben. Gleichzeitig konnte die Mauer durch die Linse des Fotoapparats oder des Timescope-Fernglases auf hantologische Weise wieder in gegenwärtigen Szenerien erscheinen. Dabei war sie jedoch an die Apparatur gekoppelt, durch die sie wieder sichtbar wurde. Kurz gesagt: Sollte die Mauer um 2009 wieder in der Gegenwart dort erscheinen, wo sie tatsächlich stand, musste sie durch optische Apparaturen und visuelle Designs kanalisiert werden. Das zeigten auch einige Smartphone-Applications (Apps), die um 2009 die neueren technischen Möglichkeiten mobiler Kommunikation für geschichtspolitische Zwecke nutzen wollten. Besonders die 2010 für den Augmented-Reality-Browser Layar entwickelte virtuelle Rekonstruktion der Berliner Mauer durch den Mathematiker und Programmierer Marc Gardeya zeigte die Möglichkeiten auf, welche diese Technologien für das mimetische Verfahren bereithielten.160 Diese App funktionierte wie eine mobile Version des Timescope: Durch die Kamera des Smartphones konnte die Berliner Mauer – als virtuelles Bauwerk rekonstruiert – dort betrach-
159 Hartmann, Rainer/Kistner, Frank Paul: Berlin. Ein Rundgang vor und nach dem Mauerfall. Berlin: Edition Braus 2008. 160 Vgl. Keller, Maren: Augmented Reality. Du willst die Berliner Mauer sehen? Bitte sehr! Spiegel Online am 4.7.2010 (URL: http://goo.gl/1C9SJ [20.7.2013]).
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tet werden, wo sie vor 1989 stand. Der Augmented-Reality-Browser Layar161 ermittelte über GPS den Standort des Gerätes und fügte entsprechende Elemente in Umgebung ein. So auch die Rekonstruktion der Berliner Mauer. Dem Nutzer war es dann möglich, sich entlang der Mauer zu bewegen und diese durch sein Telefon hindurch zu betrachten. Dass man dabei durch die Mauer „hindurch laufen“ konnte, förderte einmal mehr den gespenstigen Effekt, den die Mauer als technisierter Wiedergänger erzeugte. Speziell für das „Erinnerungsjahr 2009“ wurde der sogenannte „MauerGuide“ der Firma Antenna Audio/Discovery Tours entwickelt. Dieser war ein eigenständiges Gerät, das ähnlich wie ein Smartphone funktionierte: „Mit Hilfe eines GPSgesteuerten tragbaren Multimediagerätes sollten die wenigen noch vorhandenen Spuren der Berliner Mauer auffindbar und ihre Geschichte zugänglich gemacht werden“162, lautete die Beschreibung der Apparatur in dem zugehörigen Pressetext: „Der MauerGuide verfügt über einen integrierten Stadtplan und eine GPS-Steuerung, die speziell auf Fußgänger ausgerichtet ist. Mit umfassendem Audio- und Videomaterial liefert er Informationen über geschichtliche und politische Hintergründe. Er führt in einer individuell zu gestaltenden Tour zu den Orten des Gedenkens der Maueropfer und zu den Orten, an denen sich Weltgeschichte ereignete. Eine zentrale Rolle spielen dabei die 5 Gedenkorte Checkpoint Charlie, Brandenburger Tor, Bernauer Straße, Niederkirchnerstraße und East Side Gallery.“163
Der „MauerGuide“ lotste seine Nutzer auf einer virtuellen Karte über eine Strecke von insgesamt 14 Kilometern zu verschiedenen Informationspunkten entlang des ehemaligen Mauerstreifens, an denen dann Informationstexte sowie historisches Bild- und Tonmaterial bereitgestellt wurden. Auch der „MauerGuide“ war an den authentischen Ort der Berliner Mauer gekoppelt und funktionierte in vollem Umfang auch nur dort. Im Grunde handelte es sich um eine Spurensuche, die die Reste der Mauer und deren Geschichte am konkreten Ort verfügbar machte. Zwar simulierte der „MauerGuide“ die Berliner Mauer nicht so direkt wie Layar oder das Timescope. Allerdings machte er die Mauer und ihren historischen Ort zur konkreten Grundlage seiner Navigation – und damit der historischen Erfahrbarkeit.164 161 Vgl. auch den dazugehörigen Blogeintrag von Layar selbst: Groenhart, Maurice: The Berlin Wall is back. Layar Blog 16.4.2010 (URL: http://goo.gl/J3gpm [20.7.2013]). 162 Vgl. Pressinformation Daten und Fakten– MauerGuide Der offizielle Multimedia Guide zur Berliner Mauer Stand 15.10.2010 (URL: http://goo.gl/2kUnJ [20.7.2013]). 163 Ebd. 164 Die Idee einer interaktiven und navigierten Spurensuche am authentischen Ort ist dabei nicht neu, im Fall der Berliner Mauer jedoch immer virulenter geworden. So gab es bereits Printveröffentlichungen wie die 2008 neu aufgelegte „Mauerkarte“ der Adler &
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Die vielleicht konsequenteste Umsetzung der Mimesis fand sich 2009 in der 3D-Simulation des Chatdienstes Twinity in Kooperation mit der Stadt Berlin. Dort erhielt der angemeldete Nutzer die Möglichkeit, mit seinem Avatar durch ein simuliertes Berlin zu wandern und sowohl eine animierte Ausstellung zur Geschichte von 1989 zu betrachten, als auch – und das war letztlich der Clou der Funktion – sich punktuell durch mehrere Tore zu bewegen, um sich plötzlich in der simulierten Umgebung von 1989 selbst wiederzufinden.165 Die Erinnerungs-Strecke verlief über insgesamt zwei rekonstruierte Kilometer. Zusätzlich konnte auf einer sogenannten „Mini-Map“ der genaue Verlauf des rekonstruierten Mauerstreifens sowie der Standort verschiedener Informationspunkte ermittelt werden. Twinity-Nutzer und Blogger Sered beschrieb am 9. November 2009 im Blog-Forum des Chat-Dienstes sein Erlebnis mit diesem virtuellen Erinnerungsangebot: „Today I’m looking back at the Berlin Wall, in Twinity Berlin. Throughout Twinity Berlin, there are gates through which you can step back in time, and enter the Berlin that still has a wall, where stern looking officers stand guard under flags with communist symbols. Now you’re in Berlin 2009, the next moment you’re back in 1989. […] Do yourself a favor, [...] pay a visit to Twinity Berlin, even if it’s only to take a look at the Wall – in a way you’ll never be able to in real life.“166
Sereds Eintrag ist deshalb interessant, weil er einerseits das mimetische Potential des Angebotes hervorhob und den Zeitreiseaspekt betonte. Andererseits spielte er das „real life“ gegen das virtuelle Erleben der Mauer aus – wobei letzteres im „echten Leben“ nicht (mehr) möglich sei.167 Schmidt Kommunikations-Design GmbH, die auch die Grundlage des „MauerGuide“ bildete, s. Berliner Mauerkarte: Entlang dem Mauerweg durch die Innenstadt. Berlin: Adler & Schmidt Kommunikations-Design 2008. Auch die Stadt Berlin hat anlässlich des Mauerbau-Jubiläums 2011 einen 3D-Rundgang an der Mauer, wie sie 1989 aussah, auf Grundlage von Google-Earth angeboten.Vgl. N.N.: „Innerstädtischer Verlauf der Mauer in 3D-Ansicht“ auf berlin.de (URL: http://www.berlin.de/mauer/verlauf3d/ index.de.html [6.3.2013]). 165 Vgl. die Informations-Homepage N.N.: „The Berlin wall [sic] in Twinity“. Twinity.com (URL: http://goo.gl/z7jFF [20.7.2013]) mit eingebettetem Video und die Mitteilung der Stadt Berlin „Die Berliner Mauer von 1989 entdecken – im virtuellen Mauer-Museum“ (URL: http://goo.gl/dbEza [20.7.2013]). 166 Vgl. den Blogeintrag Sered: „sered going through the gates of time“. Twinityblog vom 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/CBgqG [20.7.2013]). 167 Die Layar-Anwendung von 2010 könnte jedoch mit Recht als Gegenbewegung zur vollständigen Virtualisierung gelesen werden, da sie das Virtuelle mit einem Abbild des vermeintlich Realen vermischte. Zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Virtual
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Die geschichtspolitische Transformation der Mauer – vor allem in dem Sinne, dass sie verschwinde – setzte schon 1989 ein. Sinnbildlich dafür stand die Figur des „Mauerspechts“. Schon in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 machten sich einige Zeitgenossen daran, per Hammer, Meißel und sonstigem Gerät einzelne Stücke aus der Berliner Mauer zu entfernen und als „Souvenir“ mitzunehmen. Im November 2009 wurde diese Figur vor allem dadurch wieder prominent, dass der damalige Staatspräsident Frankreichs Nicolas Sarkozy am 8. November 2009 auf seiner Facebook-Homepage ein Foto veröffentlichte, auf dem er angeblich am 9. November 1989 als „Mauerspecht“ tätig war. 168 Von einer Vorahnung getrieben sei Sarkozy am Morgen des 9. November 1989 nach Berlin gefahren, „pour participer à l’événement qui se profile“, wie es auf der Facebook-Seite hieß.169 Sarkozy sprach dabei von „Souvenirs“ im wahrscheinlich mehrfachen Sinne: Einerseits waren es seine persönlichen Erinnerungen an den Mauerfall, andererseits materialisierten sich diese sowohl in dem veröffentlichten Foto als auch dem Betonstück, das Sarkozy aus der Berliner Mauer trennte. Zum Schluss brachte Sarkozy seine persönliche Tätigkeit mit einer der großen Linien der Geschichtspolitik zu 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ – der Freiheit– zusammen: „C’est cette liberté que nous défendons toujours avec l’Europe, et que nous fêtons 20 ans après.“170 Nun ließ Sarkozy offen, was er genau mit „cette liberté“ meinte. Sein Text ließ sich so lesen, dass er sowohl auf die Freiheitsepoche Europas verwies, die seit 1989 andauere, als auch die Freiheit, ein als restriktiv erlebtes Bauwerk souverän zu beseitigen. Dass die Mauerspecht-Figur eine geschichtspolitische Rolle und dementsprechende Legitimität verlangte, ließ sich 2009 daran ablesen, dass Zweifel an Sarkozys Selbstdarstellungen laut wurden. So „will sich Sarkozy als Mauerspecht gewürdigt sehen, der die historische Reichweite des Wandels in Berlin schneller als die meisten französischen Politiker erfasst hatte“, kritisierte Michaela Wiegel in der FAZ. Dazu seien diese Annäherung an Berlin (und damit die deutsche Geschichte und Politik) eher aus Gründen der Finanzkrise erfolgt. 171 Entsprechend negativ fiel
Reality (wie dem Twinity-Dienst) und Augmented Reality (wie der Layar-Anwendung) vgl. das Themenheft zu Augmented Reality von De:Bug Nr. 138/Dezember 2009, S. 10-23. 168 Vgl. Sarkozy, Nicolas: „Timeline Photos“. Facebook.com am 8.11.2009 (URL: http:// goo.gl/WhTuz [20.7.2013]). 169 Vgl. ebd. 170 Ebd. 171 Wiegel, Michaela: „Mauerspecht“ Sarkozy – nur eine PR-Legende? Auf FAZ Online am 9.11.2009 (http://www.faz.net/-gf2-14em4 [20.7.2013]).
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auch das Feedback in der Kommentarsektion zu Sarkozys Darstellung auf Facebook aus.172 Nun interessiert weniger, ob Sarkozys Darstellung stimmte, sondern die Politik und Praxis des „Mauerspechtes“, die hier mit dem Schlagwort Transformation auch eine geschichtspolitische Haltung zur Berliner Mauer darstellt. Im Gegensatz zur mimetischen Darstellung, die zwar einen Transfer in andere Kontexte, aber immer auch ein authentisches Abbild der Mauer zu leisten, sie also zu re-konstruieren suchte, ging es in der Transformation darum, die Mauer zu de-konstruieren. Diese Geschichtspolitik hing mit der Darstellung der Mauer als Ausdruck einer „monströsen Abscheulichkeit und Menschenverachtung“173 zusammen. Sie symbolisierte „Knechtung und Unfreiheit, Zwang und Gefangenschaft“, und wurde als „Schandmauer, Betonmonstrum, Todesmauer“ bezeichnet. 174 Frederick Taylor stellte in seiner historischen Darstellung zur Mauer fest, „dass die Mauer ein monströses Bauwerk sei, das Menschen errichtet hätten, die Freiheit nicht nur als entbehrlich, sondern auch als gefährlich ansähen“.175 Diese Diskursformation, welche die Mauer als „Monstrum“ darstellte, das „unmenschlich“ war, folgte dem Diskurs, den Giorgio Agamben für die Figur des „Homo Sacer“176 ausmacht, in dessen Konsequenz die bereits dargestellte Praxis der einschließenden Ausschließung erfolgte. Die Mauer sollte nicht wieder kommen. Deshalb wurde sich ihrer Monstrosität erinnert – und sie in dieser Erinnerungspraxis immer wieder eingerissen, zu Fall gebracht und de(kon)struiert. Die 172 Vgl. die Kommentare bei Sarkozy, Nicolas: „Timeline Photos“. Facebook.com am 8.11.2009 (URL: http://goo.gl/WhTuz [20.7.2013]). 173 Wolfrum, Edgar: Die Mauer. Geschichte einer Teilung. München: Beck 2009, S. 8. 174 Ebd., S. 108. 175 Taylor, Frederick: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. München: Siedler 2009 (BpB-Lizensausgabe 2009), S. 16. Taylor zitierte hier seinen Fremdenführer bei seinem ersten Besuch in West-Berlin, gab diese Erkenntnis jedoch auch als seine eigene aus. 176 Die Metaphorik des Monstrums und des Unmenschlichen waren laut Agamben Kriterien des Ausschlusses aus einer bestimmten soziopolitischen Sphäre, die eine Aussortierung von derartig bezeichneten Elementen erleichterte. Anschaulich wird dies bei Agamben in der Figur des Werwolfs, der gleichzeitig Unmensch und Mensch ist, sowohl ausgeschlossen als auch eingeschlossen ist in die Sphäre des Souveräns (was hier in die Dichotomie von Vergessen/Erinnern übersetzt wurde, sodass die Mauer nicht vergessen werden darf, aber auch nicht wiederkommen soll; ersteres ist die geschichtspolitische Grundlage für letzteres) Vgl. Agamben 2002, S. 114ff. Eine Analyse der Unmenschlichkeits-Metaphorik und deren Auswirkung auf politisches Denken unternimmt auch Sarasin, Philipp: Anthrax. Bioterror als Phantasma. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
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Transformation setzte schon ein, als die Mauer noch real Bestand hatte. So wurde ihre nach Westen ausgerichtete Seite im Laufe der Siebziger und Achtziger Jahre für Künstler, Graffiti-Maler und andere Kreative, darunter Thierry Noir und Keith Haring177, zur gestaltbaren Fläche, „zur längsten Leinwand der Welt“, wodurch „ihre menschenverachtende Funktion als Bollwerk verschwamm“ und „der Todesstreifen und die martialischen Sperranlagen auf der östlichen Seite […] fast in Vergessenheit [gerieten].“178 Dabei ging es nicht darum, die Mauer zu kaschieren, sondern sie umzuschreiben, zu überschreiben, durchzustreichen und umzuändern: „Die auf der Berliner Mauer dargestellten Motive wiesen eine große inhaltliche Spannweite auf und konnten über private Botschaften, Nonsens und Kritzeleien über politische Statements bis hin zur ‚hohen‘ Kunst reichen. […] Trotz der Gestaltungsvielfalt tauchten bestimmte Motive immer wieder auf: Symbole des Sich-Öffnens der Mauer, etwa in Gestalt eines Reißverschlusses, oder Durchbrüche, in Form von Türen, Leitern, Treppen und Mauerfrakturen. Zugleich waren jedoch auch Symbole der Unüberwindbarkeit der Mauer zu finden […].“179
Aus einigen Überresten entstand 1995 die „East Side Gallery“, wodurch sich die damals als Subversion gedachte Kunst in eine Art Museum verwandelte: „[D]as reale Leben hatte die Kunst eingeholt.“180 So förderte die Kunst die einschließende Ausschließung der Mauer in der Geschichtspolitik zu 1989: Was die Mauer zunächst dekonstruieren und destruieren sollte, wurde zur Erinnerung an diese Subversion – um ebendieses Verschwinden der Mauer festzuhalten. Was bleiben sollte waren künstlerische Akte von Souveränität, die sich die Mauer transformativ aneigneten, indem sie ihre Flächen für sich, ihre Kunst und ihre Codes nutzten. Eine weitere materielle Transformation erlebte die Mauer durch ihren Abriss, der von den „Mauerspechten“ begonnen wurde und sich nach 1989 fortsetzte. Mauersegmente wurden in alle Welt verkauft und standen als Denkmäler an öffentlichen Orten oder wurden in Privatbesitz aufgenommen. 181 Große Teile der Mauer wurden darüber hinaus zerkleinert und zum Straßenbau zwischen den wiedervereinigten Bundesgebieten verwendet.182 Dieser Exkurs über die Transformation der Mauer vor und nach 1989 war deshalb notwendig, um das a priori der Transformations-Erinnerung darzustellen. Um 2009 wurde genau dieser Transformation gedacht, dass die Mauer „physisch zur 177 Wolfrum 2009, S. 112. 178 Ebd., S. 108. 179 Ebd., S. 114f. 180 Ebd., S. 118. 181 Vgl. ebd., S. 142ff. 182 Vgl. ebd., S. 144.
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Vergangenheit“ angehörte.183 Davon zeugte auch der Bildband „Die Berliner Mauer in der Welt“, herausgegeben von Anna Kaminsky im Auftrag der „Stiftung Aufarbeitung“.184 In diesem Bildband waren nahezu alle größeren Mauerstücke zu sehen, die nach 1989 den Weg an einen anderen Ort als ihren ursprünglichen gefunden hatten. Diese Segmentierung und Verteilung sowie das Moment der Überwindung der Mauer als „Symbol für die Teilung der Welt“ bezeichnete für Kaminsky den Punkt, an dem „die Mauer nunmehr auch zu einem Symbol für den Freiheitswillen und für den erfolgreichen Kampf gegen Unfreiheit und Diktatur“ wurde. 185 Dabei war die Konservierung der Mauerstücke zunächst nicht unbedingt ein geschichtspolitisches Anliegen der wiedervereinigten Bundesrepublik: „Binnen weniger Jahre verschwanden in Berlin fast alle Spuren, die die Mauer und die Teilung im Stadtbild hinterlassen hatten. Zu groß schien der Wunsch mit der Wiedererlangung von Freiheit, Demokratie und Einheit alle Spuren, die an die schreckliche Geschichte erinnerten, zu entfernen. Erst etwa 15 Jahre nach dem Fall der Mauer und nachdem fast nichts mehr an die Teilung im Stadtbild erinnerte, besann sich der Berliner Senat auf ein Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer und die Teilung der Stadt. Die wenigen noch vorhandenen Reste der Mauer und Mauerorte sollten nun erhalten und in einem Gesamtkonzept aufeinander bezogen werden.“186
Dennoch fungierten bereits nach 1989 die weltweit verkauften, verschenkten und ausgestellten Mauerreste „als geschichtsträchtige Erinnerungsstücke, als Siegestrophäen, als Freiheitssymbole oder auch als Kunstobjekte an die überwundene Teilung der Welt und den Kampf für Freiheit und Demokratie erinnern“. 187 Damit beschrieb Kaminsky die doppelte Strategie der einschließenden Ausschließung, die die transformierte Mauer in der Geschichtspolitik zu 1989 ausführte: Einerseits das Bedürfnis, die Berliner Mauer umgehend abzureißen, ihre Spuren zu entfernen und somit physisch aus der weltlichen Präsenz zu tilgen als Akt des Ausschlusses, der sich von der Zeit der Mauer trennt und ihr keine Gegenwart mehr zugestehen möchte. Andererseits die konservierte Umcodierung der Mauerreste als Triumphsymbole und die damit einhergehende Festschreibung, dass die Mauer tatsächlich weg ist. Die Mauer wurde in Spuren und Resten verteilt. Das hatte zur Folge, dass die Spurensuche zur Erinnerungsarbeit wurde. 183 Kellerhoff, Sven Felix: Die Berliner Mauer steht überall auf der Welt. Berliner Morgenpost vom 29.9.2009. 184 Kaminsky, Anna (Hrsg.): Die Berliner Mauer in der Welt. Berlin: Berlin Story Verlag 2009. 185 Kaminsky, Anna: Geleit. In: Dies. 2009, S. 6. 186 Ebd., S. 6f. 187 Ebd., S. 7.
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Ein anderes Spurensuche-Projekt war der Dokumentarfilm „Where is the Wall?“.188 Der Film war die in Bewegtbilder übersetzte Entsprechung zu Kaminskys Bildband und verfolgte die Spuren verschiedener Mauerreste in der Welt. Auch die BBC bot zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls eine interaktive Karte auf „Google Maps“ an, die zeigte, wo sich die Berliner Mauer gegenwärtig befand. Dazu konnten Besitzer von originalen Mauerstücken ihre Fotos oder Videos des Souvenirs an die BBC senden, die diese dann in ihre „Google Map“ einfügte. 189 Ein weiteres Beispiel war das Projekt „Write the Wall“, das der Künstlerverein „Artitu“ im Rahmen des „Erinnerungsjahres 2009“ in Berlin von Juli bis Dezember 2009 initiiert hatte. Dazu wurde eine Installation aus 20 Mauersegmenten an verschiedenen Orten in Berlin aufgestellt. Die „Westseite“ der Installation stand den Besuchern und eingeladenen Künstlern dann zur freien Gestaltung offen, während die „Ostseite“ unbemalt bleiben sollte.190 Damit simulierte das Kunstprojekt die Transformation der Mauer, wie sie in den Siebziger und Achtziger Jahren verlief. So balancierte das Projekt zwischen mimetischen und transformatorischen Elementen, indem die historische Überschreibung und Umgestaltung der Mauer mimetisch wiederholt wurde – eine Rekonstruktion der Dekonstruktion. Dabei wurden die künstlerischen Tätigkeiten an der Installation rund um die Uhr von Kameras aufgezeichnet, deren Aufnahmen auf einem Webserver und einem Terminal vor Ort zugänglich waren.191 Dadurch archivierte und speicherte die Installation sich zunächst selbst, konnte von den Nutzern jedoch weiter bearbeitet, umgeschnitten und per EMail verschickt werden. So wiederholte sich die transformatorische Geste des Über- und Umschreibens der Berliner Mauer und vervielfältigte die daraus entstehende Installation gleichermaßen. In einem ähnlichen Gestus präsentierte sich 2009 auch das „Wallbreakers Festival“, das sich allerdings von dem historischen Objekt Berliner Mauer physisch löste. So veranstalteten die Initiatoren des Festivals mehrere Ausstellungen von sogenannten „Street Art Künstlern“ aus den Bereichen Graffiti, Tape-Art und ähnlichen Kunstformen, die im öffentlichen Raum stattfinden. Dabei wurden nicht zwangsläufig Mauerreste oder diese imitierende Oberflächen von den Künstlern für ihre Werke neu codiert.192 Vielmehr ging es den Veranstaltern Rebel Art ltd. darum, die ar188 Sasse, Elke/Pannen, Stefan: Where is the Wall? ZDF/Arte u.a. 2009 [Film]. 189 Das Ergebnis ist abrufbar auf N.N.: „Where is the Berlin Wall now?“. bbc.co.uk (URL: http://goo.gl/O4xg5 [20.7.2013]). 190 Vgl. Henke, Lutz: Write the Wall. Projektinfo vom 20.7.2009, S. 4 (URL: http:// writethewall.com/doc/WTWinfo.pdf [14.3.2013]). 191 Ebd. 192 Im Finale am 7. November 2009 wurden dem Künstler Jim Avignon lediglich drei Türen eines ehemaligen Gefängnisses zur Neugestaltung zur Verfügung gestellt. Vgl. Rebel Art ltd.: Art Wallbreakers Festival 2009 featuring Jim Avignon. Festival Finale am
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tistische Geste, sich den öffentlichen Raum anzueignen und diesen zu transformieren, als generelle Weiterführung der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls zu präsentieren: „Die Berliner Mauer steht einerseits als markantes Symbol des kalten [sic] Krieges und der Tei-
lung Deutschlands und andererseits als Kreativ-Fläche der friedlichen Revolution und als größte Open-Air Galerie der Welt. Das WALLBREAKERS Festival feiert mit verschiedenen Ausstellungen die grenzenlose Kreativität und Vielfalt der Ausdrucksformen im öffentlichen Raum.“193
Damit reihten sich die „Wallbreaker Festival“-Veranstalter in eine philosophische Reihe mit Jean Baudrillard, der in seinem Essay „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“ „das jähe Hereinbrechen der Graffiti über die Wände, Busse und UBahnzüge“ im öffentlichen, meist urbanen Raum als einen Angriff auf „das Urbane […] als Zentralstelle des Codes“ und die damit einhergehende „Semiokratie“ begreift, durch den eine „neue Ordnung des Territoriums“ – dem Territorium desjenigen, der seinen Code, sein Bild, seine Kunst im Raum hinterlässt – markiert.194 Nicht zuletzt der Name des Festivals – „Wallbreaker“ – deutete darauf hin, dass es nicht nur darum ging, sich Raum durch Überschreibung wieder anzueignen und sich öffentlich als souveränes, Zeichen setzendes Subjekt zu etablieren. Gleichzeitig war dies ein Aufruf zur De(kon)struktion von Mauern jeglicher Art. So reihte sich das Festival in den Transformations-Diskurs zum Mauerfall ein – ohne letztlich auf die Berliner Mauer als konkretes Objekt angewiesen zu sein. Die Mauer stand nicht nur als konkretes historisches und Erinnerungsobjekt im Mittelpunkt der transformatorischen Geschichtspolitik. Auch ihre Symbolik der Monstrosität und Unmenschlichkeit war ein Teil davon. In einer ähnlichen Gestik wie das „Wallbreaker Festival“ war im „Erinnerungsjahr 2009“ oft die Frage zu hören: „Welche Mauern müssen noch fallen?“. So ließ sich die Symbolik der Berliner Mauer als „Monstrum“ auf aktuelle Beispiele übertragen. Dieser Schritt mar7. November 2009 mit Jim Avignon in Berlin. Die Street-Art-Ausstellungsserie endet mit großem Get-together. Pressemitteilung vom 15.10.2009 (URL: http://goo.gl/m1kSP [20.7.2013]). 193 Rebel Art ltd.: Art Wallbreakers Festival 2009. Pressemitteilung vom 10.8.2009 (URL: http://goo.gl/ECFJQ [20.7.2013]) (Hervorhebung im Original). 194 Baudrillard 1978a, S. 22f. und 28. Baudrillards Argument, es handele sich bei Graffiti um ein sowohl kurzlebiges wie intentional gegen jede Form von Sinn gerichtetes Unterfangen, lässt sich allerdings nicht halten, wie gerade auch das Beispiel der Berliner Mauer zeigte. Ein ähnliches Argument liefert auch Serres, Michel: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen? Berlin: Merve 2009.
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kierte den Unterschied zwischen Transformation und Revision: Eine Revision der Berliner Mauer beinhaltete deren Übertragbarkeit auf gegenwärtige Kontexte, die nun mit der Mauer in Verbindung gebracht und ihr historisches Prinzip als „Verschwundenes“ übersetzt wurden – und sie dadurch dort erneut zu sehen war, wo sie eigentlich nicht sein konnte. Der Topos „Welche Mauern müssen noch fallen?“ erlebte um 2009 eine Hochphase. Ähnlich dem globalen Topos der „Berliner Mauer in der Welt“ wurde der Mauerfall zum Fetisch anderer Revisionen und Revolutionen im globalen Kontext. So weitete beispielsweise Bundeskanzlerin Merkel den politischen Blick in ihrer Rede auf der Konferenz „Falling Walls“ der Einstein-Stiftung in Berlin am 9. November 2009, die bezeichnenderweise den Titel „Die Mauern unserer Zeit überwinden“ trug: „[W]enn Sie heute Probleme lösen und Mauern einreißen wollen, dann müssen Sie sich automatisch mit anderen Teilen der Welt intensiv beschäftigen. Es ist, glaube ich, noch eine der ganz großen Mauern, die wir in einer globalisierten Welt zu überwinden haben, dass wir ja oft schon Schwierigkeiten haben, die richtigen Fragen zu stellen. Und diese Fähigkeit, Fragen zu stellen und Informationen zu erhalten, um etwa den afrikanischen Kontinent und den asiatischen Kontinent ähnlich gut wie die eigene europäische Heimat zu kennen, ist im Grunde die Voraussetzung dafür, um wahrhaft tolerant sein zu können, ohne die eigenen Werte aufzugeben.“195
Die Konferenz „Falling Walls“ stand im Zeichen von „Which are the next walls to fall?“.196 Die Veranstaltung wurde seitdem jährlich wiederholt und gründete auf der nun etablierten „Falling Walls Foundation“, deren Mitbegründer Sebastian Turner kurz vor dem 20. Jahrestag des Mauerfalls gegenüber der Welt das Programm der Stiftung erläuterte: „Wir Deutschen haben ein historisches Weltereignis, aber wir überlassen es nicht dem Einstauben. Mit einer einfachen Frage wenden wir es in die Zukunft. Hier fiel ‚die‘ Mauer. Wir fragen: Welche Mauern fallen als nächste? Ein
195 Merkel, Angela: 20 Jahre Mauerfall. Die Mauern unserer Zeit überwinden. Rede der CDU-Vorsitzenden, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel MdB, auf der Konferenz „Falling Walls“ der Einstein Stiftung am 9. November 2009 in Berlin (URL: http://www. angela-merkel.de/doc/091109-rede-merkel-falling-walls-konferenz.pdf [18.3.2013]). 196 Vgl. Einstein-Stiftung: „Which are the next Walls to fall?“. Pressemitteilung vom 21.10.2009
(URL:
http://falling-walls.nodesc.com/wp-content/uploads/2011/06/pr_
fallingwalls_2009.pdf [18.3.2013]). Allerdings muss hinzugefügt werden, dass es ursprünglich nicht um politische „Mauern“ ging, sondern solche in „Science and Humanities“.
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schlichter Gedanke, dessen Anziehungskraft jeder verspürt.“ 197 Auch viele andere Veröffentlichungen setzten sich mit dieser Frage auseinander. So versammelte der Autor Michael Reynolds in seinem Buch „Mauern“ „Zehn Geschichten, um sie [die Mauern] zu überwinden“.198 Darunter waren Texte von Heinrich Böll, Max Frisch, Ingo Schulze oder Olga Tokarczuk, die in meist abstrakter Form von Grenzsituationen und deren Überwindung erzählten. Anlass der Veröffentlichung war auch hier der zwanzigste Jahrestag des Mauerfalls. Allerdings war es dem Verlag wichtig darauf hinzuweisen, dass der Band „weit über den 20. Jahrestag der Berliner Mauer hinaus Relevanz hat“.199 Auch in etlichen Zeitzeugen- und Erinnerungssammlungen endeten viele Erzählungen mit einem Ausblick auf die zukünftigen MauerfallProjekte. „Die Beseitigung der Berliner Mauer war nur der Anfang“ 200, hieß es beispielsweise vonseiten des ehemaligen US-Gesandten in Berlin, John Kornblum: „Bis heute fallen Mauern überall auf der Welt. ‚Der Fall der Mauer‘ ist längst ein geflügeltes Wort für den globalen Drang nach Freiheit und Offenheit. Präsident Obama hat diese Idee zum Leitmotiv in seiner Rede an der Siegessäule gemacht. Für mich war der Kreis damit auch geschlossen. […] Die Leistung Berlins inspiriert Millionen von Menschen in anderen Teilen der Welt. So bleibt die Berliner Mauer immer lebendig. Nicht als hässliche Narbe, sondern als Hoffnungsträger.“201
Diese Rhetorik machte den Mauerfall wieder anschlussfähig an die Friedliche Revolution, indem beides als weiterzuführendes Projekt behandelt wurde und nicht als singuläres Ereignis. Die Projekte, die angesprochen wurden, handelten sowohl von abstrakten Ideen, wie der sogenannten „Mauer in den Köpfen“ und „Ungerechtigkeit“ in gesellschaftlichen Verhältnissen202, als auch konkreten politischen und ideologischen Konfliktsituationen, wie zwischen Nord- und Südkorea, Israel und
197 Vgl. Seibel, Andrea: „Es werden noch mehr Mauern fallen“. Welt Online am 7.11.2009 (URL: http://goo.gl/UBbB7 [20.7.2013]). 198 Reynolds, Michael (Hrsg.): Mauern. Zehn Geschichten, um sie zu überwinden. Berlin: Jacoby Stuart 2009. 199 Vgl. den Informationstext zu „Mauern“ auf der Homepage des Verlagshauses unter N.N.: Mauern. Die Mauern von Berlin und die Mauern in den Köpfen. Jacobystuart.de (URL: http://goo.gl/8H28v [20.7.2013]). 200 Das Zitat ist zu finden in Diekmann/Reuth 2009, S. 123. 201 Vgl. ebd. 202 Vgl. dazu vor allem Appenzeller, Gerd: Es ist noch viel zu tun. Zeit Online 8.11.2013 (URL: http://goo.gl/AtnYC [20.7.2013]) und Petersen, Thomas: Auch die „Mauer in den Köpfen“ fällt. FAZ Online am 25.11.2009 (URL: http://www.faz.net/-gf2-14emq [20.7.2013]).
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Palästina, Protestanten und Katholiken in Nordirland oder griechischen und türkischen Bürgern auf Zypern. 203 Unter solchen Vorzeichen war das Mauerfalljubiläum international angelegt. So fanden in London, Paris, Warschau oder an der südkoreanischen Grenze zu Nordkorea Aktionen und Feiern zum zwanzigsten Jahrestag des 9. November 1989 statt. In London errichteten die Künstler Benjamin Walther und Manon Awst vor der deutschen Botschaft eine Installation mit dem Namen „Work in Progress“. 204 Dabei handelte es sich um eine aus Eisblöcken errichtete Mauer, die nach und nach zu schmelzen begann und in absehbarer Zeit verschwand. In Warschau stellten Passanten die Berliner Mauer nach und „fielen“ um. Ein französischer Schokoladenfabrikant baute eine Mauer aus Schokolade, bemalte diese im Stile der „East Side Galery“ mit Lebensmittelfarbe und zerbröckelte sie schließlich in Einzelstücke, von denen auch Angela Merkel eines erhielt.205 Alle diese Beispiele variierten das Motiv der Berliner Mauer und des Mauerfalls in jeweils anderer Materialität, die meist auch ein Vergänglichkeitsmoment in sich trugen, wodurch das physische Verschwinden der Mauer mittels dieser Materialität eingeschrieben wurde. Dabei kam es nicht nur zu einer mimetischen Nachbildung und physischen Transformation der Berliner Mauer in eine andere Form, sondern auch gleichzeitig zu einer Revision der so direkt oder im übertragenen Sinne nachgestellten Mauer. Auch hier überschnitten sich die drei geschichtspolitischen Momente zum Mauerfall. Besonders verdeutlichte dies die sogenannten „Mauerreise“ des Goethe-Instituts im „Erinnerungsjahr 2009“. Für das von der Kulturprojekte Berlin GmbH organisierte „Fest der Freiheit“ am 9. November 2009 in Berlin sollte die Berliner Mauer aus 2,50m großen „Dominosteinen“ nachgestellt und auf dem ehemaligen Mauerstreifen aufgebaut werden – um diese Domino-Mauer am Ende durch eine Kettenreaktion wieder zu Fall zu bringen. Diese insgesamt mehr als 1000 „Dominosteine“ aus Styropor wurden zuvor von ca. 15.000 an der Aktion Beteiligten bemalt – darunter Sponsoren, Künstler, Personen der Zeitgeschichte oder Schulklassen aus
203 Davon zeugte besonders die „Mauerreise“ des Goethe-Instituts, s. das Kapitel „Der 9. November 2009 – Das ‚Fest der Freiheit‘ in Berlin“. 204 Vgl. den Internetauftritt des Kunstwerks bei Awst, Manon/Walther, Benjamin: „Work in progress“. Online: Awst-walther.com (URL: http://www.awst-walther.com/Work-inProgress [18.3.2013]). 205 Ein Übersicht internationaler Veranstaltungen veröffentlichte der Nachrichtensender N24 auf seiner Homepage unter N.N.: „Die Welt lässt Mauern schmelzen“. N24.de am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/990Qw [20.7.2013]), darunter auch die aufgeführten Beispiele.
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insgesamt 500 Schulen.206 Das Goethe-Institut verschickte in diesem Rahmen insgesamt zwanzig Styroporsteine nach Korea, Zypern, Jemen, Mexiko, Israel, Palästina und China – „zu globalen Realitäten von Teilung und Isolation“.207 An den Zielorten angekommen, wurde die „Mauerreise“ zum Anlass genommen, die politische und historische Situation vor Ort zu reflektieren. Dazu wurden Seminare, Vorträge oder Filmveranstaltungen angeboten, die sich mit dem jeweiligen Gastland des „Dominosteins“ auseinandersetzten. Schließlich wurden Schüler und lokale Prominente gebeten, die „Dominosteine“ für das „Fest der Freiheit“ individuell zu gestalten. Dabei entstanden viele Motive, die eine Revision der politischen Teilung oder Isolation thematisierten oder einforderten. So zerschlug beispielsweise auf einem in China gestalteten Stein ein Bauer die Berliner Mauer, andere bedienten sich internationaler Friedensmotive wie Vögel oder Blumen. In Nikosia trafen sich türkische und griechische Künstler an der Grenzlinie durch Zypern als symbolischer Akt zur gemeinsamen Arbeit.208 Die so gestalteten „Dominosteine“ wurden zum Oktober 2009 wieder nach Berlin verschickt, ausgestellt und am 9. November 2009 mit allen anderen als „Domino-Mauer“ aufgebaut und zu Fall gebracht.209 Die „Mauerreise“ betonte deutlich, dass es auch weiterhin getrennte Gesellschaften und trennende Mauern in der Welt gebe. So wurden explizit Länder gewählt, in denen gerade Mauern Symptom oder Ursache politischer Konflikte waren und sind, „wo Teilung und Grenzerfahrung den Alltag prägen“.210 Dass diese Geschichtspolitik zum Mauerfall durchaus erfolgreich war, zeigten nicht zuletzt die Proteste gegen den Umbau der „East Side Gallery“ im Februar und März 2013. Damit ein Hochhauskomplex am Spreeufer entstehen konnte, sollten Teile der bemalten Mauerreste abgetrennt und umgesetzt werden, um den Zugang zur Baustelle und dem entstehenden Hochhaus zu gewährleisten. Das war kein ungewöhnlicher Umgang mit der „East Side Gallery“: Ähnliche Umbauten erlebte diese bereits 2006 beim Bau der „O2-World“.211 Zwischenzeitlich konnte der Bau durch Demonstranten gestoppt werden. Deren Motive waren sowohl der Erhalt der abge206 Dokumentiert wurde die Arbeit an und mit den „Dominosteinen“ von der verantwortlichen Kulturprojekte Berlin GmbH (Hrsg.): Dominobuch. Geschichte(n) mit Dominoeffekt. Berlin: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009a, S. 13ff. 207 Vgl. Goethe-Institut: „Mauerreise reflektiert weltweit Isolation und Grenzerfahrung“. Pressemitteilung vom 18.3.2009 (URL: http://goo.gl/XWF22 [20.7.2013]). 208 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2009a, S. 32f. 209 Vgl. Goethe-Institut: „Mauerreise: Die Steine kommen zurück nach Berlin“. Pressemitteilung vom 30.09.2009 (URL: http://goo.gl/1kE7P [20.7.2013]). 210 Ebd. 211 Vgl. Conrad, Andreas: Berlin verschiebt die Geschichte. Tagesspiegel Online 23.2.2013 (URL: http://goo.gl/Z5B3P [20.7.2013]).
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bildeten Kunstwerke als auch des authentischen Ortes des „Todesstreifens“. Das Thema Denkmalschutz war einer der Schwerpunkte der auf der Petitionsplattform Change.org gestarteten Unterschriftenaktion mit dem Titel „Nationales Denkmal East Side Gallery retten! Keine Luxuswohnbebauung auf dem ehemaligen Todesstreifen“.212 Interessanterweise wiederholten die Demonstranten die Souveränitätsgesten, die die Geschichtspolitik um 2009 eingefordert hatten – um einen Denkmal gewordenen Fixpunkt dieser Politik authentisch zu erhalten. Dabei ging es nicht nur um den Erhalt eines bestimmten Ausdrucks der Geschichtspolitik zum Mauerfall, wie ihn die „East Side Gallery“ prominent repräsentierte, sondern auch darum, als Bürger von als postdemokratisch empfundene Strukturen gehört und, zunächst in Form von Unterschriften, gezählt zu werden. So gesehen verwirklichte sich in verdichteter Form Anfang 2013 in Ansätzen genau das, was die Geschichtspolitik zum Mauerfall um 2009 einforderte. Mancher mag für Ironie halten, dass es nun eben nicht mehr hieß „Die Mauer muss weg“, sondern eben im Gegenteil: „Die Mauer muss bleiben“.
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IN
B ERLIN
Der 9. November 1989 fiel auf einen Donnerstag. Ein ganz normaler Arbeitstag also. Die Normalität des Arbeitsalltags tagsüber und der in der Nacht eintretende „Wahnsinn“ bildeten bisweilen die kontrastreiche Narration des Ereignisses Mauerfall. Auch der 9. November 2009 war ein ganz normaler Arbeitstag – ein Montag. Im Gegensatz zu dem Ereignis, das sich zwanzig Jahre zuvor in Berlin abspielte, war das Jubiläumsereignis alles andere als ungeplant. Umgab den 9. November 1989 tagsüber noch der Anschein der Normalität, stand der Jahrestag 2009 schon ganz im Zeichen des Besonderen. Davon zeugte nicht zuletzt, dass für Berlin ein ganzes Themenjahr „20 Jahre Mauerfall“ ausgerufen wurde, dessen Initiative bereits 2007 vonseiten des Berliner Kultursenats ausging, größtenteils von der Kulturprojekte Berlin GmbH entwickelt und am 28. Januar 2009 offiziell eingeleitet wurde:213
212 Vgl. die Petition von Bündnis East Side Gallery Retten: „Nationales Denkmal East Side Gallery retten! Keine Luxuswohnbebauung auf dem ehemaligen Todesstreifen“ auf change.org (URL: http://goo.gl/V91Mj [20.7.2013]). 213 Kulturprojekte Berlin GmbH (Hrsg.): 20 Jahre Mauerfall. Dokumentation des Themenjahres 2009. Berlin: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 14f.
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„Der Fokus war von Anbeginn auf den Mauerfall, seine Ursachen und Auswirkungen gerichtet, weniger auf den Mauerbau und die Teilung der Stadt. Die Friedliche Revolution als Voraussetzung für den Fall der Mauer, das Mauerfall-Jubiläum als Weltsymbol für die Wiedergewinnung von Freiheit sowie Berlin als Stadt des Wandels waren so als zentrale Themen gesetzt. Hieraus ergab sich eine Dramaturgie, nach der die unzähligen Berliner Veranstaltungen zum Mauerfall-Jubiläum – Ausstellungen, Lesungen, Filmreihen, Konzerte etc. – gebündelt und kommuniziert wurden.“214
Höhepunkt des Themenjahres war das „Fest der Freiheit“ am Brandenburger Tor, das vom 7. bis 9. November 2009 andauerte. 215 Das „Fest der Freiheit“ soll auch im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen. Es wird dabei als Black Box verstanden, durch welche die gesamte Geschichtspolitik zum Mauerfall im „Erinnerungsjahr 2009“ verlief und in der sich alles verdichtete, was sich an Tendenzen zur MauerfallHistorisierung ausmachen ließ. Es wird auch hier darum gehen, das dazugehörige Akteur-Netzwerk nachzuzeichnen und seine Form und Funktion sichtbar zu machen. Kurz vor dem großen Finale der Themenwoche „20 Jahre Mauerfall“ fanden in der „O2-World“ am Spreeufer Berlins sowie vor dem Brandenburger Tor, wo die irische Band U2 ein Gratis-Konzert gab, die MTV European Music Awards (EMAs) statt. Der Austragungsort war mit Bedacht gewählt: Die ersten EMAs hatten fünfzehn Jahre zuvor ebenfalls in Berlin stattgefunden, wie Moderatorin Katy Perry erklärte.216 Aber nicht nur das sendereigene Jubiläum, sondern auch der MauerfallJahrestag war es, der MTV dazu bewogen hatte, die Show in Berlin stattfinden zu lassen. Mehrfach wurde während der Show auf das Mauerfall-Jubiläum eingegangen. So erinnerte David Hasselhoff daran, wie er Silvester 1989 vor schätzungsweise 500.000 Menschen auf der Berliner Mauer stehend seinen Welthit „Looking for Freedom“ gesungen hatte. Ein Highlight sollte der Auftritt der aus Magdeburg stammenden Band Tokio Hotel werden. Deren bekanntesten Mitglieder, die Zwillinge Bill und Tom Kaulitz, sind beide Jahrgang 1989 – was für MTV Grund genug war, sie als Repräsentanten einer neuen Generation des zusammengewachsenen Deutschlands und Europas vorzustellen. Die Band spielte ihren Song „World behind my Wall“, der nicht anlässlich des Mauerfall-Jubiläums geschrieben, bei den EMAs aber für diesen Kontext inszeniert wurde. So war im Bühnenbild auf einer großen Leinwand eine Animation zu sehen, die auf einem als Mauer gestalteten 214 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 10. 215 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH: „Themenjahr 2009 – 20 Jahre Mauerfall. Höhepunktveranstaltungen im Themenjahr 2009 in Berlin“. Pressemitteilung 25.1.2009 in der „Digitalen Pressemappe“ (URL: http://goo.gl/I5bKk [20.7.2013]). 216 Vgl. MTV European Music Awards 2009 aus Berlin. Livesendung auf MTV vom 5.11.2009.
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Hintergrund historische Aufnahmen vom 9. November 1989, besonders vom Brandenburger Tor, projizierte – bis im Finale des Auftritts die Mauer-Leinwand durch eine Feuersbrunst gesprengt wurde. Ähnlich von direkter Symbolik getragen war auch der zeitgleich stattfindende Auftritt der Band U2 am Brandenburger Tor. Das Konzert begann mit dem Titel „One“, den U2 kurz nach der Wiedervereinigung für ihr Album „Achtung Baby“ in Berlin aufgenommen hatten. Im Hintergrund projizierte, ähnlich wie bei dem Auftritt von Tokio Hotel, eine Lichtshow Symbole auf das Brandenburger Tor, auf dem die Refrainzeile „One Love“ zu lesen war. Zum Zeichenrepertoire gehörte auch eine Europaflagge, in deren Mitte innerhalb des Sternenkreises auf blauem Grund ein gelbes Herz erschien. Auch Mauerstücke und ein Schild mit der Aufschrift „Durchfahrt Verboten“ waren zu sehen. Begleitet wurde die Darstellung durch Schlagworte wie „Love“ und „Freedom“. Eine Projektion zeigte die Worte „West“ und „Ost“ geteilt durch einen sich rot färbenden Stern. „Happy Birthday, Berlin“, rief Sänger Bono während des Auftritts seinem Publikum zu. Man mag dies für flache, populäre bis populistische Symbolik halten. Allerdings lieferten auch die MTV European Music Awards auf ihre Art die geschichtspolitischen Aussagen und Ideen, die das „Erinnerungsjahr 2009“ hinsichtlich der Erinnerung an 1989 beherrschten: Die Überwindung von kalten, unpersönlichen und unmenschlichen Repressionsgegenständen wie Mauern, besonders aber die positiv besetzten Metaphern, Symbole und Vokabeln wie „Freiheit“, „Liebe“, „Zukunft“ oder „Geburtstag“, gekoppelt an Biographien (wie im Fall der KaulitzZwillinge) oder die politische Idee Europa (wie sie U2 wörtlich projizierten) waren im „Erinnerungsjahr“ keine Ausnahmeerscheinungen. Zwei Tage nach den EMAs begann das „Fest der Freiheit“ dann offiziell. Die European Music Awards waren insofern eine einleitende Veranstaltung dazu, als dass auch das „Fest der Freiheit“ als Erlebnis-Event mit starker Symbolik konzipiert worden war. „Der Jubiläumstag selbst sollte unbedingt junge Menschen erreichen, die keinerlei Vorstellung von einer innerstädtischen Mauer haben können, für die damit auch der Fall einer solchen Mauer abstrakt bleibt“, begründete rückblickend Moritz van Dülmen das Konzept des „Fest der Freiheit“. 217 Dazu wurde die bereits erwähnte „Domino-Aktion“ entwickelt, die zum Herzstück der Veranstaltung werden sollte. Die „Domino-Aktion“ bezog laut Veranstalter „zahlreiche Jugendliche ein, die diese jüngste Vergangenheit nicht erlebt haben“ und sollte „vermitteln, dass die Ereignisse von 1989 und der Fall der Mauer nicht nur Deutschland, sondern Europa und
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die Welt verändert haben“ – weshalb das Motto der Aktion „Deutsche Geschichte mit Dominoeffekt“ lautete.218 Interessenten, die sich im Sinne der Veranstalter sowohl aus politischer, unternehmerischer und kultureller Prominenz (die sogenannten „Domino-Paten“), in erster Linie jedoch aus der jugendlichen Zielgruppe rekrutieren sollten, wurden mit dem Aufruf „Sei dabei! Mach Geschichte mit Dominoeffekt“ angehalten, einen der 2,50 Meter großen Styroporsteine zur eigenen Gestaltung zu bestellen.219 Das war mit einem nicht geringen logistischen, organisatorischen und materiellen Aufwand verbunden. So konnte man sich auf einer eigens eingerichteten Website 220 als mitgestaltende Partei bewerben. Vorbereitende und informierende Unterlagen über Beschaffung und Beschaffenheit der Steine mit genauen Angaben über die materiellen Voraussetzungen der Gestaltung wurden vom Veranstalter bereitgestellt. So auch ein gezeichneter Grundriss mit den Maßen des Styroporblocks. Auch die im Vorfeld ausgegebenen Gestaltungshinweise der Kulturprojekte Berlin GmbH waren sehr spezifisch: „Zur Gestaltung stehen beide Seiten [des Styroporsteins] formatfüllend zur Verfügung. Die Seitenflächen können bemalt werden, gesperrte Flächen wie die Nummerierung müssen frei bleiben. Der Stein ist aus Styropor und mit einer bemalbaren Stoffhülle überzogen: Lösungsmittelfreie (Acryl)Farben können verwendet werden. Collagen sind möglich, sollten aber nur mit lösungsmittelfreiem Kleber fixiert werden. Zusätzlich aufgebrachtes Material muss fest mit dem Grundkörper verbunden sein. Die Statik und Form des Dominosteins darf nicht verändert werden, er muss für den Transport stapelbar bleiben.“ 221
Der hier zu verdeutlichende Punkt ist, dass es sich bei der „Domino-Aktion“ nicht nur um eine programmatische Rhetorik der „Geschichte mit Dominoeffekt“ handelte. Diese Metapher, mitsamt ihres Bildungsauftrags und ihrer Zielgruppenorientierung, hatte nicht nur ein organisatorisches Netzwerk auszufüllen, sondern verwirklichte sich erst durch eine bestimmte Materialität. Kurz gesagt: Wenn die Narration 218 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH: „Themenjahr 2009 – 20 Jahre Mauerfall. Dominoaktion zum 9. November 2009“. Presseinformation vom 3.9.2009 (URL: http://goo.gl/ qDtYA [20.7.2013]). 219 Der Aufruf der Kulturprojekte Berlin GmbH: „SEI DABEI! Mach Geschichte mit Dominoeffekt“ lag als Presseinformation vom 3.9.2009 vor (URL: http://goo.gl/9hsLk [20.7.2013]). 220 Die URL lautete: www.mauerfall09.de/dominoaktion. Die Website ist derzeit nicht mehr Aktiv, jedoch archiviert einsehbar [Stand 20.7.2013]. 221 Kulturprojekte Berlin GmbH: „Themenjahr 2009 – 20 Jahre Mauerfall. Dominoaktion zum 9. November 2009“. Presseinformation vom 3.9.2009 (URL: http://goo.gl/qDtYA [20.7.2013]).
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des „Domino-Effekts“ und die dazugehörige Geschichtspolitik erfolgreich sein sollten, musste sie auch aus entsprechendem Material konstruiert sein. In diesem Sinne wurden Styropor, Acryl, Lösungsmittel und Klebstoffe zu den materiellen Bedingungen der Aktion und Online-Formulare, LKW-Transporte, Sachbearbeiter, Schulklassen und als Sponsoren fungierende Unternehmen geschichtspolitische Akteure. Ein Indiz dafür war auch der sogar per Video aufgezeichnete und in den Internet-Auftritt des „Fest der Freiheit“ eingebundene „Probefall“ der „Dominosteine“ am 16. Juni 2009.222 Über eine Strecke von 200 Metern wurden insgesamt einhundert noch unbemalte Styroporblöcke aufgestellt, ausgemessen, durch Stangen begradigt, per Funk und Megafon koordiniert, fotografiert und dokumentiert. Die versammelte Materialität der Aktion wurde hier auf ihren Risikogehalt geprüft, sodass der „symbolische Mauerfall“ am Ende gelingen konnte. Dazu gehörte außerdem ein Narrativ, das die „Geschichte mit Dominoeffekte“ begleitete: „Ohne Solidarność und Perestroika keine friedliche Revolution, ohne Revolution kein Mauerfall, ohne Mauerfall keine deutsche Wiedervereinigung, ohne Wiedervereinigung kein Ende des Kalten Krieges, ohne Systemwechsel kein wiedervereinigtes Europa – Geschichte mit Dominoeffekt“, fasste Klaus Wowereit die „dominoartige“ Verkettungen des Ereignisses 1989 zusammen.223 Diese historische Verkettung war nur die eine Seite des Narrativs, das sich um die „Dominosteine“ rankte. Die andere Seite war der Einbezug möglichst vieler Mitwirkender an der Aktion, besonders Jugendlicher und Kinder. Das Motto „Sei dabei! Mach Geschichte mit Dominoeffekt“224 zielte auf die aktive Mitgestaltung des Erinnerns: „Tausende Ideen und Meinungen junger Leute, festgehalten auf rund 1000 übergroßen Dominosteinen mit einer Fläche von 6000 Quadratmeter stehen selbst für einen beispiellosen Dominoeffekt“, verknüpfte Moritz van Dülmen das Domino-Narrativ mit dessen Geschichtspolitik und logistisch-materieller Dimension.225 Auch widmete er das „Dominobuch“, welches die Domino-Aktion dokumentierte, „all denen […], die weder geschichts- noch politikverdrossen sind“.226 Dabei gestaltete sich das Domino-Narrativ zum Mauerfall – wonach Menschen, Ereignisse, Ideen und Mut zusammenhingen und gemeinsam einen Domino-Effekt verursachten – äußerst weitschweifig und durchaus linear (was in der geradlinigen Reihung der „Dominosteine“ schon prinzipiell angelegt war). So verlagerte die 222 Vgl. das Video „Probefall der Dominosteine – Vorbereitungen für das Fest der Freiheit“ vom 23.9.2009 (URL: http://goo.gl/mhmxb [20.7.2013]). 223 Wowereit, Klaus: Grußwort. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009a, S. 11. 224 Der Flyer zur Aktion mitsamt dem als Aufruf zu verstehenden Motto ist abgebildet bei Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 72. 225 van Dülmen, Moritz: Vorwort. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009a, S. 13. 226 Ebd., S. 14.
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„Domino-Aktion“ den Beginn ihrer Erzählung zunächst nach Polen zu Solidarność und Lech Wałęsa sowie zur „Samtenen Revolution“ nach Tschechien und zu Václav Havel. Diese hätten für das Ereignis 1989 den „Ansto[ß] gegeben“.227 Havel und Wałęsa waren beide Paten eines von Schülern gestalteten „Dominosteins“: „Es begann in Polen“ war auf dem von der deutsch-polnischen Robert-JungkOberschule Berlin-Wilmersdorf gestalteten Stein zu lesen, für den Wałęsa Pate stand.228 Dieser rote Schriftzug zierte ein graues Mauersegment, das erste Risse aufwies. Darüber war ein Hammer mit der Aufschrift „Solidarność“ abgebildet. Über allem schwebte eine in den polnischen Nationalfarben gehaltene Silhouette Polens. Havels Paten-Stein bezog sich auf die Ereignisse in der Prager Botschaft der Bundesrepublik im Sommer 1989.229 Dargestellt wurde die tschechische Marionettenfigur Hurvínek, die einem Mann die Hand reichte, während dieser eine graue Mauer zu erklimmen versuchte, die ebenfalls erste Risse zeigte. Im Hintergrund, vor einem blauen Himmel, flog eine weiße Taube als Friedens- und Freiheitssymbol. Havel und Wałęsa signierten die Steine in Berlin und diskutierten im Anschluss mit den Schülern über Themen wie „20 Jahre Freiheit“. 230 Hier fungierte der Styroporblock als Matter of Concern, um den herum sich die beteiligten Akteure, die Schulklassen, die Zeitzeugen, Politiker, Organisatoren und Gestaltungsmaterialien wörtlich versammelten. Gleichzeitig wurde mit den Gestaltungen, den Patenschaften sowie der Symbol- und Themensetzung ein Narrativ des „Anstoßens“ anvisiert. So abstrakt manche Metaphorik vielleicht erscheinen mochte, sie ließ sich in der „Domino-Aktion“ immer auch an eine konkrete Person, ein konkretes Ereignis oder eine Idee rückkoppeln. Wałęsa – gemeinsam mit dem 1989 amtierenden ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh – war es dann auch, der am „Fest der Freiheit“ die ersten „Dominosteine“ umstürzte und die Kettenreaktion des „symbolischen Mauerfalls“ auslöste – also in doppeltem Sinne „Anstoß“ gab.231 Das Konzept, bekannte Personen der Zeitgeschichte in das Domino-Narrativ einzubeziehen, wurde von der Kulturprojekte Berlin GmbH auch an anderer Stelle weitergeführt. Um der „Revolution in Berlin“ zu gedenken, übernahmen nicht nur Zeitzeugen, sondern auch geschichtspolitische Institutionen Patenschaften für einige „Dominosteine“. Darunter waren die Robert-Havemann-Gesellschaft, der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des MfS, Martin Gutzeit, und Günter Nooke, 2009 Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung. 232 Der “Domino227 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009a., S. 21. 228 Ebd., S. 20. 229 Ebd. 230 Ebd., S. 21. 231 Ebd. 232 Ebd., S. 22f.
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stein“ von Nooke zeigte vor einer schwarz-grauen Kulisse helle menschliche Silhouetten mit Lichtern in den Händen und Transparenten im Hintergrund. Über der Licht/Dunkel-Szenerie schwebte ein Banner mit den Worten „Einigkeit, Recht, Freiheit“ – und damit ein deutlicher Verweis auf die Nationalhymne der Bundesrepublik, die damit ebenfalls eingebunden wurde.233 Die Friedliche Revolution fand durch diesen und ähnliche Steine sowie über Patenschaften mit entsprechenden Zeitzeugen und Institutionen ihren Platz in der Domino-Aktion – und damit der dazugehörigen Erzählung vom Mauerfall. Ein weiterer Schritt zur Personalisierung und Individualisierung der „DominoAktion“ war die Patenschaft mit Protagonisten des Herbstes 1989. So wurde beispielsweise der 1989 amtierende Außenminister der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, um eine Patenschaft gebeten. Genscher, der gebürtig aus Halle an der Saale stammt, übernahm die Patenschaft für die von Klassen des HerderGymnasiums Halle gestalteten „Dominosteine“. Einer der Steine zeigte die als Graffiti designeten Worte „DDR“ und „BRD“, die durch eine braune Mauer getrennt wurden. Durch die Mauer verlief ein von dem Wort „DDR“ ausgehender Riss in Richtung „BRD“. Neben bunten Handabdrücken, die vermutlich von den Schülern stammten, zierte die Mauer auch das Konterfei Genschers. 234 Dass sich so nicht nur die Schüler durch ihren individuellen Handabdruck auf dem Stein verewigten, sondern diese Fläche gemeinsam mit einem Abbild der Person Genscher teilten, vereinte die Schüler und den Politiker aus Halle auf einem gemeinsamen Erinnerungs-Monument. Auch Michail Gorbatschow übernahm in Berlin eine „Dominostein“-Patenschaft.235 Beide waren am 9. November 2009 am „Fest der Freiheit“ persönlich beteiligt. Die Domino-Erzählung blickte nicht nur ikonographisch und monumentalisch zurück. Allein der Wille, besonders Jugendliche und Kinder an der Aktion teilnehmen zu lassen, um sie sowohl als Empfänger als auch Sender der Geschichte von 1989 auftreten zu lassen, zeugte von einem gegenwarts- und zukunftsorientierten Programm. So waren weitere Themenkomplexe der Aktion „Berliner Schulklassen heute“236, „Das neue Europa“237, „Hoffnung für Frieden und Freiheit“238 oder das gemeinsam mit den Goethe-Instituten realisierte Themensegment „Mauern stehen noch“239. Nach und nach vergrößerte die „Domino-Aktion“ ihren Radius von Berlin über Europa zu den „Mauern in der Welt“, die aktuell noch stehen und zukünftig 233 Ebd., S. 22. 234 Ebd., S. 24f. 235 Ebd., S. 24. 236 Ebd., S. 27. 237 Ebd., S. 31. 238 Ebd., S. 39. 239 Ebd., S. 33.
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„fallen“ sollten, bis hin zu abstrakten Gütern wie „Hoffnung“ und „Freiheit“. Diese fast universalistische Erzählung erweiterte den „Domino-Effekt“ bewusst hin zu gegenwärtigen und zukünftigen Kontexten. Das im Zusammenhang mit dem „Erinnerungsjahr 2009“ oft gehörte Mantra „Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeiten“240 war auch hier des Öfteren zu vernehmen. In der Logik dieser Idee und Erzählung, die den Mauerfall als konkretes historisches Ereignis transzendierte, war es auch möglich, Figuren der Zeitgeschichte wie Nelson Mandela in die Erinnerung an 1989 einzubeziehen, der gemeinsam mit seiner Tochter einen eigenen „Dominostein“ gestaltete, welcher „eine Auseinandersetzung mit den Themen Frieden, Liebe und Verständigung“ sein sollte.241 Es erscheint legitim, die „Dominosteine“ im Sinne Bruno Latours als Akteure zu bezeichnen, die zugleich ein Matter of Concern waren, um das herum sich die Geschichtspolitik zu 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ entfalten konnte und die andere dazu brachten, sich an der Erinnerung an den Mauerfall zu beteiligen. Die Steine verbanden verschiedene historische und regionale Lebenswelten und Zeitschichten, erzählten eine Geschichte von 1989 und waren zugleich Grundsteine einer über die Geschichte von 1989 hinausweisenden Erzählung über Freiheit, Hoffnung, Liebe und andere vermeintlich universale Werte. All diese verbundenen menschlichen und nicht-menschlichen Akteure wurden so Teil der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur zum Mauerfall. Jeder einzelne Stein war eine Black Box dieser Erinnerung des 9. November 1989/2009. Der 9. November 2009 selbst war kein besonders schöner Tag. Das wusste der Deutsche Wetterdienst (DWD) bereits am 24. August 2009. An diesem Tag veröffentlichte der DWD auf vielerlei Anfragen hin einen Wetterbericht des 9. November – sowohl 2009 als auch 1989.242 In dem Pressedossier „Ein Wetterrückblick zum 20. Jahrestag des Falls der Mauer“ fanden sich detaillierte Angaben von ausgewählten Wetterstationen des DWD, die 1989 die Wetterlage für Deutschland ermittelt hatten. Dazu gab es Satellitenbilder von Europa und Berlin sowie einen ausformulierten Wetterbericht.243 Die Blicke richteten sich allerdings zuvorderst nach Berlin. Der Online-Wetterdienst „Wetter24“ bediente sich ebenfalls der historischen Daten des DWD und bot ebenso eine Wetterrückschau zum 9. November
240 Vgl. Ebd., S. 31. 241 Ebd., S. 38f. 242 Vgl. DWD: „Ein Wetterrückblick zum 20. Jahrestag des Falls der Mauer. Das Wetter in Deutschland am 9. November 1989“. Pressemitteilung vom 24.8.2009 (URL: http://goo. gl/UpGfU [20.7.2013]). 243 Vgl. ebd.
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1989 an wie auch eine Wettervorschau für den 9. November 2009.244 Dichte Bewölkung, Regen und Temperaturen um die 6°C waren angekündigt. Dauerregen sollte später am Abend einsetzen, wenn die Domino-Steine fallen. Zunächst jedoch war es ein zwar kalter, aber überwiegend trockener Tag. Auch zur Erleichterung derjenigen, die sich in der frühen Nachmittagszeit an der Bornholmer Brücke versammelten um hier, wo sich die Schlagbäume in der Nacht des Mauerfalls als erste gehoben hatten, einen Erinnerungsspaziergang anzutreten. Unter ihnen die amtierenden und ehemaligen Staatschefs Angela Merkel, Michail Gorbatschow und Lech Wałęsa, begleitet vom Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, den ehemaligen BStU-Leitern Joachim Gauck und Marianne Birthler, den Künstlern Wolf Biermann und Stephan Krawczyk sowie Rainer Eppelmann und Markus Meckel. 245 Für Bundeskanzlerin Merkel war dieser „symbolische Gang“ zudem die bewusste Wiederholung ihrer eigenen Biographie, denn auch sie gehörte zu denjenigen, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Bornholmer Brücke in Richtung West-Berlin überquert hatten. „Mit der Menschenmenge habe ich mich über die Grenze treiben lassen“, erinnerte sich Merkel in einem 2009 erschienen Zeitzeugenbericht: „Was ich damals gefühlt habe, dafür kann ich keine Worte finden. Es war unfassbar und überwältigend zugleich.“ 246 Auch in diesem Fall waren die beteiligten Personen nicht nur sie selbst, sondern auch Symbole für das Erinnerte, das mit ihren Biographien nunmehr untrennbar verbunden wurde. Ein gewöhnlicher Spaziergang wurde so mit Bedeutung aufgeladen – nicht nur, aber vor allem auch, weil er am 9. November stattfand. Dieser „symbolische Gang“ war nur einer von vielen Terminen der Kanzlerin an diesem Gedenktag.247 Bereits um 8 Uhr morgens begrüßte Merkel die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton, um 9.30 Uhr stand ein Besuch zum Gedenkgottesdienst anlässlich des Mauerfall-Jubiläums in der Berliner Gethsemanekirche an. Für 12.30 Uhr war eine Rede der Kanzlerin auf dem bereits vorgestellten Kongress „Falling Walls“ angesetzt. Gegen 15.00 Uhr wurde sie an der Bornholmer
244 Vgl. N.N.: „Wetter zum Mauerfall“. wetter24.de am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/ HLwoB [20.7.2013]). 245 Vgl. N.N.: „Merkels zweiter Gang über die Bornholmer Brücke“ auf Zeit Online am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/aDmCG [20.7.2013]) und N.N.: „Erinnerung an 1989: Merkel zelebriert Mauerfall an Bornholmer Straße“. Spiegel Online am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/MVDJj [20.7.2013]). 246 Vgl. Diekmann/Reuth 2009, S. 151. 247 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Gathmann, Florian: Jubiläumsfeierlichkeiten. Merkels Marathon zum Mauerfall. Spiegel Online am 9.11.2009 (URL: http:// goo.gl/6qoxk [20.7.2013]).
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Brücke erwartet, um „ein paar symbolische Schritte über die ehemalige Grenzstation an der Bornholmer Straße zu gehen“.248 Merkel hielt dort eine kurze Ansprache: „Es war uns ein Bedürfnis, in dieser Runde, wenn ich das so sagen darf, heute an dieser Stelle einmal zusammenzukommen – zusammenzukommen, um uns gemeinsam zu freuen über das, was am 9. November möglich geworden ist. Das war ja das Ergebnis einer langen Geschichte von Unfreiheit und vom Kampf gegen die Unfreiheit. Wir waren nicht die Ersten in Deutschland, aber wir waren mit dabei, als der Kalte Krieg ein Ende nahm.“249
Das Motiv der Freude schien Merkels Leitmotiv an diesem Tag zu sein: sich erinnern und sich freuen. Beides sollte miteinander verbunden werden. „Ich freue mich, […] – ich kann das immer nur pars pro toto sagen“, gestand die Kanzlerin ein.250 Pars pro toto, dieses ästhetische Stilmittel, war jedoch nicht nur die Kanzlerin an diesem 9. November, sondern, im Angesicht des zur Erinnerung drängenden Datums und seiner Geschichtspolitik, nahezu alles und jeder, der irgendwie mit dieser Geschichtspolitik im „Erinnerungsjahr 2009“ in Verbindung gebracht wurde. In diesem Fall standen die Bösebrücke (genannt Bornholmer Brücke), Wolf Biermann, Gorbatschow oder Markus Meckel eben nicht nur für sich selbst als Individuen: Sie repräsentierten darüber hinaus, auch anhand ihrer Biographien, die Geschichte namens Mauerfall. Auch die Kanzlerin sprach, trotz des Kokettierens mit der eigenen Subjektivität in der Erinnerung an 1989, nicht nur für sich, wenn sie sagte: „Meine Damen und Herren, hier an diesem historischen Ort sollen auch die immer wieder an die Geschehnisse erinnert werden können, die damals noch gar nicht geboren oder kleine Kinder waren. Sie sind inzwischen aus der Schule raus, sie studieren. Menschen meines Alters verfolgen mit großer Freude, wie selbstbewusst diese jungen Menschen aufwachsen, dass man nicht mehr unterscheiden kann, ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen kommen, wie eine neue Generation heranwächst, die eingebettet ist in die europäische Union und der die Welt ein Stück mehr offensteht, als das für viele hier der Fall war, die hier heute auf dieser Brücke versammelt sind. Ich glaube, ich spreche im Namen der allermeisten: Es hat sich gelohnt, dafür zu kämpfen und einzutreten.“251
Die Zukunft der Erinnerung, die Erinnerung der Zukunft, die in der Gegenwart des „Erinnerungsjahres 2009“ gestaltet wurde, war auch hier das Anliegen der Kanzle248 Ebd. 249 Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel anlässlich der Veranstaltung mit Bürgerrechtlern/Zeitzeugen im Rahmen des 20. Jahrestages des Mauerfalls am 9. November 2009. (URL: http://goo.gl/7tjI0 [20.7.2013]). 250 Ebd. 251 Ebd.
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rin. Abschließend verknüpfte Merkel die von Freude und Feiern getragene Erinnerung an 1989 mit einem globalen Anspruch: „Wenn wir heute in Deutschland diesen Tag feiern und heute Abend auch am Brandenburger Tor zusammen sind, dann ist das nicht nur ein Feiertag für die Deutschen, dann ist das auch ein Feiertag für ganz Europa, dann ist das ein Feiertag für alle Menschen, die mehr Freiheit haben[.]“252 Vor diesem Hintergrund verwunderten auch Schlagzeilen wie „Die Welt feiert den Berliner Mauerfall“253 oder „Die Welt schaut auf Berlin“254 nicht. „Die Welt“, in der sich auch „Deutschland“ und „Europa“ befanden, „alle Menschen“, die ihren mehr oder weniger direkten Anteil an dem Ereignis 1989 oder einer daraus abstrahierbaren Idee von „Freiheit“ hatten, sollten in dieser Geschichtspolitik ihren Platz finden können. Alles, was narrativ oder materiell dazugehörte, sollte immer – als pars pro toto – eintauschbar gegen ein Ganzes sein. Es war diese Anhäufung und Belagerung fast jeder Handlung mit Zeichen des „Historischen“ und des „Erinnerns“, die Jean Baudrillard als Praxis des „Recyclings“255 – in Nietzsches Diktion einer Art „Übermaasse von Historie“256 – beschreibt. Laut Baudrillard bedeutet dieses Wuchern der historischen Zeichen auch das Ende des „Ereignisses“, das immer nur ein simuliertes, recyceltes, aber kein modernes, singuläres Ereignis mehr hervorbringe. Die Ereignisse würden gewissermaßen „streiken“.257 Dieses Gefühl konnte einen beschleichen, wenn man am 9. November die neueste Ausgabe der Tageszeitung Die Welt in den Händen hielt. Wenn die Tageszeitung als Medium und gleichzeitig Archiv davon zeugte, dass jeden Tag Ereignisse geschehen, Neuigkeiten und Informationen verfügbar sind, musste ein Leser der Welt zunächst stutzig werden: Die Titelseite meldete keine Neuigkeiten, sondern zeigte eine Ansammlung von Bildern und Texten zu historischen Begebenheiten, die allesamt auf den 9. November fielen:258 Darunter ein Bild der Erschießung Robert Blums 1848, das Foto einer brennenden Synagoge 1938 und eine Abbildung Philipp Scheidemanns, wie er 1919 die Weimarer Republik ausrief. Ein Bild des Mauerfalls war ebenfalls zu sehen. Auf den folgenden Seiten erwartete die Leser
252 Ebd. 253 Kleber, Reinhard: Die Welt feiert den Berliner Mauerfall. Deutsche Welle Online am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/au19k [20.7.2013]). 254 Schlegel, Matthias/Dernbach, Andrea: Die Welt schaut auf Berlin. Zeit Online am 9.11.2009 (URL: http://www.zeit.de/politik/2009-11/berlin-mauerfall) [16.4.2013]. 255 Vgl. Baudrillard 1994, S. 49f. 256 Nietzsche in: Ders. 2003. München: DTV 2003, S. 253. 257 Baudrillard 1994, S. 41ff. 258 Vgl. Titelseite Die Welt vom 9.11.2009.
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der Welt eine detaillierte Nacherzählung des 9. November 1989 von Sven Felix Kellerhoff, welche – mit bestimmtem Artikel – als „Der Tag“ überschrieben war.259 Ähnlich strukturiert, aber in anderer Perspektive, veröffentlichte Bild auf seiner Homepage am 9.11.2009 einen 167 Bilder umfassenden Rückblick auf die Titelseiten der deutschen Tageszeitungen, sowohl der Bundesrepublik als auch der DDR, die im Zeitraum vom 10. bis 13. November 1989 erschienen waren. 260 Auch der bereits erwähnte Live-Ticker am 9. November 2009 auf Spiegel Online bediente sich des Archivs von 1989 und übertrug die darin gelagerten Zeichen des Historischen in den Kontext der Gegenwart. So erhielt der 9. November eine archivarische Tiefenzeit, die ihn so besonders machte. „Der Tag“ 9. November, wie Kellerhoffs Artikel programmatisch offenlegte, war eben der Tag – sei es 1848, 1919, 1939, 1989 oder eben 2009. Eher in die Zukunft gewandt präsentierte sich ein weiterer Programmpunkt des „20 Jahre Mauerfall“-Themenjahres. Unter dem Motto „Berliner Zukünfte“ wurden zwischen Januar und November 2009 verschiedene „Schauplätze“ ausgewählt, die „20 Jahre Berlin im Wandel“261 dokumentieren, anzeigen und darstellen sollten. Die Aktion hatte das Ziel, sowohl „Darstellung und Bilanz“ als auch „Perspektiven und Visionen“ zu verdeutlichen – also die Dimension erlebbar zu machen, wie sehr sich Berlin als Stadt in den zwanzig Jahren seit dem Mauerfall geändert hatte.262 Dazu wurden mehrere, mit der Signalfarbe Rot versehene Gegenstände angefertigt: Eine „Infobox“, eine „Infotreppe“ und ein „Heliumpfeil“.263 Bis auf die „Infotreppe“, die später mit Polizeieskorte vom Potsdamer Platz an den Hauptbahnhof umzog264, waren alle Komponenten mobile Einheiten. Die „Infotreppe“ hatte die Architektin Katharina Bardens gemeinsam mit den Berliner Büro Hütten & Paläste Architekten entworfen.265 Wie schon bei der „Dominoaktion“ betonten die Organisatoren auch 259 Kellerhoff, Sven Felix: Der Tag. Die Welt vom 9.11.2009. 260 N.N.: „Die Titelseiten deutscher Zeitungen nach dem Mauerfall. So hat die Presse am 10. und 11. November berichtet“. Auf Bild Online 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/ vqxMq [20.7.2013]). 261 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 18-31 und die Dokumentation der Aktion in Kulturprojekte Berlin GmbH (Hrsg.): Berliner Zukünfte. Darstellung und Bilanz – Perspektive und Visionen. Berlin: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009. 262 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 19. 263 Ebd. 264 Ebd., S. 20. Grund für den Umzug war der Berlinale-Sponsor L’Oréal, der anlässlich des Filmfestivals den Potsdamer Platz für sich beanspruchte, vgl. N.N.: „Weg frei für die Berlinale – Infobox zum Mauerfall zieht um“. Welt Online am 3.2.2009 (URL: http: //goo.gl/ZA84b [20.7.2013]). 265 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH: „Schauplätze – 20 Jahre Berlin im Wandel“. Presseinformation vom 3.9.2009 (URL: http://goo.gl/7Gygz [20.7.2013]).
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hier mehrmals die zur Realisation ihres Projektes benötigten materiellen und logistischen Voraussetzungen. So wurden in den Presseinformationen auch für die „Schauplätze“ technische Details zu den einzelnen Komponenten veröffentlicht. So lauteten die Angaben beispielsweise zu dem „Heliumpfeil“, der auf den Standort der „Infobox“ verwies: Technische Daten266 Größe Länge x Breite = ca. 18m x 7m bzw. 3m Volumen ca. 197.000 Liter = 197m³ Oberfläche ca. 199m² Material doppelt beschichtetes RipStop Nylon Gewebe Gewicht Pfeil ca. 75kg Gewicht Seil + Karabiner ca. 23kg Gewicht Innenbeleuchtung ca. 8kg Innenbeleuchtung spezielle Leuchtstoffröhren ca. 3.000 Watt Füllgas Helium (nicht brennbar bzw. explosiv) max. Auflasshöhe ca. 100m Auflassseil Dyneema mit 4.600kg Bruchlast Auflass + Einholen mittels Elektrowinde Bodenverankerung ca. 1.000kg z.B. Wassertanks oder Ähnliches Vor Ort erwarteten die Besucher zahlreiche Informationen, wie sich Berlin in den zwanzig Jahren seit dem Mauerfall verändert hat. Dazu zog die mobile „Infobox“ an mehrere Orte innerhalb Berlins, wo speziell auf die jeweilige Lokalität zugeschnittene historische Führungen und Informationen angeboten wurden. Mehrere Lenticularbilder, die je nach Perspektive gleichzeitig historische wie aktuelle Fotografien der entsprechenden Ortschaften im Berliner Stadtbild im Wackelbildformat zeigten, visualisierten diesen Wandel. Sie setzten damit auf ähnliche Effekte, wie die Vorher-Nachher-Fotobände von Friedemann Bedürftig oder Hartmann und Kistner.267 Auch eine Art Timescope wurde im Rahmen der „Schauplätze“-Aktion analog zu den Lenticularbildern angeboten: Ein „Vorher-Nachher-Stadtplan“, der auf einem Touch-Screen bedient werden konnte, ließ die Besucher interaktiv zwischen verschiedenen Zeitschichten und Ansichten Berlins manövrieren.268
266 Vgl. Presseinformation „Schauplätze – 20 Jahre Berlin im Wandel“ der Kulturprojekte Berlin GmbH vom 3.9.2009 (URL: http://goo.gl/7Gygz [20.7.2013]). 267 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 20. 268 Kulturprojekte Berlin GmbH: „Schauplätze – 20 Jahre Berlin im Wandel“. Presseinformation vom 3.9.2009 (URL: http://goo.gl/7Gygz [20.7.2013]).
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Dabei stieß die Aktion nicht immer auf positive Resonanz. Bild bezeichnete die rote „Infotreppe“ als „Berliner Treppenwitz des Jahres“, für den sich die Stadt „schämt“ und bei der Besucher „eher ratlos um die knallroten Stufen herum“ liefen.269 Der Versuch, größtenteils ausgehend von Presseorganen des SpringerVerlages, die „Infotreppe“ als „geschichtslos“ oder Metapher für die Geschichtspolitik des Berliner Senats („Treppe ins Nichts“) zu markieren, wurde jedoch nicht von einer weitergehenden geschichtspolitischen Debatte flankiert. 270 Nicht nur die rote „Infobox“ markierte die Historizität verschiedener Orte und lieferte gängige materielle und mediale Formate für die „Vorher-Nachher“Erzählung. Auch der 18 Meter große „Heliumpfeil“, durch seine rote Farbe und seinen großen Umfang gut erkennbar am Himmel schwebend, war ein Zeichen des Verweises auf Historisierung – ein deiktisches Medium des Geschichtlichen, das nicht nur auf einen Ort, sondern auch auf eine ganze Geschichtspolitik, Technik, Präsenz und Zeitlichkeit zeigte: Wo befand sich die mobile Infobox gerade? Welcher Ort wurde dadurch als historisch markiert? Wo fanden sich gegenwärtig die mit der Box und ihren Apparaturen vermittelten Zeichen des Historischen? 271 Kurz: Wo fand sich über das Themenjahr 2009 verteilt die Geschichte von Berlin und 1989? Dass es bei den „Schauplätzen“ jedoch nicht nur um eine „Vorher-Nachher“-, sondern auch um eine Zukunftserzählung ging, zeigte zudem die Begleitpublikation „Berliner Zukünfte“.272 Darin fanden sich Textskizzen zu den einzelnen „Schauplätzen“, an denen die mobile Infobox residierte, und „die sich seit dem und bedingt durch den Mauerfall extrem verändert haben, und darüber hinaus weiterhin wichtige Eigenschaften der ‚Stadt im Wandel‘ repräsentieren“273 sollten: Ein Fotoessay des Fotografen Frank Silberbach mit dem Titel „Berliner Blicke“ und einige kürzere Essays zur Zukunft Berlins zu unterschiedlichen Themen wie „Filmstadt Berlin 2029“274, „Ein vierteldutzend Visionen für Berlin“275 oder sogar ein die zukünftige
269 Colmenares, Katja: Berlin schämt sich für Wowereits Mauer-Treppe! Bild Online am 19.7.2009 (URL: http://goo.gl/WpDHv [20.7.2013]). 270 Derart äußerten sich einige Stadtpolitiker oder Architekten im Bild-Artikel, vgl. ebd. Auch gab es einen verdeckten Plagiatsvorwurf an die Architektin Katharina Bardens in der Berliner Morgenpost, vgl. Seiderer, Sophia: Berlins rote Info-Treppe hat ein Pendant in New York. Berliner Morgenpost vom 6.2.2009. 271 Auch die „Infobox“ ließ sich durch ihre Form und dadurch, dass sie verschiedene Apparaturen, Technologien, Erzählungen und Informationen transportierte, übersetzte und vermittelte, mit einigem Recht als Black Box verstehen. 272 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009c. 273 Friedrich, Thomas: Editorial. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009c, S. 11. 274 Lüthge, Katja: Filmstadt Berlin 2029. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009v, S. 76f.
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Geschichtspolitik extrapolierender Text des Publizisten Bernhard Schneider namens „Fünfzig Jahre Mauerfall – Ein Rückblick“276. Dass die „Berliner Zukünfte“ als Begleitpublikation zu der historisch konzipierten „Schauplätze“-Aktion gedacht war, zeigte einmal mehr, dass die Zeitdimension des Kommenden und Zukünftigen sich um 2009 gerade im Zusammenhang mit der Geschichte von 1989 kaum trennen ließ. So gesehen verwiesen die „Schauplätze“ eben nicht nur recyclend auf die Virulenz historischer Zeichen in der Gegenwart, sondern auch immer auf den offenen Raum des Zukünftigen. Auch dafür war der rote „Heliumpfeil“ ein Zeichen: Er deutete nicht nur auf den 9. November 1989 und die Entwicklungen, die danach geschahen; er zeigte auch nicht nur auf das Gegenwärtige, das sich gerade erinnerte und die Zeichen und das Wissen über die Geschichte aneignete, und auch nicht nur auf die Präsenz der Zeitschicht von 1989 in 2009. Er verwies generell auf das Paradigma des Wandels, das 2009 immer auch eine Zukunft mitzudenken im Stande sein sollte. Am 9. November 2009 war die „Schauplätze“-Aktion bereits beendet, die „Dominoaktion“ sollte aber noch ihren Höhepunkt erreichen: Am „Fest der Freiheit“, das, vom ZDF live übertragen und, von Thomas Gottschalk moderiert, den Mittelpunkt des Themenjahres „20 Jahre Mauerfall“ darstellen sollte. Richard Wagner: Lohengrin, Vorspiel zum 3. Akt. Arnold Schönberg: A Survivor from Warsaw, op. 46 (Sprecher: Klaus Maria Brandauer). Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92, 4. Satz: Allegro con brio. Friedrich Goldmann: Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen (Fragment, 2009). In dieser Reihenfolge eröffneten Staatskapelle und Staatsopernchor Berlins unter Leitung von Daniel Barenboim um 19:00h MEZ das „Fest der Freiheit“ am Brandenburger Tor – fast genau zwanzig Jahre nach der Pressekonferenz Günther Schabowskis am 9. November 1989.277 Es bahnte sich schon den ganzen Tag über strömender Regen an, der dann am Abend auch einsetzte. Regencapes, Regenschirme, Regenströme im bunten Scheinwerferlicht bestimmten die Szenerie. Zuvor waren entlang des ehemaligen Mauerstreifens zwischen Potsdamer Platz und Reichstag die fast 1000 Exponate umfassenden „Dominosteine“ aufgestellt und thematisch in Ausstellungsbereiche gegliedert worden. Die Ausstellungsbereiche 275 Lobo, Sascha: Ein vierteldutzend Visionen für Berlin. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009c. S. 90f. 276 Schneider, Bernd: Fünfzig Jahre Mauerfall. Ein Rückblick. In: Kulturprojekte Berlin GmbH 2009c, S. 20-23. 277 Vgl. der grobe Verlauf des Programms (URL: http://goo.gl/dZUl8 [20.7.2013]). Eine Kurzfassung mit Überblick über den Aufbau des „Fest der Freiheit“ bot die Pressemitteilung „Daten und Fakten zum FEST DER FREIHEIT am 9. November“ der Kulturprojekte Berlin GmbH vom 8.11.2009 (URL: http://goo.gl/9g1x0 [20.7.2013]).
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reflektierten die Narrative, die sich um die „Dominoaktion“ rankten. Sie trugen Titel wie „Politischer Rahmen“ (gemeint war der politische Rahmen des Mauerfalls, begleitet wurde das Segment unter anderem von einem Auftritt Michail Gorbatschows), „Die Mauer war gestern – das neue Europa“ (das Topos der „Kommenden Gemeinschaft“ aufgreifend, begleitet unter anderem von EUKommissionspräsident José Manuel Barroso) und „Ein letztes Innehalten“ (mit Statements zur „Mauerreise“ des Goethe-Instituts, wodurch der Topos von den „Mauern, die noch fallen müssen“ aufgegriffen wurde, unter anderem mit Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus).278 In dieser thematischen Reihenfolge sollten die „Dominosteine“ dann auch fallen. Zu dieser Dramaturgie passte auch, dass Punkt 20:00 Uhr die ersten Steine unter dem Motto „Wie alles begann“ von Lech Wałęsa und Miklos Nemeth aus der östlichen, die längste Dominostrecke von Westen her durch Barroso, dem damaligen EU-Parlamentspräsidenten Jerzy Buzek und Schülern verschiedener Europaschulen angestoßen wurden. Auch hier erschienen Einzelpersonen zugleich als Repräsentanten eines Ereignisnarrativs, in dem zweierlei Anstöße, aus Ost- und Westeuropa, einander zugewandt den Mauerfall ermöglichten. Eine entscheidende Rolle für die Umsetzung des Narrativs spielte die Materialität der „Dominosteine“. So stoppte beispielsweise die von Barroso und Buzek angestoßene Reihe aus Westen an einem von dem chinesischen Künstler Xu Bing im Rahmen der „Mauerreise“ des Goethe-Institut und der Deutschen Botschaft Peking gestalteten Stein aus Zement279. Xu Bing, der als Markenzeichen eine eigens entworfene Schrift führte, übertrug in als chinesische Hanzi verfremdeten lateinischen Zeichen ein Gedicht aus der Song-Dynastie über die Trennung eines Paares auf den Zementstein.280 Dass der „Dominoeffekt“ des Mauerfalls aus westlicher Sicht an einem chinesischen Repräsentanten zum stehen kam, war die eine Seite der Metapher. Dass darauf ein in eigene Zeichenhaftigkeit übertragenes Mischgebilde aus lateinischen und chinesischen Zeichen zu sehen war, das darüber hinaus ein historisches Gedicht von Liebe und Trennung wiedergab, war die andere. Form und Inhalt korrespondierten hier ebenso wie die Platzierung des Steins am Ende der DominoKette. Die „Mauerreise“ des Goethe-Instituts firmierte nicht zuletzt unter dem Motto „Welche Mauern in der Welt müssen noch fallen“, wofür der den „Dominoeffekt“ stoppende chinesische Stein als materielle Entsprechung stand: Auch dieser musste eigenhändig nochmals umgestoßen werden um die Dominoreihe fortzusetzen. 278 Kulturprojekte Berlin GmbH: „Daten und Fakten zum FEST DER FREIHEIT am 9. November“. Pressemitteilung vom 8.11.2009 (URL: http://goo.gl/9g1x0 [20.7.2013]) 279 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2009a, S. 51. 280 Vgl. N.N.: „Kunst-Schrift: Atelierbesuch bei Xu Bing“ auf goethe.de (URL: http://goo. gl/sv8KH [20.7.2013]).
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Was das „Fest der Freiheit“ insgesamt betraf, so betonten die Veranstalter auch hier den immensen materiellen und logistischen Aufwand, den sie zu diesem Zweck betrieben: „50 Tonnen Stahl, 2.000 Schrauben, 30 m² Multiplexplatten. […] 40 LKW’s waren im Einsatz um in und um Berlin die Dominosteine zu transportieren. Zurückgelegte Strecke: mehr als 26.000 Kilometer […] 12 Videoscreens stehen auf der Strecke und bieten 360 m² Videoscreenfläche […] Zur Live-Übertragung werden 27 Kameras, eine FlyCam und eine Spidercam direkt am Brandenburger Tor zum Einsatz kommen […] An den Leitgittern der Dominostein-Galerie werden ca. 1.300 Leuchtstoffröhren montiert […] 130 Lautsprecher mit 22.000 Watt Leistungsaufnahme kommen am Streckenverlauf zum Einsatz […] Für Beleuchtung und Sound werden ca. 20 Kilometer Kabel verlegt […] Für das Fest werden auf dem gesamten Veranstaltungsgebiet 6.500 Ampere verteilt. […] 30 Trailer für die Gerüstbauten (Bühnen, Tribünen, Videowände), zusätzlich 10 Trailer für Lichttechnik und 4 Sattelschlepper für Tontechnik.“281
Die Kulturprojekte Berlin GmbH listete hier nahezu indexikalisch die nichtmenschlichen Akteure der von ihnen konzipierten Geschichtspolitik auf: von Schrauben über Kameratypen bis hin zu elektronischen Maßeinheiten und Leinwandflächen waren am „Fest der Freiheit“ nicht nur Architekten, EU-Politiker, Schulklassen und Zeitzeugen beteiligt, nicht nur Erzählungen von „DominoEffekten“ und „Kommenden Gemeinschaften“ im Namen Europas, sondern auch eine ganze Reihe technischer, physischer, oder handwerklicher Elemente um all dies zu konstruieren. Das „Fest der Freiheit“ wurde dadurch zu einem Ereignis eigenen Wertes: „20 Jahre später, gemeinsam mit Gästen aus aller Welt, mit Zeitzeugen sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, begehen die Berlinerinnen und Berliner dieses unvergessliche Ereignis von historischer Tragweite. Am Brandenburger Tor, dem Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt, wird an diesen weltbewegenden Moment erinnert“.282 Dieser Ankündigungstext besaß, ob absichtlich oder nicht, eine eigenartige Semantik: 20 Jahre später werde man ein „unvergessliche[s] Ereignis von historischer Tragweite“ begehen. Gemeint war wohl der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. Wie dieser jedoch zwanzig Jahre nach seinem Eintritt „begangen“ werde sollte, noch dazu als Ereignis, ließ Raum für Spekulationen. Am ehesten ließ sich diese Ankündigung als hantologische Vermischung lesen: Das Ereignis des Erinnerns („20 Jahre Mauerfall“) und das erinnerte Ereignis (der Mau281 Kulturprojekte Berlin GmbH: „Daten und Fakten zum Fest der Freiheit am 9. November“. Presseinformation vom 2.11.2009 (URL: http://goo.gl/94aoz [20.7.2013]). 282 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH: „Themenjahr 2009 – 20 Jahre Mauerfall. Höhepunktveranstaltungen im Themenjahr 2009 in Berlin“. Presseinformation vom 3.9.2009 (URL: http://goo.gl/dE31i [20.7.2013]).
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erfall am 9. November 1989) fielen hier in ein einziges Ereignis zusammen. Das „Fest der Freiheit“ in diesem vermeintlichen sprachlichen Lapsus als „Ereignis von historischer Tragweite“ zu bezeichnen, verdeutlichte einmal mehr, wie vermischt und vermengt in der Geschichtspolitik zu 1989 Erinnerung, Geschichte, Gegenwart und Zukunftsorientierung waren. Dass das „Fest der Freiheit“ die Black Box der Geschichtspolitik zu 1989 war, offenbarte sich auch darin, dass zu diesem Festakt mehrere Repräsentanten aktueller und ehemaliger politischer Konstellationen geladen waren. Michail Gorbatschow, Lech Wałęsa und Miklos Nemeth waren dort als Repräsentanten vergangener Politik, der Zeitschicht 1989 zugeordnet; Hillary Clinton, Nicolas Sarkozy, Dmitri Medwedew, Gordon Brown, José Barroso, Jerzy Buzek, Horst Köhler, Klaus Wowereit, Guido Westerwelle und Angela Merkel hingegen vertraten – wenngleich sie Zeitzeugen von 1989 waren – gegenwärtige Politiken. Die von ihnen gehaltenen Ansprachen waren allesamt verhältnismäßig kurz und drehten sich um die für das „Erinnerungsjahr 2009“ üblichen Motive, Topoi und Narrative. „Dies ist ein großer Moment. Wir alle spüren: Am Brandenburger Tor, in der Mitte Berlins, liegen Geschichte und Zukunft ganz nah beieinander“283, hieß es beispielsweise in der Ansprache Klaus Wowereits: „20 Jahre nach dem Mauerfall ist viel erreicht worden. Vieles muss noch getan werden. Wer sich heute beschwert fühlt, möge bitte an die Tage um den 9. November 1989 denken. Wir lagen uns in den Armen und waren das glücklichste Volk der Welt. […] Die friedliche Revolution von 1989 zeigt, was mutige Menschen bewegen können. Dies soll uns Mahnung und Auftrag sein. […] Lassen Sie uns alle gemeinsam daran arbeiten, Mauern auf der ganzen Welt zum Einsturz zu bringen – die Mauern aus Stein und die Mauern in den Köpfen.“284
Auch Bundeskanzlerin bediente in ihrer Rede die im Hinblick auf den Mauerfall oft verwendeten Motive des Glücks und der eigenen Biographie: „[D]er heutige Tag, der 9. November, markiert eine wahrhaft glückliche Stunde der deutschen und der europäischen Geschichte. […] Für mich war es einer der glücklichsten Momente meines Lebens.“285 Der Mauerfall sei „eine epochale Zeitenwende, die Deutschland, Europa, ja auch die Welt, die damals in zwei Blöcke geteilt war, wieder zusammengeführt hat. […] Das macht den 9. November für immer zu einem großen Tag der 283 Wowereit, Klaus: Rede des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit zum Fest der Freiheit. Gehalten am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/9YPm4 [20.7.2013]). 284 Ebd. 285 Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im Rahmen des „Fests der Freiheit“ am 9. November 2009 in Berlin. Nr. 111-3 vom 9. November 2009. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin 2010. Bulletin 19962009.
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Freude für uns alle.“286 Auch der Blick in die Zukunft als Extrapolation des Erbes und der Erinnerung fehlte nicht. Dazu wurde das Projekt der „Kommenden Gemeinschaft“ erneut mit dem Namen Europa versehen und den abstrahierten Gütern Freiheit, Toleranz und Demokratie verbunden: „Freiheit entsteht nicht von selbst. Freiheit muss erkämpft werden. Freiheit muss immer wieder verteidigt werden. Dann bleibt Freiheit, was sie ist: das kostbarste Gut unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Ohne Freiheit keine Demokratie, ohne Freiheit keine Vielfalt, keine Toleranz und damit auch kein einiges Europa.“287 Schließlich durfte auch der Topos der „Mauern, die noch Fallen müssen“ – wie auch schon in Wowereits Ansprache – nicht fehlen (wenngleich in variierter Form): „Nutzen wir also das unschätzbare und alles andere als selbstverständliche Gut der Freiheit. Folgen wir gemeinsam weiter ihrem Ruf. Wir haben es in der Hand, auch die Grenzen unserer Zeit zu überwinden, so wie es uns 1989 hier in dieser geteilten Stadt gelungen ist. Wenn wir daran glauben, werden wir es schaffen – angespornt von der Idee der Freiheit.“288 Barack Obama, der per Videobotschaft auf die Leinwände projiziert wurde, betonte ebenfalls das Thema Freiheit als politisches Projekt in der Metaphorik der „Aufklärung“: „Lassen Sie uns das Licht der Freiheit auch in den dunkelsten Nächten der Tyrannei aufrecht erhalten. Glauben wir an die Freiheit.“ 289 Zusätzlich wurde ein Unterhaltungsprogramm bereitgestellt, das sich inhaltlich in die Geschichtspolitik zum Mauerfall eingliederte. So sang die aus mehreren Tenören bestehende Gruppe Adoro den Titel „Freiheit“ von Marius Müller Westernhagen, als Wałęsa die ersten „Dominosteine“ umwarf.290 Jon Bon Jovi spielte sein Stück „We weren’t born to follow“, das „der Friedlichen Revolution von 1989 gewidmet“291 war. Nach dem Auftritt wurden Aufnahmen eingespielt, die Jon Bon Jovi 1989 als „Mauerspecht“ zeigten. Zum Finale hatte die eigens von dem aus OstBerlin stammenden DJ und Musikproduzenten Paul van Dyk zum „Fest der Freiheit“ komponierte Hymne „We are one“ ihre Premiere. In dem Songtext wurde erneut ein diffuser Gruppenzusammenhang im Angesicht des gemeinschaftlichen Strebens nach Freiheit und Einheit sowie der Überwindung von Grenzen („barriers“) hergestellt: „We can be as one / No more barriers / Build a bridge with love / No more barriers / This time our time has come / No more barriers / We are one / 286 Ebd. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Zitiert nach Friedrichs, Hauke: Berlin feiert „Fest der Freiheit“. Zeit Online 10.11.2009 (URL: http://goo.gl/Mcj1P [20.7.2013]). 290 Vgl. Programmübersicht auf der offiziellen Internetpräsenz: N.N.: „Fest der Freiheit“ zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Online auf mauerfall09.de (URL: http://goo.gl/i2PTo [20.7.2013]). 291 Vgl. ebd.
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We can overcome together / We can be as one together“. 292 Dass es in dem Songtext ebenso darum ging, die eigene Gegenwärtigkeit („Our Time has come“) wie den Projektcharakter einer besseren, gemeinsamen Zukunft („We can overcome togehther“) zu betonen, spiegelte die geschichtspolitische Geste des „Erinnerungsjahres“ zu 1989 wieder. Dazu passend umringten den auf einer Bühne vor dem Brandenburger Tor performenden van Dyk mehrere Schüler, die sich Arm in Arm zur Musik bewegten und den Text mitsangen – als Repräsentanten dieser auch im Liedtext evozierten „Kommenden Gemeinschaft“. Nach van Dyks Auftritt wurde eine Art Countdown herunter gezählt, bevor die letzten „Dominosteine“, und damit auch die letzten Teile der symbolischen Mauer, fallen sollten: Buchstabe für Buchstabe wurde auf den übertragenden Leinwänden das Wort „F-R-E-I-H-E-I-T“ eingeblendet und von den Besuchern lautstark mitbuchstabierten, die am Ende das gesamte Wort „Freiheit“ ausriefen. Sodann stießen zwei Kinder in beide Richtungen die letzten Steine um und ein Feuerwerk wurde gezündet. Eigens für das „Fest der Freiheit“ verfasste Orchestermusik begleitete den finalen Domino-Mauerfall. Thomas Gottschalk verabschiedete dann Gäste und Zuschauer gegen 21.15 Uhr daran gemahnend, dass Freiheit und die Erinnerung an ihren Wert sich nicht auf einen einzelnen Tag beschränken sollten, sondern der Kampf darum für viele alltäglich, dieses Gut demnach nicht selbstverständlich sei. Wer zu diesem Thema, so Gottschalk, „weiterhin unterhalten“ werden wolle, sollte nicht den Fernsehkanal wechseln: Im Anschluss folgte der Film „Das Wunder von Berlin“ aus dem Jahr 2008 von Roland Suso Richter, mit Veronika Ferres in der Hauptrolle als Oppositionelle in der DDR und Heino Ferch als Stasi-Offizier. Der Film erzählte anhand einer Familiengeschichte die Ereignisse bis zum 9. November 1989.293 Wer dann zuhause ankam und den Privatsender Sat.1 einschaltete konnte in der Sendung „Kerner“ noch folgende, gänzlich unhistorische Themen verhandelt sehen: „Angst vor Schweinegrippe – So leiden die Betroffenen wirklich“, „Deutschland wird schwanger – Alltag mit acht Kindern“ oder „Die Königin der Preisausschreiben – Warum kaufen, wenn man auch gewinnen kann?“.294 Ein Themenbereich ging dann doch auf die Geschichte von 1989 ein. „Ossi oder Wessi – Wer weiß mehr über Deutschland?“ fragte die Redaktion Gäste wie Ulrich Meyer, Verona Pooth oder den in der DDR aufgewachsenen Choreografen Detlef „D!“ Soost. Unter anderem erwartete sie ein „Geschmackstest“ von Ost- und Westprodukten. Die Meinungen der beteiligten aus Ost und West waren geteilt. 292 Vgl. van Dyk, Paul: We are One. Universal 2009 [CD]. 293 Vgl. N.N.: „Das Wunder von Berlin“. Pressemappe auf veronicaferres.eu (URL: http:// goo.gl/J4hi3 [20.7.2013]). 294 Vgl. N.N.: „Kerner. Die Themen vom 9. November im Detail“. Sat1.de am 9.11.2009 (URL: http://goo.gl/VaOSK [20.7.2013]).
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B LACK B OX M AUERFALL – D AS „F EST DER F REIHEIT “
IN DEN
M EDIEN 2009
Wen Thomas Gottschalk am 9. November 2009 gegen 21.15 Uhr durch die Kameralinse hindurch ansah, wer noch einmal in Zeitlupe verfolgen konnte, wie die „Dominosteine“ des „Fest der Freiheit“ fielen und die Lichter des Feuerwerks den Himmel über dem Brandenburger Tor erleuchteten, wer danach, vor seinem Fernsehgerät sitzend, Veronica Ferres oder Johannes B. Kerner sah, anstatt in überfüllten U-Bahnen durchnässt den Heimweg anzutreten – der wird eine Ahnung davon gehabt haben, inwiefern das „Fest der Freiheit“, das Jubiläum des Mauerfalls, nicht nur ein öffentliches, sondern auch ein mediales Event war. Das ZDF war Medienpartner der Kulturprojekte Berlin GmbH bei der TVÜbertragung des „Fest der Freiheit“. Sowohl auf die Leinwände rund um das Brandenburger Tor, als auch auf die heimischen Bildschirme und in die Mediatheken wurde dieses Media Event live übertragen, archiviert, gespeichert und vermittelt. Aber die Kameras der Kulturprojekte Berlin GmbH und der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten waren nicht die einzigen, die dieses Erinnerungsereignis aufnahmen. Wer die Fotografien und Bewegtbilder der Veranstalter sah, kam nicht umhin zu bemerken, dass gleichzeitig viele kleine Bildschirme und Kameralinsen auf das Geschehen in Berlin gerichtet waren – Handys, Fotoapparate, Smartphones, Camcorder und andere Apparaturen in den Händen der Besucher fingen Bilder und Geräusche rund um das „Fest der Freiheit“ ein. Einige dieser Aufnahmen wurden wenig später auf Online-Plattformen wie Youtube hochgeladen, kommentiert und weiterverbreitet.295 Das „Fest der Freiheit“ wurde zuvor in der epistemologischen Metaphorik Bruno Latours als Black Box des „Erinnerungsjahres 2009“ bezeichnet. Wenn allerdings Bildschirme auf Bildschirmen auftauchten, die allesamt das gleiche Ereignis einfingen, festhielten, speicherten, memorierten, übertrugen, ausschnitten und archivierten, wurde diese Metaphorik, ganz im Sinne Latours, auch auf eine konkrete, technische, materielle, apparative – kurz: dingliche – Ebene überführt. In der Black Box „Fest der Freiheit“ waren schon Styroporsteine, Kameratechniken, Kabelmeter, Lastkraftwagen, Fernsehmoderatoren und Zeitzeugen versammelt. Aber sie machten noch nicht die Gesamtheit der Elemente aus, die an dem Jubiläum des Mauerfalls beteiligt waren. Auch der im Anschluss gezeigte Fernsehfilm „Das Wunder von Berlin“ gehörte in diesen Kontext, die Privataufnahmen der Besucher ebenso wie die parallele Berichterstattung zum und über das Jubiläum des Mauerfalls. Es fand nicht nur eine massive Mobilisierung verschiedenster Elemente wie Musik-
295 Einige Beispiele finden sich unter „Fest der Freiheit“ 2009 auf youtube.com (URL: http://goo.gl/9RPZds [3.9.2013]).
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gruppen, Pyrotechniker, Kameraleute, Zeitzeugen, Politiker und bemalte Styroporblöcke statt. Sie alle waren insbesondere an einem Prozess beteiligt, der den Mauerfall im weitesten Sinne des Wortes medialisierte. Der Mauerfall im Jahr 2009 war ein Media Event – und das im doppelten Sinn: Er war sowohl erinnertes Ereignis, das geschichtspolitisch vermittelt wurde, als auch ein apparativ übertragenes Ereignis des Erinnerns. Beides in Verhältnis zueinander war ein Effekt von Medien. Wer am 10. November 2009 eine Tageszeitung zur Hand nahm, dem wurde der vorangegangene Abend bereits (oder erneut) vermittelt, meist schon auf der Titelseite der Printorgane. So titelte die Welt auf der ersten Seite, mit Worten aus Angela Merkels Ansprache, „Dafür hat es sich gelohnt zu kämpfen“ und platzierte unter dieser Schlagzeile ein großes Foto des beim finalen Feuerwerk am „Fest der Freiheit“ in goldenes Licht getauchten Brandenburger Tors. 296 Ein kleines Foto zeigte Merkel mit Wałęsa und Gorbatschow beim nachmittäglichen Termin auf der Bornholmer Brücke. Der Leitartikel berichtete jedoch nicht isoliert vom „Fest der Freiheit“. Eine Infobox listete unter dem Motto „Zum 9. November“ weitere Artikel zum Mauerfall-Jubiläum auf, welche die Leser der Welt auf den Seiten 2 bis 27 (von immerhin 28) erwarteten. Ein Kommentar zum „Fest der Freiheit“ namens „Noch einmal Gorbimania“ und die auf die Berichterstattung zum MauerfallJubiläum eingehende Fernseh-Kolumne „Zippert zappt“ flankierten den Leitartikel.297 Interessanterweise folgte die Berichterstattung über das „Fest der Freiheit“ in der Welt strukturell exakt der historiographischen Berichterstattung des Vortags über den Mauerfall am 9. November 1989. Dort hatte Sven Felix Kellerhoff eine der Chronologie der Ereignisse folgende, dem Live-Ticker-Format angeglichene Geschichte des Mauerfalls wiedergegeben.298 Nun folgte der von mehreren Redakteuren verantwortete Artikel über den 9. November 2009 ebenfalls der Chronologie des Tages von 8 Uhr morgens bis 21:16 Uhr abends.299 Die Berichterstattung war erneut zeitlich komprimierend überschrieben: „Zwanzig Jahre sind ein Tag“. Zum zwanzigsten Jahrestag, so ließ sich die Überschrift in der Welt vom 10. November 2009 verstehen, verdichtete sich die bisher eher latente Erinnerung an den Mauer-
296 Die Welt vom 10.11.2009, Titelblatt. 297 Die Welt vom 10.11.2009. Dass das Jubiläum des Mauerfalls nicht das einzige berichtenswerte Ereignis vom 9. November 2009 war zeigten ebenfalls aufgeführte oder verwiesene Artikel über die politische Lage in Venezuela, das 250. Schiller-Jubiläum oder ein Artikel über die damals grassierende sogenannte „Schweinegrippe“. 298 Kellerhoff, Sven Felix: Der Tag. Die Welt vom 9.11.2009. 299 Anker, Jens/Lange, Katrin/Lau, Miriam/Luig, Judith/Schoelkopf, Katrin/Flatau, Sabine: Zwanzig Jahre sind ein Tag. So feiert Berlin den Mauerfall. Die Welt 10.11.2009.
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fall zu einem einzigen Ereignis; die zwanzig Jahre, die seitdem vergangen waren, wurden dort wieder an einem einzigen Tag präsent. In anderen Tageszeitungen wurden die Themen des vorherigen Abends ebenfalls mit Bildern der Veranstaltung aufgegriffen.300 „Comment la chute du Mur a fait naître l’Europe de 2009“301, titelte die französische Le Monde am 10. November 2009 und verband damit die Zeitschichten 1989 und 2009 zu einem europäischen Geburtsereignis. Titelwörter wie „Freiheit“ oder „Freude“ prägten die Berichterstattung, die damit den Tenor des Abends im Speziellen sowie des MauerfallJubiläums im Allgemeinen duplizierte. 302 Aber die Multiplikation des Ereignisses des Mauerfalls und des „Fest der Freiheit“ beschränkte sich nicht nur auf Schlagworte, Fotografien, historische Daten oder – salopp gesagt – ein paar bedruckte Blatt Zeitung. Wie auch schon bei der Friedlichen Revolution war der Mauerfall ein Media Event, das sich insbesondere durch Live-Charakter und Einbettung in den Programmflow – besonders des Fernsehens und des Internets – auszeichnete. Ob die Übertragung eines ökumenischen Gottesdienstes zum 20. Jahrestag des Mauerfalls um 9.30 Uhr oder die Sendung „Als die Mauer fiel“ um 21.00 Uhr in der ARD, „Mein Mauerfall“ um 22.45 Uhr im MDR, die „Kulturzeit“ auf 3Sat um 19.20 Uhr zum Thema „Mauerfall aus Sicht der anderen“, die „Focus TVReportage“ auf Sat.1 um 23.00 Uhr zu dem Thema „Mein Verräter und ich – ein Stasi-Opfer sucht die Wahrheit“ oder das „Extra Spezial – 20 Jahre Mauerfall“ um 22.15 Uhr auf RTL – die Geschichte der DDR und besonders die von 1989 war am 9. November 2009 auf nahezu allen Kanälen früher oder später vertreten.303 Aber die Senderprogramme wurden nicht gänzlich durch das Thema Mauerfall vereinnahmt. Auf RTL lief zeitgleich zur Ausstrahlung des „Fest der Freiheit“ das übliche Montagsprogramm: „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“, dann weiter mit den Quotengaranten „Wer wird Millionär?“ und „Bauer sucht Frau“. Pro Sieben zeigte den Thriller „The Glass House 2“ zur besten Sendezeit, auf der ARD lief die Familienserie „Geld.Macht.Liebe“. Für wen das „Fest der Freiheit“ und das Jubiläum des Mauerfalls vor allem ein fernsehtechnisch vermitteltes Media Event war, der hatte auch die Chance – wenn es uninteressant werden sollte – ab- oder umzuschalten. Der programmatische Flow des Fernsehens schaffte so neue Kontexte, in denen „Kuppelshows“ mit Landwirten, Quizshows oder Thriller gleichzeitig stattfanden.
300 Ein Collage der Pressereaktionen zur Dominoaktion und zum „Fest der Freiheit“ findet sich in Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 62f. 301 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 63. 302 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 62f. 303 Übersichten zu dem Fernsehprogrammen des Tages und Angaben zum Programm sind den Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung und FAZ vom 9.11.2009 entnommen.
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Einzig die Deutsche Welle sendete 24 Stunden rund um die Uhr direkt aus Berlin monothematisch zum Mauerfall-Jubiläum – ein „in der Geschichte der Deutschen Welle einzigartige[s] Projekt“, für das extra zwei gläserne Studios in Nähe des ehemaligen Mauerstreifens aufgebaut wurden.304 „24 Stunden für 20 Jahre – und für ein Ereignis, das bis heute zu einem Symbol für eine weltweite Zeitenwende geworden ist“, hieß es dazu in der Presseinformation.305 Ähnlich wie die Verdichtung, welche die Welt in ihrer Berichterstattung zum Mauerfall-Jubiläum vornahm („20 Jahre sind ein Tag“), fokussierten sich auch das erinnerte Ereignis Mauerfall und die zwanzig seitdem vergangenen Jahre an diesem 9. November zu einer 24-Stunden-Schalte. Sowohl die Live Ticker Simulation der Welt, des Spiegel oder der Bild, als auch die Live-Schaltungen des ZDF oder der Deutschen Welle erfüllten zentrale Kategorien dessen, was Elihu Katz und Daniel Dayan als Media Event bezeichnen. Katz und Dayan geht es darum, eine Mediensoziologie des „live broadcasting of history“ zu entwerfen die zeigt, dass das live übertragene Medienereignis selbst auch zu einem Geschichte machenden Ereignis wird. In diesem Sinne wäre also das Media Event des Mauerfalls von 1989 ebenso ein Geschichte machendes Ereignis gewesen wie die Übertragung der Feierlichkeiten von 2009. Im Sinne von Katz und Dayan kommt einem Medienereignis wie dem „Fest der Freiheit“ daher eine doppelte Bedeutung zu: Das dortige „live broadcasting of history“ konstituierte das erinnerte Ereignis des Mauerfalls. Gleichzeitig produzierte es jedoch auch das Ereignis des Erinnerns selbst. Das „Fest der Freiheit“, das „Themenjahr 20 Jahre Mauerfall“, die Berichterstattung dazu auf allen möglichen Kanälen, besonders, wenn es eine Live-Schaltung war, waren daher Geschichtspolitik in Reinform. Media Events haben für Katz und Dayan „Effects on Collective Memory“. 306 Die Live-Übertragung des Ereignisses, ihre massenweise Vermittlung, Reproduktion und Zirkulation stellen so ein neues Ereignis her, das eine eigene Originalität besitzt: „The reproduction [of the Event] is now more important than the original,
304 Vgl. Deutsche Welle: „24 Stunden für 20 Jahre“. Presseinformation 9.11.2009 (URL: http://dw.de/p/KSAH [7.5.2013]). 305 Vgl. ebd. 306 Vgl. Dayan/Katz 1996, S. 211. In dieser Arbeit wurde die Idee des „Kollektiven Gedächtnis“ eher beiläufig verworfen und im Sinne der Soziologie Bruno Latours von einem „Gedächtnis-Kollektiv“ ausgegangen, das alle Elemente, Entitäten, Mittler, Zwischenglieder und Akteure versammelt und ihre Verbindungen zueinander beschreibt. Trotzdem erscheint der Effekt, den Media Events laut Katz und Dayan darauf haben, nicht unerheblich, auch wenn sie eher mit einem diffusen soziologischen Begriff von „Collective Memory“ arbeiten.
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and sometimes there is no original at all“.307 Für das „Erinnerungsjahr 2009“ und das Jubiläum des Mauerfalls bedeutete dies, dass das Original von 1989 dem „Fest der Freiheit“ gegenüber obsolet werden könnte, falls man noch an so etwas wie substanzielle Originalität glaubt.308 Wenn also die Reproduktion und Übermittlung – kurz gesagt: Medialisierung – des Erinnerungsereignisses „20 Jahre Mauerfall“ 2009 in Konkurrenz zu dem „Original“ von 1989 trat, wenn das „Fest der Freiheit“ ganz offensichtlich den Mauerfall simulierte und symbolisch wiederholen wollte, hieß das zugleich, dass die Geschichte von 1989 sich der Geschichtspolitik von 2009 unterordnete? Überschrieben die Bilder vom „Fest der Freiheit“ die Bilder des Mauerfalls und verdrängten sie aus dem Archiv? „Media events are interruptions marking breaks in time, sometimes signaling the beginning and ends of an ,era’“, heißt es bei Katz und Dayan.309 Für das epochemachende Ereignis des Mauerfalls mag dies heuristisch zutreffen – aber auch für ein Live-Ereignis wie das „Fest der Freiheit“? Ein modernes, zäsurhaftes Denken könnte dies annehmen. Das widerspräche aber dem Verständnis von Geschichtspolitik, das hier fortwährend kosmopolitisch verstanden wird: Es handelte sich nicht um eine Substitution, das „Fest der Freiheit“ ersetzte nicht den Mauerfall – es könnte nicht einmal als Zeichen eins zu eins gegen ihn eingetauscht werden (wenngleich es sich darum teilweise bemüht hatte). Die Mauer aus „Dominosteinen“ war nicht die Berliner Mauer. Sie war weder mehr noch weniger als das. Das „Fest der Freiheit“, die ganze Medialisierung des Mauerfall-Jubiläums war vielmehr eine Black Box. Durch diese Black Box verliefen auch die Sendesignale, Strommasten, Archivbilder, Fernsehfilme, Zeitzeugen, Schulklassen, Feuerwerke und Musikstücke, die letztlich das Media Event als Live-Event ausmachten. Und auch die archivierten und wieder übertragenen Zeichen des Mauerfalls verliefen durch diese – und wurden dabei in die Zeitschicht 2009 übersetzt. Wie schon für Mary-Ann Doane310 sind Media Events auch für Katz und Dayan unter Umständen Repräsentanten einer „catastrophic time“, einem katastrophischen, momenthaften, eventuell singulären Erscheinen des Ereignisses in der Zeit. 311 Ein 307 Dayan/Katz 1996, S. 210f. (Hervorhebung im Original). 308 Eine der berühmtesten philosophischen Positionen beispielsweise der Postmoderne oder der Posthistoire war es, wie auch am Denken Jean Baudrillards evident wird, dass es keine originalen Zeichen mehr gebe, die sich gegen eine gleichwertige Substanz eintauschen lasse. Jedes Bild, jeder Tonschnipsel, jeder politische Kommentar zum Mauerfall im Jahr 2009 würde demnach das originale Ereignis völlig tilgen, aber niemals in Gänze in sich tragen. Vgl. besonders Baudrillard, Jean: Der unmögliche Tausch. Berlin: Merve 2000 und Baudrillard 1994. 309 Dayan/Katz 1996, S. 212 (Hervorhebungen im Original). 310 Doane in: Fahle/Engell 2006, S. 102. 311 Dayan/Katz 1996, S. 212.
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Media Event werde dadurch zu einer „decisive and meaningful intervention in history“.312 Die Kategorie Live entpuppt sich dabei als entscheidend: Wenn die LiveÜbertragung für das „Fest der Freiheit“ des ZDF oder die permanente LiveSchaltung der Deutschen Welle und die Simulation des Live-Tickers in den Tageszeitungen eine Art Unmittelbarkeit suggerierten, die den üblichen Rhythmus der Programme unterbrachen – sozusagen katastrophisch in die Reihe vermittelter Ereignisse einbrachen und sich in Sendeplätze, Papierflächen, Aufmerksamkeitsökonomien und Zeitverläufe einschrieben – so war die Vermittlung der Erinnerung an den Mauerfall selbst ein Zeichen der „catastrophic time“. Nicht alles jedoch, was das Fernsehen im Zuge des Mauerfall-Jubiläums sendete, war live oder neu. Viele Sendungen waren Wiederholungen, wie beispielsweise der im Anschluss an das „Fest der Freiheit“ gezeigte Film „Das Wunder von Berlin“, der bereits 2008 Premiere gehabt hatte. Aber gerade das Wiederholte und das Regelmäßige erschienen als negative Folie des katastrophischen Effekts313, den die Live-Übertragungen zum Mauerfall-Jubiläum für sich beanspruchten. Die Suggestion des Unmittelbaren war eine zentrale Seite des Live-Momentums. Das war im Fall der Tageszeitungen besonders auffällig, denn in dem Moment, in dem diese gedruckt und ausgeliefert, aufgeschlagen und gelesen wurden, waren die berichteten Ereignisse bereits vergangen, also alles andere als momenthaft und live. Die Übersetzung dessen, was beim „Fest der Freiheit“ oder dem Mauerfall geschehen war, konnte nicht anders, als eine simulierte Unmittelbarkeit herstellen. Gerade wer am Morgen des 10.9.2009 einen Artikel wie den der Welt studierte, kam nicht umhin, das Live-Gefühl als nicht unmittelbar, sondern nur noch vermittelt wahrzunehmen. Die Zuschauer vor den Bildschirmen – sofern sie simultan zur echten Zeit des Ereignisses „Fest der Freiheit“ einschalteten – hatten dabei unter Umständen ein stärkeres Gefühl der Unmittelbarkeit. Aus soziologischer Perspektive handelte es sich dabei um die Herstellung einer Communitas: Alle diejenigen, die dem Live-Event beiwohnten, ob tatsächlich oder nicht, konnten sich in einer Art Erlebnisgemeinschaft wähnen.314 Da es ein zentrales Anliegen der Geschichtspolitik zu 1989 im Allgemeinen und des „Fest der Freiheit“ im Speziellen war, eine „Kommende Gemeinschaft“ herzustellen, war die imagined community315 der an dem Media Event als Zuschauer Beteiligten dafür mitunter 312 Ebd. 313 Der Begriff „Katastrophe“ wird hier nicht im heuristischen Sinne, wie etwa bei Umwelt-Katastrophe, verwendet, sondern im etymologischen Sinne von gr. katastrophé als momenthafter Wendepunkt. 314 Vgl. Dayan/Katz 1996, S. 214. 315 Der mittlerweile klassischen These folgend von Anderson, Benedict: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. Revised edition. London: Verso 2006.
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nicht unerheblich. Immerhin haben 5,26 Millionen Zuschauer316 und über 250.000 Besucher317 durch imaginierte, suggerierte, tatsächliche oder simulierte Partizipation an dem Jubiläumsereignis teilgenommen. Das Dispositiv, das all diese Elemente und technischen a priori für sich einnahm, übersetzte, transformierte und dynamisierte war auch im Fall des MauerfallJubiläums das Internet und die Möglichkeit des User-Generated Content Management. Ein Beispiel dafür waren die von Besuchern während des „Fest der Freiheit“ aufgenommenen Videos, die sich in Video-Archive wie Youtube318 übertragen haben. Thematisch waren auch Ausschnitte aus der ZDF-Übertragung vom 9. November 2009 verlinkt, die im komprimierten und digitalisierten Format abrufbar waren, während die eigentliche Sendung nur kurz auf der offiziellen Homepage des ZDF anzusehen war. Die wackeligen und verpixelten Aufnahmen einiger Besucher, die sich seit November 2009 auf Youtube befanden, zeigten eine andere Perspektive als die offiziellen Kameras der Veranstalter. Dort waren unter anderem überfüllte U-Bahnhöfe, Umweltgeräusche des städtischen Betriebs, schlechte Sicht auf das Geschehen am Brandenburger Tor oder das Warten auf die in der Ferne fallenden „Dominosteine“ vorhanden.319 Was dieses nutzergenerierte Bildarchiv vermittelte, waren Ausschnitte des Ereignisses „Fest der Freiheit“, die keinem offiziellen Sendeplan folgten und auch nicht zwangsläufig inszeniert waren. Die meisten Nutzer gaben in den Videobeschreibungen nicht an, mit welcher Absicht sie den Mitschnitt erstellt hatten. Als Effekt ließ sich nur feststellen, dass die Vermittlung und Übertragung des „Fest der Freiheit“ in die rhizomatischen Linkstrukturen einer Plattform wie Youtube320 die (medialisierte) Präsenz des Erinnerungsereignisses erweiterten, indem sie den offiziellen Blick der Veranstalter gleichzeitig aufnahmen und aufbrachen. Der interessierte Nutzer von Youtube hatte daher die kuratorische Wahl, in welcher Reihenfolge er wessen Aufnahmen vom
316 Vgl. Mohr, Reinhard: Mauerfall-Jubiläum im ZDF: Der Plunder von Berlin. Spiegel Online am 10.11.2009 (URL: http://goo.gl/ClcEz [20.7.2013]). 317 Kulturprojekte Berlin GmbH 2009b, S. 52. 318 Youtube ist dabei nur eine von vielen Online-Plattformen, wo nutzergenerierte Videoinhalte gespeichert werden. Auch ist kaum festzustellen, wieviele am 9.11.2009 gemachte Privataufnahmen noch in privaten Archiven und Speichermedien lagern, sich also keine Präsenz via Online-Plattformen verschafften, oder wie viele Beiträge von Youtube oder den Nutzern selbst mittlerweile gelöscht wurden und noch gelöscht werden, sei es aus Kapazitäts- oder Urheberrechtsgründen. 319 Vgl. die Einträge zum Stichwort „Fest der Freiheit“ 2009 auf youtube.com (URL: http://goo.gl/9RPZds [3.9.2013]). 320 Auf die rhizomatische Struktur von Youtube weist Reynolds 2012, S. 55f. hin.
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„Fest der Freiheit“ wie anschauen wollte – je nachdem, wie diese noch oder wieder verfügbar waren, mit einem immer anderen Ergebnis.321 Dass es durchaus von den Veranstaltern Kulturprojekte Berlin GmbH gewünscht war, nutzergenerierte Inhalte zum Mauerfall-Jubiläum herzustellen, zeigte das Beispiel der sogenannten „Berlin-Twitter-Wall“.322 Die Agentur construktiv323 designete als Begleitprojekt zum „Themenjahr 20 Jahre Mauerfall“ eine TwitterWall324 für das Hashtag „#fotw“, was für „Fall of the Wall“ stand. Jeder Nutzer des Mikrobloggingdienstes Twitter konnte seine eigenen Gedanken zum Mauerfall in einer maximal 140 Zeichen umfassenden Kurznachricht (genannt Tweet) formulieren und mit „#fotw“ markieren. Darüber hinaus war das Ansinnen der Initiatoren, Äußerungen darüber anzuregen, „welche Mauern ihrer [i.e. die Nutzer der TwitterWall] Meinung [nach] in Zukunft noch fallen müssten, damit die Welt lebenswerter wird“.325 Parallel dazu wurden redaktionell erstellte Tweets veröffentlicht, die entweder historische Information rund um den Mauerfall, oder aktuelle das „Themenjahr 20 Jahre Mauerfall“ betreffende Nachrichten enthielten. Die Twitter-Wall war vom 20. Oktober bis zum 15. November 2009 aktiv und wurde dann in ein „Onlinemonument“ 326 umgewandelt. Die „Berlin Twitter Wall“ war aus mehreren Gründen interessant. Zunächst wegen ihres Designs: Sie war tatsächlich eine animierte Version der Berliner Mauer. Hinter der Mauer ragten bekannte Stadtwahrzeichen wie der Fernsehturm, die Siegessäule oder das Brandenburger Tor hervor. Die Mauer selbst zierten Zeichnungen, Bilder und Graffitis. Diese teils historisch verbürgten Übermalungen der Berli321 Wenngleich die Zugriffszahlen auf die Amateurvideos weit unter den Zuschauerzahlen der eigentlichen Live-Sendung vom 9. November 2009 lagen. Das soll aber kein Ausspielen der Quantität gegen die Qualität dieser alternativen Bildarchive darstellen. 322 Mit eigener Internetpräsenz: berlintwitterwall.com (URL: http://www.berlintwitterwall. com/de/ [10.5.2013]) und auf Facebook (URL: http://goo.gl/j3Yiv [10.5.2013]). 323 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH: „20 Jahre Mauerfall im Social Web. Kulturprojekte Berlin startet berlintwitterwall.com“. Presseinformation vom 21.10.2009 (URL: http:// goo.gl/q3WPk [20.7.2013]). 324 Eine Twitter-Wall ist eine grafische Oberfläche, auf der zu einem per Hashtag (das Raute-Zeichen „#“) gekennzeichneten Schlagwort die Kurznachrichten des Mikroblogging-Dienstes Twitter gebündelt werden können. Eine Übersicht über die Funktionen von Twitter bietet die Bundeszentrale für politische Bildung: „Live Feedback einbinden mit einer Twitterwall“. Auf pb21.de (URL: http://goo.gl/APc1Y [20.7.2013]) 325 Vgl. N.N.: Dokumentation der „Berlin Twitter Wall“. berlintwitterwall.com (URL: http://www.berlintwitterwall.com/de/ [10.5.2013]). 326 N.N.: Newsblog der „Berlin Twitter Wall“ vom 4.12.2009. berlintwitterwall.com (URL: http://blog.berlintwitterwall.com [4.12.2009]). Das Newsblog ist nicht mehr aktiv.
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ner Mauer wurden wiederum überlagert durch die Tweets der Nutzer, die das Hashtag „#fotw“ benutzten. Der getwitterte Text nahm in einer weißen Sprechblase den größten Platz ein. Das Mundstück der Sprechblase führte zu dem Twitter-Avatar des jeweiligen Nutzers, das links über dem Tweet angezeigt wurde – als würde gerade einen Sprechakt vollführt. Abb. 1: Design der „Berlin Twitter Wall“ der Kulturprojekte Berlin GmbH und der Agentur construktiv
Quelle: http://www.berlintwitterwall.com/de/#imprint [10.5.2013]
Auf dem oberen Mauerrand waren einem Fotoapparat nachempfundene Icons angebracht, die auf ausgewählte Steine aus der „Dominoaktion“ verwiesen, diese bei Klick anzeigten und deren Gestalter nannten. Die Art und Weise, wie die Berliner Mauer hier dargestellt wurde, war symptomatisch für die Geschichtspolitik zum Mauerfall im „Erinnerungsjahr 2009“.327 Einerseits handelte es sich um eine digitale Nachbildung des historischen Bauwerks. Darüber hinaus simulierte die „Berlin Twitter Wall“ nicht nur das Bauwerk, sondern auch dessen historische Transformation und Revision328: Indem die Twitter-Wall die Westseite simulierte, verdoppelte sie die Geste der Übermalung und zeichenhaften Aneignung, die einige Künstler und Sprayer unternahmen, indem sie die Berliner Mauer zu einer Leinwand umfunktionierten. Auch die „Berlin-TwitterWall“ stellte die Berliner Mauer als bunte, übermalte Gestaltungsfläche dar. Aber sie ging noch einen Schritt weiter: Die Berliner Mauer wurde durch die Twitter-
327 Zur Einordnung der „Berlin Twitter Wall“ in die Geschichtspolitik zur Berliner Mauer vgl. Detjen, Marion: Die Mauer als politische Metapher. In: Henke, Klaus-Dietmar: Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung. München: DTV 2011, S. 426ff. 328 Vgl. dazu das Kapitel „Zwischen Monstrum und Souvenir – Die Berliner Mauer als Artefakt“.
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Wall nicht nur Gestaltungsfläche von Künstlern, sondern vor allem Fläche für Kurznachrichten und Nutzeridentitäten von 2009. Die einzelnen Tweets und die Avatare ihrer Nutzer überschrieben ihrerseits die historische Überschreibung und standen so thematisch wie graphisch im Vordergrund. Insofern war die „Berlin Twitter Wall“ eine weitere Umsetzung der Geschichtspolitik, die Zeichen des Historischen mit Zeichen des Gegenwärtigen von 2009 vermischte – und so die Schnittstelle 1989/2009 besetzte. Dass neben den Gedanken und Meinungen der Nutzer auch historische Daten, Fakten und Ereignisse aufgelistet wurden, verdeutlichte nur diese Tendenz zur Vermischung der Zeitebenen. Die Geschichtspolitik der „Berlin Twitter Wall“ schlug sich jedoch nicht nur im Design nieder. Auch funktional ging es erneut um Vergemeinschaftung und Verknüpfung verschiedenster Elemente. Dass die Zeitebenen 1989 und 2009 graphisch eine gemeinsame Fläche teilten und auch inhaltlich durchaus nebeneinander stehen konnten, war das eine. Die andere Seite der Mobilisierung war die Verknüpfung aller Nachrichten unter einem gemeinsamen Schlagwort: #fotw. Wer jedoch die Twitter-Wall aktiv nutzen und Tweets darauf anbringen wollte, musste bei Twitter über ein Nutzerkonto verfügen, was wiederum diejenigen von der Aktion ausschloss, die dies nicht hatten.329 Davon abgesehen bündelte das Hashtag („#fotw“) divergente Aussagen und Gedanken auf der „Berlin Twitter Wall“. Aufgrund dessen muss zwar keine Vergemeinschaftung im strikt soziologischen Sinne erfolgt sein, sodass sich jeder, der das Hashtag verwendete, einer Art In-Group zugehörig fühlte. Allerdings stellte diese Technik des Verlinkens einen vermittelten Zusammenhang zwischen den Nachrichten her. Die „Berlin Twitter Wall“ sollte „einen internationalen Charakter“ besitzen.330 Informationen zu der Aktion gab es auf Deutsch, Englisch und in chinesischer Schrift. Letztere Sprachoption wurde zwei Wochen nach dem Start der Website hinzugefügt, da das Interesse chinesischer Nutzer an der Twitter-Wall außeror-
329 Dass die „Berlin Twitter Wall“ auch auf dem 2009 in Deutschland bekannteren sozialen Netzwerk Facebook vertreten war, änderte die Tatsache nicht, dass nur TwitterNachrichten auf die Twitter-Wall gelangten. Auf der Facebook-Seite der Twitterwall (URL: http://goo.gl/j3Yiv [20.7.2013]) fanden sich auch größtenteils nur die redaktionell erstellten historischen Mitteilungen (in den Sprachen Deutsch, Englisch, Spanisch und Chinesisch) und kaum nutzergenerierte Inhalte wie Kommentare. Mit 969 „Likes“ [Stand 20.7.2013] konnte die Facebook-Präsenz der „Berlin Twitter Wall“ auch kaum die Resonanz erzeugen, die sie auf Twitter hatte. 330 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH: „20 Jahre Mauerfall im Social Web: Kulturprojekte Berlin startet berlintwitterwall.com“. Presseinformation vom 21.10.2009 (URL: http:// goo.gl/q3WPk [20.7.2013]).
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dentlich hoch war.331 Während die Aktion lief, wurden rund 7.500 Tweets mit dem Hashtag „#fotw“ auf der Twitter-Wall angezeigt.332 Die Rechnung der Veranstalter schien insofern aufzugehen, als dass von diesen 7.500 Kurznachrichten nach eigenen Angaben 40% in chinesischer, 31% in englischer und lediglich 13% in deutscher Sprache verfasst worden waren: „Insgesamt waren auf der Mauer über 25 verschiedene Sprachen zu finden – sogar isländisch und thailändisch war auf der Wand zu lesen.“333 Auch die Website berlintwitterwall.com zog ein internationales Publikum an. So griffen von den ca. 75.000 Besuchern 29% von chinesischen, 22% von US-amerikanischen, 19% von deutschen und 3,55% von französischen Servern auf die Internetpräsenz zu.334 Um zu ermitteln, ob die „Berlin Twitter Wall“ verhältnismäßig hoch frequentiert war, fehlt es an Vergleichsgrößen. Sowohl Twitter als auch das Hashtag „#fotw“ erzielten allerdings einen Vermittlungseffekt für das „Erinnerungsjahr 2009“, in dem nicht nur verschiedene Tweets und darin formulierte Haltungen, sondern auch Verfasser und Nutzer des Mikrobloggingdienstes miteinander in Verbindung gebracht wurden – ganz wörtlich vor dem Hintergrund der Berliner Mauer. Die Frage war jedoch nicht nur, wie die technische Verlinkung auf Basis von Twitter funktionierte, sondern auch, welche Inhalte dadurch produziert werden konnten. Die Nutzer wurden explizit dazu aufgerufen, Zukunftsperspektiven vor dem Hintergrund des um 2009 geläufigen Topos, „welche Mauern ihrer Meinung [nach] in Zukunft noch fallen müssten, damit die Welt lebenswerter wird“ aufzuzeigen.335 Die Nutzerin nordfischbaby schrieb am 20. Oktober 2009: „20 Jahre Fall der Berliner Mauer – und wofür es sich immer zu kämpfen lohnt: Die Freiheit der Gedanken #fotw“336 Die Zukunftsperspektive darin war die des „Projekts“, das, wie gesehen, besonders in der Geschichtspolitik zur Friedlichen Revolution anzufinden war: Was 1989 zu erkämpfen lohnte, dafür sollte es sich auch zwanzig Jahre später lohnen; insofern müsste, so ließ sich der Tweet verstehen, das Erbe des Mauerfalls weitergeführt werden. In eine andere Richtung ging der Tweet des Nutzers silvinci: „Die Mauern der Internetzensur und Überwachung müssen gesprengt werden! #fotw“337. Hier wurde eine konkrete, aktuell als restriktiv empfundene „Mauer, die 331 Vgl. die Dokumentation der „Berlin Twitter Wall“ (URL: http://www.berlintwitterwall. com/de/ [10.5.2013]). 332 Vgl. ebd. Die Zahl stieg bis zuletzt auf 7.951 Tweets. 333 Vgl. ebd.. Die Sprache musste jedoch nichts Genaues über die regionale Herkunft der Kurznachricht aussagen bzw. darüber, wo sich der Sender befand oder welcher Kultur er sich zurechnete. 334 Vgl. ebd. 335 Vgl. ebd. 336 Vgl. http://www.berlintwitterwall.com/de/ [10.5.2013]. 337 Vgl. ebd.
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in Zukunft fallen muss“ anvisiert und mit dem Mauerfall thematisch in Verbindung gebracht. Das Thema Zensur wurde im Falle der „Berlin Twitter Wall“ im Laufe der vier Wochen, in denen sie aktiv nutzbar war, immer zentraler. Besonders Nutzer mit chinesischem Hintergrund nutzten die Twitter-Wall um ihre Ansichten über die Internetzensur der Kommunistischen Partei (KP) auszudrücken. Laut Dokumentation der Veranstalter forderten viele chinesische Tweets, dass die „Great Firewall“ fallen solle – in Anspielung auf die Bemühungen chinesischer Behörden, den Zugriff auf unerwünschte Seiten durch chinesische Internetnutzer zu blockieren.338 Zusätzlich gaben die Veranstalter an, dass sie viele Angebote chinesischer Nutzer erhielten, Inhalte der „Berlin Twitter Wall“ in chinesische Sprache zu übersetzen.339 Am 26. Oktober 2009, nicht einmal eine Woche nach ihrer Freischaltung, wurde die „Berlin Twitter Wall“ durch chinesische Behörden gesperrt. Die Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“, die zugleich Partner der „Berlin Twitter Wall“ war, kritisierte diesen Schritt und wertete ihn als massiven Eingriff in die Meinungsfreiheit.340 Auch Klaus Wowereit äußerte sich ähnlich kritisch, ansonsten blieb größerer Protest gegen die Sperrung aus.341 Diese Episode verdeutlichte vor allem, dass das Mauerfall-Jubiläum nicht an eine isolierte historische Epoche erinnerte, sondern zugleich mehrfach als Folie und Projektionsfläche gegenwärtiger und zukünftiger politischer, sozialer und kultureller Projekte diente. Wenn die chinesischen Nutzer zumeist eine Parallele zwischen der Berliner Mauer und der „Great Firewall“ zu ziehen im Stande waren, wenn sie schriftlich in maximal 140 Zeichen auf einer animierten Berliner Mauer forderten, dass die „Great Firewall“ ebenso fallen solle wie die Berliner Mauer es 1989 getan hatte, dann wurde auf diesem technischen Wege eine geschichtspolitische Verknüpfung hergestellt, in der Internetzensur in China und „20 Jahre Mauerfall“ zusammengehörten. Die „Twitter Wall“ und der dazugehörige Mikrobloggingdienst, das einheitliche Hashtag und der Rahmen des „Themenjahres 20 Jahre Mauerfall“ boten das dazugehörige a priori, um diese Verbindung technisch wie inhaltlich herzustellen.
338 Vgl. die Dokumentation der „Berlin Twitter Wall“ (URL: http://www.berlintwitterwall. com/de/ [10.5.2013]). Zur „Great Firewall“ s. The Economist: China and the Internet. Special Report vom 6.4.2013. 339 Vgl. die Dokumentation der „Berlin Twitter Wall“ (URL: http://www.berlintwitterwall. com/de/ [10.5.2013]). 340 Vgl. Reporter ohne Grenzen: „ROG kritisiert Sperrung der Website von ‚Berlintwitterwall‘“. Pressemitteilung 2.11.2009 (URL: http://goo.gl/LbjkL [20.7.2013]). 341 Vgl. die Dokumentation der „Berlin Twitter Wall“ (URL: http://www.berlintwitterwall. com/de/ [10.5.2013]).
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Insofern unterschied sich der Mauerfall als erinnertes Ereignis und als Erinnerungsereignis strukturell nicht fundamental von der Friedlichen Revolution. In beiden Fällen waren Medien, Apparaturen, Mittler und Zwischenglieder als Akteure der Geschichtspolitik zu finden – und zwar der Geschichtspolitik im Sinne von Kosmopolitik. Was Medium genannt werden konnte hatte dabei eine durchgehend hantologische Aufgabe: Einen offenen Kanal zu legen zwischen dem, was Geschichte heißt, die Zeichen des Vergangenen zu versammeln und diese Zeichen gleichzeitig mit den Konstellationen der Gegenwart kommensurabel zu machen. Auf einer synchronen Ebene versammelten Medien verschiedene Stimmen, Perspektiven, Apparaturen, Erzählweisen und Techniken. Hinzu kommt, dass sich die Firewalls der chinesischen Zensurbehörden eine Gleichzeitigkeit mit der Berliner Mauer teilten, dass die Geschichte des Mauerfalls, das Versprechen der Demokratie und eine bestimmte Technologie (in diesem Falle ein Mikrobloggingdienst wie Twitter) sich zu einem politischen Projekt zusammenschließen ließen, deren zukünftige Einlösung, sozusagen virtuell, noch ausstand. „Mit Fahnen und Bananen ging die DDR vor 20 Jahren unter. Jetzt wiederholt sich die Geschichte als Farce“ hieß es im Spiegel – jedoch nicht über das „Themenjahr 20 Jahre Mauerfall“, sondern in einer Reportage über die Dreharbeiten zu dem Film „Liebe Mauer“, der im November 2009 anlief und den Mauerfall als Kulisse einer romantischen Tragikomödie verwendete.342 Extra für den Film wurde in Halle an der Saale ein 150 Meter langer Mauerstreifen als Filmkulisse rekonstruiert, „3,60 Meter hoch, komplett mit Grenzübergang, drei Wachtürmen und sorgfältig geharktem Todesstreifen (im Osten) sowie Achtziger-Jahre-Graffiti (auf der Westseite)“.343 Spiegel-Reporter Martin Wolf fühlte sich bei dem Anblick dieser zu Filmzwecken als Attrappe nachgebauten Berliner Mauer merklich unwohl: „Die Zeitreise in die Zone gelingt damit perfekt. Auch wenn man weiß, dass es nur eine Attrappe ist, löst der Anblick der Mauer noch immer dumpfes Unbehagen aus. Die Bilderwelten der Diktatur wirken plötzlich seltsam real.“344 Zeitreise, Farce, Attrappen und „dumpfes Unbehagen“ im Angesicht der wieder einbrechenden „Bilderwelten der Diktatur“, die zu Filmzwecken „plötzlich seltsam real“ wurden: Der Spiegel-Redakteur sah hier ein ganzes modernes geschichtsphilosophisches Metaphernrepertoire mobilisiert, um die Dreharbeiten an einem historisch konnotierten Film zu beschreiben. Die Mauer im Film, diese Attrappe in Halle an der Saale, durch die Komparsen bei Nacht mehrmals hintereinander den Mauerfall nachspielen oder gar (manche von ihnen waren schließlich Zeitzeugen) nacher-
342 Wolf, Martin: Zeitreise in die Zone. Der Spiegel 12/2009. 343 Ebd. 344 Ebd.
D ER 9. NOVEMBER 1989/2009
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leben mussten345, war eine von vielen Medialisierungen der Berliner Mauer, die 1989 obsolet wurde. Die Dreharbeiten zu „Liebe Mauer“ erschienen so selbst wie eine Metapher des Mauerfall-Jubiläums – in dessen (Mauer-)Kulissen sich der Mauerfall immer und immer wieder ereignete. So auch im „Erinnerungsjahr 2009“.
345 Ebd.
Schluss Was treibt die DDR-Erinnerung?
Am 25. Juni 2009, mitten in dem sogenannten „Erinnerungsjahr 2009“, verstarb relativ plötzlich Michael Jackson, der sogenannte „King of Pop“, im Alter von runden 50 Jahren.1 Der Tod Jacksons war ein mediales Ereignis globalen Ausmaßes, das lange Zeit die Nachrichtenbranche beherrschte. Es entstand eine Art weltweite Trauergemeinde, die sich im Gedenken an den verstorbenen Sänger latent zusammenschloss.2 Dessen Trauerfeier fand am 7.7.2009 statt und wurde live im Fernsehen übertragen. Auch hierzu gab es Live-Ticker, beispielsweise bei Spiegel Online.3 Der Tod und die Trauer um Michael Jackson – ein weiteres Media Event im „Erinnerungsjahr 2009“. Kurz nach dem Tod Jacksons tauchten in mehreren Städten Doubles auf, die sich wie er kleideten, tanzten, teils auch sangen und sich zu seiner Musik bewegten. Sogenannte Flashmobs4 organisierten sich in Städten wie Berlin5, San Francisco6,
1
Vgl. Brinkbäumer, Klaus/Gorris, Lothar/Hüetlin, Thomas/Oehmke, Philipp/Rapp, Tobias/von Rohr, Mathieu/Schulz, Thomas/Wolf, Martin: Der Mann, der niemals lebte. Der Spiegel 27/2009.
2
Für einen Überblick über die Berichterstattung und die weltweiten Reaktionen s. Fetscher, Carolin: Das Weltwunderkind. Zeit Online am 5.7.2009 (URL: http://goo.gl/ 4HleV [20.7.2013]).
3
Vgl. das Live-Protokoll N.N. „Trauerzeremonie in L.A.: Fans, Freunde und Familie feiern Jackson als Idol“ auf Spiegel Online am 7.7.2009 (URL: http://goo.gl/YRy8k [20.7.2013]).
4
Flashmobs sind spontane, meist über neuere Kommunikationswege organisierte, öffentlich auftretende Gruppen von Menschen, die sich meist einem gemeinsamen Thema oder einer Aktivität verschreiben, die sie dann gemeinsam auf- oder ausführen. Dadurch entsteht spontane Vergemeinschaftung unter einer gemeinsamen Zeichensetzung, die nach den Aktionen ebenso schnell aufgelöst werden kann, wie sie zustande kam.
394 | 1989 UND WIR
Seattle7, Stockholm8 oder St. Petersburg9. Kurios waren Theorien einiger Fans, die nicht an den Tod Jacksons glaubten. Auf einer eigenen Homepage10 wurden nach und nach immer mehr „Michael Jackson Sightings“ gesammelt: Bilder und Videos, die belegen sollten, dass Jackson nicht tot sei sondern noch lebe; an seiner Stelle sei ein Double gestorben.11 Im Oktober 2009 wurde ein Dokumentarfilm mit den letzten Probeaufnahmen Jacksons zur bevorstehenden, durch seinen Tod aber nie angetretenen Tour „This is it“ gezeigt – ebenso wie der dazugehörige Tonträger, wodurch posthum Jacksons Art zu tanzen und zu singen zu erleben waren. Was hatte das nun mit der Erinnerung an 1989 und dem „Erinnerungsjahr 2009“ zu tun? Zunächst die nur auf den ersten Blick banale Tatsache, dass sich das „Themenjahr 20 Jahre Mauerfall“, die dazugehörigen Ausstellungen zur DDRGeschichte, das „Fest der Freiheit“, das „Lichtfest“ in Leipzig, die Fernsehfilme, Radiosendungen, Zeitungsartikel oder Festtagsreden in Erinnerung an 1989 mit dem Tod Michael Jacksons eine Gleichzeitigkeit teilten. Zwar wurde weder im Rahmen der Erinnerung an 1989 an Michael Jackson gedacht, noch umgekehrt. Dazu gab es keinen thematischen Anlass. Insofern waren Jacksons Tod und das Mauerfall-Jubiläum eher in einem Neben- als einem Miteinander in der Zeitschicht 2009 vereint. Evident wurde dies beispielsweise in den Jahresrückblicken auf 2009: So zeigte die Jahreschronik 2009 des Spiegel auf ihrem Titelblatt (Abb. 2) eine große „09“, die durch einzelne Bilder ausgefüllt wurde – darunter im Zentrum eines von Jackson, am unteren linken Rand eines vom „Fest der Freiheit“.12 Dadurch visualisierte der Spiegel, was die Zeitschicht „[20]09“ aus seiner Sicht konkret iko-
5
N.N.: „Michael Jackson Flashmob“. Webvideo auf arte.tv (URL: http://goo.gl/HVgZB [20.7.2013]).
6
„Michael Jackson Flashmob“. Webvideo von User rblord auf Youtube am 26.6.2009 (URL: http://youtu.be/Of7_2wF8DEI [20.7.2013]).
7
„Official Michael Jackson Tribute Seattle Flashmob“. Webvideo von User ProMotion Arts auf Youtube am 29.8.2009 (URL: http://youtu.be/YLVVFxAdta4 [20.7.2013]).
8
Vgl. „Michael Jackson Beat It: Flash mob @ Sergels Torg, Stockholm“. Webvideo von User Per Lundström auf Youtube am 8.7.2009 (URL: http://youtu.be/V3dh0HcnBnw [20.7.2013]).
9
Vgl. „Michael Jackson Flash Mob, Russia, Saint-Petersburg-29.08.2009“. Webvideo von User Natusikcation auf Youtube 20.8.2009 (URL: http://youtu.be/enxJKHYNXdQ [20.7.2013]).
10 11
URL: http://www.michaeljacksonsightings.com/ [13.5.2013]. Vgl. Simon, Violetta: Der verdrängte Tod. Sueddeutsche.de am 17.5.2010 (URL: http:// sz.de/1.80692 [13.5.2013]).
12
Der Spiegel: Jahreschronik 2009 – Der Rückblick. Hamburg: Spiegel Verlag 2009, Titelbild.
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nographisch ausmachte. Jacksons Platzierung in das Zentrum von „[20]09“ war so auch eine qualitative Aussage. Abb. 2: Titelblatt der Jahres-Chronik des Spiegel 2009 mit einem Foto Michael Jacksons in der Mitte und vom „Fest der Freiheit“ am unteren linken Rand
Quelle: Der Spiegel Jahres-Chronik 2009 – Der Rückblick. Hamburg: Spiegel Verlag 2009, Titelbild
Diese Gleichzeitigkeit war jedoch nicht alles, was die Trauer um Michael Jackson mit der Erinnerung an 1989 verband. Vielmehr ließen sich starke strukturelle Parallelen ausmachen, die mehr über den Modus des Erinnerns im „Erinnerungsjahr“ aussagten als über das erinnerte Ereignis selbst, sei es nun 1989 oder die Karriere eines Pop-Weltstars.13 Nimmt man einen durchaus plausiblen strukturellen Zusammenhang zwischen Erinnerungs- und Trauerarbeit an14, so war der Umgang mit dem Verlust Jacksons auch ein memorialkultureller Akt – und daher strukturell mit einem geschichtspolitischen Akteur-Netzwerk wie dem „Erinnerungsjahr 2009“ vergleichbar. Wie auch der Großteil der Erinnerung an den Mauerfall oder die Friedliche Revolution, war auch Jacksons Tod ein Media Event: Durch Nachrichtenkanäle beobachtet und übertragen, in Sprachen und Bilder übersetzt und, im Falle der Trauerfeier, sogar mit der Live-Übertragung eines katastrophalen Ereignisses versehen. In 13
Nicht zufällig geht Wolfgang Hardtwig als erstes ebenfalls auf die Übertragung der Trauerfeier Jacksons ein, wenn er nach der Vergleichbarkeit von Unterhaltung und Historisierung fragt, vgl. Hardtwig 2010.
14
Den Zusammenhang zwischen Verlustempfinden und Erinnerung skizziert Assmann 2006, S. 93ff.
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diesem katastrophischen Sinne „wurde live in alle Welt berichtet – von einem Ereignis, von dem ‚wir nicht einmal wissen, welche Bilder wir sehen, was wir erleben werden‘, wie es auf dem Fernsehsender N-TV hieß“.15 Nicht nur ging das Ereignis, der plötzliche Einbruch des Todes, medial verbreitet um die Welt. Auch die Trauerarbeit zu Jacksons Ableben wurde übertragen. Wenngleich inhaltlich, thematisch und politisch große Unterschiede zwischen Jacksons Trauerfeier und dem „Fest der Freiheit“ auszumachen waren, so wurde beides in seinem Live-Charakter als Ereignis verstanden und auch dementsprechend zugänglich gemacht. Ob sich nun Millionen von Fans vor dem Fernseher und mehrere zehntausend vor dem Staples Center in Los Angeles, in welchem die Trauerfeier stattfand, versammelten16, oder eben am 9. November 2009 zum „Fest der Freiheit“ vor dem Brandenburger Tor – in beiden Fällen waren sie gekommen, um sich gemeinsam zu erinnern. Ein JacksonFan ließ sich sogar zu der Bemerkung verleiten, dass in ihrer Trauer „alle 20.000 Menschen in der Arena [des Staples Center] zu einer Einheit verschmelzen werden“.17 Ähnliche Vergemeinschaftungsgesten waren auch in der Erinnerung an 1989 um 2009 zu beobachten – sei es im Namen der Demokratie, der Freiheit als universaler Wert, der gemeinsamen Erinnerung oder der „Kommenden Gemeinschaft“ Europas, um nur einige zu nennen. Auch der memorialkulturelle Umgang mit Jacksons Tod und seinem künstlerischen Erbe war der Erinnerung an 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ strukturell ähnlich: Die Doubles und Duplikationen, Simulationen und Imitationen von Jacksons Musik, Gesang und Tanz, die nun an vielen Stätten auftauchten, waren in ihrer mimetischen Erinnerungsgeste kaum anders als jene die historischen Ereignisse von 1989 duplizierenden, simulierenden, imitierenden geschichtspolitischen Akte im „Erinnerungsjahr 2009“: Wenn „Dominosteine“ oder Computersimulationen, Filmattrappen oder gar Gästebetten die Berliner Mauer in Form, Art und mitunter auch Funktion nachahmten, war auch dort die Mimesis als Grundzug zu erkennen. Wenn Leipziger Bürger sich 2009 auf dem selben Pfad wie 20 Jahre zuvor mit Kerzen in der Hand, mit den gleichen Parolen am gleichen Datum, dem 9. Oktober, im Jahr 2009 um das Leipziger Stadtrund bewegten, imitierten und vergegenwärtigten sie zugleich etwas, das einmal war und im Grunde der Vergangenheit angehörte. Durch Berlin tanzende Michael-Jackson-Doubles taten im Prinzip nichts anderes als mimetisch zu simulieren, was nicht mehr präsent sein konnte. Damit stellte sich wiederum das Problem der Hantologie: In all diesen Fällen wurde praktisch etwas vergegenwärtigt, das der Gegenwart grundsätzlich nicht 15
Zitiert bei Schmitt, Peter-Philipp: Der „King of Pop“ soll nun seine letzte Ruhe finden.
16
Vgl. N.N.: „Trauerfeier für Michael Jackson: Pompöser Abschied vom König des Pop“
FAZ Online am 4.9.2009 (URL: http://www.faz.net/-2b8-13rij [13.5.2013]). auf Spiegel Online am 7.7.2009 (URL: http://goo.gl/CRBZW [20.7.2013]). 17
Vgl. ebd.
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mehr angehörte, da es vergangen, emphatisch gesagt „tot“ war. Sowohl die Leipziger Bürger mit ihren Kerzen und Parolen zum „Lichtfest“ als auch die als Jackson auftretenden Doubles und Flashmobs wirkten vor diesem Hintergrund in ihrer Präsenz „gespenstig“. In beiden Fällen zirkulierten Zeichen des Vergangenen und drängten auf Vergegenwärtigung und Präsenz. Dass einige Fans meinten, Michael Jackson nach seinem Tod gesehen zu haben, erschien nur als der Gipfel der um 2009 grassierenden hantologischen Tendenzen in der Memorialkultur. Wenn es nun zum Abschluss um die Frage geht, was genau die DDR-Erinnerung, gerade unter dem Schlaglicht des Ereignisses 1989 im doppelten Wortsinn trieb – sowohl antrieb als auch was sie praktisch in die Tat umsetzte – dann zeigt die Jackson-Episode vor allem, dass dies unter bestimmten strukturellen Vorzeichen geschah, die um 2009 als ebendieser Antrieb wirksam waren und diesen Vergleich zwischen dem Tod Jacksons und der Erinnerung an 1989 überhaupt möglich machten. Die „Sabrow-Kommission“ fragte zu Beginn des neuen Jahrtausends noch „Wohin treibt die DDR-Erinnerung?“. Dies war eine von vielen Möglichkeiten, nach dem hier verfolgten Verhältnis „1989 und Wir“ zu fragen. Wohin die DDRErinnerung im Zeichen von 1989 um 2009 trieb war jedoch nicht zwingend die richtige Frage an das „Erinnerungsjahr 2009“. Trieb sie nach Berlin und/oder nach Leipzig, vielleicht sogar in die sächsischen Kleinstädte oder in die Europa-Schulen, Museen, Breitbandkabel oder Fernsehkanäle? Trieb sie in Richtung Europa und in Richtung Zukunft? Sicherlich, der topographische Erinnerungsort von 1989 war auch um 2009 ein geschichtspolitisches Matter of Concern. Allerdings nur eines von vielen. In dieser Arbeit ging es eher darum, die Qualität sowohl des geschichtspolitischen Treibens als auch Antriebs der Erinnerung an 1989 aufzuzeigen. Dazu wurde eine Querschnittperspektive auf das „Erinnerungsjahr 2009“ gewählt, in dem sich Friedliche Revolution und Mauerfall zum zwanzigsten Mal jährten und Anlass gaben, den Status Quo des Verhältnisses „1989 und Wir“ neu zu bestimmen und gestalterisch zu ordnen. Dass dadurch im Europa des Jahres 2009 einige „Gespenster“ umher gingen, die Gespenster des erinnerten Ereignisses 1989, dass diese Gespenster sich, wie so viele vor ihnen, vor allem durch das realisierten, was im weiten Sinne „Medium“ 18 genannt wird, dass dadurch Geschichtspolitik, das Erscheinen des eigentlich Vergangenen als Geschichte im Zeichen des Mediums überhaupt erst in seiner Gänze gedacht werden konnte, war die eine, eher abstrahierende Einsicht in das „Erinnerungsjahr 2009“. Dass sich dabei jedoch nicht nur eine Vergangenheit namens 18
Vgl. Adamowsky, Natascha: Eine Natur unbegrenzter Geschmeidigkeit. Medientheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Aisthesis, Performativität und Ereignishaftigkeit am Beispiel des Anormalen. In: Münker/Roesler 2008, S. 30-64.
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Mauerfall oder Friedliche Revolution vermitteln und übersetzen ließ, sondern dass durch diese Operation in der Gegenwart 2009 auch eine Zukunftsperspektive als Möglichkeitsraum und eine „Kommende Gemeinschaft“, zum Beispiel mit dem Namen „Europa“, möglich werden sollte, war die andere Tendenz, die für die Geschichtspolitik zu 1989 ausgemacht werden konnte. Die moderne Zeitachse Vergangenheit(+/–)Gegenwart(+/–)Zukunft enthielt dadurch an allen drei Punkten Elemente von 1989. Die Geschichtspolitik, die dies alles organisierte, operierte dabei vor allem an den Zwischenpositionen, die hier mit den Optionen Plus (+) und/oder Minus (–) gekennzeichnet sind. Diakritisch erscheint dies insofern notwendig, als dass die Operationen, die die Geschichtspolitik zu 1989 an diesen Stellen durchführte, ein einschließendes Ausschließen darstellte. Das bedeutete konkret, in einer nahezu wittgensteinschen Geste19, dass die Vergangenheit als eine Art Leiter hin zur neueren Zeit verstanden wurde, die, sobald erklommen, abgeworfen werden konnte. Dies waren die zwei Politiken, die einleitend jeweils als einschließende und ausschließende Politik bezeichnet worden sind. Hans Ulrich Gumbrecht fasst das „historische Denken“ dieser Politiken prägnant in sechs Perspektiven zusammen: „Erstens: Im ‚historischen Denken‘ imaginiert sich der Mensch als auf einem linearen Weg durch die Zeithorizonte befindlich […]. Zweitens setzt ‚historisches Denken‘ voraus, daß alle Phänomene vom Wandel in der Zeit betroffen sind – Zeit erscheint als absolutes Agens der Veränderung. Sich durch die Zeithorizonte bewegend, glaubt der Mensch, drittens, beständig Vergangenheit hinter sich zu lassen, und mit dem Abstand von der jeweiligen Gegenwart verfällt der Orientierungswert aller in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen. Viertens erscheint die Zukunft als ein offener Horizont von Möglichkeiten, auf den zu sich der Mensch bewegt. Zwischen dieser Zukunft und jener Vergangenheit verengt sich, fünftens, im historischen Denken die Gegenwart zu einem ‚nicht mehr wahrnehmbar kurzen Moment des Übergangs‘, wie Charles Baudelaire formuliert hat. Ich glaube nun, daß sechstens die kurze Gegenwart der ‚historischen Zeit‘ zum epistemologischen Habitat des cartesianischen Subjekts wurde. Sie war jener Ort, wo das Subjekt – Erfahrungen aus der Vergangenheit an Gegenwart und Zukunft anpassend – aus den von der Zukunft gebotenen Möglichkeiten wählte. Diese 19
In Punkt 6.54, dem vorletzten des „Tractatus logico-philosophicus“, schreibt Wittgenstein: „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ Für das „Erinnerungsjahr 2009“ galt geschichtspolitisch eine ähnliche Überwindungsgeste, die „Leiter“ war hier die „Erinnerung“, die Erkenntnis die zu formende zukünftige Gemeinschaft und Einlösung der geerbten Versprechen von 1989. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. In: Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 85.
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erfahrungsgetragene Auswahl aus den Möglichkeiten der Zukunft war Voraussetzung und Rahmen dessen, was wir ‚Handeln’ nennen.“20
Dieser „Chronotop“, der in dieser Arbeit meist als „modernes Denken“ bezeichnet worden ist, fand sich um 2009 auch in der Geschichtspolitik zu 1989 wieder. Die Gegenwart des sich erinnernden „Erinnerungsjahres 2009“ erschien meist als selektiver Umschlagplatz, der in die vergangene Geschichte verwies, um die zukünftige Geschichte zu ermöglichen. In der Geschichtspolitik zu 1989 war Zeit das „absolute Agens“ und das „Subjekt“, das Handeln kann, ein Effekt und Akteur der Geschichte. Nun verwirft Gumbrecht dieses Chronotop jedoch wieder. An die Stelle des „historischen Denkens“ sei die „breite Gegenwart“ getreten.21 War die Gegenwart im modernen Denken nur der Umschlagplatz, an dem die Vergangenheit als vergangen abgeworfen und die Zukunft herbeigeführt wurde, seien dies „heute“22 nur noch Heuristiken, aber keine Realitäten. Die Zukunft sei nunmehr „kein offener Horizont von Möglichkeiten [...], sondern eine Dimension, die sich zunehmend allen Prognosen verschließt und die zugleich als Bedrohung auf uns zuzukommen scheint“, so Gumbrecht. Auch stellt er fest, „daß es nicht mehr gelingt, irgendeine Vergangenheit hinter uns zu lassen“. Vielmehr „überschwemmen Vergangenheiten unsere Gegenwart“, wobei letztere wiederum „zu einer sich verbreiternden Dimension der Simultaneitäten geworden“ sei.23 Gumbrechts Thesen erscheinen deshalb für den Umgang mit 1989 im „Erinnerungsjahr 2009“ interessant, weil sie eine in gewisser Weise verunsicherte Stimmung24 artikulieren, die noch nicht so recht weiß, was es „heute“ bedeutet, das „historische Denken“ aufrecht zu erhalten – eine Stimmung, mit deren Latenz sich auch die Geschichtspolitik zu 1989 um 2009 befasste. Die Frage, ob die um 2009 praktizierte Geschichtspolitik nun die Gegenwart „überschwemmte“ oder doch versuchte, diese „hinter sich zu lassen“, war für die Erinnerung an die DDR im Allgemeinen und 1989 im Speziellen höchst relevant. 20
Gumbrecht 2010, S. 15.
21
Ebd., S. 16.
22
Gumbrecht vertritt diese These schon seit geraumer Zeit. In „Unsere breite Gegenwart“ datiert er diesen Umbruch allerdings nicht genauer. Vgl. ebd., S. 16. In „Nach 1945“ jedoch verlagert Gumbrecht den Beginn dieser „breiten Gegenwart“ nach der Epochenzäsur 1945 als den Beginn dieses „heute“, vgl. Gumbrecht 2012.
23
Gumbrecht 2010, S. 16.
24
„Stimmungen lesen“ ist ein weiteres Projekt Gumbrechts, das dieses diffuse Unbehagen am modernen Chronotop ausdrückt und ein Diesseits der Hermeneutik zu erarbeiten versucht. Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München: Hanser 2011a.
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Die hier skizzierte Plus-Minus-Lösung der einschließenden Ausschließung der Vergangenheit namens 1989 und die kommende Einlösung des Versprechens ihres Erbes als Ereignis versuchte sich an einer geschichtsphilosophischen Doppelstrategie, welche die Erinnerung an 1989 fortwährend be- und antrieb. Das lag auch daran, dass 1989 selbst von einem Ende, einem Verschwinden der DDR und der Berliner Mauer, der SED und des Sozialismus handelte. Gleichzeitig ging es um das Auftauchen von handelnden (in Gumbrechts Diktion: „cartesianischen“) Subjekten, die um 2009 zu Stimmen, Repräsentanten, Verkörperungen, Namen und Mittlern der Vergangenheit 1989 wurden. Eine Idee, eine Erzählung von Demokratie, Europa, Souveränität, Mut, Heldentum, Glück und nicht zuletzt Freiheit bestimmte motivisch die Geschichtspolitik zu 1989. Dass es sich dabei um abstrakte Güter handelte, deren Erlangen 1989 gelungen sei und wiederholt gelingen können müsse, war das inhaltliche Scharnier zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Freiheit siegte in der Erinnerung an 1989 über Repression: laut Andreas Wirsching war dies das Grundmotiv der Geschichte Europas seit 1989. 25 Die Geschichte von 1989 war die Geschichte eines Endes und nicht das Ende der Geschichte. Dieses Ende, diese Zäsur, diese gänzlich moderne Vorstellung von Umsturz und Verwerfung hin zum Neubeginn namens Revolution war die entscheidende Denkfigur um 2009: Die (hier meist: demokratische) Revolution war ebenso gespenstig wie modern, zukünftig wie vergangen, zugleich immer wieder herzustellen und zu konservieren. Sie war zugleich das Erbe der Vergangenheit und das Projekt der möglichen Zukunft. Das „Erinnerungsjahr 2009“, seine sich erinnernde Gegenwart, ähnelte so einer „Figur des Dritten“, wie Michel Serres sie anhand des „Jokers“ beschreibt: „Wohl gibt es eine Identität [des Jokers], aber seine Identität, sein besonderes Merkmal, seine Differenz, wie man sagt, ist es gerade, indifferent zu sein, jeweils die eine oder andere Besonderheit aus einer bestimmten Menge anzunehmen.“ 26 Serres‘ Philosophie der Mitte, des Kanals und der Vermittlung ließe sich so gesehen mit gängigen Vorstellungen kollektivierter Gedächtnisse verbinden, die meinen, (kollektive) Identität ließe sich auch aus Erinnerung herstellen – und bliebe dabei immer eine indifferente Identität, eine weiße Fläche, auf der Platz für Projektionen aus der Vergangenheit oder Extrapolationen aus der Zukunft sei. Wenn auf die Frage, was die DDR-Erinnerung im Angesicht von 1989 (an)treibt, mit „Identitätsstiftung“ geantwortet wurde, dann nur in diesem vermittelten, jokerhaften Sinne. Die Simultaneität von 1989 und 2009 wurden ebenso jokerhaft hergestellt: Durch alle möglichen „Figuren des Dritten“, oder kurz: Medien.
25
Wirsching 2012, S. 12f. Dass diese Freiheit jedoch ihren „Preis“ hatte, ist der rote Faden in Wirschings Europa-Narrativ.
26
Serres 1987. S. 243.
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Was die Geschichtspolitik zu 1989 primär betrieb war dies: Die Vermehrung und Mobilisierung der Mittler und Zwischenglieder, die in der Gegenwart von 2009 im Namen der Geschichte operierten. Die in Latenz gehaltene Vergangenheit namens 1989, deren Zeichen in den Archiven lagern, wurde durch verschiedene Kanäle in Präsenz versetzt – sowohl narrativ als auch materiell und technisch. Diese Operation wurde hier „Geschichtspolitik“ genannt. Wenn es also darum ging, wie 1989 in die Zeitschicht 2009 gelangte, ging es um die Aktivität von Medien. Auch Gumbrecht argumentiert, dass „die Perfektion elektronischer Gedächtnisleistungen eine zentrale Rolle spielt“ auf dem Weg der Vergangenheit in die „breite Gegenwart“.27 Dass es sich bei dieser Vermittlung jedoch nicht nur um eine elektronische handelte, dass Medien auch, aber nicht nur, apparativ arbeiten, war eine der zentralen Thesen dieser Untersuchung. Mittler und Zwischenglieder der Geschichte von 1989 waren zwar auch Archivbilder, Fernsehsendungen von vor 20 Jahren oder aktuelle Kinoproduktionen, Radiotransmissionen oder auf Servern gelagerte, per Glasfaserkabel erreichbare Mediatheken. Die in der Geschichte des „Erinnerungsjahres 2009“ bezüglich 1989 mobilisierten Mittler waren jedoch auch Politiker, Zeitzeugen, Schulklassen, Styroporsteine, Lastkraftwagen, Heliumballons, Tageszeitungen, Gästebücher, Landschaftsarchitekten, Aluminiumstangen, Historiker, narrative Tropen oder staatliche Institutionen. Daraus ergab sich ein großer Bereich des Medialen, der einleitend mit Thomas Großbölting und Claus Leggewie als Prozess der „Virtualisierung“ von Geschichte bezeichnet wurde – eine stark verbreitete heuristische Beobachtung, die jedoch etwas unkonkret erscheint. Das liegt vor allem daran, dass sowohl Großbölting als auch Leggewie nicht mit einem konkreten Begriff von Virtualität28 argumentieren. Virtualisierung war tatsächlich das treibende Moment der Geschichtspolitik zu 1989. Was Großbölting und Leggewie anscheinend mit „Virtualisierung“ meinen ist eine „gegenwärtige Semantik des Virtuellen“, die „ganz im Zeichen einer Absenz, die weiter entfernt vom Körper überhaupt nicht gedacht werden kann“ argumentiert.29 In diesem Sinne gab es um 2009 rein auf Daten komprimierte und/oder basierte Repräsentationen von Geschichte, wie beispielsweise die virtuell errichteten Monumente der Berliner Mauer im Internet oder der Timescope-Apparate der Wall AG. Auch auf Programmiersprachen aufbauende historische Artefakte zirkulierten im „Erinnerungsjahr 2009“: seien dies Videoaufnahmen aus der Zeit von 1989 oder eingescannte Originaldokumente in Schrift- oder Bildform, auf MP3 komprimierte Versionen des Aufrufs der „Leipziger Sechs“ – und nicht zuletzt die Kommunikation über 1989 und das „Erinnerungsjahr“, die, global und individuell geworden, tendenziell keine technischen Grenzen kannte. Dem entsprach der Topos des „Ver27
Gumbrecht 2010, S. 16.
28
Zur Geschichte der Virtualität s. Rieger 2003, S. 108.
29
Ebd., S. 108.
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schwindens“, der in der Geschichtspolitik zu 1989 schon seit den Neunziger Jahren einige Evidenz besitzt30: Die Berliner Mauer, der Staat der DDR, alte Produkte wie Lebensmittel oder Fernsehsendungen und Ähnliches waren im Verschwinden begriffen – was zunächst bedeutete, dass sie entkörperlicht wurden und physisch nicht mehr existent waren. In einem zweiten Schritt verloren sie ihre Bedeutung und ihren Wert.31 Sie landeten in der Latenz der Archive, ihre Präsenz im „Erinnerungsjahr“ war „nicht wirklich“, aber überall und jederzeit verfügbar durch Medien des Zugriffs, wie beispielsweise dem Internet. Das aber ist ein eher heuristischer oder marginalisierter Begriff von Virtualität, der zwar das Latenz/Präsenz-Verhältnis, das Ereignisse wie das „Erinnerungsjahr 2009“ auszeichnete, aufgreift, aber nicht wirklich erdet. Denn auch auf mathematische Daten- und Codebasis komprimierte Gegenstände, die im Namen der Geschichte sprechen, brauchen eine Materialität, die sie verfügbar macht: eine Hardware, die sie abspielt, jemanden, der sie aufruft und sich mit ihnen auseinandersetzt, sie durch Glasfaserkabel oder Satellitenfrequenzen weiterleitet und so fort. Die Vorstellung einer sich durch Medienwandel entkörperlichenden Welt, in deren Epoche das „Erinnerungsjahr 2009“ stattfand und die Geschichtspolitik zu 1989 umgesetzt wurde, erschien so analytisch nicht tragbar und merkwürdig veraltet. Eher war für das „Erinnerungsjahr 2009“ das Gegenteil der Fall: Vieles, das seit den Neunziger Jahren als „verschwunden“ galt, tauchte wieder auf, wurde vermittelt, übersetzt, übertragen – und dadurch wieder konkret vergleichzeitigt. Virtualität heißt demnach auch etwas anderes als Körperlosigkeit. Hinzu tritt, was für ein „Erinnerungsjahr“ und Geschichtspolitik besonders interessant ist, eine zeitliche Dimension der Virtualität, die sich auch in der Geschichtspolitik zu 1989 verstärkt zeigte: „Menschen, aber eben auch Tiere und Maschinen sind im Zeichen der Virtualität nie und nie nur bei sich, in der Aktualität eines Moments, festgelegt auf einen fixen Punkt der Zeitachse. Vielmehr sind sie sich selbst vorweg, sind zum Teil zwar nur geringfügig verschoben, aber immerhin doch hinreichend genug, dass ihre Identität nicht in einem punctum klassischer Zeitphilosophie aufgeht, sondern Horizonte eröffnet, solche eines Verstehens, eines zweckhaften Um-zu, einer Zuhandenheit, einer Welt und nicht zuletzt einer Umwelt […]. Dieser Vorlauf ist aber nicht nur ein denkerisches Konstrukt. Es ist gekoppelt an Dispositionen und Dispositive, bei denen und für die Medien eine zentrale Rolle spielen: Medien und Apparaturen, die Zeit handhaben, die diesen Vorlauf mathematisch umsetzen, voraussagen und diese 30
Am prominentesten geschieht dies in der mittlerweile klassischen, sich schon im Titel gängigen Dekadenzmotiven bedienenden Darstellung von Maier, Charles: Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus. Frankfurt am Main: Fischer 1999.
31
Zum Verhältnis von Virtualität und Wertverlust vgl. Baudrillard 2000.
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Voraussicht berechnen, die Plausibilitäten, Denknotwendigkeiten und Verläufe strukturieren[.] […] Was so in den Blick gerät, ist nicht weniger als das Phänomen der Zeitlichkeit und der Zeit selbst. Zukunft, ob die von Menschen oder die von Daten, wird durch Kalküle der Wahrscheinlichkeit entschieden […].“32
Dass es eine eigene Zeit der Medien gibt, dass Zeitlichkeit durch verschiedene Medienformen unterschiedlich hergestellt wird, darauf hat Wolfgang Ernst hingewiesen.33 Worauf Stefan Rieger in der zitierte Passage anspielt, ist die stochastische Grundlage der Kybernetik34 aus der im 21. Jahrhundert Phänomene wie Big Data wurden, die auf Grundlage gesammelter Daten algorithmisch zukünftige Zustände extrapolieren sollen.35 Auf die hier dargestellten geschichtspolitischen Praktiken übersetzt erschließt sich, warum das Prinzip der Virtualität für die Erinnerung an 1989 kennzeichnend war: Die vermittelten, übersetzten und kanalisierten Zeichen der Vergangenheit 1989 konnten nur deshalb auch Zeichen des Gegenwärtigen und besonders des Kommenden werden, weil sie das „Sich-Vorweg-Sein“ der Virtualität umsetzten, weil sie in Medien der Verzeitlichung auftauchten, weil sie nicht nur Zeichen des Vergangenen, sondern, wie abstrakt oder konkret auch immer, auch Zeichen des Zukünftigen sein sollten, die sich in der Gegenwart des „Erinnerungsjahres 2009“ ausbreiteten. Die Idee des Projekts, die Versprechen der Demokratie, der Freiheit oder der Souveränität waren demnach virtuelle Zeichen. Ein Kommendes, das nicht unbedingt einem Kalkül entspricht, aber das auf der „Datenbasis“ 1989(+/–)2009 hergestellt werden sollte. Insofern operierte in der Geschichtspolitik zu 1989 eine zweifache Bedeutung von Virtualität: Einerseits die vermeintlich „entkörperlichte“, vielmehr aber latent verfüg- und übertragbare Zeichen- und Datenmenge 1989, die in 2009 wieder Präsenz zeigte; andererseits die daran anschließenden und darauf aufbauenden Projekte des Kommenden und Zukünftigen, indem sich die Gegenwart selbst voraus ist. 32 33
Rieger 2003, S. 29 und 81, vgl. auch S. 129ff. Ernst, Wolfgang: Gleichursprünglichkeit. Zeitwesen und Zeitgegebenheit technischer Medien. Berlin: Kadmos 2012 sowie Ernst, Wolfgang: Chronopoetik. Zeitwesen und Zeitgegebenheit technischer Medien. Berlin: Kadmos 2013.
34
Eine der grundlegenden Arbeiten zur Kybernetik behandelt vor allem stochastische Probleme: Wiener, Norbert: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine. Zweite, revidierte und ergänzte Auflage. Düsseldorf/Wien: Econ 1963.
35
Vgl. zu „Big Data“ besonders Morozov, Evgeny: To save everything, click here. The folly of Technological Solutionism. New York: Public Affairs 2013 und den Spiegel-Titel Leben nach Zahlen. Big Data: Wie Staaten und Konzerne berechnen, was wir tun werden. Der Spiegel 20/2013.
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1989 war dadurch doppelt verfügbar: Als in Präsenz versetztes Vergangenes und in Latenz gehaltenes Zukünftiges – beides kulminierend im als Scharnier dienenden „Erinnerungsjahr 2009“. Dass diese Virtualität immer wieder auch praktisch hergestellt wurde durch die hier dargestellten geschichtspolitischen Verfahren, ist das konkrete Ergebnis dieser Darstellung. Der vermeintliche Widerspruch, dass 1989 erst dann als Erinnerungsort Stabilität erlangt, wenn er virtuell immer verfügbar ist, war das treibende Moment der Geschichtspolitik zu 1989. Ob es um 2009 gelungen ist, diese Stabilität herzustellen, mag nun die abschließende Frage sein, die sich aufdrängt. Das ist schwer zu beantworten – nicht zuletzt deshalb, weil Geschichtspolitik kein einfaches Ursache-Wirkung-Schema darstellt, an deren Ende ein klares Ergebnis, ein deutlicher Erfolg oder Fehlschlag steht. Dazu kommt, dass das Projekthafte der Geschichtspolitik zu 1989 eine langfristige Angelegenheit implizierte. Ob nun die „Domino-Aktion“ das Demokratiebewusstsein von Schülern gestärkt hat oder ob das „Lichtfest“ den Wert der Freiheit fest in dem Wertekanon seiner Besucher verankern konnte und wie sich dies konkret ermitteln ließe, scheint daher eine müßige Debatte. Dass sich einige Orte, Motive, Narrative und Sprecher 2009 (re-)institutionalisieren konnten, ist sicher nicht zu bestreiten. So wurde das Leipziger „Lichtfest“ zu einer jährlichen Veranstaltung erhoben. Andere „Events“, wie das „Fest der Freiheit“, waren ohnehin als singuläres Ereignis geplant. Ob ritualisierte oder in Denkmäler verwandelte Erinnerungen langfristig eine stabilisierende Wirkung entfalten können, ob sich die um 2009 anzutreffenden Narrationen auf Dauer durchsetzen werden, derartige Momente lassen sich nur langfristig verfolgen und auf ihren relativen Erfolg hin prüfen. Mit Spannung wird also eine Analyse zu erwarten sein, wie 2014 der 25. Jahrestag von Friedlicher Revolution und Mauerfall gestaltet wurde. Denn auch dort entschied sich das Gelingen des Projekts der Erinnerung an 1989: Als eine Frage der Zukunft.
Epilog
Am 17.6.2013 erreichte mich die folgende E-Mail der netzpolitisch aktiven Unternehmerin Anke-Domscheit Berg über das Online-Petitionsportal Change.org: „1989 wurde das Brandenburger Tor zum Symbol für das Ende eines Überwachungsstaates. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der amerikanische Präsident Barack Obama diesen Mittwoch an diesem Ort eine Rede hält. Unter Obamas Amtsführung erfolgte mit PRISM die umfassendste Überwachung der Kommunikation und Internetnutzung von Staatsbürgern der USA und anderer Länder – auch von uns in Deutschland. Der Präsident verfolgt mehr als jeder Präsident vor ihm Whistleblower wie Bradley Manning. Mein Name ist Anke Domscheit-Berg. Ich habe mich schon als DDR-Bürgerin gegen Überwachung eingesetzt und kämpfe seit Jahren für einen ‚transparenten Staat‘ und gegen den ‚gläsernen Bürger‘. Mit diesem Appell fordern wir, dass Kanzlerin Angela Merkel das Zusammentreffen mit Obama nutzt, um ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Deutschland die Überwachung durch Programme wie PRISM nicht toleriert und sich klar gegen eine Strafverfolgung des PRISMWhistleblowers Edward Snowden ausspricht. Die Bundeskanzlerin muss ein Zeichen setzen! Bitte unterzeichnen Sie diesen Appell und helfen Sie, die Petition zu verbreiten. Wir werden Sie zu weiteren Aktionen auf dem Laufenden halten.“
Das Brandenburger Tor als Freiheitssymbol, die DDR-Biographie als demokratische Meistererzählung, 1989 als Begründung einer Projekterzählung bürgerlichdemokratischen Handelns, der Einbezug neuer Technologien und ihrer politischen Konsequenzen sowie der Aufruf, sich in diesem Zeichen mobilisieren zu lassen: Die Geschichtspolitik zu 1989 setzt sich so auch über 2009 hinaus fort.
Abkürzungsverzeichnis
ADN Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst AFP Agence France-Presse ANSA Agenzia Nazionale Stampa Associata ANT Akteur-Netzwerk-Theorie AP Associated Press APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ARD Allgemeine Rundfunkanstalten Deutschlands BBC British Broadcasting Corporation BKM Beauftragte/r der Bundesregierung für Kultur und Medien in Deutschland BpB Bundeszentrale für politische Bildung BRD Bundesrepublik Deutschland BstU Bundesbeauftragte/r für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik DDR Deutsche Demokratische Republik DHM Deutsches Historisches Museum DPA Deutsche Presse-Agentur DTV Deutscher Taschenbuch Verlag DWD Deutscher Wetterdienst EMA European Music Awards FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH Gemeinschaft mit beschränkter Haftung GPS Global Positioning System IfZ Institut für Zeitgeschichte KP Kommunistische Partei KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion MDR Mitteldeutscher Rundfunk MfS Ministerium für Staatssicherheit MTV Music Television
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NRK Norsk Rikskrinkasting NVA Nationale Volksarmee RIAS Rundfunk im amerikanischen Sektor ROG Reporter ohne Grenzen SAPMO Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR SBZ Sowjetische Besatzungszone SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands StUG Stasi-Unterlagen-Gesetz TVP Telewizji Polskiej UOKG Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft YLE Yleisradio ZDF Zweites Deutsches Fernsehen ZZF Zentrum für Zeithistorische Forschung
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Simon Hofmann Umstrittene Körperteile Eine Geschichte der Organspende in der Schweiz Februar 2016, ca. 340 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3232-3
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.) Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie Dezember 2015, ca. 310 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3021-3
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Sibylle Klemm Eine Amerikanerin in Ostberlin Edith Anderson und der andere deutsch-amerikanische Kulturaustausch Februar 2015, 458 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2677-3
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Carsten Gräbel Die Erforschung der Kolonien Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884-1919 Februar 2015, 406 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2924-8
April 2015, 322 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2847-0
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