100 Jahre Hoher Meissner (1913-2013): Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung (Jugendbewegung Und Jugendkulturen - Schriften) (German Edition) [Annotated] 9783847103332, 9783847003335, 3847103334


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100 Jahre Hoher Meissner (1913-2013): Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung (Jugendbewegung Und Jugendkulturen - Schriften) (German Edition) [Annotated]
 9783847103332, 9783847003335, 3847103334

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Jugendbewegung und Jugendkulturen Schriften

herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Dirk Schumann, Detlef Siegfried, Barbara Stambolis für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«

Band 18

»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften« ist die Fortsetzung der Reihe »Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung». Die Bandzählung wird fortgeführt.

Barbara Stambolis / Jürgen Reulecke (Hg.)

100 Jahre Hoher Meißner (1913 – 2013) Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung

Mit zahlreichen Abbildungen

V& R unipress

Finanziert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0333-2 ISBN 978-3-8470-0333-5 (E-Book) Redaktion: Barbara Stambolis Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Die Meißnerformel in einer grafischen Darstellung des Bundes der Wanderer aus dem Jahre 1930, AdJb B 212 – 063, S. 160. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke Einleitung: Zur Geschichte der Meißnertreffen seit 1913 – ein »Steinbruch der Erinnerung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Barbara Stambolis 1913 – Vorgeschichte, Ereignis und Nachklang im Ersten Weltkrieg

. . .

17

Jürgen Reulecke 1923 – Der Versuch einer politischen Neuakzentuierung im Zeichen des gesellschaftlichen Umbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Barbara Stambolis Die Zwischenkriegszeit: Generationelle Zuschreibungen und Deutungen

159

Jürgen Reulecke 1943 – 1953: Im Schatten nationalsozialistischer Unrechts- und Gewaltherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Jürgen Reulecke Das Meißnertreffen von 1963 – »auf halber Strecke« zwischen 1913 und 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Barbara Stambolis 1988 – Jugendbewegte »Restgeschichte« in der Diskussion

. . . . . . . . 331

Barbara Stambolis Selbsthistorisierung und Ausblick – Das Hundertjahrjubiläum des Meißnerfestes im Oktober 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

6

Inhalt

Verzeichnis der zitierten Quellen Literaturauswahl

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Anmerkung zu den verwendeten Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Personenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Vorwort

Als sich im Jahre 2013 der »Erste Freideutsche Jugendtag« auf dem Hohen Meißner vom Oktober 1913 zum hundertsten Male jährte, fand dieses für die Jugendbewegungsgeschichte höchst bedeutsame Ereignis breite Aufmerksamkeit, die sich nicht nur auf das Meißnerereignis vom Oktober 1913 richtete, sondern gleichzeitig auch auf die im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach begangenen weiteren Meißnerjubiläen. 2013 war die anlässlich des Meißnerfestes von 1988 erschienene umfangreiche Quellenedition »Hoher Meißner 1913«1 bereits vergriffen, also nur noch in Bibliotheken oder antiquarisch zugänglich. Es lag allerdings zu 1913 und zu den folgenden Meißnerereignissen eine Fülle von Einzeldarstellungen und Detailuntersuchungen vor, die deutlich werden lassen, wie facettenreich die inhaltlichen Akzentsetzungen sowie die zeitgeschichtlichen Auseinandersetzungen der Festakteure um das jeweils neu zu inszenierende jugendbewegte Handeln in der Tradition von 1913, aber auch in Abgrenzung davon waren. Die Idee, ein entsprechendes Projekt durchzuführen und einen umfangreichen Dokumentenband zusammenzustellen, gab es bis zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Die angedeutete zeitgeschichtliche Fragestellung lieferte jedoch dann den Impuls, sich der Aufgabe anzunehmen, die wechselvolle hundertjährige Meißnergeschichte in ausgewählten Quellen zu dokumentieren. Eine Archivtagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein im Herbst 2012, bei der sich eine Reihe von Fachleuten verschiedener Disziplinen, die 1963 das Fünfzigjahrjubiläum des Meißnerereignisses als junge Leute selbst miterlebt hatten, damit beschäftigte, die eigenen Erinnerungen als Zeitzeugen und zugleich als abständig-kritische Interpreten zu deuten, gab einen weiteren Anstoß zu einer Quellensichtung in Richtung Meißnergeschichte.2 1 Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Deutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988. 2 S. dazu die Beiträge in: Jürgen Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor: Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung 9, 2012, Göttingen 2014.

8

Vorwort

Hinzu kam, dass 2013 im Umfeld des Hundertjahrjubiläums diverse offene Fragen vor allem auch in Richtung auf die mentalitäts-, generationen- und erfahrungsgeschichtliche Bedeutung der Jugendbewegung insgesamt gestellt und Möglichkeiten ausgelotet wurden, diese – wenigstens ansatzweise – im Rahmen neuerer Forschungsperspektiven zu beantworten. Begleitet wurde die Vorbereitung der nun vorgelegten Quellenedition zudem von der Arbeit an dem im Frühjahr 2013 erschienenen Sammelband »Jugendbewegt geprägt«;3 und ein weiterer Anstoß ging schließlich noch von einer Tagung im Literaturarchiv Marbach im Frühjahr 2013 aus, die sich systematischer, als bisher üblich, jugendbewegten gesellschaftlichen Vernetzungen, Einflussnahmen und auch Prägungen widmete.4 Der Dank der Herausgeber des nun vorliegenden Quellenbandes zu hundert Jahren Meißnergeschichte gilt zunächst Herrn Dr. Stephen Pielhoff für seine engagierten Recherchearbeiten im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein. Außerdem sei Frau Birgit Richter für ihre stets zuverlässige Mitarbeit bei der Beschaffung der Bildvorlagen herzlich gedankt. Ein finanzieller Zuschuss der Sparkasse Hessen-Thüringen für die Recherchearbeit und die Druckkosten haben zudem die Vorarbeiten und das Erscheinen des Buches erheblich erleichtert, wofür sich die Herausgeber ebenfalls herzlich bedanken. Die Entscheidung, die Publikation im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht/unipress in der Schriftenreihe des Archivs der deutschen Jugendbewegung »Jugendbewegung und Jugendkulturen« zu veröffentlichen, ist aufgrund der guten Zusammenarbeit während der Drucklegung zweier Jahrbücher des Archivs der deutschen Jugendbewegung in dieser Reihe zustande gekommen. Dass die Drucklegung des nun vorliegenden Bandes zügig erfolgte, ist das Ergebnis der auch diesmal wieder unkomplizierten Kooperation mit dem Verlag – auch dafür vielen Dank! Barbara Stambolis und Jürgen Reulecke, im Dezember 2014

3 Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013 (Formen der Erinnerung, Bd. 52). 4 Inzwischen ist zum Themenkomplex dieser Tagung ebenfalls ein Sammelband erschienen: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015 (Formen der Erinnerung, Bd. 58).

Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke

Einleitung: Zur Geschichte der Meißnertreffen seit 1913 – ein »Steinbruch der Erinnerung«

Annäherungen an die Geschichte »bewegter Jugend« im 20. Jahrhundert sind – bildlich gesprochen – mit der Arbeit in einem Steinbruch zu vergleichen, in dem zwar bereits seit Jahrzehnten »geschürft, abgetragen und geborgen« worden ist, in dem jedoch auch manche Funde bisher unbeachtet geblieben oder wieder verschüttet worden sind. Jede Archivarbeit ist zwar letztlich immer eine Art Steinbrucharbeit, doch trifft diese Feststellung in einer recht eigentümlichen Weise auf die Geschichte des ersten Freideutschen Jugendtages vom Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner sowie auf die nachfolgenden Erinnerungstreffen im Laufe des 20. Jahrhunderts bis zum hundertstes Jubiläum im Jahre 2013 zu. Auf der Suche nach neuem Quellenmaterial stoßen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ja oft auf historische Gelände und Materialschichten, die bis dahin kaum beachtet worden sind oder erneut offen gelegt werden müssen, nachdem sie sich möglicherweise eine Zeitlang im Kontext einer bestimmten Geschichtserzählung als störend oder gar als unbrauchbar erwiesen haben.1 Die Meißnergeschichte seit 1913 zeichnet diese Erkenntnis in besonderer Weise aus, denn für historisch daran Interessierte – oft mit eigener jugendbewegter Prägung – handelt es sich hier nicht selten um recht persönliche »Steinbrüche der Erinnerung,« in denen sich bisher unachtsam zur Seite gelegtes oder verloren geglaubtes Material wiederfinden lässt, in denen es manchmal aber auch »schwere Brocken« zu heben gilt.2 Diejenigen, die die Hundertjahrfeier dieses für die jugendbewegten Gründungslegenden und Selbstverortungen zentralen erinnerungskulturellen Meißnerereignisses im Jahre 2013 planten und organisierten, waren sich der historischen Bedeutung ihres Tuns offenbar bewusst. Auch sie haben nachweislich, wie das entsprechende Kapitel in dem vorgelegten Band verdeutlicht, im Vorfeld 1 Etienne FranÅois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 118. 2 Constanze Carcenac-Lecomte (Hg.): Steinbruch. Deutsche Erinnerungsorte, Frankfurt a.M. 2000.

10

Einleitung

eine ganz erhebliche »Steinbrucharbeit« geleistet. Wie anders ist sonst zu verstehen, dass sie zur Gestaltung des eindrucksvollen Festaktes am 4. Oktober 2013 am Osthang des Hohen Meißner gemeinsam die »Ode an die Freude« singen ließen? Sie war – wie die Veranstalter recherchiert hatten – auch bereits 1913 gesungen worden! Unbefangene Leser mögen einwenden, diese Vertonung eines Schillergedichts durch Beethoven habe mit seinem würdevollen Pathos doch schon zahlreiche erinnerungskulturell bedeutsame Feierlichkeiten des 20. Jahrhunderts begleitet, sei also nicht wirklich als »besonders« oder als »spezifisch« in jugendbewegten Festzusammenhängen anzusehen. Dagegen lässt sich einwenden, dass 2013 die Aufnahme von Bezugspunkten zum Festgeschehen von 1913 bemerkenswert breit war und beispielsweise auch eine Reihe weiterer Lieder der jugendbewegten Anfangszeit buchstäblich »zitiert« wurde. Der ausdrückliche Blick aus der Perspektive von 2013 auf die Anfänge jugendbewegter Festgeschichte, also auf den Meißnertag von 1913, lässt erkennen, dass sich die Akteure des Meißnerlagers 2013 der Historizität dieses Jubiläums nicht nur bewusst waren, sondern diese auch ausdrücklich betonen wollten. Mit Liedern und Fackeln ließen sie dann bei dem Festakt hundert Jahre Jugendbewegungsgeschichte Revue passieren und setzten dabei in erster Linie auf ein dadurch ausgelöstes sehr spezifisches »Gemeinschaftserlebnis« und keineswegs auf eine analytische Durchdringung einer höchst komplexen »Bewegungsgeschichte«. Gerade deshalb wurden die Veranstalter wohl durchaus dem Festcharakter dieses Ereignisses historisch gerecht, weil sie ephemeren vergangenen Eindrücken unmittelbar vor Ort noch einmal besonderes Gewicht verleihen wollten. Als im Vorfeld von 2013 die Hundertjahrfeier des ersten Freideutschen Jugendtages nicht nur ins Blickfeld jugendbewegter Bünde und einer Reihe älterer, sich der bürgerlichen Jugendbewegung verbunden fühlender Angehöriger verschiedener »Meißner-Erlebnis-Generationen« rückte,3 sondern auch für wissenschaftliche ebenso wie für museale Projekte interessant zu werden begann, entstand auch der Plan, eine mit diesem Band nun vorliegende Dokumentation mit Quellen aus hundert Jahren Meißnergeschichte herauszubringen. Interessierte konnten zwar bereits auf eine ausführlich kommentierte und bebilderte Dokumentation des Ereignisses von 1913 zurückgreifen, die 1988 erschienen war, jedoch mittlerweile vergriffen ist.4 Einen umfassenderen Quellenfundus, 3 Vgl. Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Barbara Stambolis: Jugendbewegte Generationen und Biografien, in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Deutsche Jugend zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26. 09. 2013 bis zum 19. 01. 2014, Nürnberg 2013, S. 200 – 204. 4 Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988.

Zur Geschichte der Meißnertreffen seit 1913

11

der im Sinne des oben angesprochenen »Steinbruchs« die hundertjährige Geschichte des Meißnerfestes und der Meißnerformel widerspiegelte, gab es jedoch bis dahin nicht – einen Quellenfundus, der einen Vergleich zwischen den jeweiligen Abläufen und Inszenierungen sowie symbolischen Präsentationen des jeweils Erinnerungswürdigen einerseits und den durchaus oft auch als »problematisch« empfundenen Traditionslinien und Deutungen andererseits ermöglicht hätte. Tatsächlich stellt der erste Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Jahre 1913 im jugendbewegten »Erinnerungshorizont« bis ins 21. Jahrhundert hinein einen, wenn nicht den zentralen »lieu de m¦moire« dar.5 Den generationenspezifischen jugendbewegten »Erzählungen« zufolge war der Meißner 1913 geradezu der Beginn einer eigenen Zeitrechnung, die mit 1913 als einer Art »Jahr 0« oder »Jahr 1« begonnen habe. Viele Menschen, die sich der Jugendbewegung zugehörig empfanden, haben diese – bezogen auf das Meißnerereignis von 1913 – mit einem »Generationenlabel« versehen: Theodor Wilhelm z. B. sprach von der »Meißner-Generation«6, Hans Bohnenkamp von der »Meißner-Jugend«7 oder Franz Pöggeler von der »Generation des Hohen Meißner«.8 Anlässlich der Verleihung des von Alfred Toepfer gestifteten Hansischen Goethe-Preises9 an Carlo Schmid wurde letzterer in der »Welt« im Jahre 1975 mit folgender Äußerung zitiert, die ein bezeichnendes Licht darauf wirft, dass die Teilnahme am Freideutschen Jugendtag des Jahres 1913 einen Jugendbewegten gewissermaßen »adelte«: »Dieser Tag ist für mich ein glücklicher Tag, sagte Carlo Schmid. Er blickt Herbert Weichmann an und Alfred Toepfer, den Stifter des Hansischen Goethepreises und macht vom Bankett im Atlantik-Hotel 5 Etienne FranÅois, Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1 – 3, München 2001, hier Bd. 1, S. 118; vgl. auch Joachim H. Knoll, Julius H. Schoeps (Hg.): Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Opladen 1988, darin Joachim H. Knoll: Typisch deutsch? Die Jugendbewegung. Ein essayistischer Deutungsversuch, S. 11 – 35; Im Übrigen sei »auffällig, daß Jugendbewegung – sehen wir … vom Scoutismus ab, sich nur in deutschsprachigen Ländern entfalten konnte.« S. 17. Was denn nun typisch deutsch ist, erscheine hier durchaus problematisch: mittelalterliche Rittergesinnung, romantischer Jugendkult, volkstumhafte Rückerinnerungen an die geschichtliche Vergangenheit, Führer- und Gefolgschaftsideologie … S. 17 f. 6 Theodor Wilhelm: Der geschichtliche Ort der deutschen Jugendbewegung, in: Kindt: Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, S. 7 – 29, hier S. 14. 7 Hans Bohnenkamp: Zum Selbstverständnis der Meißner-Jugend (1963), in: Johanna Harder, Helmut Kittel, Horst Kittel (Hg.): Herausgefordert. Aufsätze aus 25 Jahren von Hans Bohnenkamp, Osnabrück 1973, S. 37 – 43. 8 Franz Pöggeler : Macht und Ohnmacht der Pädagogik: 1945 – 1993. Im Spannungsfeld zwischen Erziehung, Politik und Gesellschaft. Ein Erfahrungsbericht, S. 206 (unter Hinweis u. a. auf Alfred Toepfer). 9 Susanne Hornfeck (Bearb.): Der Hansische Goethe-Preis. 1949 – 1999. Alfred-Toepfer-Stiftung FVS (FVS = Freiherr vom Stein) Hamburg 1999; Georg Kreis (Hg.): Alfred Toepfer – Stifter und Kaufmann. Bausteine einer Biographie, Hamburg 2000.

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Einleitung

weg einen Gedankensprung über sechs Jahrzehnte: Wir waren alle drei auf dem Hohen Meißner.«10 Ähnlich wie die Teilnahme an »Meißnerereignissen« – sei es 1913, 1923 oder in den darauf folgenden weiteren Jubiläumszusammenhängen – erschienen also für eine ganze Reihe derjenigen, die sich als »jugendbewegt geprägt« verstanden, der Meißner und die so genannte »Meißnerformel« von 1913 als in hohem Maße bedeutsam: »Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.« Diese Formel erwies sich insofern als ein historisches »Phänomen«, als sie nicht nur – trotz oder wegen ihrer Bedeutungsoffenheit – in allen Jubiläumskontexten gleichsam »dekliniert« wurde, sondern sie schien es wert zu sein, trotz zeitgeschichtlicher Brüche im 20. Jahrhundert und mit diesen einhergehenden katastrophenreichen, individuell-lebensgeschichtlichen wie generationellen Erfahrungen, immer wieder neu mit Kommentaren und Erklärungen bedacht zu werden. Besonders bemerkenswert ist nicht zuletzt die Abwandlung der Meißnerformel von einem deutsch-jüdischen Jugendbund, dem deutschen Vortrupp, aus dem Jahre 1933, als Juden in Deutschland bereits ausgegrenzt und zutiefst verunsichert waren: »Wir jungen jüdischen Deutschen wollen aus uns gewordener Bestimmung, in Verantwortung vor der Geschichte, mit innerer Wahrhaftigkeit das Leben gestalten. Für das Anrecht der deutschbewußten Juden auf Gliedschaft im deutschen Vaterland treten wir unter allen Umständen ein.«11 Dokumente, die in diesen Zusammenhängen weiteren Aufschluss geben könnten, wurden allerdings im Archiv der deutschen Jugendbewegung bisher nicht gesammelt; sie ausfindig zu machen, wäre sicher eine interessante Aufgabe, derer sich Irmgard Klönne anzunehmen begonnen hat. Sie hat beispielsweise darauf verwiesen, dass die Meißnerformel für Menachem [Hermann] Gerson, den Führer des deutsch-jüdischen Jugendbundes Kameraden und später der Werkleute, eine geradezu existentielle Bedeutung gehabt habe.12 Dass es eine ganze Reihe von Quellen gibt, die ebenfalls noch nicht im Archiv der deutschen Jugendbewegung vorhanden sind, zeigt sich etwa auch am Beispiel einiger Stellungnahmen aus dem völkischen Lager zum ersten Freideutschen Jugendtag, auf die Uwe Puschner, Peter Dudek und Ulrich Linse auf10 Rundschreiben des Freideutschen Kreises 150, 1975, S. 47. 11 Siehe das Kapitel zur Zwischenkriegszeit in vorliegenden Band. 12 Irmgard Klönne: Jugendbewegung und Realitätserfahrung: Von der deutsch-jüdischen Jugendbewegung zur Kibbuzgesellschaft, in: Yotam Hotam (Hg.): Deutsch-Jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«, Göttingen 2009, S. 121 – 141, hier S. 121.

Zur Geschichte der Meißnertreffen seit 1913

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merksam gemacht haben.13 Linse zitiert etwa aus einer im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung befindlichen Rede eines Mitglieds der Fahrenden Gesellen anlässlich einer Sonnwendfeier im Jahr 1920 den dort formulierten Appell, man solle endlich den »kraftvollen Meissnergedanken der deutschen Jugend« von 1913 ernst nehmen.14 Gab es andere »Formeln«, die ähnlich oft zitiert und interpretiert wurden? Die Neupfadfinder definierten zum Beispiel 1919 ihr Selbstverständnis in anderer Weise, wenngleich durchaus auch formelhaft. »Die Neupfadfinderschaft ruht auf den Säulen brüderlicher Gemeinschaft, treuer Gefolgschaft, verantwortungsvollen Führertums. Unsere Lebensweise ist herb und kraftvoll. Der neue Mensch und das neue Reich stehen als Ziel vor ihr.«15 Der aus jugendbewegten Kontexten entstandene Leuchtenburgkreis verfasste 1921 eine »Leuchtenburg-Formel« mit dem Wortlaut: »Durch Liebe, Wahrheit und Reinheit zur Arbeit und Einheit«.16 Auch der Bundestag des deutsch-jüdischen Wanderbundes Blau Weiß verabschiedete 1922 auf seinem Bundestreffen auf Schloss Prunn bei Regensburg ein ausführliches Bundesgesetz, das allerdings keinen Formelcharakter hat, sondern eher einer Satzung gleicht.17 In einem Band mit dem Titel »Manifeste der Jugend« beschäftigte sich für die katholische Jugend beispielsweise damals Romano Guardini mit den Grenzen der Akzeptanz der Meißnerformel in konfessionellen Jugendgruppen, die ausdrücklich benannt und dann auch von ihm gedeutet wurden.18 Ein vergleichbares Dokument mit 13 Vgl. Peter Dudek: Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 2012, S. 213; Uwe Puschner : Völkische Bewegung und Jugendbewegung. Eine Problemskizze, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, Berlin, Boston 2014, S. 9 – 28, bes. S. 14 – 20; ders.: Der Erste Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner am 11. und 12. Oktober 1913, in: Philippe Alexandre, Reiner Marcowitz (Hg.): L’Allemagne en 1913: culture m¦morielle et cultur d’avant-guerre/ Deutschland im Jahre 1913: Erinnerungs- und Vorkriegskultur, Nancy 2013, S. 139 – 155. 14 Ulrich Linse: Völkisch-jugendbewegte Siedlungen im 20. und 21. Jahrhundert, in: Botsch, Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik, S. 29 – 73, hier S. 34; Nachlass Kurt Gellert. 15 Zit. nach Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern, München, Wien 1964, S. 206. Vgl. Jürgen Reulecke: Hie Wandervogel – hie Pfadfinder. Die Meißnerformel 1913, das Prunner Gelöbnis 1919 und die Reformer Franz Ludwig Habbel und Martin Voelkel, in: Jürgen Reulecke, Hannes Moyzes (Hg.): Hundert Jahre Pfadfinden in Deutschland (Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 6, 2009), S. 61 – 75. 16 Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 25. 17 Das Gesetz von Blau Weiß. Das Bundesgesetz von Prunn, in: Jüdische Rundschau Nr. 14, 1922, S, 77. 18 Romano Guardini: Neue Jugend und katholischer Geist, in: Willy Bokler (Hg.): Manifeste der Jugend, Düsseldorf 1958, S. 11 – 15; im Vorspann zu Guardinis Überlegungen: Hoher Meissner : 1913. Geschichte und Erbe. Freideutscher Jugendtag und Hoher Meissner. Meissner Formel, ebd.

14

Einleitung

Formelcharakter aus der katholischen Jugend gab bzw. gibt es allerdings wahrscheinlich nicht. Was also – noch einmal anders gefragt – könnte ein Grund für die Attraktivität der Meißnerformel gewesen sein? Hans Bohnenkamp hat folgende Antwort zu geben versucht: Unter der Überschrift »Künftige Gesellschaft und freideutsche Tradition« reflektierte er 1970 die Chancen einer »humanen Gesellschaft« angesichts »originärer«, das heißt selbsterfahrener Geschichte im 20. Jahrhundert.19 Was er unter »originär« verstand, erläuterte er am Beispiel der Meißnerformel, die er folgendermaßen umschrieb: »›Eigene Bestimmung‹ und ›eigene Verantwortung‹ meinen die Freiheit der Person, ›innere Wahrhaftigkeit‹ meint deren Bindung an originär erfasste Wahrheit und ein daraus genährtes Gewissen.«20 Walter Laqueur, selbst »Insider«21 und zugleich einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Kenner der Jugendbewegungsgeschichte, schrieb 2013: »Es war eine erhabene Formel, die sich die Jugend gab, doch ›eigene Bestimmung‹, ›innere Wahrhaftigkeit‹ und ›innere Freiheit‹ bedeuten verschiedenen Menschen verschiedene Dinge.«22 Laqueur hatte sich bereits 1960 »reisend« einem seiner künftigen wissenschaftlichen Schwerpunkte, nämlich der Jugendbewegung, angenähert.23 Er beschrieb damals in einem Reisebericht Eindrücke seiner Begegnungen auf dem Weg zum Hohen Meißner, bei denen er u. a. auf eine Gruppe der dritten oder wohl auch schon vierten Generation Jugendbewegter traf. Wie war es möglich, so fragte er sich, dass immer noch – wie schon gegen Ende der Weimarer Republik – das Lied »Die grauen Nebel hat das Licht durchdrungen« gesungen wurde? Er formulierte daraufhin Forschungsfragen, auf die er auch selbst seither immer wieder neue Antworten zu geben versucht hat, Fragen wie z. B. danach, was aus der Jugendbewegung eigentlich »herausgekommen« sei, was ihren Kern ausgemacht habe: ein »Erlebnis«, eine »Erziehungsform«, eine

19 Hans Bohnenkamp: Künftige Gesellschaft und freideutsche Tradition. Vortrag vor dem Freideutschen Kreis in Hamburg am 18. 1. 1970, Nachlass Bohnenkamp AdJb, 108. 20 Ebd., S. 3. 21 Siehe Micha Brumlik: Walter Laqueur, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 443 – 450. 22 Walter Laqueur : Junge Revolutionäre. Die Jugend vor hundert Jahren, in: Die Welt vom 20. 4. 2013. 23 Vgl. Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung: Eine historische Studie (1962). 2. unveränd. Aufl. Köln 1978 (engl. Ausgabe unter dem Titel: Young Germany. A History of the German Youth Movement. New York 1962); Walter Laqueur: Jugendbewegung. Betrachtungen auf einer Reise, in: Der Monat Heft 142, Juli 1960, S. 51 – 58, hier S. 51. Vgl. auch ders.: Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit. Begegnungen mit Schlesien und dem Utopia der Jugendzeit, Berlin 1964; Wanderer wider Willen. Erinnerungen 1921 – 1951, Berlin 1995; Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin 2000; sowie: Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin 2001.

Zur Geschichte der Meißnertreffen seit 1913

15

»Vielfalt von Bünden« oder ein »Freundschaftsbund«24, und ab wann sie ihre gesellschaftliche Relevanz allmählich eingebüßt habe … Solche und manche weiteren Fragen lassen sich – so jedenfalls die Vorstellung der Herausgeber des vorgelegten Bandes – anhand der hier publizierten Quellenauszüge25 zwar nicht umfassend beantworten, vielleicht aber doch zumindest konkretisieren und differenzieren. Nicht zuletzt gilt es, die jeweiligen zeitgeschichtlichen und generationellen Jubiläumskontexte zu berücksichtigen. Außerdem sollte es möglich gemacht werden, den Blick auf das Geschehen systematischer, als dies bislang geschehen ist, auf Spezifisches in den Festprogrammen und Festsymboliken sowie deren Veränderungen zu richten. Zudem war bei der Auswahl nach den Unterschieden zwischen Innen- und Außenwahrnehmungen oder nach den Akteuren und ihren Kontroversen zu fragen. Auf diese und weitere Aspekte haben die Herausgeber zu den in sieben Blöcke gegliederten Kapiteln in jeweils kurzen Einleitungen Bezug genommen. Hingewiesen wird dort auch auf weitere, hier jedoch oft aus Gründen der Umfangsbeschränkung des Bandes nicht berücksichtigte Untersuchungsgesichtspunkte. Im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein, auf deren Bestände sich die vorliegende Dokumentation im Wesentlichen stützt, befindet sich besonders umfangreiches Material zur gesamten Meißnergeschichte im 20. Jahrhundert, das hier deshalb nur in einer Auswahl präsentiert werden kann. Auf den immens umfangreichen und für die beteiligten Generationen damals typischen Briefwechsel zum Meißnerereignis von 1963 kann z. B. daher nur mit wenigen Beispielen eingegangen werden. Die Auseinandersetzungen etwa zwischen Gustav Wyneken und Knud Ahlborn böten Material für eine eigene Darstellung … Dass die visuelle Quellenüberlieferung zu den einzelnen Ereignissen unterschiedlich dicht ist, muss wohl ebenfalls nicht besonders hervorgehoben werden. Das Bildgedächtnis der Jugendbewegung wurde und wird bisher vor allem von Fotografien aus dem Archivbestand von Julius Groß »dominiert«, was auch für den Meißner von 1913 gilt. 1963 und 1988 hielten nicht zuletzt zwei Filme das Ereignis fest, und 2013 gab es zudem außer einem Dokumentarfilm des Senders Phoenix eine Fülle von temporärem Bild-Material im Internet. Subjektiv gehaltene persönliche Berichte, die für 2013 durchaus im digitalen »Web« zeitnah und unmittelbar entstanden, liegen für die früheren Jubiläen dagegen kaum vor. Möglicherweise befinden sie sich noch in Privatbesitz. Tagebuchnotizen oder private Fotoalben, die Eindrücke von der Meißnerteilnah24 Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung, S. 57. 25 Wenn irgend möglich, wurde das Original bzw. die Erstveröffentlichung zugrunde gelegt. Die Auslassungen in den Texten sind durch Auslassungszeichen in runden Klammern (…) gekennzeichnet. Fußnoten in den Vorlagen sind in eckige Klammern gesetzt worden. Die Schreibweise der Vorlagen wurde beibehalten, d. h. nicht an die aktuellen Rechtschreibregeln angepasst.

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Einleitung

me wiedergeben, sind bisher ebenfalls ein Desiderat – warum, so könnte man fragen, denn Fotoalben zu Großfahrten Bündischer liegen beispielsweise in größerer Zahl vor. Erschien das Meißnerfest für individuelle Erinnerungen weniger interessant? Und auch die Frage, inwieweit Angehörige der Arbeiterjugend oder von deutsch-jüdischen Jugendgruppen auf den Freideutschen Jugendtag 1913 sowie die Meißnerformel Bezug genommen haben, ist – wie bereits angedeutet – nur ansatzweise angesprochen worden, aber anhand des gesammelten Materials auch nicht hinreichend zu beantworten. Ob es weitere formelhafte Erklärungen mit ähnlich breitem Widerhall z. B. in der katholischen Jugend gegeben hat, ist, wie ebenfalls oben bereits gefragt wurde, ein weiteres Desiderat, das zu erforschen reizvoll sein dürfte. Und auch die Gründe, weshalb Pfadfindergruppen, die 1913 auf dem Hohen Meißner noch keine Rolle gespielt haben, 2013 zu den Hauptakteuren des Meißnerfestes gehörten, wären einer detaillierteren Untersuchung wert – dies nicht zuletzt deshalb, weil die Pfadfinder nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit einem eigenen »Gesetz« ein Selbstverständnis deutlich werden ließen, das mit der Meißnertradition und Meißnerformel kaum in Übereinstimmung zu bringen ist. Insofern möge der hier vorgelegte Quellenband Anregungen bieten und für die wissenschaftliche Forschung sowie für interessierte Laien eine Aufforderung darstellen, Fragen im Hinblick vor allem auf die allgemeine Erfahrungs- und Generationengeschichte der historischen Jugendbewegung nachzugehen. Nicht zuletzt bietet es sich an, sich speziell der Geschichte des Erinnerns an den Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 sowie der jeweiligen Typik der sich auf dieses Ereignis beziehenden Feste bis 2013 zuzuwenden.

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Als im Herbst 1913 ungefähr dreitausend junge Menschen zum Meißner in Nordhessen, der seither »Hoher Meißner« genannt wird, aufbrachen und dort am 13./14. Oktober den »Ersten Freideutschen Jugendtag« veranstalteten, der zu einem Schlüsselereignis in der Geschichte der Jugendbewegung werden sollte, hatte die Jugendbewegung bereits eine durchaus bemerkenswerte Resonanz in den Reihen vor allem bürgerlicher Heranwachsender und junger Erwachsener gefunden. Nicht zuletzt höhere Schüler hatten begonnen, sich in ihrer freien Zeit im »Wandervogel« wenigstens stunden- oder tageweise väterlicher Kontrolle und den rigorosen Anforderungen der höheren Schule mit deren Drill und Gehorsamserziehung zu entziehen.1 Diese Ansätze eines jugendlichen »Aufbruchs« fügten sich in damalige pädagogische und lebensreformerische Initiativen, die gesellschaftliche Veränderungen – oft nicht konkret programmatisch, sondern vielmehr diffus und bedeutungsoffen – in einem ganz allgemeinen Sinne zukunftsoptimistisch auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Jugend verkörpere »Daseinsfreude, Genussfähigkeit, Hoffnung und Liebe, Glaube an die Menschen. Jugend ist Leben, Jugend ist Farbe, ist Form und Licht.«2 Mit solchen und ähnlichen Worten fanden bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hohe Erwartungen, bezogen auf die Hoffnung gesellschaftlicher Veränderungen, ihren Ausdruck, die von der »jungen Generation« ausgehen sollten. Licht-, Luft- und Sonne-Bäder oder das Wandern in der freien Natur wurden propagiert und zunehmend Heranwachsenden ein Freiraum jenseits elterlicher und schulischer Einflussnahme zugestanden. Gedämpft wurde diese gesell1 Vgl. Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung: Eine historische Studie (1962), 2. unveränd. Aufl. Köln 1978 (engl. Ausgabe unter dem Titel: Young Germany. A History of the German Youth Movement, New York 1962). Zur Einordnung in den Kontext der Jahrhundertwende: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998; Kai Buchholz u.a (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde. Darmstadt 2001. 2 Georg Hirth, Fritz von Ostini: Jugend, Jugend! In: Jugend. Münchner Wochenschrift für Kunst und Leben, 1. Jg. 1896, Heft 1, S. 2 – 5, hier S. 4.

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schaftliche Grundbefindlichkeit jedoch durch die Tatsache, dass Industrialisierung und Verstädterung zu spezifischen katastrophalen Lebensbedingungen weiter Teile der Bevölkerung und zu massiven Umweltbelastungen im weitesten Sinne beigetragen hatten. Widersprüchliche Erwartungen sind also für die Jahrhundertwende typisch, für die in treffender Weise auf die Metapher des Januskopfes verwiesen wird, um die Gegensätze beziehungsweise die Doppelgesichtigkeit der damaligen Zeit zu betonen. 1913 zeichnete sich zudem deutlich ab, dass Deutschland möglicherweise auf einen Krieg zusteuerte, der einerseits herbeigeredet und andererseits prophetisch als Katastrophe vorausgeahnt wurde. Von nationaler Euphorie getragen, erinnerte die politische Öffentlichkeit an das Jahr 1813. In der Nähe von Leipzig wurde zum Beispiel am 18. Oktober 1913 nach rund 15 Jahren Baugeschichte das Völkerschlachtdenkmal eingeweiht – nicht weit entfernt von jenem Schlachtfeld, auf dem 1813 rund 500.000 Soldaten (Franzosen, Russen, Preußen, Österreicher, Engländer und Schweden) gekämpft und viele ihr Leben gelassen hatten. Die Feierlichkeiten in Anwesenheit des Kaisers, im Wesentlichen von nationalen Vereinen wie etwa den Verbänden der Turner dominiert und von studentischen Verbindungen unterstützt, bildeten den Höhepunkt einer ganzen Reihe von nationalen Feierlichkeiten in Berlin und in der Provinz, nicht zuletzt veranstaltet in zahlreichen Schulen. Die wuchtig-quadratische, mit zwölf riesigen Kriegergestalten sowie Allegorien von »Tapferkeit«, »Opferfreudigkeit«, »Glaubensstärke« und »Volkskraft« versehene »architektonische Burg«, aufgeladen in hohem Maße mit nationalreligiöser Symbolik, verlieh der nationalen Selbstdarstellung des Kaiserreichs ebenso Ausdruck wie das Motto dieser nationalen Feierlichkeiten: »Lasset uns kämpfen, bluten und sterben für Deutschlands Einheit und Macht.«3 Vor diesem konkreten Hintergrund fand also auf dem Meißner, einem 600 Meter über dem Werratal gelegenen Bergrücken östlich von Kassel, am 13. und 14. Oktober 1913 der erste Freideutsche Jugendtag statt, an dem Mitglieder von insgesamt zwölf jugendbewegten, lebensreformerisch und reformpädagogisch inspirierten Gruppen unter Beteiligung einer Reihe älterer Anreger und Förderer teilnahmen. Sie repräsentierten die etwa 25.000 Mitglieder damaliger jugendbewegter Gruppen: Wandervögel, zudem dem Schulalter entwachsene Studierende, die sich in jugendbewegtem Selbstverständnis in der Akademischen Freischar (1907 gegründet), dem Bund abstinenter Studenten (1902) oder der Akademischen Vereinigung (1912) zusammengefunden hatten. Auf dem Meißner herrschte 1913 allerdings nicht die allgemein am Vorabend des Ersten Weltkriegs verbreitete nationale Hurra-Atmosphäre. Hier sollte 3 Zit. bei George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1976, S. 84.

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vielmehr ein »Fest der Jugend« stattfinden. Veranstalter und Teilnehmer sahen sich damit in der Tradition der Feste der deutschen Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts, bei denen – anders als bei den Nationalfesten nach Gründung des Kaiserreichs 1870/71 – »Freiheit« noch für wichtiger erachtet wurde als nationale »Einheit«. Auf dem Meißner sollte – bewusst als Gegenveranstaltung gegen die nationalen Feiern 1913 wie zum Beispiel in Leipzig in Erinnerung an das Jahr 1813 – ein Fest der Jugend, in der Tradition der »Feste eines freien Volkes unter freiem Himmel« zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie z. B. auf der Wartburg 1817 oder in Hambach 1832 stattfinden. So erinnerte sich die Teilnehmerin Martha Hörmann, die dem Sera-Kreis angehörte, mit folgenden Worten an ein »festlich buntes Bild« im Oktobernebel: »Wettkämpfe und Reigentänze überall. Mittags wurde in Gruppen abgekocht, und der Rauch der Feuerstätten mischte sich mit den aufsteigenden Nebeln. Man ging von Gruppe zu Gruppe und traf überall Freunde.« Die öffentlichen Reaktionen während und nach dem Meißnerfest 1913 waren gespalten. In der auflagenstarken Familienzeitschrift »Die Gartenlaube«, in der über die Feierlichkeiten in Leipzig und auf dem Meißner berichtet wurde, hieß es z. B., es bestehe zwar ein gewisses Misstrauen von Seiten Erwachsener gegen diese »Freiheitsbewegung« der Jugend und es sei auch noch nicht klar zu erkennen, wie sich diese »Revolte« gegen die Zwänge der Schule entwickeln werde. Dennoch: Die Tatsache, dass sie ihren Anspruch auf jugendliche Freiräume zum Wandern nutze, stelle nun wirklich »keinen Missbrauch der Freiheit« dar. Bedenklich sei lediglich »die gar so radikale Selbstverständlichkeit, mit der Mädchen und Knaben (…) beieinander« gewesen seien. Solche Vermutungen, die Jugendbewegung werde möglicherweise ›Unordnung‹ stiften, lösten sogar eine Parlaments-Debatte aus: Zu Beginn des Jahres 1914 befasste sich der Bayerische Landtag in mehreren Sitzungen mit der Jugendbewegung. In einer öffentlichen Sitzung in der Münchener Tonhalle betonte der Heidelberger Soziologe Alfred Weber (1868 – 1958), es handele sich um einen »Strom«, der sich in der »Bewegung des Wanderns« Bahn gebrochen habe: Die Anhänger der Jugendbewegung wollten weder die Autorität des Staates noch der Schule untergraben. Die Angst der Eltern vor Autoritäts- und Kontrollverlust bei ihren Kindern sei unbegründet. Weber warb also für Verständnis gegenüber der Begeisterung und dem Idealismus, mit dem junge Menschen »aus grauer Städte Mauern« aufbrachen, um in Gruppen Gleichaltriger ihre Erfahrungshorizonte zu erweitern. Die »Meißnerformel«, mit der die freideutsche Jugendbewegung am Vorabend des Meißnerereignisses 1913 ihr Selbstverständnis auf den Punkt zu bringen versuchte, ist bis heute viel zitiert und oft gedeutet worden. Wahrscheinlich eignet sie sich deshalb so gut für Neuinterpretationen, weil sie in hohem Maße bedeutungsoffen ist. Sie lautet wörtlich: »Die Freideutsche Jugend

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will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.« Eine Teilnehmerliste für das Meißnerfest 1913 gibt es nicht, ein auch nur annäherungsweise vollständiges Verzeichnis wird sich wohl kaum noch erstellen lassen. Als prominente Meißnerfahrer des Jahres 1913 nachzuweisen sind u. a. Siegfried Bernfeld (1892 – 1952), Hans Bohnenkamp (1893 – 1977), Hans Freyer (1887 – 1969), Manfred Hausmann (1908 – 1986), Alfred Kurella (1895 – 1975), Hermann Schafft (1883 – 1959), Alfred Toepfer (1894 – 1993), Hermann Weichmann (1896 – 1983) und Friedrich Wolf (1888 – 1953). Als einer der letzten Meißnerfahrer des Jahres 1913 hat Alfred Toepfer noch an dem 75-Jahr-Jubiläum im Herbst 1988 teilgenommen. Dem Lebensreformer Hans Paasche (1881 – 1920) kommt unter den Meißnerfahrern des Jahres 1913 insofern eine Sonderrolle zu, als er in seiner Schilderung der fiktiven »Forschungsreise« des Afrikaners Lukanga Mukara »ins innerste Deutschland« dem Jugendfest auf dem Meißner ein ganzes Kapitel widmete, welches als literarisches Dokument in der Tradition der »Persischen Briefe« einen »ethnographischen Blick« von außen auf das Ereignis festhält. Kriegsfurcht und Kriegshoffnung kamen nicht zuletzt in dem Beitrag von Ludwig Klages (1872 – 1956) zur Meißnerfestschrift 1913 zum Ausdruck.4 Er sprach einerseits von einem »Kriegsgespenst«, »geharnischt, mit bleichem Totengesicht und blutigen Haaren.« Andererseits glaubte er, es werde ein »unerhörter Kampf zwischen Altem und Neuem beginnen«, der zu begrüßen sei, denn dessen Ausgang komme einem umfassenden Reinigungs- und Erneuerungsakt gleich. Klages formulierte diesen Gedanken gleichsam als Vision: »Wunder werden zuletzt geschehen um der Gerechten willen, bis endlich die neue und doch ewig alte Sonne durch die Gräuel bricht; die Donner rollen nur noch fernab an den Bergen, die weiße Taube kommt durch die blaue Luft geflogen, und die Erde hebt sich verweint wie eine befreite Schöne in neuer Glorie empor.« Bezeichnend für den Zwiespalt, in dem sich viele junge Männer, unter ihnen zahlreiche jugendbewegte, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges befanden, ist ein Telegramm, das jugendbewegte Studenten am 28. Juli 1914 an Kaiser Wilhelm II. (1859 – 1941) schickten und in dem sie mitteilten, das Ver-

4 Darauf, dass Klages’ Text »Mensch und Erde« im Laufe der Jahrzehnte textliche Veränderungen erfahren hat, sei an dieser Stelle hingewiesen. Der hier vorgelegten Quellensammlung liegt die Erstveröffentlichung zugrunde; vgl. die Anmerkungen zu dem in diesem Band auszugsweise abgedruckten Text.

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hängnis eines europäischen Krieges müsse vermieden werden.5 Dieser Appell hinderte die Unterzeichner jedoch nicht, nur wenig später »zu den Waffen zu eilen«. In der politisch aufgeheizten Atmosphäre vor Kriegsausbruch konnten sich die meisten Zeitgenossen letztlich offenbar nicht von der dominierenden Auffassung distanzieren, Deutschland sei inzwischen von Feinden umkreist und müsse seinen »Platz an der Sonne« ebenso wie seine »Zukunft auf dem Wasser« auch mit den kriegerischen Mitteln behaupten und erweitern – Forderungen, die deutlich mit einer zunehmenden »Verhärtung des Männerideals« einhergingen.6 Martha Hörmann (1888 – 1971), Chronistin des jugendbewegt-lebensreformerischen Sera-Kreises, erinnerte sich rückblickend an den Sommer des Jahres 1914 als letzten Friedenssommer mit Sommerfesten, Kahnfahrten und Wanderungen, aber auch an die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo im Juni und dann jene Tage Ende Juli 1914, als fast nur noch vom Krieg gesprochen worden sei: Ein Fieber habe, so Hörmann, alle ergriffen, es seien fast nur noch Soldatenlieder gesungen worden, ohne den Ernst mancher Strophe zu begreifen. Viele Jugendbewegte hätten die »große Fahrt« und den Ernst des Krieges zunächst nicht zu unterscheiden vermocht. Allerdings machten der Aufbruchsstimmung und Begeisterung des Jahres 1913 vielfach bereits wenige Monate nach Kriegsausbruch Ernüchterung und Trauer um den Tod von Freunden und Söhnen Platz, wie u. a. den Tagebucheinträgen von Käthe Kollwitz (1867 – 1945) zu entnehmen ist. Ihr jüngerer Sohn, Peter Kollwitz, der an dem Freideutschen Jugendtag teilgenommen hatte und bei Kriegsausbruch freiwillig Soldat geworden war, fiel in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1914 in Belgien. Der Publizist und Kunstkritiker Ferdinand Avenarius (1856 – 1923), Meißnerfahrer des Jahres 1913, gehörte zu denjenigen, die im Herbst 1914 an den »Meißnerschwur« des Vorjahres erinnerten, der nun bereits zu einer wehmütigen Erinnerung an Friedenszeiten geworden sei. Aus der Sicht von Christian Schneehagen (1891 – 1918), einem der Mitinitiatoren des Meißnerfestes von 1913, ging es im Krieg – und das noch um das Jahresende 1914/15 – vor allem darum, dem »großen Wollen vom Hohen Meißner« treu zu bleiben und ein »guter Soldat« ebenso wie »ein echter Freideutscher« zu sein. 1917 und ein weiteres Mal 1919 stellte der Verleger und Schriftsteller Walter Hammer (1888 – 1966) eine Verbindung zu dem Meißnerereignis von 1913 her und versuchte 5 Der genaue Wortlaut ist nicht überliefert. Angaben über den Inhalt stützen sich auf den etwa zehn Jahre später von Knud Ahlborn (Freischar) rekonstruierten Text. Thomas Fenske: Der Verlust des Jugendreiches. Die bürgerliche Jugendbewegung und die Herausforderung des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 16, 1986/87 S. 200 f. 6 Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München, Wien 1998, S. S. 389.

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dabei, dem »Westdeutschen Jugendtag« Anfang August des Jahres 1917 auf der Loreley die Bedeutung als »Brücke« in eine höchst ungewisse Zukunft nach Kriegsende zuzuschreiben. An dem nicht genau datierbaren autobiographisch gefärbten Rückblick des Verlegers Eugen Diederich lässt sich allerdings unschwer erkennen, dass bereits während der Vorbereitung der offiziellen Meißnerfestschrift des Jahres 1913, die im Verlag Diederichs erschien, erhebliche Differenzen bestanden, wessen Sichtweisen in die offizielle Narratio der Festgeschichte eingehen sollten. Gustav Wyneken (1875 – 1964) und Knud Ahlborn (1888 – 1977) zum Beispiel standen, wie an dieser Stelle lediglich angedeutet werden kann, bis in die 1960er Jahre hinein in Auseinandersetzung um die Deutung des Meißnerereignisses 1913 als eine der Ursprungslegenden der bürgerlichen Jugendbewegung in einem ausgesprochenen Konkurrenzverhältnis zueinander. Die im Folgenden abgedruckten Quellentexte und Textauszüge stellen lediglich eine kleine Auswahl aus einer Fülle zeitnaher Dokumente zum ersten Freideutschen Jugendtag dar. Umfangreiches Material befindet sich in den Nachlässen von Gustav Wyneken und Knud Ahlborn im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb).7 Neben der Tagespresse, deren Meißner-Berichterstattung ausgesprochen ausführlich war und vielleicht nur noch eine Parallele in der ebenfalls recht breiten Außenwahrnehmung des Meißnerfestes von 1963 hat, war die Resonanz in einer Reihe jugend- und reformbewegter Zeitschriften vielfältig und aussagekräftig, nicht zuletzt im »Wanderer«, im »Anfang«, »Vortrupp«, »Kunstwart« und in der »Aktion«, die im AdJb zu finden sind. Leser, die beispielsweise zeitnahe Stellungnahmen von Paul Natorp (1888 – 1977) oder Hermann Popert (1871 – 1932) vermissen, werden auf diesem Wege fündig.8 Aus einer sympathisierenden reformpädagogischen Sicht liefert ein Bericht in der Zeitschrift »Der Säemann« einen differenzierten Überblick, in dem sowohl der Ablauf des Festes geschildert als auch über die »Bedeutung« des Festes reflektiert wird, während aus der Sicht eines offensichtlich nachhaltig beeindruckten Teilnehmers in einem weiteren Bericht in derselben Zeitschrift die wohl durchaus von vielen geteilte Stimmungslage zum Ausdruck kommt, dass er an einem eindrucksvollen jugendlichen Aufbruch teilgenommen hat, wörtlich: »Als ich vom Hohen Meißner herabstieg, erkundigte sich ein alter Bauer nach den Veranstaltungen. ›Ein närrisches Fest‹, sagte er, weil er nicht bemerkte, daß 7 Der Nachlass Ahlborn (N 2 AdJb) ist bereits seit längerer Zeit erschlossen, der Nachlass Wyneken (N 35 AdJb) wurde erst kürzlich detailliert verzeichnet, nicht zuletzt unter den Nummern 1656 bis 1668. 8 Beispielsweise Paul Natorp: Freideutsche Jugend, in: Der Kunstwart, 27. Jg. 1913, Heft 2 S. 97 – 101; Hermann Popert: Freideutsche Zukunft, in: Der Vortrupp, 2. Jg. 1913, Nr. 19, 1. 10. 1913, S. 577 – 598; ders.: Nachklänge, in: Der Vortrupp, 2. Jg. 1913, Nr. 23, 1. 12. 1913, S. 716 – 721.

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eine neue Zeit angebrochen ist. Wie viele werden es gleich ihm nicht beachten, wenn diese neue Zeit kommt, die dieser neuen Jugend gehört. Wir aber wollen sie, die neue Jugend, begrüßen mit den Worten des Dichters Herbert Eulenburg: Ich grüße die Jugend, die nicht mehr säuft, die Deutschland durchdenkt und Deutschland durchläuft, die frei heranwächst, nicht schwarz und nicht schief. Weg mit den Schlägern, seid wirklich aktiv, das Mittelalter schlagt endlich tot! Ein neuer Glaube tut allen not. - - - - Auf werdet Menschen von unserm Jahrhundert!«9 Alfred Toepfer hat diesen letzten Satz des viel zitierten EulenburgGedichts in seiner Meißnerrede von 1988 aufgegriffen – den meisten Teilnehmern des 1988er Meißnerlagers dürften allerdings die hiermit angedeuteten vielen Facetten des Ereignisses von 1913 nicht mehr präsent gewesen sein …

9 Traugott Friedemann: Der Erste Freideutsche Jugendtag, in: Der Säemann. Monatsschrift für Pädagogische Reform, 7. Jg 1913, Heft 7, S. 485 – 492; Walter Assmann: Freideutsche Jugend, ebd. 7. Jg 1913, Heft 10, S. 464 – 467, hier S. 467.

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Abbildungen

Delegiertenkonferenz am 10. Oktober 1913 in der Burgruine Hanstein, hinten in der Mitte, vor der Mauer wahrscheinlich (von links) Hans Paasche und Eugen Diederichs. Es handelt sich um das bisher einzig bekannte Foto dieser Zusammenkunft. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 182/1, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 351.

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»Anreise«. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 182/3, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 352.

»Auf dem Weg« (aus: Ziemer, Wolf: Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 445 sowie dies.: Wandervogelbildatlas, Bad Godesberg 1963, S. 116, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 355). Fotograf unbekannt, Originalfoto nicht auffindbar.

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»Angekommen«. Freischarmitglieder aus München 1913 auf dem Meißner. Fotograf Julius Groß, AdJb F 1 Nr. 13/11, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 368.

Mitglieder des Sera-Kreises, Jena. Fotograf Julius Groß, AdJb F 1 Nr. 13/13, auch in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, S. 456; Wandervogelbildatlas, S. 119; Hoher Meißner 1913, S. 374.

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Festplatz: Feuer unter freiem Himmel – Festzelt im Hintergrund. Fotograf Carl Eberth, Foto AdJb F 4 Nr. 182/2, auch in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, nach S. 444; Wandervogelbildatlas, S. 118.

Festteilnehmer beim Kochen über offenem Feuer. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 182/4, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 359.

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Rötelzeichnung Wilhelm Thielmann, Illustration zu Kurt Aram: Jugendbewegung, in: Die Gartenlaube Nr. 46, Oktober 1913, S. 972 f.

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Akademische Freischar München, Volkstanz I, dem Fotografen und Mitglied des MeißnerFestausschusses Walther Groothoff zugeschrieben, Foto AdJb F 4 Nr. 182/4, auch in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, S. 444; Wandervogelbildatlas, S. 166; Hoher Meißner 1913, S. 359.

Volkstanz II, Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 1 Nr. 13/3, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 361.

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Volkstanz III, Fotograf Julius Groß, AdJb F 4 Nr. 182/20, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 358.

Musizierende Festteilnehmer hintere Reihe zweiter von rechts Alfred Kurella. Fotograf unbekannt, AdJb F 1 Nr. 183/32, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 371.

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Der Lebensreformer Gusto Gräser (Mitte stehend mit Bart). Fotograf Carl Eberth, Foto AdJb F 4 Nr. 183/33, auch in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, nach S. 80; Hoher Meißner 1913, S. 371.

Der Pazifist und Lebensreformer Hans Paasche (zweiter von links). Fotograf unbekannt. Foto AdJb F 4 Nr. 184/43, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 381.

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Gottfried Traub, Eugen Diederichs (von links), Ferdinand Avenarius (in der Mitte mit Hut). Foto AdJb F 4 Nr. 182/17, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 356.

Gruppe mit Knud Ahlborn (Mitte). Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 182/6, auch in: Hoher Meißner 1913, S. 373.

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Gustav Wyneken (links) während seiner Rede. Foto AdJb F 4 Nr. 182/8, auch in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, S. 444; Wandervogelbildatlas, S. 118; Hoher Meißner 1913, S. 378).

Schüler der Freien Schulgemeinde Wickersdorf mit Gustav Wyneken (sitzend hinten links). Fotograf unbekannt, AdJb F 4 Nr. 182/14, auch in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, nach S. 480; Hoher Meißner 1913, S. 376.

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Auf der Rückfahrt vom Hohen Meißner. Fotograf unbekannt, AdJb F 4 Nr. 183/29, auch in: Wandervogel und Freideutsche Jugend, nach S. 480; Hoher Meißner 1913, S. 382.

Festpostkarte, von Günter Clausen entworfen. AdJb F 3 Nr. 21.

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Festpostkarte, von Hugo Höppener, gen. Fidus, entworfen. AdJb K 2 Nr. 11.

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Freideutscher Jugendtag auf der Loreley im August 1917. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 3 Nr. 65.

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1. Hans Breuer : Herbstschau 1913 – Plus ultra, in: Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jungwandern, 8. Jg. 1913, Heft 10, S. 282 – 285; Wiederabdruck in: Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): Wandervogel und freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 469 – 472; u. a. auch in: Hans Breuer – Wirken und Wirkungen, Burg Ludwigstein 1977, S. 78 – 81. Die Zeit der Freiheitskriege geht ad saecula, und ihr Gedächtnis sinkt in die Grube der Jahrhunderte. Fast verwaist, verlassen von jenen großen Tagen steht die Nation am Wege, hält noch in Händen das Vermächtnis ihres Sehers: »Wo wir im Dunkeln wandeln und kaum ahnen, von welcher Seite der Tag anbrechen werde«, und fragt sich, wohin? Vor hundert Jahren lag die Form zerbrochen, aber der Geist war lebendig und schuf mit Kraft sein neues Kleid. Heute hat sich’s gewendet: Der Bau steht glatt und spiegelnd, aber der Inhalt – wird trübe; Reichtum und Wohlstand steigen, und die Menschen wanken. – Hört die Heuler, wie sie heulen: Das Deutschtum stirbt! Doch die Deutschen wandern wieder, also sind sie’s noch. – Sei’s gerade gesagt: ein gesundes Volk braucht keinen Wandervogel. Alles Leben stirbt im Übermaß seiner Säfte, so kranken wir, wer weiß das nicht? am Zuviel, das wir nicht mehr beherrschen. Seit dem vorletzten Menschenalter ist unsagbar viel gearbeitet worden, einseitige Verstandesarbeit; Wissenschaft, Industrie und Technik schossen ins Kraut, über unseren Köpfen ein undurchdringliches Wirrwarr webend. Der Einzelne, nur immer vorwärts arbeitend, verlor den Boden unter sich, die Fühlung mit dem Ganzen. Schrankenloses Ichtum, Quadratzentimeterspezialismus waren die Folge. Und das Ganze, durch den Fall tausendjähriger Schranken, durch Bahnung ungeahnter Verkehrsmöglichkeiten ineinandergemischt, beginnt zum Breie farbloser Weltbürgerei zu zerfließen. Gewaltige Zersetzungs- und Fäulnisprozesse haben eingesetzt, Moral und Vaterglauben bröckeln auseinander. Nur die Scheuklappen herunter! Und abermals, wie vor hundert Jahren, liegt eine schwere Verantwortung auf der werdenden Generation: Hilf deinem Volk, hilf dir selber! Werde wieder Herr um dich, ein ganzer Mensch, der im Zeitstrudel steuert und nicht treibt! Was tut not? Was hört man schreien auf allen Gassen? Kultur! Kultur! Eine neue Kultur! – O, diese Schreier! Ist das möglich? Warum in die Ferne schweifen? Liegt nicht viel näher, den großen Urwald unserer Tage wegbar zu machen, das unerlöste Zeitalter von Technik, Industrie und Wissenschaft auszubauen zur Kultur, als einer Arbeit in Harmonie und Klarheit? – Ist es ausgeschlossen, das rasch und plötzlich über uns Gekommene zu verstehen, historisch zu verstehen und zu

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meistern, es einzugliedern in ein volles ganzes Menschentum? – Wo ist dieses zu finden? – Für uns Deutsche im Deutschtum. Was hat das Volk vor hundert Jahren groß gemacht? Der tief gefühlte Drang, des unwürdigen Zustandes Herr zu werden, Treue gegen sich selbst, das ist der Wille zur Tat; nicht dieses oder jenes Ideal, sondern die Fähigkeit, Ideale zu haben überhaupt, kurz gesagt: der deutsche Idealismus. Hatten wir nicht auch, als wir im öden Häusergrau der Großstadt erwachten, eine weite, ideale Welt in uns gebaut, die ganze Welt des sterbenden Götz: Himmlische Luft, Freiheit, Freiheit! Und sahen uns schnöde betrogen? Hatten wir nicht, wie Schößlinge verschorener und verpfropfter Bäume eine starke Ader angeerbter Art in uns gespürt, mehr dumpf und triebartig, aber mit dem eingeborenen, unerschütterlichen Rechte, ihr zu leben? Wuchsen wir nicht damit hinein in die fortschreitende Entdeutschung der Umwelt? — Und in dem grellen Mißklang des Lebens fanden wir die alte schlichte Formel wieder : [cemoi, ti ¬ essi]10, werde, wer du bist, werde wieder Deutscher! Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen! Werde wieder Mann deiner Zeit. Erwandere dir das organische Werden dieses so reißend über uns Gekommenen, verstehe dies plötzliche Nacheinander, seine Rätsel aus dem Nebeneinander fortschreitender Kulturperioden. Und sie fluchten ihrer Großstadt, verhöhnten und verlästerten, was noch an Heiligem daran klebte. Sie kürten sich Armut, Not und Entbehrung, stürmten hinaus in wilde Klüfte und Wälder und tagten dort in der Einsamkeit. Das war eine wilde, schöne Zeit. Aber mählich, wie sie reifer wurden, zog sie’s, die bäuerlichen Stuben zu schmecken, durch Gäßchen altfränkischer Städte zu schweifen, sie sahen den feierlichen Ernst wuchtiger, rundbogiger Münster, die ragenden Dienste gotischer Kathedralen und spürten einen Hauch von ihrem Genius. – So wanderten sie, immer reifer werdend, auf der Straße einer natürlichen Erziehung hinauf bis in unsere Tage, bis sie staunend an den Feuerschlünden nächtlicher Gießhütten standen und mit Lust ihre Augen am Stahlgerippe breiter Bahnhöfe weideten. Da freuten sie sich wieder, Zeitgenossen zu sein, Mitlebende dieser herrlichen Hochblüte der Wissenschaft und Industrie. Versöhnt kehrten sie in den Straßentrubel der einst verhaßten Großstädte zurück. Sie hatten überwunden. Sie sahen das alles in einem milderen, geklärten Lichte, sie hatten verziehen, denn sie verstanden nun. Manche waren auf der Strecke geblieben, die alten Brüder, tot und verschüttet. Viele waren irre gegangen, hatten verzweifelt die Flagge gestrichen vor ihrer Zeit, 10 Der griechische Einschub findet sich in Hans Breuer: Wirken und Wirkungen. Eine Monographie, Burg Ludwigstein 1977, S. 78 – 81.

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hatten wieder angefangen zu ackern, zu misten und zu melken. Das war Mönchstum im neuen Kleide, der mißverstandene Rousseau redivivus. Sie flohen zurück zur Natur, statt vorwärts zu dringen zur Weltüberwindung. Und ein Charakter bildet sich im Strom der Welt. Andere hatten die Brücke aus diesem Wandertume ins Leben verfehlt, waren in Gleichgültigkeit versunken; und wir hörten ihr Gejammer : Mordio! Der Wandervogel stirbt. – Stürbe lieber ihre Wandervogelfeigheit! – Noch andere hatten sich verrannt. Der Wandervogel ist voller Sackgassen, und das Blühertum ist nur ein Gäßchen. Sein heiterer Hellenismus taugt nicht für uns nordische Männer. Mehr Kant! Mehr Evangelium der Arbeit! Das flutscht besser. – Die aber auf dem Wege geblieben, als sie nun älter wurden und wußten, was ihre Art war, zog es sie fort von der Kollegbank, weit über die Grenzen ihrer Heimat. Da rauchten ihre Herde auf dem Meersand der Adria, brodelten ihre Töpfe jenseits der russischen Doppeladler. Da sahen sie ihr deutsches Vaterland im Spiegel fremder Nationen, erkannten seine Notwendigkeit, seine Bestimmtheit im Getriebe der Völker. So wußten sie erst recht, wer sie waren, und spürten den männlichen Willen, das alles zu schützen und zu erhalten. Da kam zum ersten Male der bittere Ernst in sie, und sie huben an, ein altes Schlachtlied zu singen: Kein schönrer Tod ist in der Welt, als wer vom Feind erschlagen. Viele sind dann in der Heimat geblieben, haben Haus, Familie und Beruf gegründet. Sie waren wieder ins Leben zurückgekehrt, eigentlich alles beim alten, doch sie waren sozusagen historisch Gewordene, hatten den freien Blick über ihre Zeit und wußten, wohin. Mehr noch von den Alten, eigentlich die Besten, folgten dem großen Zuge über das Weltmeer, wurden brave Kolonisten und Pioniere in allen Zonen. Drückt das Volk gewaltig nach außen? Vor hundert Jahren zog der Ärmste hinaus, weil er mußte, doch der arme Schlucker versank bald in der Fremde; heute zieht der junge deutsche Akademiker und Kaufmann über die Erde, weil es ihn treibt. Mancher davon war unser. Das ist ein neuer deutscher Erdentypus: In der Jugend von der Nährmutter Heimat gezogen, als Burschen gekräftigt im Deutschtum, als Männer willig zu Taten, zu deutscher Arbeit, zur Prägung deutscher Gesinnung. Der Wandervogeldeutsche. Ist es nicht wunderbar, daß der Wandervogel aus dem Volk wächst, wo es anfängt, über die Erde zu gehen? Der Wandervogel selbst war nur die Jugendform jener deutschidealistischen Gesinnung. Die »Frage der gewesenen Wandervögel« ist füglich gegenstandslos. Die haben keine Fußblasen mehr, die sitzen, wo sie hingehören, auf ihren Hosen und haben Schwielen am Gesäß. Rechte Wandervögel sind und bleiben Wanderer ihr Lebelang, aber nicht Tippler mit dem Stenz, in Bleiben und Winden, sondern Wanderer des Berufs, der Arbeit. Was früher Erfassung der Heimat, historisches Werden, Eindeutschung war, heißt jetzt: Gründlichkeit und Vertiefung der Arbeit, Idealismus des Berufs. Nicht jenes maßlose, sich selbst-

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überschätzende Reformfatzkentum, alles reformieren zu wollen, sondern treues Wirken, in sich und um sich, in Harmonie und Klarheit, das erscheint eher als ein Weg aus dem Urwalde. Wer andere reformieren will, soll sich erst selbsten bei der Nase packen und etwas leisten! »Arbeitet an euch«, das Lißnersche Wort bleibt stehen, bis wir zu Asche sind. Dann wird der Starke von selber seine Kreise ziehen. Schaut um euch, seht ihr nicht die großen Massen, wie sie noch abschwenken zur Geschmacklosigkeit? O seht nur, welchen Schund das Vaterland ins Ausland wirft! Hier ist Arbeit. Der Acker liegt brach, jetzt die Pflugscharen eingesetzt! Fortschreiten müssen wir. Beherrschung des Gesamtstoffes ist nicht mehr menschenmöglich. So folgt die Arbeitsteilung. Hier ist der Brennpunkt: Frühzeitig das Lebensziel, die Arbeitsrolle des Erdenbürgers erkannt, und dieses Ziel eingesät in den Nährboden der Heimat, wo alle Wurzeln sich noch die Hände reichen, dann aber organisch weitergebaut, organische Entwicklung des Zieles aus der erwanderten Welt, richtige Eingliederung in das Ganze, und mit Hingebung darauf losgegangen, so mag der Fortschritt gesichert erscheinen. – Und wie im einzelnen, wird es auch im großen sein: Selbstbesinnung der Völker auf sich selber, jede Nation ihre besondere Güte erkannt, scharf geprägt und eingesetzt in die Maschinerie der Völker, so mag ein neues Ziel der Entwicklung näherrücken, Ausbau der Erde zu einem mächtigen, arbeitsteiligen Organismus mit neuen Höchstleistungen, wo das Ganze den Einzelnen beseelt und der Einzelne dem Willen des Ganzen gehorcht. Wer weiß, woher der Wandervogel kam? – Niemand weiß es. Ein großer Trieb ging durch das ganze Volk, der Einzelne fühlte sich ergriffen und hingezogen und wußte doch nicht, woher. So fühlen wir über uns und unter uns Kräfte, in deren Willen wir streben, welche die Völker durcheinanderwirbeln, sie aufblühen und versinken lassen, die Erde um sich drehen in mächtigem Schwange auf sicherer Bahn, und müssen inne werden, daß über uns und unter uns die Welt unendlich sei, daß etwas Übermenschliches, von uns Buben verhöhnt und verlacht, lebendig ist. Der fromme Sinn der Väter mag dann in neuer Form wiederkehren, als eine neue Weltordnung, ein neues Sittliches, ein neuer Glaube. »Den Naturzweck zu dem unsrigen machen«, »bewußt zu handeln, wie es uns treibt«, so geht ein altes Sprüchlein in Erfüllung: aus Unschuld durch Fallstricke zur Tugend. Die Zeit der Unschuld ist vorbei, noch hangen wir in den Stricken, mag dann die Tugend kommen. Eine neue Morgenröte wird glühen, dieweil wir noch durcheinanderwallen wie trübe Nebel im Chaos. Gereinigt und wiedergeboren im Bade des Volkstums wird die Nation aufwärtssteigen als eine Überwinderin ihrer Zeit und mit ihr das neue Weltbürgertum kommen, das des Miteinander und nicht des Gegen- und Durcheinander. Die Zeit ist reif, die über die ganze Erde zersplitterten jungdeutschen Kräfte

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zu sammeln. Möge das Meißnerfeuer zu einem freideutschen Weltbunde voranleuchten, einem Bunde, nicht zum Schutze des Deutschtums im Auslande, nicht mit dem Charakter der Defensive — la boy scout, sondern mit dem Geiste frischer Offensive, immer druff! wie der olle Blücher 1813: zur Prägung dieser jungdeutschen Gesinnung als eines Sauerteigs durch die ganze Welt. Im Anfang war die Tat! Und diese sei unser Denkmal! – Kommen wir zum Schluß. Der Wandervogel war das Ausdrucksmittel der Jugend, ihr eigenstes, unbestrittenes Recht gemäß den Mendelschen Gesetzen. Alle Linien der Organisation müssen an dem Punkte zusammenlaufen, wo dieser Jugendgeist am freiesten wächst. Der Ältere hat andere Pflichten; hier fehlt der akademische Reisebund, Ausbau der Freilandgemeinschaften. Dann aber der Abenteurerlust herzhaft den Rücken gewandt! Den Blick hinaus ins Leben gerichtet! – Dem Mann Gewordenen blüht die Tat! Heil!

2. Georges Barbizon [Georg Gretor]: Das Fest der Zukunft. Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner, in: Berliner Tageblatt vom 5. 10. 1913; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 318 f. Die verschiedensten Kreise und Gruppen der deutschen, bürgerlichen, nach vorwärts gerichteten Jugend wollen sich zu einer großen Jugendkundgebung auf dem Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner bei Kassel am 11. und 12. Oktober zusammenschließen. Die Einladung ist von fünfzehn Jugendorganisationen und Verbänden unterschrieben. (Deutsch-akademische Freischar. Bund abstinenter Schüler und Studenten. Verschiedene Wandervögelgruppen. Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Verschiedene akademische Vereinigungen usw.) Der Aufruf spricht in schwungvollen Worten von einer neuen Jugendauffassung: Die deutsche Jugend steht an einem geschichtlichen Wendepunkt. Sie beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, am Leben der Nation teilzunehmen. Unabhängig von der Konvention strebt sie nach eigenen Lebensformen, die es ihr ermöglichen, sich selbst ernst zu nehmen und sich der allgemeinen Kulturarbeit einzugliedern. »Sie, die im Notfall jederzeit bereit ist, für die Rechte ihres Volkes mit dem Leben einzutreten, möchte auch im Kampf und Frieden des Werktags ihr frisches reines Blut dem Vaterland weihen. Sie wendet sich aber von jenem billigen Patriotismus ab, der sich die Heldentaten der Väter in großen Worten aneignet, ohne sich zu eigenen Taten verpflichtet zu fühlen, dem vaterländische Gesinnung sich erschöpft in der Zustimmung zu

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bestimmten politischen Formeln, in der Bekundung des Willens zu äußerer Machterweiterung und in der Zerreißung der Nation durch die politische Verhetzung.« Diese Worte beweisen, daß die hier mitwirkenden Jugendverbände es müde sind, nur das passive Streitobjekt zwischen den konservativen, klerikalen und sozialistischen Parteien zu sein. Ihnen schwebt die Erarbeitung einer von allen politischen Parteien unabhängigen Jugendkultur vor. Im Pfadfindertum sieht die neue Freideutsche Jugendbewegung nichts wahrhaft Jugendechtes, sondern nur einen von Erwachsenen auf die Jugend übertragenen Abklatsch. Sie steht daher in innerem Gegensatz zu ihm, der sich zwar nicht in polemischer Form äußert, aber doch wohl genügen wird, um Mißbilligung und Aergernis zu erregen. Durch ihr Auftreten wird sie sich viel Feindschaft zuziehen. Man wird versuchen, diese neutrale, einem reinen Bedürfnis nach Jugendkultur entsprungene Bewegung zu verdächtigen. Es ist der Fluch der Reaktion, daß sie die reinen Quellen neuer Volksbelebung erst dann erkennt, wenn sie im Versiegen sind. Eugen Diederichs versendet zur Vorbereitung einer Festschrift ein Rundschreiben, in dem er die Pflicht der älteren Generation betont, die Bewegung der »zum Kulturkampf bereiten Jungmannschaft des kommenden Geschlechts« in jeder Weise zu fördern. In der Festschrift soll einerseits die Jugend selbst zu Worte kommen, um ihren Willen auseinanderzusetzen, andererseits sollen Persönlichkeiten sich äußern, die ihr etwas zu sagen haben. Die Tat, die Eugen Diederichs mit diesem Plane ausführt, ist hoch verdienstvoll. Traub und Lamprecht werden Ansprachen an die Jugend halten. Einige Tausend Teilnehmer werden sich am Hohen Meißner zusammenfinden; viele Tausende werden mit ihrem Herzen dabei sein. Kann es für ein Volk eine erfreulichere Erscheinung geben, als eine Jugend, die Unternehmungsgeist, Initiative, organisatorische Fähigkeiten besitzt und den Mut und die Kraft zeigt, ihren Willen auszuführen, die »ihren Platz im öffentlichen Leben der Nation verlangt«? Wo in der Welt findet sich heute eines anderen Volkes Jugend mit soviel Begeisterung zusammen? Wo sollten sie fließen, die Quellen neuer Volksbelebung, wenn nicht in einer regsamen selbständigen und tatkräftigen Jugend?

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3. Frankfurter Zeitung und Handelsblatt vom 4. 10. 1913, Titelseite (Abendausgabe), ohne Autorenangabe, Ankündigung des Meißnerfestes; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 313 – 316. Unter den Jahrhundertfeiern, die nächstens stattfinden, ist eine von eigenem Reiz: die Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner, die die »Freideutsche Jugend« am 11. und 12. Oktober veranstaltet. Es gibt Wettkämpfe, volkstümliche Spiele und Volkstänze, einen großen brennenden Holzstoß und eine Feuerrede, eine Festrede von Traub und eine Freilichtaufführung der »Iphigenie«. Am Tage vorher versammeln sich auf der Burg Hanstein Vertreter der freideutschen Jugendvereine, um sich über ihre einzelnen Bestrebungen zu äußern und den Weg zu gegenseitigem Verständnis zu bahnen. Es ist etwa ein Dutzend Bünde, die zu diesem Jugendtag einladen, darunter der Wandervogel, die Deutsche Akademische Freischar, der Bund abstinenter Studenten, der Bund für freie Schulgemeinden u. a. Wenn es sich bei dieser Veranstaltung nur um ein Fest handelte, so wäre es kein Anlaß, an dieser Stelle davon zu reden. Aber dieses Fest soll der Anfangspunkt einer Jugendbewegung sein, oder besser gesagt: es soll die Zusammenfassung von Jugendbewegungen einleiten, die bei aller Verschiedenheit ihrer besonderen Zwecke und Ziele das eine gemeinsam haben, daß sie die Jugend in anderer Weise als früher zur Geltung bringen. Es ist nicht leicht, von dem, was da vorgeht eine klare Vorstellung zu geben, zumal da sich die Veranstalter des Jugendtages selber in manchem noch nicht klar sind, aber es muß versucht werden, zu zeigen, worauf es dieser Bewegung ankommt. Es scheint uns, daß es am einfachsten ist, dabei von den schulreformerischen Bestrebungen auszugehen, wie sie etwa der Bund für freie Schulgemeinden vertritt. Das ist nicht so zu verstehen, als ob Landerziehungsheime oder dergleichen das Ziel der Bewegung wären, aber man kommt von dieser Seite her vielleicht am leichtesten zum Verständnis des ganzen Vorgangs. Der Grundgedanke der Landerziehungsheime, oder wie sich diese Schulen sonst nennen mögen, ist der, daß die öffentliche Schule und die Erziehung der Jugend, in oder außerhalb der Schule, in der Regel nicht mehr dem entspricht, was die fortgeschrittene Einsicht und die heutige Zeit verlangen. Man hat die Jugend früher sozusagen nach dem Prinzip der Passivität lernen lassen und erzogen, d. h. die Jugend hatte nichts zu wollen, sondern einfach das zu tun, was man ihr vorschrieb. Es war geradezu das Zeichen guter Erziehung, daß der junge Mensch eine Anordnung der Eltern oder des Lehrers ausführte, ohne auch nur den Versuch eines Einwandes zu machen;

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der Junge oder das Mädchen hatten einfach zu folgen, ohne zu fragen. Es läßt sich natürlich nicht bestreiten, daß aus dieser strengen Zucht viele sehr tüchtige Menschen hervorgegangen sind, aber es fragt sich, ob das wegen dieser Zucht oder trotz ihr geschah. Eine allgemeine Antwort darauf wird kaum zu geben sein, weil die Naturen allzu verschieden sind und dem einen etwas nützen kann, was zehn anderen schadet. Aber dennoch wird es sich nicht mehr behaupten lassen, daß diese Methode diejenige gewesen sei, die grundsätzlich am besten zu selbständigen und aufrechten Menschen erziehe. In gewissem Sinne gilt für das junge Volk ebenso wie für die Völker der Satz, daß man den Gebrauch der Freiheit nur lernen könne, wenn man sie hat, und man wird nicht bestreiten können, daß es nützlich sei, die Jugend, so weit es geht, mit der Freiheit vertraut zu machen, die sie, wenn sie erwachsen ist, unter allen Umständen bekommt. Aus diesen Gesichtspunkten heraus hat man in jenen Reformschulen Systeme geschaffen, die bei Verschiedenheiten im einzelnen die gemeinsame Grundlage haben, daß sie die Jugend gelten lassen. Man ist nicht der gestrenge Herr Lehrer, man ist nicht der gestrenge Herr Papa, sondern die Erzieher stehen zu der Jugend wie gute Freunde, die sie nicht bloß kommandieren, sondern beraten und zur Selbständigkeit im Lernen und Handeln anleiten, und auch diese Anleitung tritt in manchen Einrichtungen zurück, in denen sich also die Jugend selbst verwaltet. Es ist klar, daß nur bei einer solchen Methode das der Jugend eigentümliche Denken und Fühlen zu seinem Rechte kommen kann, denn wenn man als Stärkerer etwas nicht gelten läßt, dann kann es auch nicht hervortreten. Dies ist nun wohl das Erste, was die freideutsche Jugendbewegung verlangt: daß man die Jugend gelten lasse. Dabei ist zu beachten, daß diese Bewegung zwei verschiedene Kreise umfaßt, auf die ein und derselbe Grundsatz nicht in ganz gleicher Weise Anwendung finden kann. Es ist akademische Jugend und Jugend darunter, die dieses Alter noch nicht erreicht hat. Die Akademiker brauchen wohl Geltung nicht erst zu verlangen, sie haben sie schon. Anders ist es mit den andern. Es ist heute allerdings nicht mehr so, wie es einmal war, die strenge Zucht ist schon in manchen Kreisen einer milderen Praxis gewichen. Aber daß sich die Jugend oder ein Teil von ihr nicht in der Geltung sieht, die sie haben möchte, zeigen solche Bewegungen wie der Wandervogel. Wir finden in der Festschrift, die zum freideutschen Jugendtage bei Diederichs in Jena erscheint und manche sehr interessante Beiträge enthält, auch die Bemerkung, daß die Entstehung des Wandervogels eine Empörung der Jugend gegen den Zwang der Schule und des Elternhauses gewesen sei. Nun, so schlimm wird es wohl nicht sein, und wir lesen auch aus solchen Bemerkungen nur das heraus, daß es eine Jugend gibt, die die Empfindung hat, daß man ihrer Eigenart nicht gerecht werde. Das würde noch nicht beweisen, daß es so sei, denn auch die Jugend kann irren, aber es ist allerdings richtig, daß noch so manche Eltern und die meisten Schulen dem natürlichen Geltungsdrang der Jugend nicht Rechnung tragen. Wie

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das zu machen sei, das läßt sich freilich mit einem Worte gar nicht sagen. In der Festschrift meint einer der Beiträge: »Was die Jugend will, muß sie fühlen, und was sie fühlt, das soll sie tun.« So einfach ist die Sache doch nicht. Es ist eine Sache des Taktes, der Einsicht und der Verständigung zwischen den Alten und den Jungen. Unter dieser Voraussetzung aber muß man allerdings sagen, daß die Zukunft der Jugend ein Mehr an Geltung bringen muß, das sie beanspruchen kann und nun beansprucht. Aber das ist nicht das Einzige, das diese Bewegung anstrebt. Sie steht in einem bewußten Gegensatz zu der von oben kommandierten Jugendpflege, wiederum aus dem Prinzip heraus, daß eine Jugendbewegung für die Eigenart der Jugend da sei und für deren Bedürfnisse. Sie lehnt es ab, sich zu politischen Zwecken mißbrauchen zu lassen, und das ist ein sehr erfreulicher Zug an ihr. Es ist ja die größte Versündigung, die man an der Jugend begehen kann, wenn man schon die Kinder als politisches Material betrachtet, sei es nun als konservatives oder sozialdemokratisches. Diese Bewegung erklärt daher auch, daß sie sich von dem billigen Patriotismus abwende, der sich die Heldentaten der Väter in großen Worten aneignet, ohne sich zu eigenen Taten verpflichtet zu sehen, und dem sich die vaterländische Gesinnung in der Zustimmung zu bestimmten politischen Formeln erschöpft. Diese Bewegung möchte etwas leisten, und sie bezeichnet als ihr letztes gemeinsames Ziel die Erarbeitung einer neuen edlen deutschen Jugendkultur. Das ist nun freilich ein großes Wort, aber man wird es der Jugend nicht verargen, wenn sie übersieht, daß man Kultur nicht so ohneweiteres machen kann. Es ist wohl auch damit nur gemeint, daß diese Jugend in den Stil ihres Lebens, insbesondere an den Hochschulen, eine Veredlung der Formen der Gemeinsamkeit und der Geselligkeit bringen will, zu der allerdings schon Ansätze vorhanden sind, die aber noch so viel zu tun übrig lassen, daß man die Jugend nur beglückwünschen kann, die das fertig bringt. Daß sie die deutsche Art pflegen will, ist für eine deutsche Jugend selbstverständlich, nur dürfte sie nicht vergessen, daß es da nur auf die Tat ankommt und die Pflege einer gewissen Phraseologie, wie die Erfahrung gezeigt hat, leicht dazu führt, daß man schon deutsch zu sein glaubt, wenn man sich völkisch nennt. Einen Menschen, der bei jedem dritten Satz betonte, daß er sittlich sei, würde man nicht ernst nehmen. Mit der Betonung des Volkstums ist es ähnlich. Wenn man deutsch ist, braucht man es nicht immer zu sagen. Man kann heute natürlich noch kein abschließendes Urteil über diese Bewegung abgeben. Man muß abwarten, wie sich das, was da gärt, gestaltet. Aber das kann man sagen, daß es wunderschön wäre, wenn ein Idealismus wieder die Jugend ergriffe, und daß die freideutsche Jugend, da sie daran arbeiten will, ein wichtiges Unternehmen beginnt. Wer möchte nicht wünschen, daß es ihr glücke? Wie die Jugend wird, so wird schließlich die Zukunft der Allgemeinheit. Das

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berechtigt, dieser Sache Aufmerksamkeit entgegenzubringen, und ermuntert die Aelteren und Alten, zu verstehen.

4. Kurtis [Kurt von Burkersroda]: Die Hanstein-Tagung, in: Jung-Wandervogel, 3. Jg. 1913, Heft 11, 12, S. 161 – 165 [Original nicht im AdJb]; gekürzt wieder in: Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): Wandervogel und freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 473 – 475. Regenschwerer Nachmittag … Dichtgefüllte Abteile … Rostocker, Sondershäuser, Münsterer EVer … Darmitten ein Häuflein JWV-Bundesführer … Werleshausen … Alles raus … Matschige Wege … dann der Hanstein. Zwanzig Pfennig Eintrittsgeld (der Idealismus bekommt einen Stoß vor den Magen) … in der Halle unten ein phantastisches, buntes Gewimmel … dann an der kleinen, engen Wendeltreppe, die nach oben führt, ein wüstes Gedränge … oben Wachposten, die eigentlich überhaupt keinen und uneigentlich nur einen von jedem Bunde hineinlassen wollen! Nachdem man sich mit Mühe und Not durchgekämpft hat, wird man in einem polizeiwidrig vollen Saale zusammengequetscht! Es wirkt sonderbar, wenn man sieht, daß die kleinsten Bünde vollzählig, das heißt mit Mann und Maus, die Bankreihen füllen, und dann soll von dem größten offiziell vertretenen Bunde, dem JWV, nur ein Vertreter rein! Eine Zeitlang ist nur Getümmel und Gesumme! Währenddessen macht man Studien. Weiße und blaue Pludermützen, darunter teilweise rein mongolische Züge, dann wieder ausgesprochene Zwiebacknasen, fanatisch-hagere Abstinenzler- und Rohköstlergesichter mit tief in den Höhlen liegenden Augen. Mancherlei Fähnlein hängen müde hernieder, und ich höre, wie vor mir einer erklärt: Dort sitzen die Volkserzieher, die massive Erscheinung da ist Popert, dahinten sitzen die Himbeersaftstudenten, und die Fahne mit dem Rad, das ist das Banner des Serakreises! In verschiedenen Ecken feiert die Kleiderreform wilde Orgien mit Kitteln in allen Regenbogenfarben. Der E.V. läßt krampfhaft seine Storchnadel sehen, die anscheinend immer größere Formen annimmt. Und über all dem Mischmasch von Loden, Manchester, Bunttuch, Reformhemden, Umhängen und Touristenanzügen ein Meer von erwartungsvollen Augen, die sich auf die Festleitung richten. Beginn der Verhandlungen. Allgemeiner Hinweis auf die zarte Bauart der Burg; daher sei alles Trampeln und Hineindrängen zu unterlassen! Nach einigen einleitenden, allgemeinen Worten des Herrn Dr. Lemke sprachen die einzelnen Vertreter, soweit sie etwas zu verkünden hatten, über die Ziele usw. ihrer Bewegung. Alles zu erwähnen, würde hier zu weit führen. Nur einiges

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kann man wiedergeben. Popert vom Vortrupp klagte in ergreifenden Worten über die Mißgunst der Presse, die den Freideutschen Jugendtag so ungünstig beurteilt habe. Im weiteren Verlauf seiner Rede forderte er lebhaft dazu auf, die Behandlungsweise vor den Kaiser zu bringen, und sprach dann über Rassenhygiene. Merkwürdigerweise hat das, was Popert hierunter versteht, mit unserem Begriff der Rasse gar nichts zu tun, sondern würde besser durch das Wort Volkswohlfahrt benannt werden. Gemeint ist damit nämlich vor allem der Kampf gegen die »Volksgifte«, namentlich den Alkohol. Man fragt sich weiter, ob es derselbe Mann war, der den die germanische Rasse verherrlichenden Harringa geschrieben hat, der dann zum Ausdruck brachte, es sei für uns bedeutungslos geworden, ob man Germane oder Slavo-Germane oder Semito-Germane sei; es käme für uns nur darauf an, das Völkergemisch innerhalb unserer Reichsgrenzen in germanischem Geiste und zu germanischen Idealen zu erziehen. Soll denn das überhaupt möglich sein? Sind wir denn auf einem Maskenball? Wenn wir keine Germanen sind, wollen wir uns auch nicht mit germanischen Idealen aufputzen; das sind wir unserer inneren Wahrhaftigkeit schuldig. Ein Chinese ist mir mit chinesischen Idealen immer noch am liebsten. Wohl ist Rassenhygiene eine wertvolle Aufgabe, aber richtig verstanden, als Erziehen und Kultur reiner Rasse, welche sie auch sei, daraus dann ihr Geist und ihre Ideale fließen. Und noch haben wir den Glauben an die Kraft der germanischen Rasse im deutschen Volke nicht verloren. Die abstinenten Studenten brachten ebenso wie der Wandererbund und die Volkserzieher keine wesentlich neuen Punkte in die Tagesordnung und beschränkten sich hauptsächlich darauf, ihre Leitsätze und Entwicklung wiederzugeben. (Über diese Punkte kann sich jeder in dem erschienenen Büchlein: Freideutsche Jugend, Verlag Diederichs, Jena 1913, unterrichten.) Währenddessen hatten an der Eingangstür wiederholt Prügelszenen aus den Meistersingern (mit naturgetreuen Kostümen) stattgefunden, dazu quollen verschiedentlich neue Völkerströme in den schon vollständig überfüllten Saal hinein, so daß sich der besorgte Versammlungsleiter gezwungen sah, die Halle räumen zu lassen und auf dem Hofe die Tagung fortzusetzen. Die folgenden Redner äußerten sich über Wege und Ziele der Akademischen Freischar, der Burschenschaft Vandalia, des Serakreises, des Landschulheims am Solling und anderer Verbände. Nachdem Vertreter des Österreichischen und des Schweizer Wandervogels gesprochen und Grüße an den Freideutschen Jugendtag übermittelt hatten, ergriff Köhler (Braunschweig, Wandervogel E.V.) als nichtoffizieller Vertreter der anwesenden fünf E.V.-Gaue das Wort. Aus seiner Rede drang ein Unterton von Trauer hervor, als er bedauerte, daß die Bundesleitung des E.V. »aus Rücksicht auf oben« hinsichtlich der offiziellen Beteiligung einen derartigen Rückzieher gemacht habe. Kampf sei nun einmal der Jugend-

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bewegung beschieden, und so müsse er durchgefochten werden, wenn es auch Opfer koste. Damit schloß die Rednerliste. Im Saale tagte oder nächtigte vielmehr – denn es ging schon stark auf die Dunkelheit zu – hernach noch eine Vertreterversammlung, wo die angefangenen Themen in engerem Kreise weiter ausgeführt wurden. Dabei traten leider ziemlich scharfe Gegensätze zwischen den Vertretern der äußeren Lebensreform und denen der Geistesreform zutage. Die ersten, deren Forderungen für uns längst Selbstverständlichkeiten und damit Nebensächlichkeiten sind, griffen unter Führung Poperts vom Vortrupp Wyneken an, der rückhaltlos für die geistigen Rechte der Jugend eintrat und damit sagte, wo eigentlich ihre Not liegt. Wyneken scheint leider von vielen nicht richtig verstanden worden zu sein. Es kam zu lebhaften Erörterungen, die sich so lange hinzogen, daß man übereinkam, sie auf dem Meißner fortzusetzen, bis man sich zu einem einigenden Gedanken, einer Grundlage für gemeinsames Arbeiten durchgeredet haben würde. Als wir in heraufsteigendem Nachtgrau den Berg herunterstiegen, da kamen und gingen die Gedanken über die eben erlebten Stunden. Man verglich diese Sitzung mit andern Sitzungen, die erfolgreicher oder ebenso resultatarm verlaufen waren. Was hatte man erreicht? Etwas Nennenswertes jedenfalls nicht. Die einzelnen Beteiligten hatten sich kennengelernt, und man sah über diese oder jene Bewegung jetzt klarer. Aber ob nicht doch all diese Reden, die gehalten waren, all die Begeisterung, die geweckt worden war, all der Trubel … ob es nicht mit all diesen Sachen so gehen würde, wie es bisher immer im Wandervogel gegangen ist …? Zu einem Ohr rein, zum andern raus! Vielleicht, daß die Festschrift für Bleibendes wirken konnte, vielleicht, daß uns der Meißner doch noch mehr bot!?

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5. Programm (AdJb A 104, Nr. 1).

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6. Liederblatt (AdJb A 104, Nr. 1).

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7. Knud Ahlborn: »Feuerrede« (Auszug): in: Gustav Mittelstraß, Christian Schneehagen (Hg.): Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Bruno Lemke, Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, Hamburg 1913, S. 14 – 19; 2. durchges. Aufl. hg. von Gustav Mittelstraß, Hamburg 1919, S. 29 – 32; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 289 – 292. (…) Die Vorarbeit in den Verhandlungen gestern auf der Burg Hanstein und die einstimmige Entschließung, die heute früh hier auf dem Meißner gefaßt wurde, lassen darüber keinen Zweifel zu. Klar und unzweideutig sind die Grundsätze, auf die die Freideutsche Jugend sich geeinigt hat: Nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortlichkeit, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten und für diese innere Freiheit unter allen Umständen geschlossen einzutreten.

Also keine Festlegung auf ein bestimmtes Parteiprogramm, sondern ein über alles Gegensätzliche einzelner Anschauungen hinwegschreitendes Bekenntnis zu dem Streben nach Wahrhaftigkeit und dem Leben in Einklang mit ihr. Und wenn dieser Freideutsche Jugendtag gar keine andere Frucht getragen hätte, als diese aus dem heißesten Kampfe der Meinungen plötzlich so wunderbar entstandene innere Toleranz, die auch den Gegner unserer eigenen Anschauung, einfach weil er ein Wahrheitssuchender ist, anerkennt und ehrt, so könnten wir schon aufs höchste erfreut sein. Man denke sich nur an Stelle des gehässigen Parteikampfes, durch den immer aufs neue die innere Einheit unseres Volkes zerrissen wird, eine von innerem Streben nach Wahrhaftigkeit getragene Parteiverständigung, bei der sich alle die fachlichen Gegner immer die Begrenztheit der eigenen Einsicht vor Augen halten und darüber sich gar keinem Zweifel hingeben, daß es auf dieser Welt gar nichts abgeschlossen Fertiges, gar nichts unbedingt Richtiges gibt. Aber diese Tagung hat uns noch etwas viel Köstlicheres gebracht, als sich mit Hilfe nüchternen Verstandes übermitteln ließe. Wir erlebten unsere innere Zusammengehörigkeit als ein Kreis von Menschen, die von dem Gefühle der Verantwortlichkeit gegen sich selbst und gegen ihre Mitmenschen durchdrungen sind, und die, trotz unendlich ernster Aufgaben, die ihnen allen vor Augen stehen, mit einer Gelassenheit und einem Frohsinn sondergleichen dem Leben gegenübertreten. Diese heitere Ruhe, die wir uns immer als unser höchstes Gut bewahren wollen, verdanken wir unserm Leben in und mit der Natur. Dort erwuchs uns das

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unbetrügbare Gefühl für das Gesunde und Echte, dort erfüllte uns der Mut zum Gesunden und Echten, zur inneren Wahrhaftigkeit, und dort auch blickten wir zuerst jenem Unendlichen ins Auge, dessen Anblick uns von aller äußeren Menschenabhängigkeit und von aller inneren Selbstüberhebung befreit. Und darum sind wir auch heute hinausgegangen in die Natur, um auf einem hohen Berge unter dem weiten Himmelsdom an einem freien lodernden Feuer dieses Fest der Sammlung und Erinnerung zu feiern. (…)

8. Gustav Wyneken: Rede auf dem »Hohen Meißner« am Morgen des 12. Oktober 1913, in: Gustav Mittelstraß, Christian Schneehagen (Hg.): Freideutscher Jugendtag 1913: Reden von Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, Hamburg 1913, S. 16 – 20; 2. durchges. Aufl. hg. von Gustav Mittelstraß, Hamburg 1919, S. 33 – 41; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Dokumentation der Jugendbewegung II, Die Wandervogelzeit, Düsseldorf, Köln 1968, S. 501 – 505; Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 293 – 301. Kameraden! Mir ist die Aufgabe geworden, für euch das Ergebnis dieses Festes zusammenzufassen und zu versuchen, es euch mit meinen Worten auf den Weg zu geben. Ich sage euch offen, daß ich diesen Auftrag bereits wieder in die Hände unserer Festleitung zurückgegeben hatte, nachdem ich gesehen und gehört hatte, in welchen Gleisen sich die Gedanken und Gefühle vieler von euch bewegen und welchen Stimmen sie zujubeln. Ich habe gezweifelt, ob ich noch imstande sei, euren Sinn zu treffen und euch unser Fest nach eurem Wunsche auszudeuten, ich, von dem ihr gehört habt, daß sein Kulturwille nicht halt macht an den Grenzen der Staaten, der Sprachen und der Rassen. Aber gerade darum laßt mich zu euch von dem reden, was alle heute bewegt, laßt mich vom Vaterlande reden und von der Vaterlandsliebe, wie ich sie verstehe und in euch entzünden möchte. Soll ich das aber tun, so muß ich mich an euren letzten, tiefsten Ernst wenden dürfen. Ihr seid aus dem Trubel der Städte geflohen hinauf in die stillen Berge, so sorgt, daß nun auch euer Inneres ruhig werde und daß ihr den Trubel nicht mit euch hier herauftragt. Hier liegt das Vaterland still und leuchtend zu euren Füßen ausgebreitet. Nur wenn es in euch still ist, werdet ihr seine Stimme vernehmen, wird mit ihm eure Seele Zwiesprache halten können. Des Vater-

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landes Stimme möchte ich euch ausdeuten, mit seiner Stimme zu euch reden. Darum öffnet mir euer Herz und nicht nur eure Ohren. Wenn ihr aber nur auf Worte eingestellt seid, wenn nur die bekannten Redewendungen euch zu raschem Beifall reizen, so werdet ihr an mir vorbeihören. Auch andere schon und solche von den Besten des Volkes, von denen zu euch einige in eurer Festschrift geredet haben, haben euch gewarnt vor jener Mechanisierung der Begeisterung, wie sie jetzt mehr und mehr um sich greift. Soll es dahin kommen, daß man euch nur gewisse Worte zuzurufen braucht: Deutschtum, national, um euren Beifall und Heilruf zu vernehmen? Soll von euch jeder zudringliche Schwätzer den Zoll der Begeisterung eintreiben dürfen, weil er sich die richtige Phrasenuniform angezogen hat? Und wollt ihr, die ihr durch das bunte Bild dieses Festes beweist, wie abhold ihr im Äußeren aller Uniform seid, euch nun eure Seelen uniformieren lassen? Freunde, auch diese Tage haben es bewiesen, daß bei manchem von euch die Begeisterung nur erst eine stürmische Bewegung der Oberfläche seines Gemütes ist. Ich bitte euch, gebt nicht so billig eure Begeisterung her. Noch ist uns mehr seelische Festigkeit nötig, noch ist unser heiliger Wille zum Vaterlande viel zu sehr nur eine leichte, ausschwärmende Truppe, die jedem Angriff zum Opfer fällt. Ich aber möchte, daß euer Wille sei wie eine festgeschlossene, unwiderstehliche Kolonne. Ich möchte, daß ihr mehr seelische Reserven in der Hand behieltet. Sind auch heute noch unter euch solche, die dies nicht gerne hören? Freunde, ich kann nicht lügen. In eurem Kreise kann ich gewiß nicht lügen. Und es ist mir auch unmöglich, im Zeitraum weniger Minuten einmal demjenigen zuzujubeln, der ruft: »Die Waffen hoch« und der euch zum Waffengang mit einem Nachbarvolke anspornen will, und dann gleich darauf zu singen: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt«. Wenn ich die leuchtenden Täler unseres Vaterlandes hier zu unsern Füßen ausgebreitet sehe, so kann ich nicht anders als wünschen: Möge nie der Tag erscheinen, wo des Krieges Horden sie durchtoben. Und möge auch nie der Tag erscheinen, wo wir gezwungen sind, den Krieg in die Täler eines fremden Volkes zu tragen. Das Jahr 1813, dessen Gedächtnis wir feiern, ist für uns das ewige Symbol der Vaterlandsliebe. Woher stammt jener besondere Ton tiefer Inbrunst, den damals die Liebe zum Vaterlande gewann? Daher kam er, daß die Vaterlandsliebe damals keine Selbstverständlichkeit, keine billige Phrase war. Jene Inbrunst war die Inbrunst der zum Vaterlande Zurückkehrenden. Vergessen wir nicht, daß die Größten jener Zeit Weltbürger waren, in dem Sinne, daß sie das Heil der ganzen Menschheit dem eines einzelnen Volkes, auch ihres eigenen, überordneten. Ich will gar nicht einmal von Goethe sprechen, den doch sehr viele für der Deutschen Größten halten. Aber selbst einer der Männer, der wie nur einer den fremden Eroberer haßte und Deutschlands Waffe im Befreiungskriege führte,

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Gneisenau, schrieb damals: Wenn Preußen nicht mehr imstande oder seine Herrscher nicht gewillt seien, den Weltherrscher niederzuwerfen und sich Freiheit zu schaffen, so möge England sich die deutschen Lande einverleiben und ihnen eine freie Verfassung schenken. Auf das Gebiet der Länder kommt es weniger an, als auf das der Grundsätze: Und ebenso dachte der Freiherr vom Stein; er war bereit, wenn es nötig wäre, um der deutschen Freiheit willen den preußischen Staat aufzulösen. Die meisten von uns werden heute anders empfinden. Aber wer dies Empfinden jener Helden nicht mehr verstehen kann, dem würden auch die besondere Art jener Zeit, die wir heute feiern, der besondere tiefe Klang ihres Deutschtums und die edelsten der treibenden und spannenden Kräfte ihres Kämpfens unverständlich bleiben. Ja, es war die Liebe und Sehnsucht der Heimkehrenden in der Begeisterung jener Männer, und darum war jene Liebe so echt. Sie hatten sich den Gedanken des Vaterlandes erst wieder selbst erarbeitet. Dadurch war er ihnen im innersten Herzen unverlierbar zu eigen geworden. In unsere Begeisterung mischt sich nur zu oft noch ein unechter Ton. Mir ist, als legte er Zeugnis davon ab, daß wir nicht immer ganz imstande sind, uns von unserer Begeisterung auch innere volle Rechenschaft zu geben. Unsere Vaterlandsliebe geben wir so billig her, weil wir sie so billig erworben haben. Auch wir müssen sie uns erarbeiten, sonst wird sie die letzte Probe nicht bestehen. Auch wir müssen es wagen, von dem Vaterlande und von der uns anerzogenen selbstverständlichen Vaterlandsliebe einmal Abstand zu gewinnen. Wenn jemand, so muß es die Jugend wagen und muß es können und darf sich nicht unter die Schreckensherrschaft der Phrase beugen. Freideutsche Jugend, schaffe dir ein freies Deutschtum! Denke an den Mann, der hier gestern schon gefeiert ist und der wie kein anderer das Deutschtum für die Seelen wieder erobert hat, an Fichte. Auch er gehörte zu jenen Denkern, die sich dem Weltgeist verschrieben und durch ihr Denken Abstand vom Vaterlande gewonnen hatten. Dadurch aber erst gewann seine Vaterlandsliebe jene letzte Wucht, die sie wie bei keinem andern jener Männer gehabt hat, indem er verkündigte: Rettet euch Deutschland, denn die Welt hat Deutschland nötig; rettet es als die blänkste und schärfste Waffe des Weltgeistes. Es gab eine Zeit, da sagte man von Deutschland, es sei nur ein geographischer Begriff. Aber, Freunde, ist schon alles dadurch gewonnen, daß dieser Begriff aus der physikalischen Geographie in die politische hinübergerückt ist? Wir erfreuen uns der politischen Einheit, zu der durch den gemeinsamen Befreiungskrieg der Grund gelegt worden ist. Aber ist wirklich die Einheit, nicht des Landes, sondern des Volkes schon errungen? Geht nicht durch unser Volk ein tiefer Querriß, und ist wirklich die Freiheit des deutschen Volkes schon zur vollen Wirklichkeit geworden? Die Jugend, die vor einem Jahrhundert auf der Wartburg zusammentrat, setzte sich

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die Einheit und Freiheit des deutschen Volkes zum Ziel. Freideutsche Jugend, ist dir nicht in anderer Form noch dieselbe Aufgabe geblieben? Wir haben noch nichts Fertiges zu feiern. Die Arbeit beginnt immer von neuem, gerade jetzt beginnt sie von neuem. Die Arbeit, die zu leisten ist, damit wirklich ein einiges Volk da sei, wird nicht mit dem Schwerte geleistet. Man hat euch von der Not eurer deutschen Brüder im befreundeten Nachbarreiche erzählt. Aber, Freunde, auch in unserm eigenen Lande leiden noch große Massen eurer Brüder Not. Laßt euch ihre Stimme und die Stimme eures eigenen Gewissens, die ihnen antwortet, nicht durch Schwertgerassel übertönen. Beugt euer Gewissen nicht unter das Schwert, lieber drückt eurem Gewissen das Schwert in die Hand. Es muß wieder in unserm öffentlichen Leben Brauch werden, was so sehr vergessen zu sein scheint, daß ein Mann seine ganze Existenz einsetzt für das, was ihm das Gewissen gebietet. Vor die Fragen und Aufgaben unseres öffentlichen Lebens, vor die wir uns gestellt sehen, sind heute alle Völker gestellt. Und ihnen gerecht zu werden, das wäre ein schönerer Wettbewerb, als der Kampf um äußere Machtgebiete. Wie ihr hier hinaufgewallt seid vor die Tore der Städte und aus dem bewohnten Gefilde hinaus, so lade ich euch ein, mit mir hinauszutreten vor die Tore unseres Volkes. Sammelt euch und haltet mit mir Umschau. Unter uns liegt die Welt mit Elend und Laster, mit Not und Hunger. Wir möchten einen Ausblick gewinnen über die Kämpfe der Menschen und über die Jahrhunderte hinweg; doch die Ferne liegt uns, wie jetzt hier auf dem Berge, durch eine dichte Nebelwand verhüllt. Aber uns ist, als hörten wir durch den Nebel hindurch von einem fernen Zeitenjenseits oder von der Ewigkeit her die Stimme der Gerechtigkeit und der Schönheit. Können wir auch noch nicht zu ihnen durchdringen, so wollen wir doch auf ihre Stimme hören und ihren Klang nicht verloren gehen lassen, so wollen wir doch hören und ihnen antworten, auf daß der Menschheit die Richtung nicht verloren gehe. Wir leben in keiner guten und schönen Zeit, und noch wird keiner von uns, die hier stehen, eine gute und schöne Zeit erleben. Wir leben in einer Zeit des Überganges. Möchten wir solcher schweren und gefährlichen Zeit würdig sein, und wenn es not tut, solche, von denen Nietzsche sagt, er liebe sie, weil sie um jenes Überganges willen für die Menschheit auch den eignen Untergang nicht scheuten. Unsere Zeit ist noch ein gärendes Chaos von Gewalttat und Vernunft, von Not und Güte. Sie trägt ihren Schwerpunkt noch nicht in sich, sondern sie drängt nach vorwärts. Es ist nicht leicht, dies zu ertragen, aber es ist die Probe unseres Charakters, ob wir es ertragen können und dabei ungebrochen, klar und stark bleiben. Unsere Zeit trägt ihren Sinn nicht in sich selbst, aber jeder unserer Tage soll seinen Sinn in sich selbst tragen. Uns ist das Los des Kampfes und der Arbeit gefallen, ohne die Gewißheit, daß einer von uns den Tag des Sieges erleben wird. So wollen wir uns bekennen zu dem Worte des großen Denkers:

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Ein glückliches Leben ist uns nicht gegeben, wohl aber das Höchste, was der Mensch erlangen kann: ein heroischer Lebenslauf. Ist das eine trübe und greisenhafte Weltansicht? Ich meine, es ist die der Jugend. Uns ist die Welt noch nicht fertig und noch nicht reif. Für uns fängt die Weltgeschichte eigentlich erst an. Darum ist unser Blick unentwegt nach vorwärts gerichtet. Ja, die Welt ist noch jung, und darum versteht gerade die Jugend sich jetzt auf das richtige Weltgefühl. Und viel Größeres fühlt und will die Jugend, und viel Größeres kann sie der Welt leisten, als jetzt nur irgendwo ein Feuer löschen. Nein, es gilt, der Welt auf die Dauer zu helfen. Nicht bloß einmal schöpfen aus dem Brunnen der Jugend soll die Welt, sondern es gilt, ihr diesen Quell zu fassen und zu erhalten als einen ewigen Jungbrunnen. Darauf kommt es jetzt an, eine Jugend zu schaffen, die nicht wieder verloren gehen kann, die sich als Jugend dauernd begreift, erhält und fortsetzt. In diesem kritischen Weltaugenblick kann man der Menschheit nichts Höheres schenken als die Bürgschaft, daß immer von frischem in ihr eine junge Generation aufsteht, die durch den Trubel der Parteien und den Staub der Kämpfe des Tages hindurch unentwegt ihren Blick auf das Höchste richtet und ihren Willen immer wieder dem Höchsten weiht. Und das ist es, weswegen wir für unsere Jugend keine voreiligen Bindungen wollen und weshalb wir es für eine Verschwendung heiligster Kraft an zu geringe Aufgaben halten würden, wenn sich die Jugend jetzt statt sich dem großen allgemeinen Kampfe des Lichtes mit der Finsternis zu weihen auf einzelne Sonderbestrebungen festlegen wollte. Die Einzelarbeit und der Einzelkampf können letzte Wucht und Weihe nur bekommen von einer groß gedachten und tief gefühlten Gesamteinstellung her. Wohl liegt die Versuchung nahe, die edle Jugend in das erste beste Gefecht hineinzuschicken, aber auch die Gefahr, daß in diesem Gefecht ihre Jugend untergeht und daß ihr Blick zu kurz wird. Es gilt dieser Versuchung eine eiserne Festigkeit der Nerven, eine durch keine Erregung des Kampfes zu erschütternde Geduld entgegenzusetzen. Ihr seid zu Größerem aufgespart, und in dem großen Siege werden euch die kleinen Siege mit zufallen. Ihr sollt euren Bogen weit spannen! Zu einer solchen voreiligen Bindung kann auch der Patriotismus werden. Zu leicht sind wir geneigt, zu denken, daß wir mit unserer Begeisterung schon unserem Vaterlande ein großes und wertvolles Opfer darbringen. Aber haben wir uns auch schon gefragt, ob unsere Vaterlandsliebe so ist, daß wir sie dem Vaterlande schon darbieten dürfen? Haben wir schon ein wirkliches Recht auf unsern Patriotismus, oder ist uns diese Fragestellung noch ganz fremd? Denkt an den edlen Dichter, der seine Lieder dem neuerstandenen Vaterlande weihen wollte:

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Doch Heldenblut ist dir geflossen, Dir sank der Jugend schönste Zier ; Nach solchen Opfern, heilig großen, Was gälten diese Lieder dir?

Dürfen wir von uns sagen, daß unsere Liebe zum Vaterlande, der mütterlichen Göttin, immer gepaart gewesen ist mit solcher Ehrfurcht? Sind wir nie dem Vaterlande als zudringliche Schreier genaht? Ist immer unsere Begeisterung so wertvoll, so gehaltvoll gewesen, daß wir sie auf diesem heiligen Altare flammen lassen dürfen, oder wollen wir von jetzt ab mehr daran denken, uns unsere Begeisterung erst einmal zu verdienen und um das Recht auf sie zu arbeiten? Denkt an die Helden der Freiheitskriege. Ehe sie ins Feld hinauszogen, ließen sie in den Gotteshäusern ihre Waffen segnen. Auch euch rufe ich zu: Laßt den Geist eure Waffen segnen. Führt im Dienste des Vaterlandes und des Heiles eures Volkes keine unreinen, keine profanen Waffen. Prüft, ob der Krieg schon heilig ist, den ihr führt. Und dies ist das Kennzeichen: Ob euer Krieg zugleich ein Krieg ist für den Geist, ob er zugleich die ganze Menschheit weiterführt aus dem Dunklen ins Helle. Gerade der Jugend steht es an, über die Grenzen des Staatsinteresses und des völkischen Selbsterhaltungstriebes hinaus zu denken, der Jugend, die noch nicht in der heißen Arbeit des Tages steht. Ihr Vorrecht der Freiheit verpflichtet sie zur Freiheit. Ihr steht es an, immer und immer wieder nach dem Höchsten zu trachten, nach dem Unbedingten, nach dem, was der Erde letzter Sinn ist, was sein soll, unabhängig von den vorübergehenden Interessen der Völker und ihrer Parteien. Das verlangt letzte und höchste Kraft von euch, aber solche Kraft kann auch geschöpft werden aus der tiefsten Quelle, aus deren unversieglicher Fülle die Jugend schöpfen kann, mehr als das spätere Alter. Wer eine Liebe im Herzen trägt, der schmiede in ihrer Glut seine Waffen, und wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, der ziehe mit ihm vereint in den Kampf: Von jeher zitterten die Tyrannei und die Macht des Bösen vor der Freundschaft. Sie ist der eigentliche Zusammenschluß der Menschen zu geistiger Tat und sittlichem Siege; und nie gehe euch verloren die innige Gemeinschaft mit der Natur, die ihr euch wandernd wieder erobert habt. Sie schütze eure Jugend und erhalte sie euch euer ganzes Leben lang; denn wer, wo immer er ist, zum Himmel aufblicken kann als seinem Vater und die Erde Mutter nennen, ist ewig jung und überall daheim. Und prüft euer Denken und Wollen, ob es vor ihrer heiligen Stille standhält, ob eure Gedanken auch in der Waldeinsamkeit gleich gut klingen, wie in der Versammlung im staubigen Saale und im Getümmel eurer Kämpfe. Vieles schon habt ihr getan, mehr als ich lange Zeit gewußt habe. Nun aber sollt ihr euch bewähren, und darin besteht die Bewährung, daß ihr fähig seid,

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Lernende und Gehorchende zu sein. Lernende, die nicht nach dem Billigsten greifen, sondern dem als dem Meister zuhören, der das Höchste von ihnen fordert und sie der strengsten Wahrheit würdigt. Gehorchende, die fähig und wert sind, selbstgewählte Führer zu haben und die sich in ihren Reihen schaffen, was keine Erziehung bisher ihnen gegeben hat, eine eigene innere Disziplin, ohne die auch die Heerscharen des Geistes wie Spreu vorm Winde sind. Wenn ihr diese Probe besteht, so seid ihr würdig, Krieger des Lichts zu werden. Dann hat sich mit Recht die freideutsche Jugend ein neues Banner erkoren. Dies Banner habe ich euch ausdeuten wollen. Möge es nun über euch wehen, wenn ihr zu eurer Arbeit und zu eurem Kampfe zurückkehrt in die Täler und Städte. Möge es euch in einem neuen Sinne bedeuten: Freiheit, Deutschheit, Jugendlichkeit!

9. Ludwig Klages: Mensch und Erde (Auszug), in: Arthur Kracke (Hg.): Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Jena 1913, S. 89 – 107; Wiederabdruck in: Ludwig Klages: Mensch und Erde. Elf Abhandlungen, Stuttgart 1973, S. 1 – 25; Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 171 – 189. Jede Zeit und zumal die unsre hat ihre Schlagworte, mit denen sie ihre Tendenzen gleichwie mit Trommelwirbeln verlautbart, die Stimme des Zweifels in den Reihen ihrer Anhänger betäubend und aus den Unparteiischen immer neue Züge um ihre Fahne scharend. Die drei stärksten der heutigen lauten »Fortschritt«, »Kultur« und »Persönlichkeit«, so jedoch, daß der Fortschrittsgedanke als allein der Gegenwart eigentümlich die beiden andern trägt und ihnen im herrschenden Denken die charakteristische Farbe leiht. Sie meint also, sich überlegen zu fühlen so den Naturvölkern als nicht minder den ihr voraufgegangenen Geschichtsabschnitten, und hat auf die Frage, worauf sie das gründe, die Antwort bereit: die Wissenschaft stehe auf nie zuvor erreichter Höhe, die Technik beherrsche die Natur, vor der jede frühere Menschheit ratlos zurückgewichen sei, aus den unerschöpflichen Vorräten der Erde speise sie planmäßig das allgemeine Wohl, Raum und Zeit durchdringe mit der fernsprechenden Ätherwelle der Geist und sogar das grenzenlose Luftmeer habe nun endlich sein Erfindergenie »erobert«. Nicht für überzeugte Bekenner dieses Glaubens, die mit ihm sterben werden, wohl aber für ein jüngeres Geschlecht, das noch fragt,

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wollen wir versuchen, wenigstens an einer Stelle den Schleier zu lüften und die bedrohliche Selbsttäuschung aufzudecken, die er verhüllt (…) Worauf aber der Fortschrittler stolz ist, sind bloße Erfolge, sind Machtzuwachse der Menschheit, die er gedankenlos mit Wertzuwachsen verwechselt, und wir müssen bezweifeln, ob er ein Glück zu würdigen fähig sei und nicht vielmehr nur die leere Befriedigung kenne, die das Bewußtsein der Herrschaft gibt. Macht allein ist blind gegen alle Werte, blind gegen Wahrheit und Recht und, wo sie diese noch zulassen muß, ganz gewiß blind gegen Schönheit und Leben. Wir knüpfen bei unsrer Gegenrechnung an Wohlbekanntes an. Die Höhe der Wissenschaft sei zugegeben, wie wenig sie auch vor jeder Anfechtung sicher ist; die der Technik steht außer Zweifel. Was aber sind davon die Früchte, nach denen wir gemäß einem weisen Bibelwort den Wert alles menschlichen Tuns ermessen sollen? Beginnen wir mit solchen Erscheinungsformen des Lebens, deren Lebendigkeit niemals bestritten wurde, mit den Pflanzen und Tieren. – Die alten Völker träumten von einem verlorenen »goldenen Zeitalter« oder Paradiese, wo der Löwe friedlich mit dem Lamm, die Schlange als prophetischer Schutzgeist mit dem Menschen hauste. Das sind so ganz nicht Träume gewesen, wie es uns jene Irrlehre glauben macht, die aus der Natur immer nur eines herauslas, den schrankenlosen »Kampf ums Dasein« (…) Wo aber der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, deren er sich rühmt, hat er ringsumher Mord gesät und Grauen des Todes. Was blieb bei uns z. B. von der Tierwelt Germaniens? Bär und Wolf, Luchs und Wildkatze, Wisent, Elch und Auerochs, Adler und Geier, Kranich und Falke, Schwan und Uhu waren zur Fabel geworden, ehe noch der moderne Vernichtungskrieg einsetzte. Der aber hat gründlicher aufgeräumt. Unter dem schwachsinnigsten aller Vorwände, daß unzählige Tierarten »schädlich« seien, hat er nahezu alles ausgerottet, was nicht Hase, Rebhuhn, Reh, Fasan und allenfalls noch Wildschwein heißt. Eber, Steinbock, Fuchs, Marder, Wiesel, Dachs und Otter, Tiere, an deren jedes die Legende uralte Erinnerungen knüpft, sind zusammengeschmolzen, wo nicht schon völlig dahin; Flußmöve, Seeschwalbe, Kormoran, Taucher, Reiher, Eisvogel, Königsweih, Eule rücksichtsloser Verfolgung, die Robbenbänke der Ostund Nordsee der Vertilgung preisgegeben. Man kennt mehr als zweihundert Namen deutscher Städte und Dörfer, die vom Biber stammen, ein Beweis für die Ausbreitung des fleißigen Nagers in früheren Zeiten; heute gibt es noch wenige Restkolonien in der Elbe zwischen Torgau und Wittenberg, die auch schon verschwunden wären ohne gesetzlichen Schutz! Und wer gewahrt nicht mit heimlicher Angst die von Jahr zu Jahr schnellere Abnahme unserer lieblichen Sänger, der Zugvögel! (…) Die Mehrzahl der Zeitgenossen, in Großstädten zusammengesperrt und von Jugend auf gewöhnt an rauchende Schlote, Getöse des Straßenlärms und taghelle Nächte, hat keinen Maßstab mehr für die Schönheit der Landschaft, glaubt schon

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Natur zu sehen beim Anblick eines Kartoffelfeldes und findet auch höhere Ansprüche befriedigt, wenn in den mageren Chausseebäumen einige Stare und Spatzen zwitschern. Rührt aber doch einmal vom Klingen und Duften deutscher Landschaft, wie sie noch vor etwa siebenzig Jahren war, aus Wort und Bild jener Tage ein Hauch die verödeten Seelen an, so gibt es alsbald wieder wetterfeste Redensarten genug von »wirtschaftlicher Entwicklung«, Erfordernissen des »Nutzens«, unvermeidlichen Nöten des kulturellen Prozesses, um den mahnenden Vorwurf zu bannen. (…) Schrecklicher noch, als was wir bisher gehört, wenn auch vielleicht nicht ganz im gleichen Maße unverbesserbar, sind die Wirkungen des »Fortschritts« auf das Bild besiedelter Gegenden. Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft. Dieselben Schienenstränge, Telegraphendrähte, Starkstromleitungen durchschneiden mit roher Geradlinigkeit Wald und Bergprofile, sei es hier, sei es in Indien, Ägypten, Australien, Amerika; die gleichen grauen vielstöckigen Mietskasernen reihen sich einförmig aneinander, wo immer der Bildungsmensch seine »segenbringende« Tätigkeit entfaltet; bei uns wie anderswo werden die Gefilde »verkoppelt«, d. h. in rechteckige und quadratische Stücke zerschnitten, Gräben zugeschüttet, blühende Hecken rasiert, schilfumstandene Weiher ausgetrocknet; die blühende Wildnis der Forste von ehedem hat ungemischten Beständen zu weichen, soldatisch in Reihen gestellt und ohne das Dickicht des »schädlichen« Unterholzes; aus den Flußläufen, welche einst in labyrinthische Krümmungen zwischen üppigen Hängen glitten, macht man schnurgerade Kanäle; die Stromschnellen und Wasserfälle, und wäre es selbst der Niagara, haben elektrische Sammelstellen zu speisen; Wälder von Schloten steigen an ihren Ufern empor, und die giftigen Abwässer der Fabriken verjauchen das lautere Naß der Erd – kurz, das Antlitz der Festländer verwandelt sich allgemach in ein mit Landwirtschaft durchsetztes Chicago! (…) Wir täuschten uns nicht, als wir den »Fortschritt« leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von »Nutzen«, »wirtschaftlicher Entwicklung«, »Kultur« geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus, trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen11 Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis der Gewerblichkeit12 die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch 11 Es sei an dieser Stelle lediglich der Hinweis auf Textvarianten gegeben, denen in diesem Band nicht systematisch nachgegangen werden kann. In der hier zugrunde gelegten Fassung ist von »ursprünglichen Völkern« die Rede, in früheren, so etwa in dem bei Mogge, Reulecke: ›Meißner 1913‹ abgedruckten Text von »primitiven Völkern« (S. 98). 12 Abweichend ist in dem bei Mogge, Reulecke: ›Meißner 1913‹ abgedruckten Text von »dem Firnis des Industrialismus« die Rede (S. 99).

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überläßt, gleich dem »Schlachtvieh« zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegenstande eines schrankenlosen Beutehungers. In seinem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft. Hier halten wir einen Augenblick inne. Irgendwie gehört zur Natur auch der Mensch; manche meinen so gar, er gehöre ihr völlig zu, was zwar, wie wir sehen werden, ein Irrtum ist; jedenfalls aber lebt doch auch er, und wenn etwas in ihm mit dem Leben streitet, so stritte es nicht zuletzt mit ihm selbst. Unsre Beweiskette müßte des wichtigsten Gliedes entbehren, wenn wir nicht auch noch Beispiele böten für die Selbstzersetzung de Menschentums. (…) Die Totenliste, die hier zu schreiben wäre, um auch nur das Wichtigste namhaft zu machen, überträfe noch weit die der Tiere, daher es genügen mag, aufs Geratewohl ein paar Haupttatsachen herauszugreifen. – Wo sind die Volksfeste und heiligen Bräuche geblieben, dieser jahrtausendelang unversiegbare Born für Mythos und Dichtung: der Flurumritt zum Gedeihen der Saaten, der Zug der Pfingstbraut, der Fackellauf durch die Kornfelder! Wo der verwirrende Reichtum der Trachten, in denen jedes Volk sein Wesen, dem Bilde der Landschaft eingepaßt, zum Ausdruck brachte! Für die reichen Gehänge, bunten Mieder, gestickten Westen, metallschweren Gürtel, leichten Sandalen oder die togaartigen Überwürfe, faltigen Turbane, fließenden Kimonos beschert die Zivilisation auf der ganzen Erde den Männern das Grau des Sakkoanzuges, den Frauen die – neueste Pariser Mode! –Wo endlich blieb das Volkslied, der uralt ewig neue Liederschatz, der alles Menschenwerden und -vergehen sänftigend wie ein silbernes Gespinst verbarg! (…) Die gescheiteste Maschine hat nur Bedeutung im Dienste eines Zweckes, nicht an sich selbst, und der umfangreichste Gewerbeverband der Gegenwart ist in tausend Jahren ein Nichts, indes die Gesänge Homers, die Weisheitsworte Heraklits, die Tonwerke Beethovens zum nie veraltenden Schatz des Lebens gehören. Wie traurig aber sieht es jetzt mit unserem Denker- und Dichtertum aus, das man einst mit Recht an uns rühmte! Wen haben wir noch, seit die Veteranen des Geistes und der Tat auf allen Gebieten von uns schieden: die Burckhardt, Bachofen, Mommsen, Bismarck, Keller, seit auch Nietzsche, einem letzten Auflodern alter Gluten vergleichbar, spurlos und ohne Nachfolge dahinging! Leer ist es auf dem Parnaß, in der Politik und in der Weisheitslehre geworden, von der ganz verrotteten Kunst zu schweigen. – Steigen wir gar auf den Plan des Alltags herab, so enthüllt sich die Redensart von »Persönlichkeit« und »Kultur« in ihrer ganzen Nichtigkeit. Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr, sei es als Sklaven des »Berufs«, die sich maschinenhaft im Dienste großer Betriebe verbrauchen, sei es als Sklaven des »Geldes«, besinnungslos anheimgegeben dem Zahlendelirium

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der Aktien und Gründungen, sei es endlich als Sklaven großstädtischen Zerstreuungstaumels; ebenso viele aber fühlen dumpf den Zusammenbruch und die wachsende Freudlosigkeit. In keiner Zeit noch war die Unzufriedenheit größer und vergiftender. Gruppen und Grüppchen schließen sich rücksichtslos zusammen um Sonderinteressen, im zähen Erhaltungskampfe stoßen hart aufeinander Gewerbe, Stände, Völker, Rassen, Bekenntnisse und innerhalb jedes Verbandes wieder voll Eigensucht und Ehrgeiz die Einzelmenschen. (…) Licht und Schatten ringen noch ungeschieden in wunderbaren Massen gewaltig miteinander, dunkle Wolken ziehen verhängnisschwer dazwischen, ungewiß ob sie Tod oder Segen führen, die Welt liegt unten in weiter, dumpfstiller Erwartung. Kometen und wunderbare Himmelszeichen zeigen sich wieder, Gespenster wandeln wieder durch diese Nächte, fabelhafte Sirenen selber tauchen wie vor nahen Gewittern von neuem über den Meeresspiegel und singen, alles weist wie mit blutigem Finger warnend auf ein großes, unvermeidliches Unglück hin. Unsre Jugend erfreut kein sorglos leichtes Spiel, keine fröhliche Ruhe wie unsre13 Väter, uns hat frühe der Ernst des Lebens gefaßt. Im Kampfe sind wir geboren und im Kampfe werden wir, überwunden oder triumphierend, untergehn. – (…)

10. Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, als sechster Brief »Lukanga auf dem Hohen Meißner« in: Der Vortrupp. Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit, 2. Jg. 1913, Nr. 12, S. 760 – 764; Wiederabdruck (als neunter Brief) in: Franziskus Hähnel (Hg.): Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Geschildert in Briefen Lukanga Mukaras an den König Ruoma von Kitara, gesammelt von Hans Paasche, Hamburg 1921, 6. Auflage, Hamburg 1923, S. 79 – 84; Neuausgabe mit einem Nachwort von Iring Fetscher, Bremen 1998. Birkhain, den 15. Oktober 1913 Mukama, Herr der Rinder! Seit drei Monden bin ich wieder in einer Einsamkeit und lebe auf einem Berge und in einem Walde. Hier traf mich beides: Regen und Sonne; beides: Kälte und Wärme; beides: Leid und Freude, bis endlich die Freude größer war, und das war 13 In der Fassung bei Mogge, Reulecke: beide Male »unsere«.

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in den letzten Tagen. Es kamen da die, welche mich lehrten, daß es eine große Hoffnung gibt in dem Volke der Wasungu. Von ihnen will ich Dir jetzt erzählen. Als ich zum Bergwald zog, war die Zeit der Kornernte, dann begann der Grasund Kräuterschnitt, und als der Mond wiederkehrte, gruben die Bauern die Knollen aus der Erde und pflückten die Früchte. Da war es eines Morgens. Ich hatte die wilden Horntiere belauscht, die in dem Walde brüllten, weil die Zeit ihrer Zeugung war, und ich hatte an Weisheit zugenommen, denn auch in diesem Lande sind die Tiere die einzigen Lehrmeister des Menschen. Nun legte ich mich in meiner Grashütte am Bergbache zur Ruhe. Da hörte ich unten am Wege Stimmen und erkannte in einem Rudel junger Wasungu einen Bekannten, den Mann vorn Stamme der Korongo. Ich schnürte mein Bündel und eilte den Wanderern nach. Ich ergriff die Hand des Korongo. Er freute sich, und alle waren gut zu mir, die Knaben und die Mädchen. Denn auch Mädchen waren darunter, und ich sah, daß diese schön waren. Gehen konnten sie und springen; sprechen, lachen und singen. Sie hatten kein Leibgerüst und keine Zwangsschuhe. Sie trugen keine Steißfedern wilder Tiere auf dem Kopfe. Ihr eigenes Haar hing in goldenen Flechten über den Rücken, und Kränze roter Beeren schmückten die Köpfe. Als Lukanga das alles sah, war er froh und folgte ihnen, wohin sie gingen: den Berg hinab und wieder auf einen andern Berg hinauf, wo ein alter Häuptlingssitz emporragte. * [Fußnote * Burg Hanstein.] Hier kamen viele Jünglinge und Mädchen zusammen. Sie setzten sich nieder. Einer sprach, und die andern hörten zu, was der Sprecher sagte. Mukama, als ich selbst es hörte, wußte ich Neues. Ich wußte, daß es Schlechtes gibt, von dem sich dies Volk befreien kann. Und ich sah, daß die Wasungu Kinder haben, die Großes leisten werden. Da stand ein Sungu auf und sagte: »Wir wollen, daß jeder Sungu Land habe, und hassen es, daß viele beisammen wohnen. Nur wer Land hat und eine Vaterhütte, hat eine Heimat und kann für das Volkland kämpfen.« Und alle riefen laut, als Zeichen, daß auch sie das wollten, so, wie er es sagte. Da sagte ein anderer: »Wir wollen uns freuen über unser Volk, was es kann und was es ist und wollen zusammenhalten, weil wir Kinder eines Volkes sind. Wir sprechen alle dieselbe Sprache, wir kennen gemeinsame Taten der Väter ; so tun wir denn, was wir tun, als Glieder eines Volkes: wir sind Wasungu.« Wenn Du, Mukama, nun denkst, ich hätte nicht mitgerufen, als ich das hörte, dann irrst Du Dich. Ich erkannte, daß es göttlich ist, wenn jedes Volk seine eigene Größe hat. Es sprachen aber auch welche, die es anders wollten als diese alle. Sie sagten: »Wir wollen einen Unterschied machen zwischen Jungen und Alten: die Jungen sind nämlich klug, die Alten dumm. Wir wollen niemand gehorchen und jeden, der für sein Volk etwas tut, auslachen. Wir wollen nämlich nur an uns denken. Denken und Jungsein allein genügt.«

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Da riefen nur einige, die andern sagten alle: »Was du sagst, kannst du selbst wollen; wir aber wollen es nicht, wir wollen das andere.« Und das war gut, denn dies ist nämlich der alte Fehler der Wasungu: Immer wieder hat es bei ihnen welche gegeben, die das Gute vor sich sahen. Weil aber mehrere Wege hinführten, haben sie sich erst untereinander gestritten, welcher Weg der beste sei. Und das haben sie ganz gründlich gemacht und haben dabei viel in sich hineingegossen, bis sie überhaupt keine Lust mehr hatten, nach dem Guten hinzugehen, und andere Völker sich das Gute nahmen. Es sprach dann ein erfahrener Mann, den alle kannten, weil er viel gedacht hat und es den andern geschrieben, wenn er etwas gefunden hatte. * [Fußnote * Das war Avenarius.] Er sagte: »Wir wollen dafür sein, daß jeder Sungu die Sachen sagt, wie sie sind, und nicht, wie sie nicht sind. Wir wollen auch, daß jeder, der falsche Sachen sagt, ein schlechter Mensch genannt werde.« Und alle riefen laut. Dann sagte wieder einer : »Wir haben eigene Lieder, die wollen wir singen, und Reigen, die wollen wir springen, und wenn wir das tun, wollen wir in das Land hinausgehen, von einem Berg zum andern und uns freuen. Wir wollen aber vorbeigehen an allen Orten, wo Schlucker sitzen und Lärm hören, denn da ist alles beisammen, was nicht Art echter Wasungu ist: Schlucken und Hineingießen und Rauchblasen und Mädchen mit Haaren anderer Menschen und mit Steißfedern wilder Tiere.« Da riefen alle laut, und einer trat vor und sagte: »Ja; das ist es. Wir wollen überhaupt nicht mehr Rauch machen und hineingießen. Unser Atem soll nicht stinken, und unser Schluck soll nicht rülpsen, dann werden wir auch immer rein und jung bleiben, und unser ganzes Volk wird klug und stark sein, und die ganze Welt wird es an unserer Schönheit und an unsern Taten sehen, daß wir die Wasungu sind.« Jetzt schrie die ganze Menge einen lauten Ruf. Mukama, ich war Zeuge eines gewaltigen Feuers, das in den Herzen edler Menschen abbrannte. Diese jungen Menschen riefen Freude, weil es ihnen erlaubt sein sollte, täglich etwas für ihr Volk und Land zu tun. Ich fühlte dies: Die Wasungu werden jetzt sehr groß werden, weil die Zeit des Hineingießens zu Ende geht und die Zahl der Mästlinge sehr klein werden wird. Sie sprachen noch viel, und einer nach dem andern trat vor. Ein jeder erschien mir schöner als der andere, und jede Stimme entzückte mich. Ich dachte zwei Gedanken: Achtzehn Monde wohnte ich in Kitara und sah dann den neuen Berg entstehen, der glühend aus der Erde quoll. * [Fußnote * Kitara ist ein Land mit Vulkanen, die noch tätig sind.] Ebensolange bin ich im Lande der Wasungu und sehe jetzt das neue Volk entstehen, auf dem Berge, bei den Wäldern. Als es Nacht war, gingen alle, und auch die Korongo, den Berg hinab und wanderten bis in die Mitternacht. Und ich folgte ihnen. Sie gingen aber und

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sangen, und einer spielte dazu auf dem Fadenholz. Sie sangen von Blumen und Tieren, von Knaben und Mädchen, von Kampf und Liebe und Volkland. Am Morgen stiegen sie früh auf einen andern Berg hinauf. * [Fußnote * Hoher Meißner (Kasseler Kuppe).] Es ist nämlich ein Gesetz dieser jungen Wasungu, das niemand weitersprechen darf, wo er schon einen Tag gesprochen hat. Sie wissen, daß die Gedanken des Menschen rein werden durch weiten Weg. Deshalb gehen sie auf einen andern Berg, bevor sie weitersprechen. Die Jahreszeit war kalt. Wir aber wurden beim Gehen warm und badeten im Bergbache, unter hohen Bäumen. Dann gingen wir auf eine weite Wiese und fanden Menschen da, soviel wie Gras. Sie sprachen im Kreis und faßten sich an den Händen, sie sangen und tanzten. Sie tanzten mit nackten Füßen, wie wir es tun in Kitara. Und obwohl sie bekleidet waren, waren sie schön; denn ihre Kleider waren anders als die anderer Wasungu. So war ich froh bei ihnen bis zum Abend. Da brannten sie ein hohes Feuer an und sangen. Dann schwiegen alle, und einer stand am Feuer und sprach die Sprache der Wasungu. * [Fußnote * Knud Ahlborn.] Rundum war Nacht, und der Mond schien und die Sterne. Um den Berg aber lag das Land, dessen Feuer hier oben brannte. Ich sah die Gestalten von jungen Männern und Mädchen. Ich sah ihre Augen, und Feuerglanz darin. Ich sah, als Fremder, die Zukunft eines Menschenvolkes. Da sangen tausend Stimmen das Lied: »Groß ist uns das Land der Wasungu.« Ein Wind wehte die Flamme hoch. Ich aber beugte den Kopf und weinte. – Großer König, Du sandtest aus Deinen Diener Lukanga Mukara.

11. Kurt Aram [Hans Fischer]: Jugendbewegung (Auszug), in: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, 60. Jg. 1913, Nr. 46, S. 972 f. Die Erinnerung an das Jahr 1813 hat nun auch den Teil der deutschen Jugend, der nicht wie die Pfadfinder und der Jungdeutschlandbund eine wohl geordnete Organisation sein eigen nennt, zu einem gemeinsamen Fest vereinigt. Diese Jugend legte sich den Sammelnamen »freideutsche Jugend« bei und strömte am 11. und 12. Oktober auf dem Hohen Meißner bei Kassel zu einem »freideutschen Jugendtag« zusammen. (…)

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(…) sehr verschiedenartige Geistesrichtungen suchten auf dem Hohen Meißner zu einer Art Bundesgenossenschaft zu gelangen. Die Unterschiede erwiesen sich denn auch als so groß, daß bei einer Vorbesprechung auf der Burg Hanstein im Werratal um ein Haar alles auseinander gelaufen wäre, und daß man sich bei dem Abschluß der Debatte auf dem Hohen Meißner nur auf eine Resolution einigen konnte, bei deren abstrakten Worten sich jeder etwas anderes denken kann, und die nur in dem Alkohol- und Nikotinverbot bei allen gemeinsamen Festen eine konkrete, greifbare Forderung formulierte. Die Jugend selbst zeigte sich damit jedenfalls zufriedengestellt, denn sie feierte nun zwei Tage lang auf dem weiten, grasbewachsenen Plateau ihr Fest mit Tanzen und Singen, Wettkämpfen und Geigen- und Gitarrenspiel, Abkochen und fröhlichem beieinander Lagern. Eine sehr lebendige Illustration zu dem Wort: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum.« Der Kontrast zwischen all der grünen Jugend, die tanzte, sprang und sang und es sich wohl sein ließ, und einigen grauen Theoretikern, darunter zwei Naturmenschen, die hier ein Propagandafeld für ihre Absonderlichkeiten zu finden hofften, war nicht ohne Komik, denn die grüne Jugend kümmerte sich herzlich wenig um die grauen Theorien. Was da zwei recht kalte Oktobertage lang 715 Meter über dem Meeresspiegel in einer so leichten Gewandung, wie man sie sonst kaum im Hochsommer sieht, tanzte, sang und sprang – es war wirklich eine Freude, mit anzusehen. Jugendbewegung! Mit der Zeit merkte man auch, was diese Jugend innerlich zusammenführte und zusammenhielt, denn allein aus den Worten ihrer unterschiedlichen Satzungen ist das nicht ohne weiteres zu erkennen, da sich diese Worte allzu sehr in Abstraktionen gefallen. Zwar erklärt selbst der »Jungwandervogel« ausdrücklich, daß er sich keineswegs in irgendeinen Gegensatz zur Schule stelle, aber in Wahrheit fand sich diese Jugend doch zusammen in einer gemeinsamen Abneigung gegen den Schulzwang, der sich ihrer Meinung nach auch über die Schulstunden hinaus erstreckt. Dagegen revoltierte diese Jugend, die außerhalb der Schule ihre »Freiheit« haben wollte. Diese »Freiheit« aber benutzt sie zum Wandern, was gewiß keinen Mißbrauch der Freiheit darstellt. Und zwar ist es die Jugend der Städte, die sich zu solcher Wanderfreiheit zusammengetan hat. Gegen eine solche Freiheitsbewegung ist gewiß nichts einzuwenden. Die Rückkehr zur Natur in solcher Form kann man nur mit Freuden begrüßen. Ein schönes Zeichen für den gesunden Sinn dieser Jugend. Bedauerlich ist nur, daß diese Jugend ihre Lehrer nicht als Bundesgenossen ihrer Freiheitsbewegung empfindet, was doch natürlich wäre. Statt dessen betrachtet sie die Lehrerschaft mit Mißtrauen oder lehnt sie gar direkt ab. Ein Zeichen dafür, daß es unter der Lehrerschaft offenbar immer noch zu viel Lehrbeamte und nicht genügend Erzieher gibt. Sonst wäre solches Mißtrauen unverständlich.

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Diese jäh erwachte Freude der Jugend am Wandern, wie sie seit einem Jahrzehnt immer weitere Kreise zieht, beweist aber zugleich auch die Unzufriedenheit dieser Jugend mit dem städtischen Leben, das die Gegenwart ihr bietet. Und auch das ist nur zu verständlich. Wie kann Jugend, wenn sie gesund ist, auf die Dauer Freude haben an modernen Großtstadtfreuden? Gesunde Jugend liebt nicht nur die Natur, sondern auch die Natürlichkeit. Die Zivilisation unserer Städte hat für beides leider nicht allzu viel Raum übrig gelassen, so daß sogar immer mehr Erwachsene dagegen Front machen. Wenn wir anfangen, uns aufzulehnen und zur Wehr zu setzen, wie sollte das die Jugend nicht tun? Eine Bewegung, die sich vor allzuviel enger und drückender Schulmeisterei an den Busen der Natur flüchtet, eine Bewegung, die nach Einfachheit und Natürlichkeit in allen Äußerungen des persönlichen wie des geselligen Lebens trachtet, wird auch jedem Erwachsenen gut und unterstützenswert erschienen, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, trotzdem diese Jugend den Erwachsenen mißtraut, weil sie ihnen alle Verantwortung für das, was sie nicht mag, bekämpft und ablehnt, zuschiebt. Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort! Durch unser ganzes Land geht für den, der Ohren hat, zu hören, ein großes Sehnen nach Innerlichkeit und Natürlichkeit. Wenn die Jugend dem Ausdruck verleiht und sich dafür in Bewegung setzt, steht auch der von ihr so mißtrauisch betrachtete Erwachsene zu ihr. Auch auf dem Hohen Meißner sah man, daß sogar die freideutsche Jugend nicht übel daran täte, sich den Freundesrat Erwachsener gefallen zu lassen. Das Fest war schön, und auch dem Erwachsenen wurde das Herz weit und warm und hoffnungsfroh dabei. Aber die gar so radikale Selbstverständlichkeit, mit der hier Mädchen und Knaben nach amerikanischem und nordischem Muster beieinander waren, ist doch nicht ganz unbedenklich, so lange deutsche Jugend immer noch heißblütiger ist als amerikanische und frühreifer als die nordische. Und die Art, wie diese Jugend bei fünf Grad Wärme sich gebärdete, als sei es Hochsommer, ist ebenfalls nicht ungefährlich. Ein Freundesrat Erwachsener könnte da gewiß nichts schaden, damit die schöne Bewegung gesund bleibe und wachse, auf daß der Most, der sich, wie es in seiner Natur liegt, noch etwas absurd gebärdet, zuletzt doch noch’n Wein gibt.

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12. Wandervogel, flieg! (Auszug) in: Vorwärts – Berliner Volksblatt – Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 14. 10. 1913; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 332 – 335. Ein Wort Hegels, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich sozusagen zweimal ereignen, hat Marx dahin ergänzt, daß er hinzufügte: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Wie von den großen, gilt das von den kleinen Ereignissen, und wird wieder einmal bewiesen durch eine schlechte Kopie des Wartburgfestes von 1817. Die Bedeutung jener Demonstration ist bekannt. Am 18. Oktober 1817 hielten Studenten, erfüllt von dem frischen Geist der eben gegründeten Burschenschaft, auf der Wartburg bei Eisenach eine Gedächtnisfeier an die Leipziger Schlacht ab, die mit vielem mystischen Brimborium vor sich ging, aus der aber den mißtrauischen Machthabern in Nord und Süd nur die rebellischen Reden gegen die Reaktion und die feierliche Verbrennung großer Ballen reaktionärer Literatur und eines Ulanenschnürleibs, eines Korporalstocks und eines Zopfes in die Nase stachen. Das Wartburgfest wurde dann der Ausgang für die heimtückischen Verfolgungen der freiheitlich gesinnten Studentenschaft, und schon an dem Wartburgfest teilgenommen zu haben, galt den verbissenen Demagogenriechern als Hochverrat und Majestätsverbrechen. Zu einer zweiten Auflage dieses Wartburgfestes trommelte nun vor einigen Wochen folgender Aufruf Teilnehmer zusammen: (…) Nicht übel, das muß man gestehen! Eine Sprache, die man bislang in dem widerwärtigen Schwulst unserer Jubiläumsbarden vermißt hat, und auch eine Gesinnung, die sich in einer Zeit allgemeinen Lakaientums sehen lassen kann, und doch! und doch! und doch! Wo denn regen sich, abseits der modernen Arbeiterbewegung, »frische Kräfte in unserem Volke, die zu innerlicher nationaler Erneuerung hindrängen«? Auch wer Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören, weiß von solchen Kräften nichts zu berichten. An die Jugend appelliert der Aufruf, denn mit Recht erwarten diese Heerrufer »nationaler Erneuerung« nichts von den zitternden Tapergreisen, die den bürgerlichen Parteien das Fähnlein einer engherzigen Interessenpolitik vorantragen. Aber ach! die bürgerliche Jugend! Wer hat sich denn hinter den Aufruf zu dem 1913er Wartburgfest geschart? Ein paar Gruppen, die alle hoffnungslose Minderheiten darstellen und in ihrer Art leidlich gute Menschen, aber recht schlechte Musikanten sein mögen und sicher nicht die Welt aus den Angeln heben werden. Alle die großen studentischen Verbände, die immer noch dem akademischen Leben unserer Universitätsstädte ihr mittelalterliches Gepräge aufdrücken, fehlen,

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denn wo gegen Engherzigkeit, Strebertum und Blasiertheit mobilgemacht, wo für Geradheit, aufrechte Ueberzeugungstreue und neue Ziele die Losung ausgegeben wird, was haben da die Korps, Burschenschaften, Landsmannschaften und Turnerschaften zu suchen und wie alle die durch bunte Farben ausgezeichneten Dressuranstalten für geschmeidige Staatsdiener und hurrabrüllende Untertanen heißen! Auch die reaktionäre Presse ist offenbar stutzig geworden und betrachtet die »freideutsche Jugend« mit Mißtrauen, die noch der Erfüllung harren sieht, was Fichte und Stein gesonnen und gewollt haben, und die die historische Wahrheit gegen die rückwärts gerichtete Begeisterung verteidigen möchte, denn mit der historischen Wahrheit ist es ein böses Ding. Besonders mußte natürlich befremden, daß der »Deutsche Bund abstinenter Studenten« zu den Aufrufern gehört, denn Reaktionspolitiker wie der dicke Oertel wissen nur zu gut den staatserhaltenden Wert eines Bierherzens zu schätzen, als daß sie in nüchternen Studenten mehr sähen als des Ausmerzens werte Fremdkörper. Vor kurzem erst haben wir ja das Agrarierorgan toben sehen gegen die Greifswalder abstinenten Akademiker und gegen die kommentfeindlichen deutschen Studenten in den Vereinigten Staaten, und in derselben »Deutschen Tageszeitung« erging sich, gleichfalls vor nicht langem, ein Marburger Student in wehmütigen Betrachtungen über den Wandel der Dinge: »Dieses Jahr zogen zwei Häuflein getrennt hinauf zur Sonnwendfeier: eines prangend in alter Burschenherrlichkeit, lauter bunte Mützen, die Gesichter narbengefurcht; ein anderes, in dem herrschen die Hüte, die wenigen Mützen sind weiß oder doch so einzeln, daß sie verschwinden. Ist das die neue Generation? Man findet kaum Schmisse oder doch nur wenig. Da schien mir jedenfalls altes Studententum trotziger und stattlicher, und ich glaube auch, der Bierwagen, der ihnen vorauf fuhr, war höher beladen.«

Schlimme Zeiten, demokratische Zeiten, da mit der Höhe der Bierwagen auch die Höhe der hurrapatriotischen Stimmung bei den Studenten abnimmt! So waren es denn hauptsächlich linksstehende Blätter, die dem »Freideutschen Jugendtag« die Wege ebneten. Aber noch ehe er abgehalten wurde — er hat am Sonnabend und Sonntag stattgefunden — widerfuhr ihm herbes Leid. Zwar die Festschrift, die zu diesem »Wartburgfest« erschienen ist, enthält eine Reihe mehr oder minder trefflicher Artikel von mehr oder minder fortschrittlich gesinnten Männern wie Gurlitt, Jodel,14 Kerschensteiner und Natorp, aber es gab doch ein Aber. Wenn nämlich eine von den Organisationen, deren Namen sich unter dem Aufruf finden, durch die Zahl ihrer Mitglieder Bedeutung hat, ist es der »Wandervogel«, ein Seitenstück zu dem »Bauernschreck«, der just in österreichischen 14 Gemeint ist der Philosoph und Psychologe Friedrich Jodl.

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Gauen gejagt wird, denn auch die Wandervögel sind durch rücksichtsloses Zertrampeln von Saaten und Expropriation von Obst, Rüben und dergleichen mehr den Landwirten furchtbar. Für die Führer dieses Wandervogelbundes wird nun eine besondere »Wandervogel-Führerzeitung« herausgegeben, und die letzte Nummer dieses Blattes ist, wie die für den »Freideutschen Jugendtag« eben noch begeisterte »Frankfurter Zeitung« in bewegten Tönen klagt, eine einzige Werbeschrift für den Antisemitismus. Antisemitismus hinten, Antisemitismus vorn — »das ganze Heft bringt zum Ausdruck, daß Juden im Wandervogel nichts zu suchen hätten, und es fehlt sogar nicht an Witzen unter der ebenso bezeichnenden wie schönen Ueberschrift: Nu wenn schon!«15 Nichts ist kennzeichnender für den »fortschrittlichen« Geist der bürgerlichen Jugend als diese Zusammenstellung: Gegen Enge und Engherzigkeit! und zugleich von allen Niederträchtigkeiten die engherzigste: der Antisemitismus, »Heil deutsche Jugend und Freiheit!« und daneben: »Hepp, Hepp! Juden ’raus!« Mögen sie! Wie den fortschrittlichen Helden ihr Reinfall zu gönnen ist, so hinterläßt uns dieses von vornherein verunglückte »Wartburgfest« der »freideutschen Jugend« die tröstliche Erkenntnis, daß, wer die Jugend hat, noch lange nicht die Zukunft hat. Wandervogel, flieg!

13. Ador (sic!) [Walter Benjamin]: Die Jugend schwieg, in: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst 3. Jg. 1913, Nr. 42 (8.10.), Sp. 979 – 981; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 331 f. Der »Täglichen Rundschau« gewidmet. Jetzt heisst es stramm bleiben. Wir wollen uns keinesfalls von der Tatsache des freideutschen Jugendtages überwältigen lassen. Wir erlebten zwar eine neue 15 Das antisemitische Flugblatt: Der ›Wandervogel‹ deutsch! Blätter für entschiedenes Deutschtum von Paul Erlach (= Otto Herrmann) erregte Aufsehen; es erschien im September 1913 und in einem aktualisierten Nachdruck, ausdrücklich »für die Meißnerfahrer«; vgl. Mogge, Reulecke, Anm. 36, S. 393; vgl. Peter Dudek: »Mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.« Antisemitismus im Kontext des Freideutschen Jugendtages 1913, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, Berlin, Boston 2014, S. 74 – 92.

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Wirklichkeit: 2000 junge moderne Menschen kommen zusammen, und auf dem Hohen Meissner sah der Sehende eine neue körperliche Jugend, eine neue Spannung der Gesichter. Das ist uns nichts, als Bürgschaft für den Jugendgeist. Wanderungen, Festgewänder, Volkstänze sind nichts Letztes und – im Jahre 1913 – noch nichts Geistiges. Wir einzelne werden dem Jugendtage nicht eher unsern begeisterten Gruss zollen, bis der Gesamtgeist so mit dem Willen zur Jugend sich erfüllte, wie heute nur erst einzelne. Bis dahin wird im Namen der Jugend immer wieder die geistige Forderung an den Jugendtag gestellt werden. Folgendes geschah auf der Vertreterversammlung auf dem Hanstein. Ein Redner endete: »… zum Heile der Freiheit und des Deutschtums!« Eine Stimme: »Und der Jugend!« Hastig verbessert sich der Redner : »Und der Jugend!« Es geschah Schlimmeres. Bei der Verteilung der Sportpreise wurde der Name Isaacsohn genannt. Das Gelächter einer Minderheit erscholl darauf. Solange noch einer dieser Lacher einen Platz unter der freideutschen Jugend hat, wird sie ohne Adel und Jugendlichkeit sein. Dieser Jugendtag bewies es: nur wenige verstehen den Sinn des Wortes »Jugend«. Dass von ihr allein neuer Geist, der Geist ausstrahlt. Noch suchten sie nach greisenhaften, vernunfthaltigen Vorwänden ihres Sich-Findens, nach Rassenhygiene oder Bodenreform oder Abstinenz. Darum durften Machtsüchtige es wagen, durch Parteijargon das Fest der Jugend zu verunreinigen. Prof. Dr. Keil rief: »Die Waffen hoch!« Zwei Männer traten zum Schutze der Jugend ein. Wyneken und Luserke. Sie stammen beide von der freien Schulgemeinde. Wyneken versprach mit den Seinen sich wie eine Mauer vor eine Jugend zu stellen, auf die man eindringt, wie auf eine Wahlversammlung. Den Wickersdorfern, die in ihren weissen Mützen eine geschlossene Schar auf dem Meissner waren, vertrauen wir für diesen Kampf. Die Jugend schwieg. Wenn sie »Heil« rief, so war es lauter bei der Rede des Chauvinisten Keil als bei den Worten Wynekens. Mit Schmerz bemerkte man, wie sie von den onkelhaften Worten des Avenarius sich gekitzelt fühlte. Dass diese Jugend joviale Bonhommie ertrug, ist das Schlimmste. Dass sie sich von jedem »Abgeklärten« den heiligen Ernst rauben lässt mit dem sie zusammen kam. Dass sie lächelnde Leutseligkeit entgegennimmt, anstatt Distanz zu fordern. Diese Jugend hat den Feind, den geborenen, den sie hassen muss, noch nicht gefunden. Aber wer von denen auf dem Hohen Meissner hat ihn erlebt? Wo blieb der Protest gegen Familie und Schule, den wir erwartet hatten? Hier hat keine politische Phrase den Weg des jugendlichen Fühlens geglättet. Blieb er deshalb unbeschritten? Hier war noch alles zu leisten. Und hier ist das Jugendliche zu offenbaren, die Empörung: gegen das Elternhaus, das die Gemüter verdumpft, gegen die Schule, die den Geist auspeitscht. Die Jugend schwieg. – Sie hat noch nicht die Intuition gehabt, vor der der grosse Alterskomplex zusam-

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menbricht. Jene gewaltige Ideologie: Erfahrung – Reife – Autorität – Vernunft – der gute Wille der Erwachsenen – sie wurde am Jugendtage nicht gesehen und nicht gestürzt. Die Tatsache des Jugendtages bleibt das einzig Positive. Sie genügt, um uns gerüstet das nächste Jahr wieder zusammen zu führen, und so alle Jahre, bis auf einem freideutschen Jugendtage die Jugend spricht.

14. Ernst Keil:16 Völkische Aufgaben der deutschen Jugend. Ein Nachwort zum freideutschen Jugendtag [Fußnote * Vergl. hierzu unsere Ausführungen auf S. 36 – 37 im 1. Hefte dieser Zeitschrift (…)] (Auszug), in: Deutscher Volkswart. Monatsschrift für volksdeutsche Erziehung, 1. Jg. 1913/14, S. 182 – 186. Der Kampf um die Jugend ist mit einer derartigen Heftigkeit entbrannt, daß die deutschbewußten Jugendführer gar nicht rasch und entschieden genug auf den Plan treten können. Mit dem bekannten Jugendpflegeerlaß des preußischen Unterrichtsministeriums vom 18. Januar 1911 hat auch der Staat in die Jugendbewegung eingegriffen, und in rascher Folge sind der Pfadfinder-, der JungDeutschland-Bund und die Wehrkraftvereine gegründet worden. Da setzte eine bewußte Gegenbewegung in den Kreisen jener Jugendvereinigungen ein, die vor allem auf eine freie Gestaltung des Jugendlebens ohne ängstliche Bevormundung durch Erwachsene hinarbeiten, und dem Streben, diese Jugend womöglich zu einem Zweckverbande zusammenzuschweißen, entsprang wohl auch der Plan zur Veranstaltung des ersten freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913. Welche Hoffnungen die Veranstalter an diesen Jugendtag knüpften, geht am deutlichsten aus der bei Eugen Diederichs in Jena erschienenen Festschrift hervor. Die erwartete Klärung unter den veranstaltenden Vereinigungen ist nicht eingetreten, dieser Jugendtag wirft vielmehr seither immer weitere Wellenkreise, die den Veranstaltern höchst unerwünscht sein mögen. Vor allem wurde auf der Tagung selbst mit Erfolg verhindert, daß die Erwartungen internationaler Schwarmgeister sich auch nur zum Teil verwirklichten. Im Gegenteil! Gerade dieser freideutsche Jugendtag hat in der weitaus 16 Ernst Keil: Mittelschulprofessor, ab 1913 Führer des völkisch ausgerichteten Österreichischen Wandervogels. Von Ernst Keil auch: Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner, in: Deutsche soziale Rundschau, 3. Jg. 1913, S. 292 – 300. Vgl. Peter Dudek: Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 2012, S. 213; Uwe Puschner : Völkische Bewegung und Jugendbewegung. Eine Problemskizze, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, Berlin, Boston 2014, S. 9 – 28, bes. S. 14 – 20.

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größten Gruppe seiner Teilnehmer, im Wandervogel, eine prächtige Deutschbewegung ausgelöst. Indem die freideutsche Jugend ein Jahrhundertfest auf ihre Art feiern wollte, lief sie nur allzu leicht Gefahr, in der Abkehr von einem inhaltslosen Phrasenpatriotismus und in der Ablehnung fanfarenschmetternder Jahrhundertfeiern in das andere Extrem zu verfallen. Tatsächlich konnte man manchmal auf diesem freideutschen Jugendtag vergessen, einem nationalen Erinnerungsfeste der deutschen Jugend beizuwohnen. (…) Mit ängstlicher Scheu mieden manche Redner das Wörtchen deutsch, einer machte sogar aus seiner Geringschätzung deutschen Wesens gar keinen Hehl. »Was geht uns Deutschtum an, was kümmert uns Volkstum! – Wir wollen mehr von der Jugend hören!« Um solche Worte auf einem Erinnerungsfest an 1813 anhören zu müssen, waren Auslandsdeutsche auf den Hanstein gekommen. Dieser Ausspruch des Wyneken-Apostels und Mitherausgebers der Jugendzeitschrift »Der Anfang«, des Herrn Siegfried Bernfeld aus Wien beleuchtet blitzartig die so oft erhobene Forderung nach der völligen Absichtslosigkeit einer echten Jugendbewegung. Gegen den Phrasenpatriotismus wurde zu Recht gewettert. Aber warum ist nur immer von der Parteisuppe die Rede, die auf dem Feuer der patriotischen Begeisterung gekocht wird, warum nie von dem Absichten der anderen? Jede Absicht, jede Politik muß von der Jugendbewegung ferngehalten werden! Jede? Wir sagen: die Erziehung zu völkischem, zu vaterländischem Fühlen und Denken muß die Grundlage jedes Jugendunterrichts, jeder Jugenderziehung und jeder Jugendbewegung sein. (…) Die Selbst- und Gemeinschaftserziehung, die von manchen Wortführern der freideutschen Jugendbewegung als das vielen Gruppen Gemeinsame bezeichnet wurde, muß von diesem völkischen Geiste erfüllt sein. (…) Es ist auch bezeichnend, daß als Folge dieses ersten freideutschen Jugendtages, der der Annäherung der einzelnen Jugendvereinigungen dienen sollte, zunächst eine heftige Fehde zwischen Wandervogel- und Anfangkreisen und zwischen dem »Vortrupp« und Wyneken ausgebrochen ist. Die Kampfgemeinschaft, die auf dem Hohen Meißner beschlossen wurde, erwies sich bei der ersten Gelegenheit als papierner Beschluß. (…) Die Vertreter der Deutsch- und Rassenbewegung im Wandervogel müssen sich bereits von dem anderen Herausgeber des »Anfang«, von Herrn Georges Barbizon, in Nr. 52 der »Gegenwart« ihre »dunklen, ungeklärten, reaktionären und kulturfeindlichen Instinkte« vorwerfen lassen. (…) Noch ist es nicht möglich, ein klares Bild über den Weg zu gewinnen, den die freideutsche Jugend in ihrer Mehrheit einschlagen wird. Aber bald wird der Zeitpunkt zur entschiedenen Stellungnahme da sein. Das Jahr 1815 ist das Gründungsjahr der deutschen Burschenschaft, das Geburtsjahr – Bismarcks gewesen. Schon im nächsten Jahre also wird wieder eine Jahrhundertfeier der deutschen Jugend nötig sein, das jubelnde Erinnerungsfest einer Jugend, die sich zu Bismarck bekennt. (…)

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15. Ferdinand Avenarius: Freideutsche Gesinnung (Auszug), in: Der Kunstwart, 27. Jg. 1913, Heft 4 (zweites Novemberheft), 1913, S. 257 – 264. Was war das denn für eine Merkwürdigkeit, dieser »freideutsche Jugendtag« droben auf dem Meißner? In verschiedenen Zeitungen der nämlichen Parteien, sogar in ein und derselben Zeitung stand darüber zu lesen, was wie Süßmilch und Galläpfeltinte verschieden war. Jugendtage haben wir bisher nur bei Sport und anderem Juchhei, nie »zu ernsten Zwecken« gehabt – wollen etwa die Jungen anfangen, von sich aus Kultur, von sich aus Geschichte zu machen? Heimlich antisemitisch-konservative, wie die einen, heimlich demokratische, wie die andern, oder gar anarchistische, wie auch welche andeuten? Oder wollen sie gar eine neue »Partei« gründen? Soviel ist auch dem friedlichen Bürger gewiß, dem von allem Vorhergegangenen nur ein paar Zeitungs-Notizen-Schatten um den Kopf gehuscht sind: seit langem rumort was in unsrer Jugend. Und nun hat ein so hochangesehener Professor wie Natorp* [Fußnote * Bei der Wichtigkeit der Sache darf ich vielleicht die Leser bitten, Natorps kurzen Aufsatz in unserem zweiten Oktoberhefte vor allem weiteren nochmals zu lesen?] sehr ernsthaft davon gesprochen, andre Leute auch – also: was hat das zu bedeuten? Aus der Einladung und der Festschrift schallten allerlei Stimmen durcheinander – welchen davon will man folgen? Unter den schönen Eindrücken aus diesen Tagen wird mir einer vom Vorabend unvergeßlich sein. Auf der alten Burg Hanstein saßen und standen die Vertreter der einladenden und befreundeten Verbände beisammen im hohen Rittersaal, der bei den paar Kerzen des Kronleuchters in malerischem Halbdunkel lag. Man sprach darüber, was all dem Werdenden aus so viel Keimstöcken wohl gemeinsam sei, ob man sich einigen könne für ein Zusammenwirken – und es schien nicht so. Der sprach für dieses Sonderziel, der warb für jenes, der klagte über etwas, der schalt auf was andres, der wies dort, jener ganz wo anders hin. Recht deutsch ging es zu, mal schulmeisterlich im Kampf gegens Schulmeistern, mal unduldsam im Verlangen nach Duldsamkeit, mal verständnislos im Ringen um Verständnis, oft unpraktisch und unpolitisch. Hinter den erregten Stimmen aber war noch ein Tönen, das summte durch die alten Fenster vom Abendhimmel herein aus der Jugend, die draußen sang. Alte Volksweisen jetzt, alte Kirchenlieder nun, lauter oder leiser, je nach Rede und Pause, da war es immer, und sobald einer schwieg, herrschte es auch im Saal. Nun sah man wieder auf die Redner – wie ernst es all diesen Menschen war. Wie gar nicht um Vorwände, wie heilig um ihre Sache! Die guten Gesänge von draußen her paßten zu allen. Da empfand man’s: das Bekennen und Suchen der Älteren ward umsungen aus dem Munde der Jüngsten von den Hochgefühlen der Gewesenen, die im Liede noch

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weiterlebten. Das Heute gesegnet vom Einst. Und alles deutsch. Drinnen der Streit, draußen das Lied, und es war doch eine Einheit. Sie mußten sich ja wohl finden. Und sie fanden sich auch. Daß man das Einigende unter sich nicht sogleich sah, sonderbar, das bedeutete in all seinem Humore das Schönste. Die Jüngsten, von den Vierzehnjährigen ab, waren zwar spärlich und nur unter guter brüderlicher Hut, die Mehrzahl auch der Mädchen war um die zwanzig herum, die Führer waren Studenten der hohen Semester oder sie hatten schon ausstudiert – immerhin, von den »Wandervögeln« bis zu den »akademischen Freischaren« waren’s junge Menschen. Verehrlicher Leser, nun denke dran, wie junge Menschen der »Gesellschaft« sonst mit den Körnchen auftrumpfen, die sie etwa gefunden haben. Diesen »Freideutschen« nun schien gar nicht mehr bewußt, war ganz selbstverständlich geworden, was sie von der Jugend üblichen Schlages unterschied – keiner kam darauf, es für wichtig genug zu gemeinsamer Grundlage einer Verständigung zu halten. Daß man aus großen Weiten, selbst aus Österreich und der Schweiz hierher zusammengekommen war, wo doch nichts »geboten« ward, als Wald und Wiese und wieder junge Menschen, daß man vierter Klasse fuhr und dann, alles im Rucksacke bei sich, nur »tippelte«, daß man auf Heuböden oder auf Strohsäcken schlief, daß es weder Wein oder Bier noch gar Schnaps und weder Zigarren noch Pfeifen gab, daß Linsensuppe und ein paar Nudeln den höchsten Festmahlsrang einnahmen, daß hier Jugend heilfroh war beim Singsang nach einfachen Reigen, daß man im schlichtesten Kittel oft barfuß ging – kurz: daß man in einer Zeit der fortwährenden Luxussteigerung zur Einfachheit, zur Natürlichkeit kam und ihrer mit höchstem Frohsinn genoß, das verstand sich dieser Jugend schon ganz von selber. Daß nach dreitägigem Treiben von rund zweitausend Menschen auf den Feldwiesen kein Blatt Papier herum lag, daß nirgends ein Fleck beschmutzt und nichts an Busch und Baum beschädigt war, daß bei der unvergleichlichen Fröhlichkeit nie ein Gekreisch, nie auch nur ein Geschrei zu hören war, daß keiner je die Zucht über sich verlor, daß der Sinn für Anstand, Reinheit und Ordnung allen schon, sagen wir : immanent war, davon machte keiner auch nur das geringste Aufheben. Du mochtest an irgendein Grüpplein treten und konntest gewiß sein, auch feine geistige Interessen zu finden, wie ja beispielsweise die Wandervögel zum Miterleben der Heimat auch in Kunst und Geschichte erziehen. Auch das verstand sich allen von selbst. Ebenso wie die Fürsorge der Älteren für die Jüngeren, wie bei freiestem Kameradenverkehr die Achtung vor dem anderen Geschlecht, wie das Sich-Ein- und Unterordnen des Einzelnen ins Ganze. Daß es Ausnahmen geben mag, bezweifle ich keinen Augenblick, obgleich ich in fünf Tagen dort und drumherum keine gesehen habe. Gibt es bei der streng überwachten Erziehung durch Vorgesetzte keine Ausnahmen? Nichts zu wollen, meine Altersgenossen: hier ist eine Jugend, die sich mit selbstgewählten Führern selber zur Disziplin

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und damit zur Freiheit nicht nur zu erziehen vorgibt, sondern tatsächlich schon erzieht. Hören wir jetzt, wie einer aus ihr selber zusammenfaßt, »Was wir wollen«. Einer ihrer Führer, B. Lemke, schreibt: »Auf der einen Seite stand eine Jugend, die nicht zu wissen schien, worauf sie hinaus wollte – auf der andern lockten Führer heutiger Kulturbewegungen, deren Worte ihren Einfluß auf suggestible Gemüter nicht verfehlen. Es schien, wie jemand bemerkte, nicht ein Jugend-, eher ein »Kultur«-Tag stattzufinden, bei dem alle Bewegungen, die heute Anspruch auf »Kultur« machen, sich um die kommende Generation bewarben. Man konnte das Fürchten lernen vor dieser Kultur – was sage ich: vor diesen Kulturen, deren jede behauptete, die Kultur zu sein.«

War es dies, was sie der Jugend verdächtig machte? Man möchte es fast meinen. Am folgenden Tage resolvierte sich die Jugend kurz, sie stellte keine »Richtung« auf, sie legte sich auf keine Bewegung fest, sie erkannte nur eins an: die unbedingte Wahrhaftigkeit als die Form jeden Strebens. Durch das Maßhalten der Führer, denen es mit Recht darauf ankam, erst einmal ein Freigebiet zu schaffen, auf dem Auseinandersetzungen über die Jugend ihre Stätte finden könnten, ist ein Riß vermieden worden. Innerhalb dieses Ringes aber gilt es nun, eine reinliche Scheidung der Geister herzustellen. Zunächst jene schon berührte zwischen »Kultur«strömungen und der Jugendbewegung. Man wird entgegenhalten: »All dies kann nicht früh genug angebaut werden, wenn es später wirklich werden soll.« Gewiß, tretet nur damit ein in die Helle der Arena, aber kämpft mit fachlichen Gründen und nicht mit den unhonorigen Waffen der Überredung. Daraus ergibt sich klar, daß man nicht kommen darf mit Zwecken, die Fassungs- und Endscheidungskraft (sic!) der Jugend übersteigen, wie zum Beispiel die Rassenhygiene, besonders wenn damit ein dem geläufigen und biologischen Sinn nicht entsprechender Gedanke gemeint ist* [Fußnote * Soviel ich verstand, wurde kein solcher empfohlen.], die Boden-, Schul-, wohl gar die Ehe-Reform usw. Die bieten gewiß alle sehr dankenswerte Aufgaben, aber nicht Aufgaben für die Jugend. Es gibt doch auch noch außerhalb der Menschheit von 15 bis 25 genug Agitationsgebiet, es ist vielleicht für die Gestaltung der res publica nicht einmal der wichtigste Teil, an den man sich da wendet: weshalb sucht man jetzt diese Organisationen auf, die man nicht hervorgerufen hat? Hier will sich die Jugend allein auf sich selbst stellen. Daß dies möglich ist, hat sie durch ihre Organisationen bewiesen. Die Idee, in der sie sich einigt, kann nur eine sein, die ihr schon innewohnte, bevor sie sie auch deutlich zugrunde legte. Ich behaupte, es ist eben die Idee der Selbsterziehung. Also doch eine besondere, neue Idee? »Neu« kann man sie wohl nicht nennen, wenn man das nicht neu nennen will, daß man über einen alten Stein von neuem stolpert. Auch daß sie eine »besondere« Idee sei, kann man nicht sagen, da ihr

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vielmehr – von aller menschlichen Gemeinschaft anerkannt – doch noch nicht das Geschick widerfahren ist, als Vereinsfahne zu dienen. Vielmehr bildet sie den Ausdruck des Gegengewichtes zu jeglicher Gemeinschaft, sie fördert das Individuelle zutage und hilft es entwickeln. Daher taugt sie zwar nicht dazu, auf sie hin einen Klub zu gründen, wohl aber, eine Anzahl von besonderen Zwecken, die sich je ein Verein in Gottes Namen setzen mag, unter einem Gesichtswinkel anzusehn. Ich habe dies auf der Tagung kurz versucht und habe im allgemeinen keinen Widerspruch gefunden. Freilich muß sofort eine notwendige Einschränkung gemacht werden, die die Sache selbst gebietet. Die Selbsterziehung ist nicht gedacht – das kann nicht stark genug betont werden – als Gegensatz zu der Erziehung durch andre. Die Erziehung durch andere wird, solange die Welt steht und Kultur herrscht, die Grundlage sein und bleiben. Die Erziehung in Familie, Heer und Staat wird nicht irgendwie in Frage gestellt. Aber daneben gibt es – und gab es immer – die selbsttätige Entwicklung des Individuums, ohne die ebenfalls Kultur nicht bestehen kann. Diese zu organisieren, vielmehr : die schon zu diesem Zweck bestehenden, von ihr selbst geschaffenen Verbände der Jugend zu sammeln, das sei die Hauptaufgabe der neuen Vereinigung. Insofern haben wir hier auch nicht eine von vielen andern Ideen vor uns, sondern die Idee, das heißt das übergreifende Gesetz der Jugendbewegung, nach dem sich alle Einzelströmungen richten können, ohne ihre Sonderart aufzugeben.« (…) 1. Wenn Familie, Schule und Staat den gegebenen Einrichtungen nach durch Eltern, Lehrer und Vorgesetzte auf uns wirken, so wollen wir außerhalb ihrer Kreise uns selber erziehen, denn nur dadurch können wir in uns bilden und festigen, was unser Volk doch zur inneren Gesundheit vor allem braucht: unentreißbar eingewurzeltes Pflichtgefühl der eigenen Verantwortlichkeit. Deshalb wählen wir für die freideutsche Arbeit unsre Führer selber. 2. Wir wollen Deutsche sein. Das Beste, was uns gegeben ward, erhielten wir durch unser Volk, das Beste, was wir erreichen können, wollen wir unserm Volke geben. Wir wollen Menschen der Heimat sein, die wir pflegen und lieben, aber auch die Deutschen in Österreich und der Schweiz gehören zu uns. Unsre Bewegung kennt Volkstums-, aber keine Landesgrenzen. 3. Wir wollen uns in jeder Weise körperlich tüchtigen. Wir wollen unsern Leib mit Muskeln und Sinnen üben. Wir wollen in jeder Beziehung gesund leben. Wir wollen Verweichlichung sowohl wie Vergiftung vermeiden. 4. Wir wollen beweisen, daß man auch ohne künstliche Reizmittel, insbesondre ohne Alkohol und Nikotin froh sein und daß man so allein jene echte Freude pflegen kann, die Ausdruck der Tatsache ist, daß Körper und Geist sich wohlig nähren. 5. Wir wollen gegenüber dem steigenden Luxus bewußt und entschieden die Einfachheit der Lebenshaltung pflegen.

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6. Wir wollen in der Kleidung wie bei innerlichen Dingen die bleibenden Sachforderungen gegen die Moden unterstützen. 7. Unter Freiheit verstehen wir die Fähigkeit und das Recht, nach der eigenen Überzeugung zu leben. Wir wissen aber, daß oft für eine Überzeugung gehalten wird, was doch nur Suggestion ist, und ferner, daß sich auch ehrliche Überzeugungen beim Wachsen der Erfahrungen wandeln. Deshalb lehnen wir für unsre jungen Jahre und für die Allgemeinheit unsres Bundes jede Bindung auf irgendeine Parteirichtung ab. Der Einzelne wird sich anschließen, wo er’s für richtig hält, und dort in freideutschem Sinne wirken. 8. Wir streben nach unbedingter Wahrhaftigkeit bei uns selber und bei den andern, wir bekämpfen die Lüge, gleichviel, ob sie sich bei uns, unsern Geistesverwandten oder unsern Gegnern, ob sie sich geheim oder öffentlich, ob sie sich in privatem oder angeblich »höherem« Interesse zeigt. 9. Wir wissen, daß die Jugend nicht berufen sein kann, die Älteren zu lehren. Aber wir glauben, daß wir trotz unsrer Jugend in unserm Volk nützlich und für manche erzieherisch wirken können durch unser Beispiel. Damit wollen wir zwar nicht auftrumpfen. Meinen aber : wenn unsre Scharen in Stadt und Land bei einfachster Lebensführung froh sind und eben dadurch Alkohol, Nikotin und Luxus jeder Art zum allermindesten als entbehrlich zeigen, wenn sie die alten und neuen Kunst- und sonstigen Kulturgüter unsres Volkes überall in Ehren halten und da und dort durch ihre eigne Pflege vielleicht wieder zu Ehren bringen, wenn sie zeigen, wie strenge Selbstdisziplin mit höchster Freiheit der Jugend vereinbar ist, wenn sie zeigen, daß sie Andersdenkende zu achten und von Andersdenkenden zu lernen wissen, so wird das ohne viel Worte manchem Altersgenossen die Augen öffnen, der noch bei Trägheit und Luxus in innerer Unfreiheit lebt, und wird bei den Älteren etwaige Vorurteile gegen uns selbst zerstreuen. Deshalb bitten wir, daß man uns gewähren lasse. (…)

16. Gottfried Traub: Auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Die Hilfe. Wochenschrift f. Politik, Literatur u. Kunst Nr. 42, 1913, S. 659 f. Samstag mittag kam ich hinauf. Eine Bergkette um die andere schob sich in den Hintergrund. Wald lagert in breiter Stille um mich. Da huschten von allen Seiten kleine Trupps durch das Gezweig. Und endlich stand ich vor dem freien, großen Platz. War das ein Anblick! Bald 2000 Personen Jungvolk bewegte sich hier, Jungens und Mädchen. Sie schrien nicht, sie tobten nicht, aber alles war Freude an Bewegung. Ein einziger großer Lebensrhythmus strömte durch diese Völker.

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An den Rändern des weiten Platzes lag das Gepäck. Alles sah feldmarschmäßig aus wie ein Biwak. Ehe ich gekommen, hatte man abgekocht. Jetzt tummelte sich alles in fröhlichen Stunden. Hier warf man Speere, dort übte man sich im Wettlauf. Anderswo andere Turnspiele. Um hohe Stangen mit Blumenkränzen tanzten Gruppen, leise, innig singend, bald flüsternd, bald jauchzend. Ich war gebannt von diesem Leben der Geschlechter miteinander. Das war kein Schultanz, das war kein Werbetanz, das war die harmlose Freude des Körpers an seiner Schmiegbarkeit und der Seele an einfachstem Zusammenleben. Ich sah nirgends das, was man Erotik nennt, und ging doch mehrere Stunden hin und her. Ich sah nur ein Bild voll ungezwungenster Natürlichkeit, auf die gar kein Finger zeigte, die man als selbstverständliche Gabe der Natur betrachtete. Die Bewegungen dieser tanzenden, springenden Scharen zeigten Menschenkinder und nichts weiter. Es war kein mühsamer Wille zur Freude und zur Freundschaft. Man war da, faßte sich an der Hand und genoß Himmel und Erde. Fast alles lief barhäuptig. Aber auch hier kein Gesetz. Bunte Kappen und Mützen, farbige Trachten und geschmackvolle Gewänder und daneben die einfachen Tageskleider oder auch einige »Naturmenschen« – es fiel nichts auf, weil man sich nicht als Mensch aneinander störte. Man gab kein Schauspiel. Man wollte auch nicht festen. Ursprüngliche Harmlosigkeit und ungezwungene Bescheidenheit verkörperten sich auf dem Feld vor Gott und seiner Sonne. Avenarius und Diederichs, Wyneken und Popert, Schneehagen und die anderen gingen durch die Reihen. Nichts von Betrieb. Ein einziges Aufatmen gesunden Eigenlebens. So waren sie zusammengekommen von allen Gegenden, die Freischaren, abstinente Studentenvereine, Wandervögel und Vortrupp, Burschen aus Jena und eine ganze Reihe von solchen, die sich noch nicht kannten. Auf dem Hanstein hatte man sich noch ausgesprochen. Es müssen interessante Verhandlungen gewesen sein. Man einigte sich, die Jugend von keiner einzelnen bestimmten Parteibewegung, auch nicht von einer einzelnen Reformbewegung einfangen zu lassen, sondern sie ihrem eigenen Leben wiederzugeben. Als ich vor Wochen aufgefordert wurde zu reden, war als erster Redner Professor Dr. Lamprecht-Leipzig bestimmt. Gerne wäre er gekommen. Aber er konnte nicht. Aus gesundheitlichen Gründen. Ebenso mußte Prof. Eucken absagen und Liz. Rohrbach. So blieb ich allein übrig. Es war wahrhaftig keine leichte Aufgabe, besonders, als ich dieses eigengewaltige Bild einer solchen Jugend um mich sah, das in Worte zu fassen. Viele hatten den Zug begrüßt. Ein Delbrück und Kühnemann, ein Natorp und Kerschensteiner, ein Gurlitt und Jodl, Potthoff und Eulenberg und wie sie alle hießen. Man merkte, daß wieder ein neuer Ansatz von Leben in der Geschichte der Jugend sich durchsetzen wollte. Ich werde den Augenblick nie vergessen, wie ich oben am Weg vor dem Gehölz stand, und über die Wiesen kamen die Hunderte von deutschen jungen Männern und jungen Frauen mit ihrem Gepäck und lagerten sich auf dem Boden

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in einem Waldwinkel, und aus tausend Kehlen klang Schillers Lied: »Freude, schöner Götterfunken!« Weithin grüßten die blauen Linien der Berge in der Dämmerung des Abends. Ich will nur darum hier kurz sagen, was ich geredet, weil so manche Denunziationen gegen diese Jugend einem die Freude vergällen konnten. Schleiermacher und Arndt hatten mitten in den Befreiungstaten von dem Regierungsrat Schmalz zu leiden, der sie zu verdächtigen den Mut hatte, und die »Schmalzgesellen« sind bis zum heutigen Tag nicht ausgestorben. Mit Arndts Freiheitsgruß grüßte ich. Wir wollten das Fest begehen im Sinne von Fichte, nicht mit Fanfarenklängen und Hurrarufen, sondern voll heißen, stillen Danks für das, was geschah, und erster Selbstbesinnung auf das, was not tut. Wir gingen zu Lützow und Schill, legten einen Kranz nieder auf Körners und Prochaskas Grab, ehrten voll Ehrfurcht den Meister jener Tage, Freiherrn vom Stein, zogen mit den Burschen in Jena ein und begleiteten sie zum Wartburgfest, dem Tag, der nicht der Anarchie, sondern dem Sehnen des Volks nach dem Preis galt, um den man eben die Völker betrogen hatte. Die Hauptaufgabe aber heißt: was ist not? Fichte muß uns wieder in die Schule nehmen. Eine deutsche Nationalerziehung soll oberste Pflicht werden. Hierzu wollen wir beitragen durch unsere Ideale. Ich maßte mir nicht an, sie als Gesetze oder Willensäußerung der wenigen wiederzugeben. Ich redete auf eigene Verantwortung. Kraft soll wachsen. Das Ideal eines körperlich starken und reinen Geschlechts ist gut. Es ist die unentbehrliche Grundlage. Aber Leben ist der Güter höchstes nicht. Der Wille adelt die Kraft. Denn der Wille ist nur frei, wo er in innerer Unabhängigkeit seinem eigenen Gesetze folgt. 1813 siegten Kant und Schiller, Fichte und Stein. Denn sie hatten dem Volk den Willensidealismus geschenkt, dem nichts unmöglich ist. Kraft und Wille vereint erprobt in der Gemeinschaft. Hütet euch die Freundschaft als persönlichstes Gut! Aber sie muß sich weiten zur Erziehung zum Sinn für Gemeinschaftlichkeit. Unser Kampf gilt allen bloßen Rechthabern. Die stärkste Probe dieses Sinns fordert das Vaterland. Wir lieben es nicht im Sinne einer Partei. Es ist eine heillose Sache, den Patriotismus als Monopol einer Partei zu stempeln. Wir lieben es nicht, um daran zu profitieren und Geschäfte mit ihm zu machen. Wir lieben es nicht nur aus Natur- und Geschichtsromantik, so golden die Schätze sind, die sie uns geben und die wir pflegen sollen. Wir lieben es um der Idee des Staates willen, der alle Kräfte sammelt und zusammenschweißt zur Entfaltung. Den unpersönlichen Staat zum persönlichen Gut zu machen, ist die Aufgabe. Und das geschieht allein durch Vertrauen in alles Volk der Arbeit, vom Techniker zum Arbeiter, vom Unternehmer zum Bauer, und im Haß gegen das Müßiggängertum. Im übrigen aber bleibt das Ideal: Ganze Menschen und nicht Uebermenschen! Offene Ohren, weite Augen, tapfere Hände für alles – aber wahre dein Herz, deutsche Jugend! Verkaufe sie nicht, auch keiner reinen Parteibewegung. Lebe dein eigen Leben! Finde dich, dann

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wirst du ein Sammelbecken von Volkskraft. Werdet Streiter im Reich des Lichts. Geistesschlachten kommen. Dazu seid ihr nötig. Die Sonne kommt! Vor mir sprach noch ein Freund der Bewegung aus Oesterreich für Unterstützung der deutschen Sprachvereine. Dann ging man zum Feuer, und die Flammen des Holzstoßes lohten hinaus in die weite Nacht. Am Feuer sprach noch Dr. Ahlborn in begeisternden Worten vom Bund in seiner Mannigfaltigkeit und segnete das Feuer. Ich nahm Abschied von dieser Stätte, nur zu früh, weil ich mußte. Das Erlebnis selbst vermag ich noch nicht auf einen festen Ausdruck zu bringen. Was bis ins Innerste packte, war die Anspruchslosigkeit einer neudeutschen Jugend voll selbstbewußter Achtung vor Verantwortlichkeit, Arbeit und Kraft ohne alle Rücksicht auf politische und andere Parteiunterschiede. Als Gegensätze, welche man bekämpfte, wurden empfunden protzenhafter Parvenügeist, militarisierender Standesdünkel, erwerbssüchtiger Materialismus. Die Sehnsucht nach deutscher geistiger Wiedergeburt lagerte über diesen ernsten Menschen. Ich möchte die für mich ergreifende Erinnerung an diesen Tag schließen mit dem Gebet von Krüger, wie er es dem Jugendtag gewidmet hat: Laßt uns Herz und Hände Heben hoch empor: »Führ’ uns, Herr, zum Ende Durch der Nebel Tor! Gib uns wieder Frieden Wie vor alter Zeit, Oder laß beschieden Sein uns offnen Streit! Daß sich wieder finde, Was noch kämpfen kann, Und das Pack verschwinde, Das nicht Weib noch Mann! Daß sich endlich scheide Falsch und Halb und Echt Und aus Streit und Leide Reif ’ ein neues Geschlecht, Das in schwersten Stunden Treu zur Heimat hält, Fest in Lieb’ verbunden Mit ihr steht und fällt. – Dann laß wieder schauen, Herr, dein Angesicht, Laß den Himmel blauen Hell im Sonnenlicht!«

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17. Enno Narten: Tagebuchblätter eines Meißnerfahrers (Auszug), in: Der Wanderer, 8. Jg. 1913, Heft 7 (Oktober), S. 175 – 180. Als Schriftleiter muß ich den Tagebuchblättern Enno Nartens ein paar erklärende Worte vorausschicken. Ich habe sie in erster Linie wegen ihrer zum Teil notwendigen Kritik am Freideutschen Jugendtag aufgenommen, damit wir nicht etwa übermütig werden. Zweitens scheint mir die Anregung zum Ankauf und Ausbau des Ludwigsteines für die wanderfrohe Jugend sehr wichtig zu sein, und drittens wird sich wohl mancher an Freund Ennos »Lebensart« erfreuen. Da er mir bei der geringsten Streichung seine Mitarbeit kündigen wollte, mußte ich sozusagen die Katze im Sack kaufen. Christian Schneehagen. 10. Oktober. »Ja, auf dem Fürstenstein waren wir schon, der Mann läßt euch doch nicht hinein«, meinte Hänschen. Na, so leicht ließen wir uns nun nicht abspeisen, und außerdem sind die Burgmauern, wie gesagt, meist sehr leicht zu erklimmen. Bob war der erste oben, der zweite sauste mir zur Abwechselung aus drei Meter Höhe mit gutbenagelten Schuhen auf den Schädel, doch hat’s dem Schuhbeschlag gottlob nichts geschadet, immerhin bewog es aber einige, an anderer Stelle die Burg zu nehmen, was auch gelang, sodaß wir nachher uns ganz ungestört der Anmut des Werratales und des Blickes auf den Meißner erfreuen konnten, ohne Aufseher, ohne Erklärung und vor allem ohne - - - Trinkgeld (…) (…) Wir standen in Allendorf auf dem Kirchturme und sangen. Es war ein prächtiges Bild von hier oben auf das friedliche Städtchen. War es schon den ganzen Tag über auf der Bahn und auf den Landstraßen voller Wanderer gewesen, hier wimmelte es in allen Gassen, und es war lustig von oben anzuschauen, wie eine Horde nach der anderen kam und wieder verschwand. Dazwischen sah man überall die blauen Mützen der Holzmindener Landschulheimer. Das versprach recht bunt zu werden auf dem Meißner, ei ho, und es kam eine große Lust über uns (…) Im Hofe des Hanstein wogte es wild und heftig, die feinen Worte unseres väterlichen Freundes Avenarius hatten zwar viel geglättet, aber es gährte und brodelte doch noch in mancher Brust. Es war ein Summen und Brummen wie in einer Börse. Als die Vertreter der anwesenden Bünde oben tagten, verzogen wir Volk uns, und da wir den Beschluß, den Abend noch zum Meißner zu fahren und zu laufen, für höheren Blödsinn hielten, der sich nur durch die im Wortkampf erhitzten Gemüter und die nicht einwandfrei geregelte Bleibenfrage erklären ließ, zogen wir hinab nach Bornhagen. Die Mädel kamen in Betten, wir leisteten den Mäusen im Stroh Gesellschaft. Doch vorher gabs einen feinen Kakao und Fischersche Musbrotstullen, was uns wieder soweit zur Vernunft brachte, daß wir die anderen ihres Marsches wegen gar sehr bedau-

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erten und dann noch recht lange zur Freude der in der Wirtsstube sitzenden Bauern sangen, bis ein Gewitter am heiteren Himmel heraufzog in Gestalt einer »tatkräftigen« Bäuerin, die ihren Mann abholte, der ausgeschickt war, um Petroleum zu holen, statt dessen aber die Groschen in »edlen Branntwein« umgesetzt hatte. Blitzen tat’s andauernd in den Augen des forschen Weibes, zum Donnern ist’s aber wohl erst zu Hause gekommen. Gott sei dem armen Sünder gnädig (…) 12. Oktober. (…) Wir hatten eine lange Rast im Höllental hinter uns, versüßt durch eine feine Freßkiste von Hänschens Grete. Dann gings auf schattenlosen Straßen dem Meißner zu, der erschreckend hoch vor uns lag. Das konnte noch niedlich werden, zumal schon jetzt alle halbe Stunde alles »Rast!« schrie. Der Aufstieg setzte allem die Krone auf, war man denn ein Maultier oder ein Kletteraffe? Und als Belohnung für all’ dies Ungemach eine Casseler Kuppe, so schön und so leer und so windig, das man garnicht wußte, was man zuerst tun sollte: verschnaufen, frieren, suchen oder futtern. Während man dies noch überlegte, bot sich schon Gelegenheit zum Verpusten, wobei man gleichzeitig fror, was Anlaß gab zum Essen, um wenigstens einige innere Wärme zu erzielen, und dann gings ans Suchen. Suchet, so werdet ihr finden! Wir hatten schon gedacht, die letzten zu sein, aber fleutjepiepen,17 die anderen hatten sich noch dämlicher verlaufen. Bis zum Anfang der Reden beschäftigten wir uns eifrigst mit der Doktorfrage: »War das böswillige Absicht der Festleitung, um etwaige unliebsame Gäste fernzuhalten, oder sollte es eine Probe auf die Wandergeschicklichkeit der einzelnen Horden sein oder aber war eine anständige Wegezeichnung vor allem für die Nichtwandervögel und ähnliche Fachleute einfach verbummelt?« Die Lösungen verraten wir nicht. Sonst aber war’s recht fein hier oben, wenn es auch immerhin komisch berührte, die staatlichen Aufsichtsleute rauchen zu sehen; die kamen sich hier überhaupt wohl recht »unbeachtet« vor. Und leid taten mir auch Landschulheimer und Wickersdorfer, die das Pech hatten, weder Wandervögel noch Mädel zu sein, also nicht andauernd tanzen konnten. Und ihr Fußballspiel hatte man ihnen verweigert, nicht etwa von vorneherein durch eine klare Absage, sondern erst hier oben, ein großer Fehler der Festleitung. *) [Fußnote *) Anmerkung der Fest- und Schriftleitung: Zu meinem Erstaunen und Bedauern höre ich erst heute, zwei Wochen danach, daß das geplante Spiel nicht stattgefunden hat. Unser Spielausschuß ist natürlich dafür verantwortlich gewesen. Im übrigen setze ich mich aufs hohe Pferd mit dem stolzen Worte: »Wenn eck’ er nich bin, dann ward er nichts van!« Christian

17 Plattdeutsch, sinngemäß: ›Denkste!‹, ›du kannst mich mal‹; zusammengesetzt aus Flöte bzw. Fleitje und piepen bzw. pfeifen.

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Schneehagen.18] Die Jungens aber waren zu gut erzogen, um deshalb aufzumucken, nur sehr leid hat es ihnen getan, daß ihre Eigenart so wenig geachtet wurde. Hoffentlich aus Versehen (…). (…) Am Feuer stand Gusto Gräser und trug sein Gedicht vor. Und es war unter der freideutschen Jugend möglich, daß ältere Leute durch Lachen und Zurufe störten. Pfui! Ich bin durchaus kein Freund von Gusto Gräser, kenne seine Bestrebungen zu wenig und fand sein Auftreten hier auch sehr unangebracht, deshalb lacht man aber einen solchen Mann bei solcher Gelegenheit nicht aus! Fehlt ihm der Takt, sich zu sagen: »Hier paßt das nicht hin«, so darf uns noch lange nicht der Takt und die Selbsterziehung fehlen, so etwas an solchem Platze nicht mit Stillschweigen zu übergehen. Die ganze Sache am Feuer gefiel mir nicht, die Rede war zu kalt, ohne genügende innere Begeisterung, und die Lieder, die man sang oder vielmehr zu singen versuchte! O je! Dies nach Traubs herrlicher Rede, das war ein schlechter Abschluß, der wehe tat. Weshalb hatte man nicht genau festgelegt, was man nach der Feuerrede anfangs singen wollte und vor allem für genügend Text gesorgt? Dann hätte die Sache sich nachher schon von selbst gemacht. »Der Gott, der Eisen wachsen ließ«, »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los«, »Freiheit, die ich meine« und ähnliches wäre da am Platze gewesen, aber nicht dreimal kurz hintereinander ; »Glückauf«. Die Wandervögel sollten einmal bedenken, daß nur »Volkslieder« in ihrem Sinne es auch nicht immer tun. Wir waren hier auf einem freideutschen Jugendtag, also waren hier keine Wandervögel, Freischärler oder Vortruppler, sondern alle zusammen einzig und allein »freideutsche Jugend« und gekommen, um die Erinnerung an die glorreiche Zeit vor 100 Jahren zu feiern (…) 12. Oktober. (…) Es war nicht ganz einfach zu finden, das zweitletzte Haus von Vockerode. Aber da es dort etwas Warmes zu essen geben sollte und dort Wandererversammlung sein sollte, suchten wir, bis wir’s geschnappt hatten. Und es war recht gemütlich dort in der niedrigen, kleinen Küche und auf der Tenne beim Singen und vor allem in der Stube – beim Futtern, allerdings das eine Gericht, nee, tatsächlich, mein Kartenamtskleister schmeckt wesentlich besser. Aber das hielt uns nicht ab, unserem Bundes-Geschäftsführer die Zipfelmütze an seinem Umhang voll Kartoffelschalen zu füllen und auch sonst noch allerlei Unsinn zu machen. Ich muß sagen, so’n Wanderertag war nach meinem und meiner Jungen Geschmack (…) 13. Oktober. (…) Ich kam vom Freischartag auf den Hanstein. Die anderen lagen schon seit frühem Morgen auf dem Ludwigstein und hatten zu kochen versprochen. Um 1212 Uhr hatte ich bei ihnen sein wollen, und um 1 Uhr ging ich erst 18 Wohl sinngemäß: ›Ohne mich wird das nichts‹ (?).

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fort vom Hanstein. Die Angst, ums Essen betrogen zu werden, beflügelte meinen eilenden Lauf, und in knapp 34 Stunde war ich, angenehm beschwert durch ein Kuchenpaket von daheim, oben, noch rechtzeitig genug. Wir blieben den Tag droben, kauften in Werleshausen ein und sammelten viel Holz, denn die Nacht wollten wir hier oben schlafen. Stroh war aber nur wenig da. Und nun wollten wir am Feuer liegen. Spät abends besuchten uns noch hannoversche Mädel, verschwanden aber bald wieder, und wir taten uns gütlich an Pellkartoffeln mit Hering. Quante lief andauernd in dem großen Nachthemd, mit dem er für die Mädels das Burggespenst hatte mimen müssen, umher, was sich verschiedentlich sehr wirkungsvoll machte, vor allem, wenn man an alles andere, nur nicht an ihn dachte. Bis spät in die Nacht hinein saßen wir trotz Wind und Kälte hoch oben auf dem Turm und schauten hinab ins Tal, das überflutet vom hellen Silberschein des Mondes zu unseren Füßen lag. Hin und wieder rollte ein Zug über den Viadukt und die Signallichter wechselten ihre Farben. Und wären wir nicht so schauderhaft müde gewesen, so hätten wir am liebsten eine Nachtwanderung gemacht, zumal der Nacht sowieso nicht sehr zu trauen war der Kälte wegen. Doch ging’s besser als wir alle dachten, ich schlief durch, bis Quante um 6 Uhr morgens auf und davon brach, weil er zu Hause noch Geschichte lernen müßte. Wir aber drehten uns entrüstet um, druselten weiter und standen erst um 8 Uhr auf. Da schien auch die Sonne schon bald so warm, daß wir unten im alten Schafstall ein Vollbad nehmen konnten, was nach den anstrengenden Meißner Tagen, wo man ja kaum Zeit zum Essen gefunden hatte, sehr angenehm berührte. Und das Schönste war, als wir abzogen, erfuhren wir, daß das Betreten des Ludwigsteines verboten sei. Aber wir wollen ganz ehrlich sein, wir wären deshalb trotzdem die Nacht oben geblieben. Fände sich doch ein edler Gönner, der die alte Burg für die freideutsche Jugend wieder herstellen ließe! Viel könnte aus dem Gemäuer gemacht werden unter sachkundiger Leitung und nach eingehender Beratung mit den Führern der Jugendbewegungen! (…) Hannover. Enno Narten.

18. Martha Hörmann: Aufzeichnungen 1913 (Auszug), AdJb A 103 Nr. 1. Zwischen dem festfrohen Sommer- und dem arbeitsreichen Wintersemester nahmen wir in den Oktobertagen des Jahres 1913 an dem Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner teil. Anlaß war die Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig in den Befreiungskriegen. Die freie deutsche Jugend wollte sie auf ihre Weise begehen. Auf dem Hohen Meißner bei Göttingen traf sich alles, was zu der Jugendbewegung gehörte, Wandervogel, Freistudenten-

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schaft, Freie Schulgemeinde, Freischar, Abstinente Studenten usw. usw. Zum ersten Male kam die neue deutsche Jugend zu einer gemeinsamen Kundgebung zusammen und faßte ihr Streben und Wollen in den verschiedenen Verbänden zusammen in die »Meißnerformel«: »Die freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.« In einer Festzeitschrift hatte jeder der beteiligten Verbände kurz seine Ziele und Bestrebungen formulieren sollen. Fränzel war es wieder einmal, der für uns sprach, die wir »Seraleute« ja gar kein eigentlicher Verband waren, und so schrieb er die fröhlichen Zeilen: S e r a. »He! Ihr mit Kränzen und farbigen Kleidern! Eure Papiere! Hier darf niemand herein, der sich nicht legitimiert!« Guten Abend! Genügt die Studentenkarte als Ausweis? Oder ein Doktordiplom? Oder ein amtlicher Paß? »Darnach fragen wir nicht. Wir bitten um eure Statuten, eure Tendenz als Verein, euer gedrucktes Programm«. Ist euch statt dessen vielleicht mit einigen Zeitungsnotizen aus dem Freyburger Blatt oder aus Jena gedient? »Schön, wenn einer von euch da eure Ideen entwickelt, ausführt klar und bestimmt, wie ihr zur Gegenwart steht«. Das nicht. Das Freyburger Blatt schreibt: »Ein fröhliches Völkchen aus Jena hat sich am gestrigen Tag hier, recht gesittet, vergnügt!« »Scherz beiseite! So zeigt uns doch schnell eine Mitgliederliste, nennt euren Wahlspruch und sagt, welche Mission ihr erfüllt! Sehr verschieden ist das. Die meisten von uns sind Studenten, einige haben ein Amt. Jeder ist ehrlich bemüht.« »Aber so rückt doch heraus mit der Sprache! Wenn man nicht mehr will, gründet man doch, meine Herrn, lange noch keinen Verein!« »Haben wir auch nicht. Wir sind kein Verein. Eugen Diederichs höchstens hat uns gegründet. Allein Näheres wissen wir nicht.« »Wißt ihr denn nicht, daß ich so euch frage, was euch vereinigt, welcher höhere Zweck eure Gedanken belebt?« »Uns vereinigen Lied, Tanz, Spiel, Gespräch und Theater. Sehr gesellig sind wir. Wiedersehn wird uns zum Fest.« »Ecco! Eine Reform des geselligen Lebens bezweckt ihr. Das mag gelten, denn hier tat eine Änderung not. Aber glaubt ihr denn ernstlich, daß eure Bemühung Erfolg hat, wenn ihr selber so schlecht Ausdruck zu geben versteht?« »Keiner Bemühung bedarf es. Der Sommer bringt andere Lieder, andere Tänze hervor. Fröhliche gibt es genug. Fröhlich fahren wir aus zum Fest. Es schließt sich der Reigen, selig und guten Muts kehren wir abends zurück.

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Mut und Freude, das sind die ersten Pflichten des Lebens. Wo die fehlen, da ist jegliche Arbeit umsonst. Uns gibt Mut der Freund, die Freunde geben uns Freude. Mutige handeln. Umsonst leben die Freudigen nicht.« »Hier scheint jedes Verständnis unmöglich. Doch mögt ihr hereingehn! Schlimmstenfalls – lernt ihr von uns. Oder wir lernen von euch«.

Die zweitausend jungen Menschen auf der Kuppe des Hohen Meißner im Oktobernebel mit Sonnendurchbrüchen boten ein festlich buntes Bild. Wettkämpfe und Reigentänze überall. Mittags wurde in Gruppen abgekocht, und der Rauch der Feuerstätten mischte sich mit den aufsteigenden Nebeln. Man ging von Gruppe zu Gruppe und traf überall Freunde. Unter den Wickersdorfern sah ich noch einmal im Leben Hans Kremers wieder, der dort vorübergehend Lehrer war, wie es Freyer und Frankenberger vor ihm gewesen waren. Gottfried Traub hielt am Abend die Feuerrede, und Wyneken sprach am anderen Morgen von den Aufgaben und Pflichten der Jugend dem Volk und der Menschheit gegenüber. Die soziale Aufgabe zu lösen sei ein schönerer Wettbewerb zwischen den Völkern als ein Kampf um äußere Machtgebiete. Drei Tage dauerte das Fest mit seinen Vorbesprechungen auf dem Hanstein. Nachts schlief man im Heu in den Häusern der umliegenden Dörfer. Nach unserer Iphigenienaufführung blieben wir Jenaer auch einen Abend in einer Gaststube im Schwalbental warm und trocken beisammen und waren fröhlich mit einander. Den Beschluß der Festtage machte für uns dann noch die Freischartagung auf dem Hanstein mit dem unvergeßlich schönen Abend, an dem Heinz von Kohden von der Mauer herab seine Geige spielte, als der Mond hinter dem Burgturm aufging, als wir – schön wie nie zuvor – Regina coeli sangen, und als Köhler nachher drinnen mit glockenreiner Stimme zu seiner Laute sang: »Es reit ein Herr und auch sein Knecht wohl über die Heide, die war schlecht, und alles, was sie redten da, war all von einer wunderschönen Frauen, ja Frauen.«

Mit »Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen« und dem Chor »Menschenwachen kann nichts nützen« gingen wir damals auseinander. Else war von Wulsdorf aus mit mir zum Hohen Meißner gefahren. Sie mußte nun wieder heimkehren, als wir andern ins Wintersemester nach Jena fuhren, wo Frieda bei Frau Bergemann geblieben war.«

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19. Siegfried Bernfeld: Die neue Jugend und die Frauen (Auszug) in: Siegfried Bernfeld: Die neue Jugend und die Frauen, Leipzig 1914; Wiederabdruck in: Siegfried Bernfeld: Theorie des Jugendalters (Werke, Bd. 1, hg. von Ulrich Herrmann, Gießen 2010, S. 9 – 42. (…) Die Freideutsche Jugend Die Öffentlichkeit steht seit einigen Monaten vor einer neuen Tatsache. Sie steht vor einer Jugend, die mit Forderungen an sie herantritt. Drei Ereignisse des vorigen Jahres haben vor allem Widerhall in der Presse gefunden, Ratlosigkeit, Feindschaft, Mißverständnis erzeugt: Im Mai 1913 erschien ein grünes Heft, »Der Anfang«*, Zeitschrift der Jugend. [Fußnote * Der Anfang, Zeitschrift der Jugend; Verlag »Die Aktion«, Berlin, 1. Jahrgang 1913/14.] Als Programm dieser Monatsschrift war angegeben: Das Denken der Jugend, das bisher der erwachsenen Welt so gut wie unbekannt geblieben war, das unbeachtet auf den Gängen der Schule, im Walde, im Kinderzimmer blühte, wucherte und kämpfte, das hinauszustellen, einzureihen in das öffentliche Denken der Menschheit. Und zwar das Denken der Jugend vor allem auf dem Gebiet, auf dem sie trotz aller ihrer »Unreife« kompetent ist, auf dem Gebiet der Gestaltung ihrer eigenen Lebensprobleme. Wenige Monate später, im Oktober 1913, veranstalteten die studentischpädagogischen Gruppen der Universitäten Deutschlands und Osterreichs in Breslau ihre erste Tagung.* [Fußnote * Bericht der Tagung der studentischpädagogischen Gruppen in Breslau. In: Alfred Mann (Hrsg.: Student und Pädagogik II. (Säemann-Schriften für Erziehung und Unterricht, Heft 9.) Leipzig/ Berlin 1914.] Hier erfuhr man zum erstenmal nachdrücklich, daß seit 1911 an vielen Universitäten Studenten sich zusammengetan haben, mit der Absicht, die Probleme des jugendlichen Lebens untereinander zu diskutieren; untereinander darüber einig zu werden, welches denn eigentlich die wirklichen unterschiedlichen Merkmale der Jugend gegenüber dem Alter und gegenüber der Kindheit sind, und welche pädagogischen Maßnahmen der Gegenwart geeignet sind, die Jugend in ihrer Eigenart, in dem, was sie von den andern Altern unterscheidet, zu fördern; das Erziehungssystem von neuem zu denken, aus der Perspektive der Jugend und ihrer Aufgabe in der Kultur. Die Versammlung verlief erregt, da zum erstenmal hohe Verwaltungsbeamte, Universitätsprofessoren und Eltern mit Studenten diskutierten, die ausdrücklich als Vertreter der Mittelschülerschaft sprachen; von all dem sprachen, was

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die Schuljugend in der Schule leidet, worin die Schule sie enttäuscht und worin sie ungerecht fordert. Dann, einige Tage darauf, war am Hohen Meißner bei Kassel eine große Versammlung: der Freideutsche Jugendtag. * [Fußnote * Freideutsche Jugend; Festschrift. Eugen Diederichs Verlag, Jena. – Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Traub, Ahlborn, Wyneken, Avenarius. Freideutscher Jugendverlag, Hamburg 1913.] Über 3000 junge Menschen waren zu einem zweitägigen Fest zusammengekommen. Nach außen schien es eine Feier für 1813 zu sein, nach innen bedeutete es das erste eigentliche Fest der Jugend, die Krönung einer fünfzehnjährigen Entwicklung. Vor fünfzehn Jahren etwa hatte sich eine Gruppe von Schülern und Studenten in dem Gedanken gefunden, sich selber und ihr Leben ernst zu nehmen. Und weil weder die Schule noch das Elternhaus als Ganzes oder in seinen einzelnen Institutionen oder in seinen Wirkungen auf sie auch nur die geringste Möglichkeit ließ zum Ausführen dieses Gedankens, so entflohen sie in gewissem Sinne der Schule und dem Elternhaus; sie wanderten allsonntags hinaus in die Heide, in die Wälder. So begann der Wandervogel in Steglitz. * [Fußnote * Hans Blüher : Der Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung. 2 Bde. Berlin 1912.] Mit ihm war zum erstenmal eine Jugendorganisation versucht, die nichts zu tun hatte mit irgendwelchen politischen oder kulturellen Zwecken, die lediglich aufgebaut war auf den Protest, auf die Empörung gegen Unterdrückung jugendlichen Gefühlslebens, jugendlicher Eigenart durch die Umwelt, die »Welt der Erwachsenen«. Wie allgemein und tief diese geistige Not der Jugend war und bis heute geblieben ist, das beweist, daß diese Bewegung unaufhaltsam vorwärts drängte. So heftig, daß in ihr jetzt nach wenigen Jahren (in mancherlei verschiedene Organisationen oder Gruppen gespalten) Tausende und Tausende von jungen Menschen vereinigt sind und hier einen Sinn ihres Lebens und ihres Daseins finden in der Gemeinschaft mit Kameraden und in der Vertiefung in die Natur. Nach außen hin ist der Wandervogel ein hygienischer Bund, der das Wandern der Jugend fördert, in Wirklichkeit ist er unendlich viel mehr. In ihm ist die Jugend auf sich selbst gestellt, in Gegensatz gestellt zu den Erwachsenen und zu ihrer Kultur. So war es zumindest in den ersten Jahren des Wandervogels. Damals empfand man klar und deutlich: Es mag sein, daß alles, was dem jungen Menschen als Kulturgut und Kulturpflicht angeboten wird, schön und wertvoll ist, aber sicher nicht für den 15- bis 20jährigen, dem damit zugemutet wird, eine Stufe seiner Entwicklung zu überspringen. Er ist soeben der Kindheit entwachsen und macht die ersten Versuche, sich die überlieferte Kultur anzueignen, d. h. sich mit ihr zunächst auseinandersetzen, sie zu kritisieren, sich in seiner – wesentlich romantischen und gefühlsmäßigen – Weise aufzufassen. Man erschrickt über diese Andersartigkeit, man fürchtet, vor einem Dauerzustand zu

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stehen. Man verliert völlig das Zutrauen zur Natur. Es ist fast so, als wollte man, erschreckt über die Disproportionalität von Kopf, Leib und Gliedmaßen des Säuglings, eine Maschine konstruieren, um ihn schnell zurechtzustrecken, während doch die Natur in einer bestimmten Zeit von selbst aus dem Säugling einen Jüngling werden läßt. Und was hier vom Kind gilt und was physisch anerkanntermaßen für den jungen Menschen ebenso gilt, das gilt auch psychisch für ihn. Der Jüngling wird ein Erwachsener, wird von selbst ein Erwachsener ; aber er braucht ein Jahrsiebent dazu. Wenn man dies übersieht, und daß die Jugend eine durchaus romantische Zeit ist, und sie, die aus ihrem tiefsten Innern heraus zur Gemeinschaft drängt, gewaltsam in der Familie isoliert, so erzeugen sich begreifliche Gegenwirkungen. Diese zum erstenmal organisiert zu haben, ist ein Verdienst des Wandervogels. Aber er war nur Reaktion gegen diese Unterdrückung und Vergewaltigung eines Teils der jugendlichen Anlage, des schwärmerischen, romantischen Gefühls und des Natursinnes. Und so erreichte er zwar eine Kultivierung dieses Gefühls, aber nicht der Jugend. Der Wandervogel ist gewachsen, und aus ihm und von ihm angeregt, hat sich eine Anzahl von Bünden entwickelt. Sie bildeten die Hauptzahl der Teilnehmer des Freideutschen Jugendtages. Die Freideutsche Jugend hat auf jenem Fest am Hohen Meißner als das allen verschiedenen Gruppen Gemeinsame gefunden, daß sie ihr Leben gestalten will »mit innerer Wahrhaftigkeit«, aus »innerer Freiheit« und »vor eigener Verantwortung«. Die Einzelnen und ihre Organisationen gehen dabei verschiedene Wege. Die Meisten, scheint uns, wandeln in einer Sackgasse. Sie haben die Jugend für einen Teil ihres Lebens tatsächlich aus Schule und Elternhaus geführt und so ihr geistiges Leben aus dem Kulturzusammenhang genommen. Sie haben klar empfunden, daß die Jugend falsch in ihn eingefügt war und haben sie isoliert, aber nicht wieder an ihrer Stelle auf ihre Art eingegliedert. (…)

20. Gustav Wyneken: Die Freideutsche Jugend (Auszug), in: Die freie Schulgemeinde, 4. Jg. 1914, Heft 2/3 (April), S. 34 – 44. (…) Die Vertreterversammlung auf dem Hanstein verlor zunächst dadurch viel Zeit, daß die einzelnen Verbände ihre Programme noch einmal vortrugen, die ja in der Festschrift längst gedruckt vorlagen. Als man sich dann der Frage näherte, worin der gemeinsame Wille der Freideutschen Jugend bestehe und auf welche einigende Formel er zu bringen sei, war mit einem Schlage die Einigkeit vorbei. Abgesehen von gewissen nationalistischen, zum Teil auch antisemitischen Be-

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strebungen, die rasch abgetan wurden, waren es vor allen Dingen zwei Richtungen, die sich bekämpften. Schon die Aufrufe zum Jugendtag hatten betont, daß die Jugend zur Tat schreiten wolle; aber nun war man zunächst in einiger Verlegenheit, welches die der Jugend zukommende Tat sei; denn es war von vornherein selbstverständlich, daß die Jugend sich nicht in irgendeiner Weise parteipolitisch betätigen wollte. Welche Tat also konnte sie ihrem Vaterland und Volke weihen? Die einen dachten an die physische Wiedergeburt der Nation und machten der Jugend die Forderung der Rassenhygiene zur heiligen Pflicht, vor allem also das Eintreten für die Enthaltung vom Alkohol. Diese Richtung fand ihre Führer in den beiden Häuptern des »Vortrupps«, Dr. Popert und Kapitänleutnant a. D. Paasche. Es gelang ihnen ohne Frage, auf einen großen Teil der Versammelten einen tiefen Eindruck zu machen; allerdings gelang dies auch jedesmal gewissen nationalistischen Agitatoren, und überhaupt zeigte der ganze Verlauf des Jugendtages, wie stark noch in dieser Jugend, die sich von den häßlichen Parteikämpfen der älteren Generation abwenden will, die Herrschaft der Masseninstinkte ist. Gegen Schlagworte und Phrasen ist sie noch nicht gewappnet, ja, man gewinnt oft den Eindruck, als verschanze sie sich hinter einer billigen und lauten Begeisterung vor der Pflicht ernsten Durchdenkens der Frage und rückhaltloser Selbstkritik. Dem Vortrupp, der sein eigenes Programm als das Programm der Tat für die Freideutsche Jugend proklamierte, bin ich entgegengetreten. Ich habe die Jugend an ihr vorläufiges Programm, nämlich an den von den Verbänden unterzeichneten Aufruf (dessen Entwurf übrigens von mir stammt) erinnert, in dem sie die Absicht aussprechen, Hand anzulegen an eine Neugestaltung des eigenen jugendlichen Lebens, an die Erringung einer neuen edlen Jugendkultur. Ich machte darauf aufmerksam, daß im Laufe der Verhandlungen überhaupt noch kaum eine spezifisch jugendliche Aufgabe gestellt worden sei, daß eigentlich noch niemand von den besonderen Bedürfnissen und Nöten der Jugend ausgegangen sei, wie denn auch bezeichnender Weise noch kein Wort von der Schule geredet worden war. Die Jugend aber sei doch eben nicht zusammen gekommen, um hier Dinge zu beraten, die ebensowohl Sache der Erwachsenen seien, sondern um über ihre eigene Sache nachzudenken. Und die Sache der Jugend sei wirklich mehr als Rassenhygiene oder Sozialreform, es handle sich um die Erarbeitung eines neuen edlen Jugendinstinktes auf allen Gebieten, oder sagen wir : um die Schaffung eines neuen Lebensstiles der Jugend, der nicht aus einer Anzahl von Reformen zusammengestückt werden könne. Ich legte nachdrücklich Verwahrung ein gegen die Narkotisierung der Jugend durch einen Appell an ihre trüben Masseninstinkte, und es gelang mir, ein Ausgleiten des Jugendtages nach der vom Vortrupp gewollten Richtung zu verhindern, zum großen Mißvergnügen vielleicht der Mehrheit der Versammelten. Es gelang mir, weil die bisherigen Führer der Bewegung, vor allem die Vertreter der Deutschen

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Akademischen Freischar und des Wandervogels sich auf meine Seite stellten. Am Abend dieser Vorverhandlung ging man nicht ohne die Furcht auseinander, daß die Einigkeit der Freideutschen Jugend schon im Entstehen zertrümmert sei. Jedenfalls aber war klar, daß die Schlacht für den Vortrupp und seine Gesinnungsverwandten verloren war. Im Laufe der Nacht und des folgenden Morgens jedoch haben einige Führer eine Einigungsformel gefunden (übrigens ohne mein Wissen und Zutun), die gänzlich in der von mir vertretenen Richtung lag, und die überraschender Weise einstimmig angenommen wurde. Sie lautet: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten.« Der Vortrupp begnügte sich mit der selbstverständlichen Bestimmung der Alkoholfreiheit aller künftigen Veranstaltungen, die auch schon ohne Beschluß für den gegenwärtigen Jugendtag galt, und behauptete, das sei »eine Tat«; woraus man etwa annehmen kann, was er Tat nennt. Das Fest selbst, an dem sich 2000-3000 junge Menschen beteiligten, verlief äußerlich recht hübsch. Vor allem aber war etwas von großer Stimmung vorhanden, lebendiges Gefühl eines großen Augenblicks, beglückendes Bewußtsein, viele Brüder gefunden zu haben, Ahnungen neuer Gemeinschaft, neuen Lebens. Wickersdorf war fast vollzählig erschienen und hat in seiner Geschlossenheit und Haltung einen guten Eindruck gemacht, wenn es sich auch wenig betätigen konnte, da der ihm zugesagte Fußballkampfe ausfiel und es naturgemäß die vom Wandervogel gepflegten Volkstänze, die dort trotz einiger Abwechslung doch schließlich in geradezu unerträglicher Wiederholung vorgeführt wurden, nicht mitmachen konnte. Über diese Tanzerei noch ein Wort. Am Freitag tanzte auf dem Hanstein das junge Volk, für das der Versammlungsraum zu eng war, den ganzen Nachmittag. Am Samstag wurde den ganzen Tag auf der Festwiese des Meißners weitergetanzt. Am Sonntag desgleichen. Sogar während der von mir gehaltenen Festrede tönten die läppischen Worte eines solchen Reigens zu uns herüber. Am Montag war eine Tagung der Freischar auf dem Hanstein: es wurde weitergetanzt. Immer dieselben Reigen, die einem nachher wochenlang quälend im Gedächtnis lagen. Nie ist mir die Berechtigung meiner viel angefochtenen Kritik am Wandervogel so vor Augen geführt worden wie in diesen Tagen. Damit verbinden sich mancherlei andere Beobachtungen. Die beabsichtigte Kleiderreform hatte zu einer wahren Maskerade geführt. Den übelsten Eindruck aber hat mir eine gewisse, aus der Wandervogelliteratur mir längst wohlbekannte künstliche Naivität gemacht, eine Manier des Jung- und Kindlichseins, eine betonte Harmlosigkeit, ein allzu bewußtes Leuchten der Augen. Hier gab es für den Psychologen manches

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zu denken. Wenn, nach einer Theorie, das Wesen der Hysterie darin besteht, zur Verdrängung eines Minderwertigkeitsgefühls sich und anderen eine Vitalität vortäuschen zu wollen, die man nicht besitzt - so mag doch manche Hysterie sich mit in den Wandervogel geflüchtet haben. Man darf ja eben nicht vergessen, daß diese Jugend noch keine Jugend ist, sondern erst nach Jugend strebt. Manche, die da im Reigen springen, sind doch vielleicht, ohne ihre Schuld, schon mehr oder weniger Krüppel und Ruinen. Geradezu erschreckend war z. B. der Prozentsatz der Brillenträger. Wenden wir uns wieder der Geschichtserzählung zu. Der Zusammenschluß der Freideutschen Jugend bildete naturgemäß das Thema lebhafter Erörterungen in allen ihr angeschlossenen Verbänden. Im Mittelpunkt stand überall einmal die Frage: Rassenhygiene oder Jugendkultur? (d. h. Vortrupp oder Freie Schulgemeinde?) und zweitens der »Anfang«. Dieser wurde überwiegend abgelehnt, ebenso die mit ihm in innerem Zusammenhang stehenden Bestrebungen, wie z. B. die Sprechsäle. Diese Ablehnung war durchaus gefühlsmäßig und instinktiv. Der »Anfang« steht im Gegensatz zu jener besonders vom Wandervogel gepflegten Romantik, die sich mit einem geringwertigen Ästhetizismus über die wirklichen Nöte und Bedürfnisse der Jugend in der Gegenwart hinwegtäuscht. Wenn ich sage, daß diese Art von Pseudoromantik besonders vom Wandervogel ausgehe. So darf ich dabei doch nicht verschweigen, daß innerhalb des Wandervogels viele Gruppen und sehr viele Einzelne der vom »Anfang« repräsentierten Jugendbewegung durchaus nahe oder doch freundlich gegenüber stehen. (…) Die Freideutsche Jugend als Ganzes trat zum ersten Male in Aktion bei Gelegenheit der Angriffe, die sie im Januar und Februar dieses Jahres im bayrischen Landtag und in der Zentrumspresse erfuhr. (…) Was der Hauptausschuß bei dieser Gelegenheit getan hat, ist gewiß kein Heldenstück gewesen, was er aber versäumt hat, bedeutet sein eigentliches Versagen. Wie hieß es doch in der Formel vom Hohen Meißner? »Für diese innere Freiheit tritt die Freideutsche Jugend unter allen Umständen geschlossen ein.« Nun waren im Landtag auf die Freiheit der Jugend die schlimmsten Angriffe gemacht worden; der Minister hatte mitgeteilt, daß der »Anfang« und die Sprechsäle den Schülern untersagt seien; das in 100.000 Exemplaren verbreitete Liederbuch des Wandervogels war gleichfalls verboten worden. Es lagen also die schwersten Eingriffe in die Selbstbestimmung der Jugend, in ihr Bemühen, für ihre Lebensgestaltung Wahrhaftigkeit zu erringen, von seiten der Behörde vor. Wo blieb das geschlossene Eintreten der Freideutschen Jugend? Mit keinem Worte hat sie gegen diese Dinge protestiert. (…) Der Hauptausschuß der Freideutschen Jugend lud die einzelnen Verbände ein, am 7. und 8. März ihre Vertreter nach Marburg zu senden, um dort die Beschlüsse vom Hohen Meißner nachzuprüfen, vor allem sich über die Zu-

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sammensetzung der Freideutschen Jugend klar zu werden und ihr eine Satzung zu geben, zu der ein Entwurf vorgelegt wurde. (…) Das Ergebnis der Marburger Verhandlungen ist das folgende Programm: »Die Freideutsche Jugend ist eine Gemeinschaft von Jugendbünden, deren gemeinsame Grundlage darin besteht, von der Jugend geschaffen und getragen zu sein, und deren gemeinsames Ziel es ist, die Vermittlung der von den Älteren erworbenen und überlieferten Werte zu ergänzen durch eine Entwicklung der eigenen Kräfte unter eigener Verantwortlichkeit mit innerer Wahrhaftigkeit. Jede Parteinahme in wirtschaftlicher, konfessioneller und politischer Beziehung lehnt sie ab. Die den einzelnen Verbänden eigentümlichen Wege und Ziele werden durch den Zusammenschluß nicht berührt. In dem diesen Jugendbünden gemeinsamen Bestreben nach Selbsterziehung sucht sich die Freideutsche Jugend durch Veranstaltung von Vertreter- und Jugendtagen in gemeinsamer Arbeit und Feier zu erhalten und zu fördern.« Wie man sieht, ist die Formel vom Hohen Meißner aufgegeben worden. Weggelassen ist der Beschluß, für die Freiheit der Jugend geschlossen einzutreten, und an die Stelle des Willens zu einer neuen edlen Jugendkultur, wie es im Aufruf hieß, oder, wie die Formel vom Hohen Meißner lautete, zur Gestaltung des eigenen Lebens ist jetzt der Beschluß getreten, die Erziehung und den Unterricht in Schule und Haus zu ergänzen durch eine Entwicklung der eigenen Kräfte. Hierunter kann man sich alles mögliche denken, nur nichts besonders Tapferes und Neues. Zugleich aber wird dadurch mittelbar eine volle Anerkennung und Billigung der in Schule und Haus durchweg geübten Erziehung ausgesprochen, die man nur »ergänzen«, nicht mehr reformieren will. Das hat bisher noch keine Jugend fertig gebracht, und so wird man es verstehen, wenn mit dieser Formel ein großer Teil der Jugend sich und ihre Sache von ihren angeblichen Vertretern geradezu verraten fühlt. Es ist selbstverständlich, daß wir in einem Jugendbund, der eine Formel aufstellt, die nur noch eine nichtssagende Verlegenheitsphrase und Banalität ist, und in der der Gedanke der Jugendkultur, das heißt einer Wiedergeburt jugendlichen Lebens, eines neuen Lebensstiles der Jugend, einer einheitlichen, das ganze Leben der Jugend in sich begreifenden Neugestaltung abgelehnt wird – daß wir in einem solchen Jugendbund nichts mehr zu suchen haben. Aber dem Gedanken der Freideutschen Jugend werden wir treu bleiben. Das Wort vom Hohen Meißner, dem dort Tausende zugejubelt haben, ist fünf Monate später von den Vertretern dieser Tausende ängstlich und hastig weggeworfen worden. Das Kleinod begeisterten Jugendwillens, wir werden es aufheben. Mag jetzt der Freideutsche Jugendverein wiederum tagelang Kindertänze tanzen und sich mit Kleiderreform beschäftigen – wir werden weiter arbeiten an der Gestaltung einer neuen edlen Jugendkultur. (…)

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21. Alfred Weber (Auszug), in: Knud Ahlborn, Fritz Lade, Christian Schneehagen, Hauptausschuss der Freideutschen Jugend (Hg.): Die Freideutsche Jugend im Bayrischen Landtag. Bericht über die Landtagsverhandlungen, die Presseäußerungen, die Aufklärungsversammlung in der Münchener Tonhalle mit der Rede von Universitäts-Prof. Alfred Weber, Hamburg 1914, S. 11 – 19; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die Wandervogelzeit. Dokumentation der Jugendbewegung II, Düsseldorf, Köln 1968, S. 528 – 531. (…) Sie wissen, daß das Wesen der Bewegung ist, zunächst äußerlich einmal betrachtet, diese neue Einheit, die in jeder Horde, wie Sie das nennen, in jeder Gruppe, die mit ihrem Führer wandert, zutage tritt, diese Einheit, die darin zutage tritt, daß in den Organisationen der Universitäten zum großen Teil die Führer der früheren Organisationen sich befinden. Und es war nur ein äußerer Ausdruck dieser neugewonnenen Einheit, wenn sich im vorigen Jahre zum erstenmal Schüler und Studenten auf dem Hohen Meißner zu einer gemeinsamen Tagung, zu einer gemeinsamen Beratung ihres Wollens zusammengefunden haben. Was will nun eigentlich dieser Strom, der von den unteren in die höheren Jugendjahre hinaufquillt? Man hat nach Formeln, Begriffen, Bezeichnungen, die aus dem üblichen Gedankenschema genommen sind, gesucht, um die Bewegung zu charakterisieren. Zum Glück! Man hat sie nicht in die Kataster der Begriffswelt der Erwachsenheit einzurangieren vermocht, jener Begriffswelt, die aus den praktischen Zielen des erwachsenen Lebens herausgewachsen ist und auf sie zugeschnitten ist. (…) Und sie haben es in klaren, deutlich umrissenen Worten auf ihrem ersten Jugendtage ausgesprochen, worum es sich handelt, wenn in ihrer Resolution steht, daß sie versuchen wollen, aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung ihr Leben zu formen. In dieser Resolution steht noch ein Wort: mit innerer Wahrhaftigkeit. Es ist nicht bloß etwas Formales, was die Jugendbewegung zusammenhält und geschaffen hat, sondern es ist auch ein inhaltliches Prinzip, etwas inhaltlich Neues, das ihr Wesen mitformt. Man hat versucht, auch dieses Inhaltliche irgendwie begrifflich zu fassen, in einem Wort oder wenig Worten auszudrücken. Man hat gesagt, es handle sich bei der Bewegung um »Romantik als Empörung«, indem man dabei gedacht hat an die Reaktion gegen die mechanisierende Zivilisation unserer ganzen Periode, gegen ihr leeres Großstadtdasein, die Uniformierung und Schematisierung in allen Wesenheiten und Formen, an das Hinausflüchten in die Natur, den Wald, zu dem ursprünglichen und dem alten historischen Leben des Volkes, an das Wiederaufsuchen der Volkslieder, das ihre Bewegung

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bezeichnet, auch das Zusammenexistieren mit dem fahrenden Volk der Straße, mit dem sie bei ihrer Existenz in Verbindung kommen. Man hat auf der andern Seite den Gehalt als rassenhygienisch bezeichnet, indem man hingewiesen hat auf das Streben, sich aus den zermürbenden Formen der Stadtexistenz herauszuheben, seine physischen Kräfte wieder zu entwickeln, sich zu regenerieren, überhaupt eine neue Generation, ein neues, gesundes Geschlecht gegenüber dem neurasthenisch kränkelnden älteren zu bilden. Alles das ist richtig und noch vieles andere. Ich glaube aber, daß die Quellen, aus denen die Bewegung innerlich herauswächst, tiefer liegen: Wir, die ältere Generation, die gegen das Ende des 19. Jahrhunderts zur Reife gelangt ist, haben von außen nach innen gelebt. Wir mußten so leben; denn wir sahen uns einer ungeheuren, unübersehbaren Umwälzung aller äußeren Verhältnisse gegenüber, wir standen vor einer gar nicht zu überblickenden Fülle von äußeren organisatorischen Aufgaben und Notwendigkeiten, vor der Frage, wie sollen wir den Staat neu gestalten, wie sollen wir das Proletariat einfügen in die neue Gesellschaft, wie sollen wir die Wirtschaft innerlich formen, die Wirtschaftskörper nach außen eingliedern und vieles mehr. Wir waren bedrängt von diesen Dingen, weggenommen davon, und wir konnten schwer, kaum – irgend einer dabei zu uns selbst kommen. Sie, die neue Generation, die in die vergleichsweise fixierten Verhältnisse, die das 19. Jahrhundert an seinem Ende geschaffen hat, hineingewachsen sind. Sie haben die Tendenz, von innen nach außen zu leben. Sie haben das primäre Bedürfnis, zunächst zu sich selbst zu gelangen, zunächst ein Zentrum, irgend eine Mitte für sich zu finden und von da erst hinauszuwirken und zu gestalten. Sie können diese Tendenz haben; denn sie befinden sich nicht so vielen äußeren Aufgaben gegenüber. Sie müssen sie haben; denn sie haben das deutliche und das gerechte Gefühl, daß die Fixiertheiten, die sie umgeben, sich in Inkongruenz befinden mit ihrem inneren Fühlen. Sie haben die Empfindung, daß sie nicht angeglichen sind den inneren Wesenheiten des Daseins, noch nicht umgeschmolzen, noch nicht aufgelöst und wieder aufgebaut von diesen her, noch nicht gefordert von Ihren Gefühlen, von ihrer Begeisterung, nach der sie suchen. Sie wollen zunächst zu sich, zu diesem Inneren, zu dieser Begeisterung kommen. Und wenn nie eine ältere Generation einer jüngeren wirklich helfen kann, ihr Ideal zu finden – das ist in der Geschichte niemals gewesen –, wenn es immer nur Einzelne sein können, sehr, sehr Einzelne, die durch Hinweis auf ein Kommendes und ein Verständnis dafür Ihnen helfen, so ist wohl für keine Generation bisher die Situation so gewesen wie für die heutige. Keine ist so verloren gewesen, keine so führerlos, so verlassen gegenüber dem, was sie eigentlich wollen soll, wollen muß. Daraus sind diese Tendenzen erwachsen, daraus mußte das Streben kommen, zunächst einmal zurückgehen, heraus aus den Dingen, zu sich selbst, sich zu finden und zu warten, bis man sich gefunden hatte und dann zurückzukehren zu den Gegenständen und Problemen. Das ist, wie es mir

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scheint, das innere Wesen dessen, was man heute als die Jugendbewegung bezeichnet. (…) Kein Mensch in der Jugendbewegung denkt daran, eine innerlich begründete Autorität anzutasten, weder die der Eltern noch die des Staates, noch die der Schule. Aber die Vertreter der sogenannten Autorität sollten sich vielleicht sagen, daß man es bei jungen Menschen nicht mit Rekruten zu tun hat, für die es darauf ankommt, sie zu drillen und durch eine Disziplin unter allen Umständen vor der Flucht vor dem Feinde zu retten, sondern daß man es bei den jungen Leuten mit denjenigen Elementen des Lebens zu tun hat, deren inneres Wollen man zu beeinflussen versuchen muß, damit das, was man für wertvoll hält im Leben, von ihnen ergriffen und auch gewollt wird. Sie sollten sich an das Wort eines wirklich rigorosen Moralisten, an das Wort Fichtes erinnern, der gesagt hat, daß »der Mensch nur wollen kann, was er liebt«. Daran sollten sich die Eltern erinnern, die heute Angst haben, daß ihnen ihre Kinder verloren gehen. (…)

22. Ferdinand Avenarius: Ein Gruß an die Freideutschen am 10. Oktober, in: Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jungwandern, 9. Jg. 1914, Heft 11/ 12, S. 274; wieder in: Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): und freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 478. Das ging zum Meißner, denkt ihr noch dran, Ihr von der freideutschen Schar? Zweitausend Jungen und Mädel bergan – Wie golden das Herbsten war! Was uns aus allen Gauen rief, Wir wußten’s selber nicht: Es rauschte, was im Walde schlief, Und segnend grüßte das Licht. Und aus den heiligen Tiefen wuchs Ein Beten uns durchs Mark: Gott, ist die Welt so voll des Trugs, Mach frei uns, wahr und stark! Ja, als zur Nacht der Flammenbrand Auflohte unserm Bund, Da weihten wir dem Vaterland Uns nicht nur mit dem Mund.

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Denkt ihr an die Stille, die dann kam? Noch knisterte und flüsterte fein, Langsam verlöschend, Flamme um Flamm, Dann sangen die Winde drein: Die Lüfte hoben den Sternen zu Euern jungen Schwur Und säten ihn über die Friedensruh Drunten der deutschen Flur. Am zehnten Oktober, denkt ihr dran? War das erst voriges Jahr? Wie mancher reifte schnell zum Mann, Der da noch Knabe war : Nun suchen euch unsre Grüße gut In Frankreich, in Rußland, zur See – »Und du? … Und der?« »fragt nicht, es tut Soldatentod nicht weh!« Doch decke wen Flut des Meeresgrunds Oder fremde Erde zu, Sein Geist, der ist und bleibt bei uns Im alten du und du. Vom Meißnerschwur durch jede Nacht Singt der Wind einen Hall über Leben und Tod von Wacht zu Wacht: Beisammen sind wir all. Ferdinand Avenarius

23. Käthe Kollwitz: Tagebuchaufzeichnungen (Auszug), in: Jutta Bohnke-Kollwitz (Hg.): Käthe Kollwitz. Die Tagebücher, Berlin 1989, S. 130, 143 – 147. Oktober 1913 Peter ist mit Georg zum Hohen Meißner gefahren. (…) April 1914 Mit Hans und Peter einen wunderschönen Tag am Scharmützelsee wegen eventuellen Wohnungsmietens zugebracht. Sie sprechen über Fichte[s] »Reden

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an die deutsche Nation«. Viel mehr als ich dachte sind die Jungen, besonders Hans, davon beeinflußt. Die Jugendbewegung schätzen sie als sehr bedeutsam ein. Soviel ich verstehe erhoffen sie sich durch Beeinflussung der Jugend im Fichteschen Sinne eine Umgestaltung der Menschheit nach dem Ideellen hin. Die Jugend soll gesondert aufwachsen in großen von guten Pädagogen geleiteten Anstalten und erst nach dieser stillen Reifezeit in das Staatsleben eintreten. – Hans ist momentan so eingenommen von diesen Ideen, daß er daran denkt den Oberlehrer zu machen und dann in ein Landerziehungsheim zu gehn. (…) 4. Mai 1914 Hans hat mir seine beiden Aufsätze über Jugendbewegung gegeben. Ich habe immer noch ein geteiltes Empfinden bei diesen Äußerungen von Hansens jetziger Richtung. Gut ist selbstverständlich daß er aus dem individualistisch egoistischen Empfinden sich heraushebt. Aber wie tut er es? Noch kann ich nicht glauben daß dieser Enthusiasmus vorhalten wird. Dazu ist die Ausdrucksweise zu pathetisch, etwas deklamatorisch. Gibt ihm diese Bewegung wirklich einen Lebensinhalt? Und seine Anschauungen. Doch nicht viel anders als die im »Anfang« vertretenen. Einsichtiger schon. Aber durchgehend die Auffassung, mit ihnen fängt alles erst an. Alles bis dahin Erstrebte – oder die Generationen die vor ihnen gestrebt haben – sind unterwegs schlapp geworden. Nun sagt er freilich nicht: Wir werden es nicht werden – sondern: Damit wir es nicht auch werden treten wir zu Gemeinschaften zusammen, in denen einer den andern stützt. (…) Früher überlegte ich manchmal, was werden die Jungen vorfinden wenn sie erwachsen sind? Sie werden in eine Zeit ohne große Ideale wie die Sozialdemokratie es war hineinwachsen. Nun entsteht aus der Jugend selbst eine Bewegung, die sie für weltgeschichtlich bedeutend hält. Die ideelle Linie, die vom Großvater her über Vater und Konrad auf Hans übergesponnen wird. Dazu der künstlerische Einschlag. Aber ob er die genügende Potenz haben wird? Die freideutsche Jugendbewegung muß vielleicht den Mund so voll nehmen, weil es ihr an Taten gebrechen muß. Die Freiheitskämpfer, die 48er, die Sozialdemokraten fanden sofort Arbeit vor und hatten Worte in Taten umzusetzen. Die freideutsche Jugend kann für ihr Endziel nicht viel tun, angegriffen und verulkt wird sie dauernd, also hüllt sie sich in stolze Worte. (…) Juni 1914 Bernfeld wohnte eine Woche bei uns. Er vertritt in der Jugendbewegung den praktisch revolutionären Teil. Aus Wien mußte er fort, lebt jetzt in Freiburg. Er hielt einen Vortrag und in der Debatte widersetzten sich ihm Noll, Hans. Beide gegen ihn als den Vertreter des Intellektualismus. Noll sprach prophetisch gefühlvoll visionär. Hans im verwandten Sinn doch knapper.

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Hans hat über das »Mirakel« geschrieben. Er verteidigt den Zwischenrufer, der von »Schändung der Religion« sprach. Inhaltlich teile ich seine Auffassung, liebe aber nicht wie er es sagt. Er wird das Pathetische nicht los. – Die Fichtegruppe. Sie erstreben – soweit ich es verstehe – eine Neugeburt der deutschen Jugend. Seitdem Bernfeld hier war seh ich aber, daß die hiesigen Fichteaner sich von der praktischen Arbeit abwenden, auch keine Organisation haben wollen. Sie wollen das geistige Ferment sein. Vor einigen Wochen war etwas was mich ziemlich verstimmte. Vor oder bei der Neubildung des Sprechsaals hatten Hans und Meier ein kleines Flugblatt verfaßt. In dem war in ziemlich anmaßenden und gespreizten Worten gesagt, nur der dürfe den neuen Sprechsaal betreten, der innerlich rein sei (das war der Sinn, die Worte weiß ich nicht mehr). Den ganzen Nachmittag hatten sie darüber gesessen und schließlich diese anmaßlichen Sätze zustandegebracht. Peter, dem sie Hans vorlas, lehnte sie ab. Immer noch ist es bei Hans Gespanntheit Pathos Steilheit, Neigung zur Verstiegenheit. (…)

24. Christian Schneehagen: Weihnachten im Feldlazarett, in: Freideutsche Jugend. Eine Monatsschrift, 1. Jg. 1915, Heft 2, S. 33 f. »Stille Nacht, heilige Nacht« tönt es noch von fern durch die mondhelle Christnacht. Und ich kann trotz warmen Lagers keinen Schlaf finden, nicht wegen meiner Verletzung, die mich glücklicherweise nur kurze Zeit von der Front fernhalten wird, – aber die Gedanken wollen noch nicht ruhig werden. Der Tag hat so viel gebracht, war so recht weihnachtlich aufgeregt. Mit dem überraschend über Nacht gekommenen Frostwetter fing es an. Eisblumen an den Fenstern und Rauhreif auf Bäumen, Sträuchern und Dächern. Bald machten sich einige Kameraden auch schon dran, einen kleinen Weihnachtsbaum herzurichten. Und dann kamen den ganzen Tag Pakete, die die einzelnen Kompagnien ins Lazarett nachsandten. Man wußte gar nicht, wo man all die lieben Gaben aus der Heimat lassen sollte. Man packte und packte und verteilte den ganzen Tag. Aber die größte Freude machten mir doch die gerade so zahlreich eintreffenden Briefe und die Weihnachtshefte der »Freideutschen Jugend«, des »Wanderers« und des »Vortrupps«. Ich wußte gar nicht, was ich zuerst lesen sollte, gerade wie die Kinder, wenn sie im Lichterglanz ihre Gaben erblicken, nach dem ersten Staunen vor Freude und Aufregung von einem zum anderen greifen. Dank Euch allen, die Ihr uns so herz- und geisterquickende Gaben ins Feld schicktet! Ihr ahnt nicht, was es für uns, die wir dem großen Wollen vom Hohen Meißner auch im täglichen Kleinkampf gegen Unverstand und Selbstgefühl treu

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bleiben wollen, bedeutet, wieder einen frischen Hauch jenes Geistes zu spüren. »Wir brauchen den Menschen von höherem Wahrheitsbedürfnis und festerem Verantwortlichkeitsgefühl«, so hat uns Ferdinand Avenarius in jenen Tagen im »Kunstwart« zugerufen. Jetzt stehen die meisten von uns seit Monaten im Felde, vielleicht innerlich allein unter Kameraden, die kein Verständnis für den großen heiligen Kampf gegen das Niedrige und Unedle in uns selbst und unseren eigenen Reihen haben, wenn sie auch sonst gute Soldaten sind. Da heißt es trotz aller Enttäuschung, ein echter Freideutscher zu bleiben! … »Einsam seid Ihr und doch nicht einsam, denn um Euch sind die Gedanken und Wünsche all der Menschen, die Euch innerlich verbunden sind, durch Bande der Liebe und Freundestreue.« So las ich im Weihnachtsaufsatz Ernst Gaebels. Dies Gefühl der großen Gemeinschaft unseres Strebens hebt uns empor über uns selbst und alles rundum, was uns niederdrückt. Die alte Freudenbotschaft vom Licht, das in die dunkle Welt kommt, läßt unseren Glauben an seinen Sieg mit neuer Kraft erglühen. Und wenn es Kopf und Herz auch noch nicht fassen wollen, daß so viele unserer Getreuen schon ihr Leben haben opfern müssen, wir lassen uns nicht irre machen an unserem Glauben. Wir wollen ihre Arbeit, die sie so früh verlassen mußten, selbst übernehmen! Und wenn es uns selbst nicht beschieden sein sollte, an den schier unendlich großen Aufgaben friedlicher Kulturarbeit noch lange weiterzuarbeiten, wir sterben ruhig, Ihr Freunde, unser begeistertes Wollen wird ja nicht untergehen. Ich kann es Euch nicht so schildern, dies große Weihnachtserlebnis! Der Gedanken und Gefühle stürmen schier zu viele auf mich ein. Kopf und Herz sind übervoll! Wenn auch die Kameraden nicht ganz verstanden, daß ich bei allem Lesen ganz vergaß, meine Pakete und Päckchen zu öffnen, ich mußte sie teilnehmen lassen an meiner Freude. Bald brannte der Baum und vereinte uns alle in Erinnerung an ferne Kinderfreuden. Die alten Weihnachtslieder gingen jedem in seiner eigenen Sprache zum Herzen ein. Und als ich dann Wildenbruchs »Weihnachten auf fremdem Meere« vorlas, da wußte ich, daß auch das roheste und härteste Gemüt vom Zauber der Weihnacht ergriffen war. Ich ging hinaus in die klare Mondnacht. Kaum ein Laut – auch an der Front schien es ruhig zu sein. Weihnacht! – Christabend! Christian Schneehagen.

25. Walter Hammer [Walter Hösterey]: Freideutsche Morgenröte, in: Der Vortrupp, 6. Jg. 1917, Nr. 17 (1.9.), S. 536 – 539. Nach oft genug beklagter, jahrelanger Verknöcherung kommt die Freideutsche Jugendbewegung wieder in Fluß. Diesen erfreulichen Eindruck hinterließ mir

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der Westdeutsche Jugendtag, zu dem am 4. und 5. August 1917 mehr als 600 Freideutsche auf der Loreley zusammengeströmt waren. Während der sich zu einer Jugendpartei erstarrte und schwierige Doktorfragen mit Eifer erörternde Verband der Freideutschen Jugend damit begnügt hat, eine religiöse Woche vorzusehen*) [Fußnote *) Vgl. die Mitteilung über die »Freideutsche Woche« in diesem Vortrupphefte.], die statt eines zweiten Meißnertages diesen Herbst stattfinden soll, haben Bonner Freideutsche verschiedener Bünde zu einem Jugendtage auf der Loreley eingeladen und einen Zulauf gefunden, der alle Erwartungen überbot. Und dann haben sie dort mit herzerquickender Lebendigkeit schnell entschlossen der vereinsmeierlichen Schwerblütigkeit Fehde angesagt, indem sie beschlossen: Die Freideutsche Jugend soll wieder der Name für eine große und freie und lebendige Jugendbewegung werden, wie bei ihrer Entstehung auf dem Hohen Meißner, nicht der Name für eine Jugendpartei. Alle Organisation hat dieser Bewegung lediglich die nötigen technische Dienste zu leisten, darf aber nicht, wie bisher, die Bewegung beherrschen, ihr Richtung geben und Grenzen setzen wollen. Darum ist eine neue, lediglich dienende Arbeitsorganisation aus freiwillig Bereiten zu schaffen. Nicht nächste äußere Aufgabe der Freideutschen Jugend ist die Veranstaltung von Jugendtagen. Nur zwei Mann waren gegen diese Willenserklärung, aber lediglich deswegen, weil sie sich nicht viel Erfolg davon versprechen konnten. Alle anderen stimmten zu. Davon waren auch neun auf dem Meißner gewesen. Mehr nicht. Ganz beängstigend haben sich ihre Reihen in den drei Kriegsjahren gelichtet. Auch an die 50 Soldaten beteiligten sich an der Abstimmung. In dieser einminütigen Willenserklärung sehe ich einen Markstein in der Entwicklung der Freideutschen Jugendsache. Nun werden die Hoffenden im Lande, die schon an diesem Jungvolk verzweifeln wollten, sich wieder mit aller Liebe zu ihm bekennen. Verheißungsvoll grüßt uns wieder eine Freideutsche Morgenröte. Die Zeit des Stillstandes und Niederganges ist vorbei. Schon hat sie ihren Geschichtsschreiber gefunden, der viel Rühmendes über das harmlose Kinderparadies, das ungefährliche Wandervogel-Idyll zu sagen gewußt hat. Vom Standpunkte des älteren Freundes aus war alles schön und gut in diesem zahmen Wandervogel. Aber die Kerls vom alten Schlage waren weniger zufrieden und standen grollend abseits. Beschämend unfruchtbar ist diese Zeit der Verjüngung, der vielgepriesenen Verjüngung, gewesen. Zu Kriegsbeginn täuschte der ziemlich allgemein einreißende, oft genug ins Phrasenhafte ausschlagende patriotische Überschwang über den bald beängstigend werdenden Führermangel hinweg. Man sang neben der Wacht am Rhein sogar einige kräftige neue Lieder. Aber bald war das Erbe der Alten aufgezehrt. Und auf der Loreley hörte man kaum noch ein neues Lied. Und den Volkstanz, der zu künstlerischer Vollendung gebracht werden kann, wenn er mit strebendem Ernst und tiefer Liebe betrieben

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wird, sah man ausarten in stillos wilde Hopferei, hoffnungslos ins Jahrmarkthafte, Fratzenhafte verzerrt. Diese ausgeartete Form der Festesfröhlichkeit fiel in den Tagen der Flandernschlacht, angesichts unserer höchsten völkischen Not, uns Soldaten allen böse auf die Nerven, und fast schien es, als sollte sich die verbindende Brücke zwischen der Front und der Heimat nicht schlagen lassen. Doch über diesen nicht wegzuleugnenden, wenn auch nicht von jedem als solchen zu begreifenden Mißklang half schon der erste Abend hinweg. Da sang einer am Feuer das alle Herzen ergreifende Lied: daß wir unserer teueren Toten gedenken sollten. Der mahnende Sinn dieses Liedes drückte den Loreleytagen den Stempel auf. Wie heilfroh ist man draußen an der Front, wie gerne läuft man stundenweit, wenn man nur einen einzigen Gleichgesinnten treffen kann, den man persönlich nicht einmal zu kennen braucht, von dem man nur das Eine weiß: daß er sich zur Freideutschen Jugend zählt. Und nun ist es einem vergönnt, mitten in seinem Urlaub solches Jungvolk auf der Loreley von allen Seiten in Scharen herbeiströmen zu sehen. Da wird einem das Herz weit. Und man hätte wohl Lust, sein Feldgrau abzustreifen, mit diesen prächtigen, trotzig-stolzen Kerls loszustürmen und mit ihnen die Welt, wenn nicht zu erobern, so doch vorläufig einmal wie zur guten alten Zeit auf den Kopf zu stellen. Aber damit hat’s noch eine Weile. Noch müssen wir geduldig des Tages harren, an dem sich der Regenbogen des Friedens wieder über unsere liebe Heimat wölbt. Einmal wird dieser Tag doch kommen. Diese trostvolle Gewißheit linderte den Trennungsschmerz, der drunten am Rhein in seiner alten wunderbaren Stärke über uns kam. Ist der Frieden erst wieder da, auch dieser schöne Plan reifte auf der Loreley, dann wollen wir übriggebliebenen alten Krieger uns einmal alle miteinander treffen. Dann werden wir nach erneutem Treuegelöbnis unser Führeramt wieder antreten und unsere Freideutsche Jugendsache zu neuer Blüte führen, den gefallenen Kameraden unserer Gemeinde zu Ehren. In kraftvoll-lebendiger Entwicklung wird das Freideutschtum durchdringen über eine neue Blütezeit zur Reife und ernsten fruchtbringenden Tat. Auf der Loreley hat es sich gezeigt, daß ein neuer Ernst über die Freideutsche Jugend gekommen ist. Der oft schon gegeißelten Wirrköpfigkeit hatte man sich schon zu entziehen gewußt, als einen die erste Not des Krieges hart anpackte. Und immer tiefer ist man in die Wirklichkeit hineingekommen, je länger der Krieg dauert und mit einem Schein von Konsequenz denen recht geben will, die ihn als einen unentbehrlichen Erzieher freventlich geradezu herbeigewünscht haben. Die zu volkswirtschaftlichem Denken zwingende Not im Inneren ließ in der Freideutschen Jugend den Wunsch reifen, über den reinen Individualismus hinauszukommen und ein Verhältnis zum Staat zu gewinnen. Mit geradezu religiösem Ernst hat sie nach dieser Richtung hingestrebt. Da war es vor allem Wyneken, der den Blick aufs Wesentliche lenkte. Allzu leicht hatte man geglaubt,

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sich mit den großen Nöten unserer Zeit abfinden zu können, indem man sich die Probleme einfach vom Halse schaffte und etwa die Siedlung als Allheilmittel pries. Jedoch nicht darin, daß wir die Welt fliehen und uns in stiller Abgeschiedenheit ein bescheidenes Weideglück zimmern, liegt die historische Aufgabe der Freideutschen Jugend. Immer mehr muß sie sich von ihrem unpolitischen Denken freimachen und zu der Einsicht kommen, daß die Lösung gewaltiger Massenprobleme ihrer wartet, daß etwa die Kritik des Konsums, die Erziehung des Konsumenten, unvergleichlich wichtigere Aufgaben sind, als die Erfindung deutscher Monatsnamen. Große neue Fragen wurden in den Loreleytagen tief in die Seele der Freideutschen gepflanzt. Und dadurch wuchsen diese Tage hoch hinaus über die Flachheit der letzten Jahre, in denen man sich in einträchtlicher Faselei darüber unterhalten hat, wer alles in die Freideutsche Gesellschaft hineingehöre, ob man schon zu Taten berufen sei und was dergleichen Nichtigkeiten mehr waren. (…) Noch lebt als beseelende Gewalt der Geist vom Hohen Meißner in uns fort: Ahnengeist. Die artigen Knaben der letzten Jahre waren drauf und dran, den Vätern gehorsam nachzuschlagen, sich einzusetzen für lediglich äußerliche Machtentfaltung, statt unsere Fahne hoch zu halten, auf der die Namen Jahn, Arndt und Fichte geschrieben stehen. Mit der Kraft der deutschen Seele wollen wir die Welt durchdringen und uns freimachen von Erb-Übeln und Schlacken. Und dazu ist uns nun auch das Verständnis für die wirtschaftlichen Massenprobleme aufgegangen, an deren Lösung wir nach Kräften mitarbeiten werden. Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Eine frische Freideutsche Morgenröte ist erwacht. Am Horizonte heben sich die Silhuetten (sic!) eines Freideutschen Jungvolkes ab, das nicht mehr die aus reicher Erfahrung schöpfenden Alten schmäht und sich wunder wie erhaben über sie dünkt, sondern in neuem religiösen Ernst ihrer berufenen Führer wartet. Walter Hammer.

26. Walter Hammer [Walter Hösterey]: Des Herausgebers Wille und Weg (Auszug), in: Der Hohe Meißner, 1. Jg. 1919, Nr. 1 (1.2.), S. 93 f. Dieses Wort »Der Hohe Meißner« hat für uns Freideutsche Alle, die wir uns im Oktober 1913 beim ersten Freideutschen Jugendtag zu unserer Jahrhundertfeier trafen, tiefe symbolische Bedeutung gewonnen. Tausende juchzten damals auf, Jubel ging durch die Reihen der gleichgesinnnten, gleichgewillten Tausende, die sich auf dem Hohen Meißner der Zugehörigkeit zu einem großen Ganzen, die sich aufleuchtenden Auges ihrer Wesensverwandtschaft und großen Gemeinsamkeit bewußt wurden. Seitdem strebt aller Ernst der Freideutschen Jugend-

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bewegung zum Hohen Meißner als dem heiligen Berg der neuen Jugend. Zumal wir heimgekehrten Soldaten, die wir in den Feldnestern immer wieder die Einheit unserer Jugendbewegung von neuem unmittelbar haben erleben dürfen, wo wir auch lagen wallfahrteten wir im Geiste immer wieder zum Hohen Meißner. Zurück zum Meißner! Das sei uns Wille und Weg! In diesem Sinne sollen alle wahrhaft Freideutschen und insbesondere auch gerade meine Kriegskameraden hier zu Worte kommen. »Hoher Meißner« – sagt dieses Wort nicht jedem Wissenden mehr, als langatmige programmatische Erklärungen es könnten? »Die deutsche Jugend steht an einem geschichtlichen Wendepunkt.« So hieß es in der mir immer noch Richtung weisenden Einladung zum Meißner-Fest, von der in der nächsten Nummer noch die Rede sein wird. Von den klaren, zielweisenden Worten der Einladung sticht die sogenannte Meißner-Formel beschämend ab, in der man später den gemeinsamen Willen und Wesenskern der auf dem Meißner versammelten Jugend in Worte zu fassen versucht hat. Sie verrät so wenig von Freideutscher Eigenart und arbeitet mit dermaßen dehnbaren Begriffen, daß sie von der Heilsarmee und von konfessionellen Jünglingsvereinen aufgegriffen und als Losungswort ausgegeben worden sein soll. Sie ist vielen von uns im Laufe der Jahre zu einer nichtssagenden Verlegenheitsphrase geworden. Geblieben aber ist uns als fruchtbare, zeugende, weiterwirkende Kraft das große Kennenlernen, das Offenbarwerden eigenen Wertes und eigener Kraft. Was damals auf dem Meißner keimte, bedarf nun neuer Sonne, damit die alte, stolze Jugendbewegung frische Blüten treiben kann. Aus den kalten Nebeln des grauen Flachlandes, aus Krieg und Not heraus, wollen wir immer von neuem auf die sonnigen Höhen unseres heiligen Berges steigen und zu unserm Tempel hinausfegen, was uns wesensfremd ist: jede unritterliche Fehde gegen Sachgegner, insbesondere die Kampfesweise und Tonart der Gasse, verknöchernde Vereinsbürokratie und aufdringliche Jugendpflege, aber auch Hochmut und Wirrnis, Schlagwortseuche und Parteiherrschaft und Rückfall der Lebensführung ins bequeme Ewig-Gestrige. Frei soll sich wieder entfalten, soll wachsen und wirken, was die eigenartige herbe Schönheit der neuen Jugend ausmacht: Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, Ehrfurcht vor dem schöpferischen Geiste, vor dem führerischen Menschen, Strenge gegen sich, Mut und Wille zu reiner Entfaltung jugendlicher Eigenart, ernstes Jasagen zum neuen freien deutschen Volksstaate, beherztes und zuversichtliches Zupacken bei Neubau des vermorscht zusammengebrochenen deutschen Hauses. Komm wieder über uns, Meißner-Geist, du draufgängerischer, wagemutiger! Damit, was sich heute so nennt, sich aus seiner Verknöcherung, aus seinen Sackgassen befreit und wirklich wieder Jugendbewegung werde, seine alte, herzerquickende Schwungkraft zurückgewinnt, daß wir dann auch den Weg in

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die Welt des Gesamtvolkes finden und in ihr der Freideutschen Jugend Denkund Lebensart zu Ehren, Geltung, Herrschaft führen können! Die Schlacken laßt uns wegräumen und die immer noch verborgenen glimmenden Funken der alten Meißnerbegeisterung zu wärmendem Feuer, zu großer, heller Flamme auflodern lassen. Und so sei »Hoher Meißner« unsre Losung! Unser politischer Beruf. Der gegenwärtige Hochgang des politischen Lebens, die Revolution, die entscheidungsvollen Wahlen, haben uns ganz unvorbereitet gefunden. Die vorwiegend auf Genuß eingestellte und über vorzugsweis spielerische Selbstkultur nur wenig hinausgekommene Meißner-Jugend hat noch kein klares Verhältnis zum Staat gewonnen, hat nur in einzelnen ihrer Glieder ein Erwachen des sozialen Gewissens erlebt. Aus träumerischem Behagen ist mancher Freideutsche recht unsanft aufgeschreckt worden, als ihn plötzlich die mannigfachen Pflichten überraschten, denen sich kein Deutscher entziehen konnte und durfte. Die so jäh Erwachten standen den politischen Ereignissen mit zum Teil ausgesprochen rührender Hilflosigkeit gegenüber. Das hätte man vermeiden können, wenn man sich beizeiten seiner Bürgerpflicht bewußt geworden wäre, in ein wie immer geartetes aktives Verhältnis zum öffentlichen Leben, zu den Angelegenheiten des Staates zu kommen. Gesprochen worden ist von dieser Notwendigkeit eindringlich genug,*) [Fußnote *) Vgl. Popert, Freideutsche Zukunft (Vortrupp-Flugschrift Nr. 24) und Walter Hammers Mahnruf an die Freideutschen: »Werdet Führer Eurem Volke!« (Vortrupp-Flugschrift Nr. 49).] aber, wie man sich in gewissen Kreisen der Freideutschen Jugend noch je darin gefallen hat, alles von sich zu weisen, was wahrhaft Ernst im Leben der MeißnerJugend beanspruchen darf, so hat man auch politische Schulung bewußt verschmäht. (…)

27. Eugen Diederichs: Zur Jugendbewegung. 2. Freideutsche Jugend (Auszug), maschinenschriftl. Typoskript (Skizze zu einer Selbstbiographie 1920/21), S. 7 – 11, AdJb A 103 Nr. 1. (…) Als der Plan auftauchte, die deutsche Jugend gewissermaßen als Demonstration gegen verlogenen Patriotismus zu einem Fest zusammenzurufen, das die Jahrhunderterinnerung an die Freiheitskriege mit dem Blick auf die Zukunft feierte – der Plan ging von der Münchener Freischaar aus – und Jena wegen seiner günstigen Lage zum vorbereitenden Versammlungsort gewählt war, war Sera der einzige Vertreter der Jenaer neuen Jugend und damit der Gastgeber der Tagung.

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Die Tagung fand im Weimarischen Hof statt, es waren etwa 30 Jungen als Delegierte versammelt, ich war der einzige von der älteren Generation und habe nicht geredet. Natürlich gab es mancherlei Gegensätze, aber die Tagung wurde geschickt geleitet. Der Name »Freideutsche Jugend«, der von Schneehagen ausging, wurde zur Debatte gestellt. Erst wurde er von Sera aus bekämpft, aber da kein besserer Vorschlag erfolgte, später einstimmig angenommen. Mir ist, als wäre die Versammlung Pfingsten 1913 gewesen. Ich hatte zum ersten Mal einen ganz überraschenden Eindruck von einem neuen durchaus einheitlich starken Jugendgeist, der sich Alkohol und Nikotin fernhielt und doch mehr wie enges Abstinententum oder die Naturromantik der Wandervögel war. Ich wurde gebeten, das Festbuch zum hohen Meissner herauszubringen und auch sonst an der Agitation der Öffentlichkeit gegenüber mitzuhelfen. Mein Erstes war der Vorschlag eines Aufrufs in der Presse als Formel des neuen Wollens. Ich verfasste ihn und der Mitherausgeber des Jahrbuches, der Münchener Freischärler Kracke hat nur wenig daran geändert. Er hatte folgenden Wortlaut: »Mit Stolz gedenken wir der Begeisterung und der Taten, die vor hundert Jahren unser Vaterland aus tiefer Schmach erhoben haben. Wir fühlen, dass Vieles von dem, was die Dichter der Freiheitskriege besungen, was Fichte und Stein gesonnen und gewollt haben, heute noch der Erfüllung harrt. Aber wir fühlen auch, dass frische Kräfte sich in unserem Volke regen, die zu innerlicher nationaler Erneuerung drängen. Vaterländische Erinnerungsfeste werden 1913 in grosser Zahl gefeiert, aber noch fehlt das Fest der Jugend, die der Gegenwart zugewandt, im Gelöbnis der Tat die wahre Vaterlandsliebe bekunden will. Schon einmal in der deutschen Geschichte – als die Burschenschaft gegründet wurde – hat die deutsche Jugend am Anfang einer Bewegung gestanden. Und wieder geht heute durch sie ein starkes Ahnen, ein festes Wollen des Kommenden. Ihr Selbst frei zu entwickeln, um es dann dem Dienet der Allgemeinheit zu widmen, ist höchste vaterländische Aufgabe der Jugend. Allem geschraubten und gezwungenen Wesen stellen wir Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit, Echtheit, Geradheit gegenüber ; aller Engherzigkeit das ernst freie Gefühl der Verantwortlichkeit! Statt des Strebertums aufrechte Überzeugungstreue! Statt der Blasiertheit Jugendfreude und Empfänglichkeit; Ausbildung des Körpers und strenge Selbstzucht statt der Vergeudung der Jugendkraft! Wir blicken auf die Jugend der verwandten germanischen Länder, auf die Skandinavier, auf England, selbst auf Amerika. Ohne die Eigenart vornehmlich unseres akademischen Lebens aufgeben zu wollen, sehen wir in manchen seiner Formen Enge und geschichtliche Überlebtheit. Vor allen Dingen hassen wir den unfruchtbaren Patriotismus, der nur in Worten und Gefühlen schwelgt, der sich – oft auf Kosten der historischen Wahrheit – rückwärts begeistert, und nicht

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daran denkt, sich neue Ziele zu stecken. Alle, für die das »Vorwärts« unseres Blücher gilt, mögen uns die Hand reichen! Im Oktober auf dem Hohen Meissner bei Bebra wollen wir freideutsche Jugend uns verbrüdern zu gemeinsamer Arbeit! Heil deutsches Volk und Vaterland! Heil deutsche Jugend und Freiheit!« Mein Aufruf ist in der späteren Zeit durch einen zweiten Aufruf Wynekens, der den meinen zu »nichtssagend«, d. h. zu wenig aggressiv gegenüber der älteren Generation fand, überdeckt worden und da ich absichtlich mit meinem Namen zurückhielt, weise man in der Freideutschen Jugend kaum etwas von meiner Autorschaft. Mit der Festschrift hatte ich aussergewöhnlich viel Arbeit, Kracke übernahm die Beiträge der Jugend, ich die der älteren Generation. Ich schrieb auch selbst einen Beitrag darin als Opposition gegen Wyneken. Fast über jeden Beitrag hatte ich lange Debatten mit Kracke, er gab schliesslich in allem nach und ebenso setzte ich auch durch, dass die Wynekenssche Passung des Aufrufs in der Festschrift an einigen Stellen gemildert wurde. Ich stand gerade vor meiner Reise nach Belgien und Holland, aber wenn sie sich auch wegen der Festschrift verschob, ich ging nicht eher fort, als bis ich sie nach meinem Willen gestaltet hatte. Zu den Vorbereitungen des hohen Meissner-Festes war ich nicht nötig, ich habe nur die Festredner mit beraten, die Darstellerin der Iphigenie beschafft und ebenso Traub herangeholt. Sera war mit Kremers und Carnap etwa durch ein Dutzend Jungen in Schaube und Barett und Mädels im Rupfengewand vertreten, verstärkt noch durch die Akademische Vereinigung in Marburg in gleicher Gewandung, sodass wir eine höchst ansehnliche farbige Schaar von einheitlicher Haltung waren, die den Mittelpunkt für ihre Rucksäcke unter ihrer neuen Fahne fand. Ich hatte damals in Jena vorgeschlagen, als Farbe der Freideutschen Jugend: Rot-Gold zu bestimmen. Dieser Vorschlag wurde angenommen. Ich liess auch zur Probe ein rotgoldenes Vivatband anfertigen, aber es war ziemlich teuer und so mochte ich es nicht ein Mal für die Seraleute bestellen, zumal keine rechte Stimmung dafür war. Die Jungen waren nicht auf Symbole eingestellt. So brachte die Serafahne als Einzige die Farbe Rot-Gold auf dem Meissnerfest zur Geltung. Es ist dann von der Wahl einer Farbe für die freideutsche Jugend nicht wieder die Rede gewesen, der Streit für oder gegen Wyneken nahm sie viel zu sehr in Anspruch und der Intellektualismus Wynekens hatte sicher kein Verständnis für das Symbol von Farben. Am Tag vor dem Hohen Meissner Fest traf sich die Jugend auf Burg Hanstein unweit Sodens im hessischen Bergland. Nur wenige Vertreter der älteren Generation waren anwesend. Wyneken und Luserke, Popert und Paasche vom Vortrupp, Avenarius, der Germanist Frank Fischer aus Göttingen, das waren beinahe alle. Dichtgefüllt war der alte Rittersaal und die Versammlung sollte beginnen. Auf ein Mal hiess es, bewegt Euch so wenig wie möglich, die Decke

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bricht sonst unter der Menge. Der Saal wurde wieder geräumt, die Menge strömte in den Burghof und nun wurden Ansprachen aus dem Fenster des Saales gehalten. Jeder Vertreter der einberufenen Vereine sprach, auch Avenarius in einer guten humoristischen Rede. Dann wurde der Saal für eine beschränkte Anzahl der Teilnehmer wieder geöffnet, die anderen sangen und tanzten im Burghof und die Melodien ihrer Tänze tönten hin und wieder beim Öffnen der Tür in die Beratungen hinein. Zuerst redeten die Älteren, wie Popert, Paasche, Avenarius, sie wollten die Jugend an den Wagen ihrer Bestrebungen spannen, aber die Jugend wehrte sich, sie wollte bei keiner Partei sein. »Deutschland brennt«, rief Paasche, »Ihr müsst helfen, mit zu löschen«. (Paasche wurde ja 1920 von der Reichswehr auf seiner Villa Waldfrieden ermordet). Der Jugend kam Wyneken zu Hilfe, immer mehr verschärften sich die Gegensätze und als es zum Schluss der Debatte gekommen war, zogen wir alle mit dem Gefühl zur Bahnstation, es ist unmöglich, eine Brücke zu einem Zusammenschluss zu finden. Die Teilnehmer, etwa 1200 – 1500, waren in die Dörfer am Fuss des Hohen Meissner einquartiert, wir hatten zu unserem Quartier in der Nacht noch etwa 2 Stunden von Soden aus zu laufen. Ich ging mit Ahlborn, der noch nichts von Fichte kannte. Es war wie im Manöver. Jedes Bauernhaus hatte seine Einquartierung, meist ein Strohlager und es war ein farbiges Bild, als sich etwa die 3 – 400 im Dorf einquartierten Jungen und Mädchen früh auf den Dorfstrassen zusammen fanden und truppweise bei etwas feuchtnebeligem Wetter in eineinhalbständigem Marsch auf das Plateau des Berges stiegen. Das Fest dauerte zwei Tage. Ich hatte die Repräsentation des Festes gegenüber den anwesenden Vertretern der Presse übernommen und führte jeden stolz zur neuen Serafahne als dem Wichtigsten des ganzen Feste. Im Grunde genommen trug es den Charakter eines grossen Wandervogelfestes bei dem alle Zuschauer fehlten. Vormittags wurde in Fortsetzung der Hansteiner Verhandlungen ein Thing gehalten, an den nur die Vertreter der einzelnen Verbände und wenige Ältere teilnahmen. Man hatte das Gefühl, man dürfte ohne Einigung nicht auseinandergehen. Luserke redete davon, dass die neue Jugend sich an ihren Augen erkenne und ein älterer Bremer Gustav Franke brachte die freideutsche Formel vom Leben aus innerer Verantwortung vor, stockend und zögernd wusste er zu ihrer Begründung eigentlich nichts anzuführen, da sie so selbstverständlich war. Sie wurde auch ohne jede lange Debatte angenommen, ein jeder war froh, dass ein positives Resultat da war. Dann ging es ans Abkochen, jede Gruppe für sich. Die Seraleute kochten Reis mit Aprikosen und luden Avenarius dazu ein, mit dem Bemerken, es sei Gänsebraten. Erst nach Jahren habe ich erfahren, dass sich durch die Freideutschen

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in Windeseile das Gerücht verbreitet hatte, ich äße Gänsebraten, als gehöre ich zu der älteren Generation der unverbesserlichen Geniesser. Es wurden dann Volkstänze getanzt, auch Gertrud Meyer war anwesend und ich tanzte mit ihr den Grossvatertanz. Gegen Abend redete Traub sehr eindrucksvoll und dann ging es zum gemeinsamen Zug nach dem Feuer auf einer Spitze mit freier Aussicht abseits vom Plateau, an dem einige Reden gehalten wurden. Abends zogen wir dann wieder ins Dorfquartier und der zweite Tag brachte einen nochmaligen Aufstieg und Aufführung der Iphigenie in einem grossen Planzelte bei wenig günstiger Witterung. Nachmittags stiegen wir zu einer Bahnstation ab, die nach Kassel führte und mit einem Besuch der Gemäldegalerie und von Wilhelmshöhe klang für mich das erste deutsche Jugendfest aus. Es ist später viel Gerede von diesem Fest gemacht worden, denn hier wurde zum ersten Mal die Jugendbewegung für weitere Kreise sichtbar. (…)

Jürgen Reulecke

1923 – Der Versuch einer politischen Neuakzentuierung im Zeichen des gesellschaftlichen Umbruchs

Zwar heißt es in der Meißnerformel von 1913, die Freideutsche Jugend wolle für die von ihr beschworene »innere Freiheit« in Zukunft »unter allen Umständen geschlossen« eintreten, doch zeigte sich bereits kurze Zeit später, dass sich gegensätzliche Flügel in Richtung links und rechts herauszubilden begannen. Bei einer Führertagung der Freideutschen im März 1914 in Marburg war es bereits nach »langen erbitterten Diskussionen« zur Distanzierung von den sympathisierenden Älterenkreisen, besonders von Gustav Wyneken (1875 – 1964) gekommen: Die Freideutsche Jugend, so hieß es, sei eine »Jugendbewegung«, wolle sich nicht von »Altersverbänden« bevormunden lassen und eine »Gemeinschaft von Jugendbünden« sein.1 Nach vielerlei Debatten über die weitere Entwicklung trafen sich dann unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs und infolge einer Wiederannäherung an Wyneken Anfang August 1917 über sechshundert Angehörige verschiedener freideutscher Gruppierungen auf der Loreley zu einem »Westdeutschen Jugendtag«, der zu einem bemerkenswerten selbstkritischen Beschluss führte, den einer der Akteure folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: »Wir sind mit dem Bestehenden unzufrieden. Wir sind kein Verband mehr, sondern eine Gesinnungsgemeinschaft (…). Freideutsch sind alle, die sich dazu rechnen, und alle freideutsch gesinnten Menschen.«2 Nach dem Meißnerereignis von 1913 schien dieses Treffen in Richtung auf eine Wiedervereinigung der Freideutschen ein erster Schritt zu sein, wobei Wyneken erneut engagiert mitwirkte. Weitere Führertage folgten im Oktober 1917, im März 1918 und schließlich in Jena im April 1919, nachdem Wyneken im November 1918 einen Rundbrief verfasst hatte, in dem er dazu aufforderte, den »Blick ab(zu)wenden von dem, was in unserem Geschick nur Niederlage und Zertrümmerung ist, und mehr nur das 1 Zit. nach Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962, S. 51. 2 Landsgemeinde, 2. Jg., Heft 7 vom November 1917, zit. nach Werner Kindt (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896 – 1919, Düsseldorf, Köln 1968 (Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 2), S. 596.

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neue Leben (zu) fühlen und (zu) sehen, was unter Fall und Trümmern unversehrt geblieben ist und durch uns empor zum Licht geführt werden soll.«3 Dezidiert äußerte sich auch eine Gruppe von Freideutschen, die zunächst noch eine Einheit zu präsentieren schien. Unterzeichnet unter anderem von Knud Ahlborn (1888 – 1977), Arnold Bergstraesser (1896 – 1964), Karl Bittel (1892 – 1969), Rudolf Carnap (1891 – 1970) und Karl August Wittvogel (1896 – 1988) appellierte sie an den »Geist der Brüderlichkeit«: »Sprengen wir die Schranken, die uns von unserem Volke trennen, lassen wir all unseren guten Willen in die große Gemeinschaft einströmen, auf dass das Erlebnis des Hohen Meißners, das Erlebnis der Freiheit, der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung eines Tages Gemeingut der ganzen deutschen Jugend werde.«4 Weitere Aufrufe – zunehmend allerdings kritischer werdend – folgten in den politisch extrem herausfordernden Wochen im Vorfeld eines Jenaer Apriltreffens, bei dem dann die Gegensätze zwischen den eher national-völkischen, den bürgerlich-linksliberalen und den deutlich sozialistisch-kommunistischen Gruppierungen massiv zutage traten. Diese Entwicklung setzte sich auch bei einer Tagung in Hofgeismar im Herbst 1920 fort, zu der das »Arbeitsamt der Freideutschen Jugend« eingeladen hatte, und führte schließlich infolge der scharfen Auseinandersetzungen mit den Kommunisten zu einem deutlichen Bruch. Eine Reihe von Freideutschen – viele waren Meißnerfahrer von 1913 gewesen und nun meist links der Mitte einzuordnen – trafen sich noch einmal zu Pfingsten 1921 auf dem Ludwigstein, ohne dass dort eine neue Perspektive hätte gewonnen werden können. Diese insgesamt recht chaotische Entwicklung des Freideutschentums seit Ende 1918 ließ zwei der bisherigen Hauptakteure, inzwischen seit Anfang 1920 Begründer eines »freideutschen Ferienlagers« in Klappholttal auf Sylt, nicht ruhen: Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel (1889 – 1966) wollten hier im Geiste der Meißnerformel »eine Pflanzstätte für wahre Kultur aus dem Geiste der Jugend« schaffen, wo – so Ahlborn – »freideutsche Menschen« Zeit finden sollten, um sich den Aufgaben zu stellen, die beim »Aufbau der neudeutschen Volksgemeinschaft« anstanden.5 Im Februar 1922 verschickten sie einen entsprechenden Rundbrief an eine größere Zahl freideutscher Freunde (s. u.) – er lieferte das Startsignal in Richtung auf das Ereignis »Meißner 1923«. Bereits im Vorfeld des Treffens meldeten sich daraufhin allerdings bereits kritische Stimmen zu Wort, und es kam zu ersten Auseinandersetzungen. Auch das im Wesentlichen auf Burg Ludwigstein abgehaltene Meißnertreffen von 1923 selbst 3 Zit. ebd. S. 609. 4 Zit. ebd. S. 616, nach einer Beilage zur Zeitschrift »Freideutsche Jugend« vom Januar 1919. 5 Freideutsche Jugend, Heft 4 vom April 1920, hier zit. nach Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974 (Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 3), S. 267.

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verlief dann weitgehend anders, als es sich die Veranstalter erhofft hatten. Wie zu erwarten, fielen deshalb die rückblickenden Berichte darüber und die Beurteilungen der Ergebnisse des freideutschen Zusammenseins auf dem Ludwigstein bemerkenswert unterschiedlich aus, wie aus den im Folgenden abgedruckten Quellen hervorgeht. Eine über den Freideutschen Bund hinausgehende Sammlung der Freideutschen, wie von Ahlborn und Goebel angestrebt, kam nicht zustande, auch wenn Teilnehmer wie Walter Hammer vom »Beginn einer Erfüllung« der Kernideen von 1913 sprachen und in Zukunft einen freideutschen »Zusammenschluß im Zeichen eines praktischen Idealismus« erwarteten. Zu den inzwischen aus der Wandervogeltradition hervorgegangenen jugendbewegten Gruppierungen und der sich nach einem Treffen Mitte 1919 auf Schloss Prunn bei Regensburg nun ebenfalls jugendbewegt orientierenden Pfadfinderbewegung bestanden kaum Kontakte. Hier kam es in Richtung auf die nach dem Ersten Weltkrieg allmählich beginnende, vor allem sich dann ab etwa 1924 in breiter Form durchsetzende zweite jugendbewegte Phase, die der Bündischen Jugend, zu oft stark männerbündischen Ausprägungen und diversen neuen Stilformen, die vor allem mit den Begriffen »Bund« und »Führertum« angesprochen sind: »Brüderliche Gemeinschaft«, »treue Gefolgschaft«, der »neue Mensch« in einem »neuen Reich« und »verantwortungsvolles Führertum« waren von nun an Schlagworte, die die letztlich ja das »Selbst« des Individuums in den Mittelpunkt stellende Meißnerformel zwar nicht völlig ersetzten, jedoch deutlich zurücktreten ließen.6

6 Zit. nach dem Ergebnis eines Neupfadfindertreffens in Potsdam 1920, s. hierzu Harry Pross: Jugend, Eros. Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern, München, Wien 1964, S. 206.

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Abbildungen

Auf dem Meißner 1923. Fotograf Julius Groß. Foto AdJb F 1 Nr. 112, 23.

Franz Oppenheimer während seiner Ansprache zum Thema »Volk in Not« anlässlich des 10-jährigen Meißnerjubiläums 1923. Fotograf Julius Groß. Foto AdJb F 1 Nr. 112, 18.

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Karl August Wittfogel 1923 auf dem Ludwigstein. Fotograf Julius Groß. Foto AdJb F 1 Nr. 112, 17.

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1. Knud Ahlborn, Ferdinand Goebel: Der freideutsche Gedanke (Auszug), in: Freideutsche Jugend, Heft 5 vom Mai 1922, Lauenburg, Elbe 1922; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 271. Der Freideutsche Gedanke soll endlich klar gefaßt und erobernd in unser Volk hinausgetragen werden! Mit diesem Versprechen möchten wir diese Zeilen einleiten. Mit bitterem Schmerz mußten wir beide jahrelang zusehen, wie die einst von uns geweckte Bewegung infolge des zersetzenden Einflusses wesensfremder, kaltintellektueller, sich nur freideutsch nennender Elemente immer mehr zerredet und zerschlagen wurde. (…) Wir fühlen uns verbunden mit treibenden Kräften, die uns innerlich zwingen, das Werk nun ganz zu tun. Wir rufen darum heute alle sich im Herzen treu zur Sache bekennenden Freideutschen auf zu gemeinsamem Tun. Als Werkstätte des neuen Handelns errichten wir den Freideutschen Bund. Er sei der Körper für unsere praktische Arbeit. Als Grundlage der einheitlich gerichteten Arbeit geben wir ihm das Bekenntnis, das wir euch unterbreiten. Freideutsch ist uns hinfort die Gesinnung, die alles Tun durchdringt, und ein lebender Glaube, zu dem auch ihr euch mit uns bekennen mögt. (…)

2. Meißnertag 1923, in: Rundbrief des Freideutschen Bundes, 1. Jg., Blatt 2, April 1923. Zu Ostern fand auf dem Ludwigstein eine Besprechung des Planes des diesjährigen Meißnertages statt. Als Zeitpunkt wurden die Tage vom 30. August bis zum 2. September gewählt. Allgemein trat abermals der Hohe Meißner in den Mittelpunkt der ganzen Veranstaltung als das Symbol unserer Bewegung. Ludwigstein, Meißner, Kassel sind die drei Marksteine des neuen Festes. Keine Bünde sollten dort in Erscheinung treten, sondern nur die Landschaften (Gaue). Jugendsehnen, Frauenleben und Männerwerk sollen zu einem großen Akkord zusammenklingen. Sieben Worte stehen als Brennpunkte unserer Weltanschauung, unseres kraftgesammelten Willens im Zentrum der Feier : Elternhaus, Schule, Jugendgemeinschaft, Kirche, Volkswirtschaft, Politik und Kultur. Das Leben in seiner Vollheit soll kurz und doch geschlossen dargestellt werden. Musik, Gesang, Tanz und Spiele werden das Fest ausgestalten. Die ersten beiden

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Tage sind um den Ludwigstein gruppiert, der dritte wird seinen Höhepunkt im Feuer und Gelöbnis auf dem Meißner finden. Am Sonntag, den 2. September, veranstalten wir Freideutschen eine Totenfeier für die gefallenen Meißnerfahrer des Jahres 1913, während die übrigen Festteilnehmer über Kassel, wo an diesem Tage eine Festausstellung eröffnet wird, heimfahren. An dem ganzen Fest können nur rund 6000 Menschen teilnehmen. Für die, die nicht zum Meißner fahren können, finden in den einzelnen Gauen Anfang Oktober Nachfeiern statt. Wir erwarten, daß sich die Mitglieder des Freideutschen Bundes aktiv an den Vorbereitungen beteiligen. Wer Arbeit haben will, wende sich sofort an die Bundeskanzlei. Eine nochmalige Besprechung findet am 28. Mai in Hamburg statt.

3. August Messer : Die freideutsche Jugend, in: Deutsche Jugend. Beilage zum Hannoverschen Kurier vom 18. 8. 1923.7 (…) Der unglückliche Ausgang des Krieges und die Revolution brachte (…) eine schwere Krise über die Bewegung. Sie politisierte sich rasch (während sie früher so gut wie unpolitisch gewesen war). Jener oben erwähnte Gegensatz zweier Menschentypen8 fand jetzt seine politische Ausprägung. Auf der einen Seite trat mancher »Intellektuelle« für den Bolschewismus ein – so besonders der junge Nationalökonom Karl Bittel (Eßlingen) in seinen »Politischen Rundbriefen«, die er seit Oktober 1918 herausgab. Eine Gruppe, die sich »Entschiedene Jugend« nannte, gelangte schließlich zum offenen Anschluss an die Kommunistische Jugend. Andererseits sammelten sich die mehr instinktiv rechtsstehenden 7 August Messer (1867 – 1937) war Professor für Philosophie an der Universität Gießen und besaß seit dem Meißnertreffen von 1913 enge Beziehungen zu jugendbewegten Kreisen, veröffentlichte in der Presse Artikel und hielt Vorträge über sie und versuchte fördernd und wohlwollend-kritisch auf sie einzuwirken. 8 Messer hatte einleitend die von Berlin-Steglitz um 1900 ausgehende Bewegung der Wandervögel mit einer romantischen »naturwüchsigen Menschenart« in Verbindung gebracht, von diesen die aus einem wenig später gegründeten Hamburger »Wanderverein« um Ahlborn stammenden, in Göttingen dann studierenden »akademischen Freischärler« mit ihren eher literarischen und musischen Interessen unterschieden und festgestellt, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen jugendbewegten »Instinktiven« und »Intellektuellen« gebe. Die »Spannung und Reibung zwischen diesen beiden Typen« habe inzwischen – so Messers Eindruck – »die innere Lebendigkeit dieser Jugendbewegung gesteigert, aber auch ihre Einheitlichkeit gefährdet.«

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Kreise, die geneigt waren, alles Internationale als antinational zu empfinden, im »Jungdeutschen Bund«, der die »Jungdeutschen Stimmen« herausgab. Diese innere Zerklüftung gab der Führertagung, die als erste nach Kriegsende in der Osterwoche 1919 in Jena stattfand, ihr Gepräge. Die Gegensätze prallten hier so mächtig aufeinander, daß man den verhängnisvollen Entschluss faßte, auf die seit 1914 sorgsam vorbereitete Organisation völlig zu verzichten. Um die Bewegung vor gänzlichem Zerflattern zu bewahren, begründete Ahlborn damals eine »Arbeitsgemeinschaft der freideutschen Jugend«; er erwarb auch das ehemalige Militärlager Klappholttal auf Sylt als Stätte für freideutsche Zusammenkünfte aller Art, dessen Leitung er übernahm (…) Einen weiteren Stützpunkt hat die Bewegung gefunden durch den Ausbau der Burg Ludwigstein bei Werleshausen a. d. Werra zu einer Jugendburg, worum sich besonders der Freideutsche Enno Narten verdient machte. (…) Endlich hat Ahlborn zu Beginn des Jahres 1922 einen »Freideutschen Bund« begründet. Dieser Bund »will die Sammlung aller Erwachsenen, jungen Menschen und Jugendlichen zum Aufbau des aus dem Geiste der deutschen Volksgemeinschaft geschauten Staates als Glied eines wahren Völkerbundes.« (…) Ahlborn ist stets bemüht gewesen, die Teilnehmer der Bewegung auf einer gewissen mittleren Linie zusammenzuhalten. Gar manche Kreise sind nach links oder rechts hin von der Bewegung abgesplittert. Wie stark jene Mitte geblieben ist, das wird in Erscheinung treten, wenn in den letzten Augusttagen 1923 die geplante Wiederholung des Meißner-Tages stattfinden wird. Dort wird sich auch zeigen, wie weit Ahlborn und die ihm nahe stehenden Führer der Bewegung von 1913 noch die inzwischen herangewachsenen Jahrgänge von Jugendlichen hinter sich haben. Schon bei den Vorberatungen der Tagung haben sich Anzeichen dafür geltend gemacht, daß jene Führer von manchen Jüngeren jetzt selbst als »erwachsen«, als nicht mehr »jugendlich« genug empfunden werden. Andererseits hat Ahlborn betont, daß er nun mehr – wie die ihm Nahestehenden – als »Erwachsener« sich fühle und herausstrebe aus dem jugendlichen Freiseinwollen von jeglicher Bindung und fester konkreter Zielsetzung. So wird vermutlich jene zweite Meißnertagung von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der freideutschen Bewegung sein; sie könnte auch ihren – Abschluss bilden.

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4. Der Freideutsche Bund und seine Verfassung, Flugblatt des »Freideutschen Bundes«, hg. von Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel, Anfang 1923; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 271 f. Der Freideutsche Bund wurde von Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel in der Absicht gegründet, die mit ihnen wesensverwandte, in der Weltanschauung und der allgemeinen kulturpolitischen Grundrichtung übereinstimmenden Grundrichtung übereinstimmenden, aus der freideutschen Jugend-Bewegung herausgewachsenen reiferen Menschen in einer praktischen Arbeitsgemeinschaft mit sich zu verbinden. Es wurde deshalb zuerst das Bekenntnis des Freideutschen Bundes entworfen. Die erste Fassung der politischen Richtlinien, die das praktische Arbeitsgebiet der Richtung, wenn auch nicht der einzelnen Ausführung nach, absteckten, folgte. Sowohl das weltanschauliche Bekenntnis als auch die politischen Richtlinien (deren heute gültige Fassung auf der Bundeswoche in Klappholttal im Hochsommer 1922 entstand) geben dem Freideutschen Bund innerhalb der Gesamtbewegung – die als solche auch andere Richtungen und Nichtrichtungen umfaßt – einen ganz bestimmten Charakter. Die von allen neu aufzunehmenden Mitgliedern geforderte Verpflichtung auf das Bekenntnis (da von einigen Freideutschen Bedenken gegen die Wortfassung des Bekenntnisses geäußert wurden, wurde diesen die Mitarbeit im Freideutschen Bund unter der Voraussetzung ermöglicht, daß ihr persönlich anzulegendes weltanschauliches Bekenntnis wenigstens grundsätzlich mit den von den Gründern des Bundes aufgestellten übereinstimme) und die grundsätzlichen Übereinstimmung mit den politischen Richtlinien bedingen eine bestimmte Auslese. Da es sich bei der Durchführung der politischen Richtlinien um eine langfristige Arbeit handelt, die am zuverlässigsten von denen geleistet werden kann, die die Idee dieser Arbeit konzipierten, erhielt der Bund eine ordensähnliche Verfassung mit langfristiger Unabsetzbarkeit seiner Gründer und Leiter (auf 25 Jahre). Hierdurch wurde erreicht, daß der Bund niemals zufälligen Gelegenheitsmehrheiten, politischen Tagesstimmungen oder ähnlichen Äußerungen der Massenseele, unter denen eine ganze Reihe früherer Gründungen der Jugendbewegung zerbrochen sind, ausgeliefert sein wird. Somit ist der Bund in dreifacher Beziehung zu positiver praktischer Aufbauarbeit vorbereitet und vor chaotischen Einwirkungen gesichert: 1. Seine Mitglieder stehen auf der Grundlage eines bestimmten weltanschaulichen Bekenntnisses oder doch diesem Bekenntnis so unmittelbar nahe, daß bei ihnen keine entgegengesetzte Einstellung möglich ist.

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2. Die Grundrichtung der praktisch kulturpolitischen Betätigung ist bei allen Mitgliedern des Freideutschen Bundes die gleiche. 3. Der Wille zum Anschluß an den Freideutschen Bund schließt die sachliche Treuverbundenheit mit den Gründern des Bundes, die für lange Zeit seine Leitung übernommen haben, in sich.

5. Einladungsbrief von Ferdinand Goebel zu einer »Tagung auf dem Hohen Meißner«, 25. 7. 1923, AdJb A 104 Nr. 9. Gruß zuvor! Aus 16 Bünden und Werken der Jugend und der aus der freideutschen Jugendbewegung hervorgegangen Älteren-Bünde haben sich Menschen zusammengetan, um zu einer Tagung auf dem Hohen Meißner aufzurufen. Wir sind uns der Verantwortung, die auf uns liegt, bewußt, wenn wir eine solche Tagung heute veranstalten. Die Zukunft liegt dunkel vor uns. Aus dem Auslande tönen nur vereinzelte Stimmen, die den Willen gegenseitiger Hilfe erkennen lassen, zu uns herüber. In Deutschland steigt der Jammer. Anstatt aber bei sich selbst zu beginnen, gibt jeder die Schuld dem anderen und hilft dadurch, unsere Jugend und Volk noch tiefer in die Zersplitterung und in den Sumpf zu führen. Nur der Weg ins eigene Herz kann Deutschland retten! Nur das Vertrauen auf eigene Kraft wird uns erlösen! Wir wollen zusammenkommen trotz aller Zerrissenheit, um zu helfen, dass der Weg zu einem neuen Deutschland beschritten wird. – Wir laden Euch ein an dieser Tagung, die der Freideutsche Bund in Verbindung mit verwandten Bünden und Menschen gleicher Gesinnung veranstaltet, teilzunehmen. Wir wenden uns an Euch wie auch an Erwachsene, weil wir glauben, daß Jugend und Volk auf unserer Ebene Glieder sind eines Ganzen und in Tod und Leben zusammenstehen müssen. Quelle der Kraft soll die Tagung sein für die kommenden Jahre, eine Schau soll die Tagung sein für solche, die uns nahe stehen und helfen wollen und können, die Wege ins Land der Zukunft zu beschreiten; ein Schrei soll die Tagung sein, der vielleicht dem deutschen Schiffe in letzter Stunde einen anderen Kurs zu geben vermag! Kommt und helft! Heil! gez. Ferdinand Goebel

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6. Knud Ahlborn: Brief an die Redner der Tagung Mitte August 1923 (Auszug), AdJb N 2 Nr. 19 (Nachlass Ahlborn).9 (…) Im allgemeinen soll die Aufgabe der Redner dahin gehen, die in dem Bekenntnis und den politischen Richtlinien des Freideutschen Bundes umrissenen Arbeitsgebiete sinnfällig und mit besonderer Betonung der praktischen Methoden herauszuarbeiten. Mehr literarische Ausführungen und breite theoretische Erörterungen müssen zurücktreten, da die zur Verfügung stehende Zeit kurz und bei der Fülle des gebotenen Stoffes die Aufnahmefähigkeit der Zuhörerschaft beschränkt ist. Es muss unter allen Umständen ein grosser Redesums, ein Chaos der Begriffe und Überreizung oder Übermüdung der Zuhörerschaft vermieden werden. Frische zur Tat weckende Aufrufe mit klaren Zielvorstellungen und klaren Wegen bzw. Arbeitsmethoden sollen gegeben werden. – Jeder Redner prüfe daraufhin gründlich die von ihm geplanten Ausführungen durch. Jedes Referat muss in klare anschauliche Thesen ausmünden, die eine deutliche Beziehung zu dem im weltanschaulichen Bekenntnis niedergelegten Ideenkreis haben, sei es dass sie sich in ihn einfügen, ihn ergänzen oder in einem oder anderem berichtigen. Alle Referate müssen den praktischen Aufbauwillen und das brüderliche Handinhandarbeiten der auf den verschiedenen Wegen zum gleichen Ziel vorstoßenden betonen. Versuche, den angestrebten Bauplan durch Unterschiebung gänzlich anderer Tendenzen, z. B. politisch-kommunistischer, kirchlich-katholischer, völkisch-faschistischer oder ähnlicher zu stören bzw. zu durchkreuzen, müssen von allen Freunden der Tagung sofort energisch unterdrückt werden. Immer wieder ist auf die ursprüngliche Aufgabe zu verweisen und bei Abweichung energisch zurückzuführen. (…)

9 Es handelt sich hierbei um das Ergebnis einer Vorbesprechung am 12. 8. 1923 in BerlinZehlendorf; neben einigen Hinweisen zur Anreise hat Ahlborn im Hinblick auf insgesamt acht voraussichtlich stattfindende Arbeitsgruppen zu folgenden Themenbereichen noch jeweils einige kurze Hinweise hinzugefügt: Elternhaus, Schule, Jugendgemeinschaft, Jugendwohlfahrt, Neue Kirche, Neue Kunst, Volkswirtschaft und Politik.

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7. Anzeige »Tagung auf dem Hohen Meissner 1913«, in: Junge Menschen, 4. Jg., Heft 7, Juli 1923, S. 116.

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8. Paulus Lambrecht: Die Tagung auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Hochschulblatt der Frankfurter Zeitung vom 12. 7. 1913; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 273 f. (…) Das Wiedereinmünden in das Kontinuum der Gesellschaft ist vielleicht das wichtigste Faktum im geistigen Leben der heutigen Zeit, denn es bedeutet, daß die Kräfte, die am Bilde neuer Ordnung formen, sich zu finden beginnen; es ist der Anfang und die Hoffnung wirklich aufbauender Arbeit. Aber es ist noch ein sehr schwacher Anfang und nur eine sehr stille Hoffnung, denn noch ist die veränderte Situation kaum bewußt geworden; noch herrscht die alte Terminologie, noch stehen sich z. B. Bürgerliche und Proletarier auch des neuen Geistes nur mit einer Ahnung der brüderlichen Gemeinsamkeit gegenüber. (…) Statt dessen will man auf dem Hohen Meißner ein Bild entrollen, das notwendigerweise im besten Falle Dilettantismus bleiben muß, ein vorlautes Aussprechen noch stummer Gewalten. (…) Man schließt, wenn auch zunächst nur äußerlich, an das Meißnerfest 1913 unmittelbar an. Jenes Meißnerfest ist etwas ganz anderes gewesen als ein Bildentrollen in jenem Sinn – es war das spontane Gelöbnis zum Aufbruch, zum Anders-sein-wollen (…). Es ist bezeichnend, dass heute dieses Spontane durchaus fehlt. An sich könnte man ja natürlich dem ersten Meißnerfeste in diesem Jahre ein zweites folgen lassen: Wyneken z. B. hat in Höxter dazu gerufen. Aber mir scheint, dass ein solches Fest heute bereits einen Anachronismus bedeuten würde. Die Jugend kennt heute sowohl ihre Führer wie auch ihr Gesetz. Das Wie des Weges aber gibt ihr kein allgemeines Fest: und das weiß die Jugend gerade in ihren ernsten Teilen auch sehr genau. Doch wie dem auch sei: auf jeden Fall müßte ein neues Meißnerfest den Charakter des Spontanen tragen, dürfte nur wieder ein Aufruf zu einem Zusammenströmen sein, das seine Gestalt aus sich selber und seiner Lebendigkeit findet. Vorher auf einander und auf bestimmte Themen eingespielte, vielleicht sogar eingestellte Redner sind dann eine Unmöglichkeit, eine Halbheit und nicht zuletzt eine Albernheit. Die ganze Tagung, so sehr sich die Veranstalter vielleicht auch Mühe geben werden, sie in diesem und in jenem zu modifizieren, ist ihrer ganzen Anlage nach der Typus eines Kompromisses zwischen Ahnung und Gestaltungsschwäche, die man geradezu als die Kristallisation des Wandervogeltums ansehen kann, der naiverweise glaubte, es genüge Männerkleider anzuziehen, um ein Mann zu sein, der, die Fahrt nicht mehr wagend, mit unheiligen Händen und alten Mitteln ohne die erforderliche Anspannung dem Schicksal die Lösung abzujagen scheint, die man gerade noch als Aufgabe fühlt.

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So wird die Tagung auf dem Hohen Meißner, wenn sie wirklich zustande kommt, im besten Fall eine Veranstaltung derjenigen sein, die sich angesichts der Not keinen besseren Rat wissen, als Worte hinauszurufen – der Geist des jungen Deutschland aber wird nichts damit zu tun haben.

9. E.T. [Erich Troß]: Der Sinn der Jugendbewegung. Die Tagung auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Hochschulblatt der Frankfurter Zeitung vom 26. 7. 1923. Knud Ahlborn vom Freideutschen Bund schickt uns als Antwort auf die Kritik Paulus Lambrechts an dem Plan der Meißnertagung in der letzten Nummer des »Hochschulblatts« die nachfolgenden Worte: »Der Wert der Jugendbewegung besteht nicht in einer fertigen Schau, sondern in der starken erlebten und lebendigen Betonung des Organischen.« Mag sein, dass Paulus Lambrecht, der selbst ein Jugendlicher im wortwörtlichen Sinne ist, die Grenze dieses Gesichtskreises richtig abgesteckt hat. Die 1913 auf dem Meißner versammelte Jugend hat ja ähnliche rein formale Begriffsbestimmungen versucht, jede inhaltliche Bindung ablehnend, da ihr alle dort von älteren Menschen gegebenen Blickpunkte als zu begrenzt erschienen. In diesen zehn Jahren nun sind aus Jünglingen Männer geworden, und die freideutsche Bewegung von heute, deren bei weitem zahlreiche Vertreter im Freideutschen Bunde zusammengetreten sind, hat aus sich selbst heraus ein klares Bewußtsein von den Zielen entwickelt, denen sie damals, halb bewußt, mehr ahnend als wissend, folgte. Was auf dem Meißner nun geschehen soll, ist die großzügige, plastisch bildhafte Hinstellung der heute sichtbaren kulturpolitischen Ziele, auf deren Verwirklichung die freideutsche Mannschaft hinarbeitet. (…) Mögen für ihn (Lambrecht) die Gewalten, die nach Gestaltung drängen, noch stumm sein und ein Aussprechen dieser Gewalten ihm vorlaut erscheinen! Es geht aber nicht an, daß die an der Grenze vom Jünglinge zum Manne stehende Schicht freideutscher Menschen den zahlreichen Männern der Bewegung das Gebot ihres Handelns vorzuschreiben versucht. Woher weiß denn Paulus Lambrecht, daß dem neuen Meißnertag durchaus die Spontaneität ermangle? (…) Die freideutsche Mannschaft von heute – einerlei ob hervorgegangen aus einem der Jugendbünde oder aus eigenem innersten Drang zur freideutschen Bewegung später hinzugestoßen – beschäftigt brennend die Frage: Wie richten wir das Symbol gemeinsamen Willens und gemeinsamen Schaffens reifer Menschen in dieser Welt chaotisch widereinander streitender verletzender Kräfte auf ? Diese Frage kann Paulus

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Lambrecht auf Grund seiner Entwicklungsstufe naturgemäß nicht naheliegen. (…) Mit höchster Spannung schaut man nach dem Hohen Meißner. Die Gefahr ist zweifellos die, daß man in epigonenhafter Betriebsamkeit, in sektenmäßiger Selbstüberschätzung, womöglich noch in parteimäßigen Streitigkeiten die Genüge findet. Der große Eros zur Gesamtheit und zu dieser wirren, irrenden Zeit, der große Eros, der bescheiden und doch kühn macht, muß die Tagung durchdringen. Man darf sich nicht in einem Vielerlei zersplittern. Ein großer Ton sollte wieder vom Hohen Meißner herabklingen in dieses mechanisierte Deutschland hinein! (…) Verwirrende Tendenzen aus der alten Zeit durchkreuzen die Bewegung. Sie müssen ausgeschaltet werden. Die Tagung auf dem Meißner hätte dann Wert, wenn die verschiedenen Gruppen aus ihrem Tiefsten heraus empfinden würden, wie nahe sie sich stehen, und so für einen Augenblick ihre geschichtliche Bestimmung ahnten. Schon hat die Jugendbewegung wieder etwas von der frühen faustischen Seele an sich. Möge sie sich um alles in der Welt davor hüten, in Überschätzung ihrer Möglichkeiten und ihrer zeitgeschichtlichen Verpflichtung der Vielgeschäftigkeit des trockenen Schleichers zu verfallen.

10. W. H. [Walter Hammer]: Meißnertag 1923 (Auszug), in: Junge Gemeinde. Wochenblatt der wandernden Jugend. Beilage zur Zeitschrift »Junge Menschen« 1923, Blatt 1, 6. 9. 1923, S. 1 f. Erfüllt hat sich, was Hans Paasche uns auf dem Vortrupp-Tag in Leipzig (3. bis 6. Juni 1914) vorausgesagt hatte: daß jeder eigentlich Freideutsche ungeachtet aller aus politischer Engherzigkeit und verletzter Eitelkeit geborenen Warnungen und papiernen Beschlüsse dem Ruf zu einem zweiten Meißnertag folgen würde. So wenig wie 1913 hat es auch diesmal an mancherlei Querelen gefehlt; stellenweise operierte man sogar mit indiskutierbar schäbigen Argumenten, konnte indessen nicht damit erreichen, den zweiten Meißnertag zum Scheitern zu bringen. Außer etwa 1800 Angemeldeten mögen noch gut 1000 Gäste gekommen sein, so daß insgesamt rund 3000 Leute beieinander gewesen sein dürften. (…) Durch den tiefen Ernst, mit dem um den neuen Weg gerungen wurde, zeichnete sich der zweite Meißnertag vorteilhaft aus; der Wille, einen Ausweg aus beispielloser Not zu bahnen, lenkte auf das Wesentliche und machte den Meißnertag 1923 dem Wartburgfest von 1817 ähnlicher als dem Freideutschen Jugendtag von 1913. (…) Nun wartet man im Lande auf ein Zeichen, auf eine gewaltige Kundgebung,

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auf eine Parole, eine neue Formel. Man wird vergebens warten, denn nur langsam wird sich auswirken, was der zweite Meißnertag an Richtung weisenden Linien und noch zu verwirklichenden Vorsätzen und Forderungen hervorgebracht hat. Zu einer Quelle neuer Kraft wird der zweite Meißnertag werden, viel gute Frucht wird reifen aus neuer Saat, aus dem heißen Ringen und der ernsten Arbeit, durch die sich der Meißnertag 1923 vor allen bisherigen Tagungen ähnlicher Art ausgezeichnet hat. (…) Was die meisten Tagungen der Jugendbewegung um ihre Fruchtbarkeit bringt, ist Sachunkundigkeit, Überhebung, Dilettantismus, eitle Wichtigtuerei, hohles Pathos, Steckenbleiben in der Problematik. Auch für den zweiten Meißnertag hatten edle Seelen das ganze Register dieser Hemmungen in Aussicht gestellt. (…) Besonders waren es drei Befürchtungen, von denen sich selbst diejenigen nicht frei zu machen vermochten, die fest an Freideutsche Zukunft glaubten: 1. dass die Tagung in parteimäßigen Zank ausarten würde; 2. dass man in sektenmäßiger Abschließung und selbstgefälliger Rückschau sein Genüge finden würde; 3. daß man sich zersplittern und junge Kraft an blasser Problematik verbluten lassen würde. Aber all diese Befürchtungen erfüllten sich nicht. Zwar trat eine aus dem Freideutschtum stammende Gruppe von Kommunisten (u. a. Karl Bittel, Mia Bittel, Karl August Wittfogel und Fritz Weiß) geschlossen auf den Plan, zwar gab es scharfe Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den von Moskau nicht alles Heil erwartenden Freideutschen, doch hielt sich die kommunistische Agitation mehr als bei früheren Tagungen in erträglichen Grenzen, so daß der Meißnertag nicht durch sie gesprengt wurde. (…) Es zeigte sich, daß der mit zunehmender Heftigkeit geführte Wortstreit die große innere Einheit gewahrt und nicht zerrissen hatte. Ehrlicher Kampf und heißes Streben nach Wahrhaftigkeit führte zu Toleranz und zu neuem Offenbarwerden tiefinnerlicher Wesensgemeinschaft. (…) Ein neuer Markstein steht aufgerichtet. Hunderten und Tausenden hat der zweite Meißnertag die heißersehnte Erfüllung gebracht, hat Richtung gewiesen, Gestaltungswillen zusammengeballt und aus Stagnation und Hoffnungslosigkeit befreit. W. H.

11. Franz Oppenheimer : Volk in Not! Ansprache auf dem Hohen Meißner 1923 (Auszug), in: Freideutscher Bund, 12. 11. 1923, Keitum auf Sylt, S. 1 – 6. Volk in Not! So fängt heute jede Rede an, die ein Deutscher vor Deutschen hält. (…) Was ich Euch gebe, Ihr meine jungen Freunde, ist das Ergebnis einer Lebensarbeit, die, das darf ich sagen, ganz der Erkenntnis geweiht war ; was ich in

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Eure Seelen streuen will, das ist, so wahr mir Gott helfe, eine Saat, so rein von Unkraut, wie eine emsige Hand und ein heilig guter Willen sie bereiten konnte. Volk in Not! Was ist unsere Not? Daß wir arm geworden sind an äußeren Gütern, soll uns nicht anfechten; unseren inneren Reichtum kann uns niemand rauben. Daß barbarischer Übermut uns verhöhnt, beschimpft und mißhandelt, schändet nur den Übermütigen. (…) All’ das, was uns drückt, quält, beleidigt, sind ja nur Symptome einer tieferen Not, einer wirklichen Not – und es gibt nur eine wirkliche Not: die Not der Seele. Unser Volk, die europäische Menschheit, die ganze weiße Rasse, leiden an ihrer Seele. Todkrank sind wir, und sterben müssen wir vielleicht, aber nicht an Hunger und Elend, sondern weil wir den heiligen Einklang verloren haben, der eine Masse von Menschen erst zum Volke, der eine Menge von Staaten erst zu einer Menschheit macht. Wir sind kein Volk mehr! (…) Was ein Volk braucht, um ganz ein Volk zu sein und als Volk das ewige Leben zu haben, ist Ordnung und Freiheit. Ordnung kann nur bestehen, wo Gleichheit der Lebenslage und des Ranges bestehen: nicht die mechanische Gleichheit, von der der Kommunismus träumt, wohl aber jene vernunftgemäße Gleichheit, die nur so viel Verschiedenheit zuläßt, wie aus der Verschiedenheit der Leistung für die Gesamtheit folgt. Nun scheint es aber, als müsse die Freiheit in ihrer Gestalt als wirtschaftliche Freiheit, als freie Konkurrenz, die Gleichheit zerstören – und dann ist Ordnung unmöglich. Kein geringerer als Goethe hat das harte Wort gesprochen: »Wer Gleichheit und Freiheit zusammen verspricht, ist ein Phantast oder Charlatan«, und so kam denn schon Plato zu dem verzweifelten Ergebnis, daß wir um der Ordnung willen auf die Freiheit verzichten müssen und schuf in seinem »Staat« das erste System des Kommunismus, dem zahllose andere folgen. Alle Versuche damit im Großen sind in Elend und Unordnung zugrunde gegangen. Lenins großer Versuch in Rußland ist nicht der einzige in der Weltgeschichte! Es geht nicht ohne Freiheit: denn »der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und wär’ er in Ketten geboren« – und es scheint auch nicht mit Freiheit zu gehen! So steht die Menschheit seit Jahrtausenden vor der Qual der Wahl zwischen zwei tödlichen Übeln: das ist die tiefste Wurzel unserer seelischen Not. Gibt es keine Rettung? Doch meine Freunde! Auf die Gefahr hin, von Euch für einen Phantasten gehalten zu werden (denn für einen Charlatan werdet Ihr mich nicht halten), sage ich, daß Freiheit und Ordnung durchaus miteinander, ja mehr als das, daß sie nur miteinander bestehen können. Ich bringe der Menschheit eine gute Botschaft, und ich würde gern meinen alten Kopf dafür geben, wenn sie wie eine neue Bergpredigt von diesem deutschen Berge aus das Ohr aller Menschen erreiche und zu ihrer Seele dringen könne. Es hat noch niemals freie Konkurrenz gegeben! (…) Höret und nehmt die neue große Wahrheit auf und tragt sie weiter von Mund zu Munde, die rettende Wahrheit, die ich noch einmal ausspreche: »Es hat noch niemals freie Kon-

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kurrenz gegeben«. Und darum hat sie auch die Gleichheit nicht zerstören und die Völker nicht spalten können. Die Verbrecherin, die all das verschuldet, war und ist die beschränkte Konkurrenz! Und die ist der Gegenpol und Widerpart der freien Konkurrenz, steht ihr gegenüber wie der Nachtdämon dem Lichtgott. Sie ist eine Art des Monopols, ist Konkurrenz unter der Bedingung eines ungeheuren Klassenmonopols, des Bodenmonopols. Überall auf diesem Planeten hat eine Minderheit allen Boden sich angeeignet, hat ihn monopolisiert, hat die Mehrheit des Volkes von ihm ausgeschlossen. (…) So steht der Mensch der landlosen Unterklasse dem Menschen der das Land und alle übrigen Produktionsmittel besitzenden Oberklasse bei jedem Tausch seiner Arbeitskraft gegen ihr Lohngeld unter einem Monopolverhältnis gegenüber : Wo aber unter einem Monopolverhältnis getauscht wird, da bezieht der Monopolist den Mehrwert. (…) Der Mehrwert aber ist Ziel und Hebel des Kapitalismus, der uns zu zerstören droht. (…) Von der Erkenntnis des Übels zum Heilplan ist nur ein einziger Schritt. Wollt Ihr wahre Selbstverwaltung des Volkes, wahre Demokratie, so müßt Ihr dem Volke den ihm geraubten Boden und mit ihm die Macht zurückgeben. Wie soll das geschehen? Nicht durch gewaltsame Expropriation! Das ist ein allzu gefährlicher und kostspieliger Weg. Wir wollen keinen Bürgerkrieg. (…) Der Weg zur Heilung geht über die genossenschaftliche Siedlung. Grauenhaft ist die moderne Großstadt, ein Krebsgeschwür am Leibe der Nation, das ihre Kräfte aufsaugt und vergiftet. Der Großstädter ist eine Pflanze, die im Asphalt keine Wurzeln schlagen kann und verdorren muß. (…) Gebt das Land dem Volke zurück, und es gibt keine Landproletarier mehr. Die Wanderung in die Städte hört auf, die »Reservearmeen«, nach Marx die einzige Bedingung des Kapitalismus, verschwinden. (…) Denn was ist unseres Volkes, aller Völker, tiefste Sehnsucht? Ein Haus im Grünen, auf eigener Scholle, im eigenen Garten, eine Heimat für unabsehbare Geschlechter, eine Heimat der Seele. Heraus aus der Steinwüste der Großstadt führt Euch mein Weg, Ihr meine jungen Freunde, zurück zur freien Natur. »Utopie«! spotten die Klugen, die Neunmalweisen (…). Zeigt ihnen die von mir und Krecke10 vor nunmehr dreißig Jahren begründete erste Siedlungsgenossenschaft Deutschlands, die Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg; es ist eine Oase schöner Menschlichkeit, körperlicher Blüte und seelischer Gesundheit mitten in der Wüste des Kapitalismus. (…) Ich sagte, es sei die Gewalt gewesen, die die Wurzel aller Übel, das Bodenmonopol geschaffen hat. Gewalt aber ist Ungerechtigkeit. Und von jeher weiß alle Philosophie, daß nur die Gerechtigkeit die Grundlage der Reiche sein kann. 10 Hermann Krecke (1852 – 1904), Berliner Landgerichtsrat, engagierter Vertreter genossenschaftlicher Ideen und Lebensreformer.

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Wir wollen die Gewalt in ihren Schöpfungen ausmerzen, wollen sie, wenn irgend möglich, gewaltlos ausmerzen. Dann werden wir wieder ein Volk sein; denn der heilige Einklang wird unser Leben beherrschen, ein Leben in Ordnung und dennoch in Freiheit. Dann wird die endlich erwachende Menschheit als Königin diesen Planet beherrschen, den sie jetzt so oft schändet. Wir wollen dem ewigen Gesetz unserer eigenen Brust folgen. Wenn wir Gerechtigkeit üben gegen uns selbst und alle anderen, dann, aber auch nur dann, erreichen wir die drei leuchtenden Ziele der Menschheit, nach denen sie auf allen, nur nicht auf diesem einzig möglichen Wege unter tausend Qualen und Kämpfen gerungen hat: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

12. Meißner-Richtlinien des Freideutschen Bundes 1923. Thesen der politischwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft, AdJb N 2 Nr. 22 (Nachlass Ahlborn).11 1. Der Freideutsche Bund und seine auf dem Hohen Meißner 1923 versammelten Gesinnungsfreunde fußen auf dem Meißner-Bekenntnis von 1913: »Wir wollen unser Leben nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit gestalten. Für diese innere Freiheit treten wir unter allen Umständen geschlossen ein.« 2. Wir glauben an eine zukünftige Ordnung in Volk und Menschheit, in der jeder Einzelne sich für das Gemeinwohl verantwortlich fühlen wird. Wir sind von der Gewissheit durchdrungen, daß nur die aufbauenden Kräfte uns diesem Ziel näher bringen. Deshalb müssen wir das Erkenntnisvermögen mit allen Mitteln stärken und die Gestaltungskräfte wecken, die reinem, unbedingtem, edlem Menschtum entspringen. 3. Im Erleben der furchtbaren Gegenwartsnot des deutschen Volkes sind wir uns – gleichviel, ob bürgerlicher oder proletarischer Herkunft – der Pflicht zu durchgreifender gegenseitiger Hilfe bewusst. Niemand erstrebt leidenschaftlicher als wir die Änderung einer Gesellschaftsordnung, die den größten Teil unserer Volksgenossen von einem menschenwürdigen Leben ausschließt. Wir sind aber davon überzeugt, dass nur ungestörte, planvolle Arbeit, nicht Katastrophen-Politik, uns dazu befähigt, dem augenblicklichen Elend zu steuern und zukünftigem vorzubeugen. Jeder mit blutigen Gewaltmitteln 11 Mit geringen sprachlichen Veränderungen, allerdings ohne Punkt 5, wurde der Text dann sowohl in der Zeitschrift »Junge Gemeinde. Wochenblatt der wandernden Jugend« (Jg. 1923, Blatt 7 vom 18. 10. 1923) als auch in dem Rückblick von Knud Ahlborn: Meißnertagung 1923 (in: Junge Menschen, Oktober 1923 – s. u.) abgedruckt.

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bewirkte Umsturz muss hemmend und notvergrössernd wirken, aufs Neue Hass säen und zu erbittertem Widerstand der Unterdrückten, zur Verrohung der Unterdrücker und unausbleiblich zu stets neuen Gewalttaten führen. Sollte es dennoch zu einem Umsturz kommen, so werden wir uns jeder Regierung, die ernstlich der Errichtung einer besseren Gesellschaftsordnung dient, zur Aufarbeit zur Verfügung stellen. 4. In der Erkenntnis, dass das Deutsche Reich Bismarckscher Gründung unwiederbringlich dahin ist und in freudiger Hingabe an den Aufbau einer neuen Volksgemeinschaft – (einer von allem arbeitslosen Einkommen befreiten Gesellschaft)12 die für ihr Leben nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit gestalten soll – gehen wir von der praktischen Grundlage der Weimarer Verfassung aus. Wenn diese Verfassung auch wegen ihres mechanischen Parlamentarismus uns noch keineswegs befriedigt, so sind doch ihre Anwendungs- und Ausgestaltungsmöglichkeiten noch nicht erschöpft. Wir wollen jedenfalls versuchen, von der Grundlage dieser Verfassung aus diejenigen gesetzgeberischen Maßnahmen durchzusetzen, die tatsächlich der heutigen Not zu steuern vermögen, ohne Rücksicht auf Sonderinteressen einzelner Schichten und Klassen. 5. In diesem Sinn muss völkische Arbeit für uns umsomehr im Vordergrund stehen, als das deutsche Volk von den Regierungen einiger Völker in seiner Wehrlosigkeit auf das Grausamste bedrückt, von den meisten anderen in seiner Not im Stich gelassen erscheint. Zur Lösung dieser Aufgabe ist unverzüglich eine sich über das ganze Reich erstreckende Arbeitsgemeinschaft mit straffster Organisation zu bilden, die unter möglichster Heranziehung von Fachleuten die aus unserer politischen Grundeinstellung folgenden Maßnahmen festzustellen hat. Die Durchführung dieser Maßnahmen werden der Freideutsche Bund und seine Gesinnungsfreunde unter energischem Einsatz aller Kräfte zu bewirken haben. 6. Persönlich übernimmt ein Jeder von uns die Verpflichtung, überall dort zuzuspringen, wo er am wirksamsten helfen kann und vor allem auch, sein eigenes Leben so einfach und sparsam wie möglich zu gestalten.

Praktische Notstandshilfe Aus dieser politischen Einstellung ergeben sich Angriffspunkte für praktische Notstandshilfe schon heute: Soweit nicht größere entscheidende Aktionen sofort durchführbar sind – wie z. B. Schaffung eines wahren Völkerbundes, sofortige Inangriffnahme planmäßiger Urbarmachung von Ödländereien, Anbauzwang für alles brachliegende Land, Ausbau des Siedlungs- und Genossen12 Handschriftlich in den maschinenschriftlichen Text eingefügt.

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schaftswesens unter Heranziehung des Großgrundbesitzes, planmäßige Ausnutzung und Verteilung der Natur- und Bodenschätze und Bodenerträgnisse sowie der völkischen Arbeitskraft (z. B. Arbeitsdienstjahr), gerechte Erfassung des produktiven Nationaleigentums (Sachwerte) –, sind folgende Maßnahmen zur Bekämpfung der Hungers- und Kältenot sofort zu ergreifen: 1. Verbot der Verwendung von Lebensmitteln, Grund- und Boden, Kohlen- und Arbeitskraft zur Herstellung von Genussgiften (Alkohol, Tabak), Ausbau bzw. Errichtung von Volksküchen, Gemeinschaftsküchen, Wärmestuben usw. 2. Linderung der Wohnungsnot durch Beschlagnahme überflüssiger Schankstätten, Schlemmerlokale, Schundkinos usw. 3. Sofortige Einführung einer Arbeitsdienstpflicht (produktive Erwerbslosenfürsorge) 4. Heranbringung der brachliegenden Arbeitskräfte an das brachliegende Land 5. Aktivierung der unmittelbaren ländlichen Hilfeleistung in der Form kostenloser Abgabe von Lebensmitteln an die hungernden Städter, Bekämpfung des Luxus, strengste Sparmassnahmen, jedoch nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrt, der Kultur- und Sozialpolitik.

13. Meißner-Bekenntnis 1923, AdJb N 2 Nr. 19 (Nachlass Ahlborn).13 In Zeiten tiefster Volksnot bekennen wir junge freie Deutsche, hier zusammengeströmt aus vielen verschiedenen Jugendbünden: 1. Wir wollen ein neues Deutschland von Grund auf aufbauen, aus Arbeitsgeist, aus Selbstzucht, aus kameradschaftlicher Hilfe. 2. Wir wollen gesund leben, auf freiem Boden; wir wollen Städte ohne Gier nach Geld und Geldmächte. 3. Wir wollen ehrlich und sauber sein an Körper und Geist, in Politik und Geschäft. 4. Wir wollen nüchtern sein und genügsam, eingedenk in jeder Stunde der furchtbaren Not unseres Volkes. 5. Wir stehen brüderlich zu allen Volksgenossen und arbeiten, mitfühlend ihre Leiden, eins mit ihnen im Ringen um ein neues freies deutsches Leben; wir 13 Es geht weder aus den Berichten über das Treffen noch aus den archivalischen Unterlagen hervor, in welchem Kontext dieses »Meißner-Bekenntnis« entstanden ist bzw. wer es verfasst und wer ihm wie und wann zugestimmt hat. Lediglich Erich Lüth hat in seinem im Folgenden in Auszügen abgedruckten Rückblick beiläufig angemerkt, das Bekenntnis sei wohl nur ein »Individualbekenntnis« Ahlborns gewesen.

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sind bereit, unsere Kräfte mit innerer Verantwortung für die Wiedergeburt eines reineren Deutschlands einzusetzen.

14. Rückblicke auf das Meißnertreffen: Sieg oder Niederlage? (Auszüge aus diversen Quellen) Erich Troß: Die Meißnertagung der deutschen Jugendbewegung. Sturz des offiziellen Programms – Werden einer neuen Meißnerformel (Auszug), in: Frankfurter Zeitung vom 3.9. 1923. Die deutsche Jugendbewegung lebt! Sie lebt in einer hoffnunggebenden Stärke wie wohl noch nie. Das ist das Ergebnis dieser Tagung. (…) Die Leitung der Tagung wollte unter Verkennung des aufs Ganze und den Menschen gerichteten, eben die Fachzersplittrung des ablehnenden Grundcharakters der Jugendbewegung vorausbestimmte Redner über getrennte Fächer sprechen lassen, um die bisherigen Auswirkungen der Bewegung zu zeigen. (…) Die Jugend (über sechzig Bünde waren vertreten) zerriß das Programm, erkor unter innerer Überwindung kommunistischer Lockungen den jugendlichen Pfarrer Schafft aus Kassel zu ihrem Führer und jubelte begeistert der neuen (nicht offiziell formulierten) Meißnerformel zu, die vor allem aus seinen Worten, besonders den abschließenden, über dem Meißnerfeuer in Regen und Sturm in der Nacht von Samstag auf Sonntag gesprochenen entstand. Was ist das Neue? Der fanatische Wille der Jugendbewegung nach innerer Wahrhaftigkeit stand immer noch sehr stark, jeden Redner zur Eindringlichkeit zwingend, in den Augen der jungen Leute. (…) Aus der Voranzeige des Frankfurter Sozietäts-Verlags zu der anschließend publizierten Broschüre von Erich Troß: Die Tagung auf dem Hohen Meißner. Ein Sieg der Jugend, Frankfurt 1923, abgedruckt in: Neuland. Ein Blatt für geistig höher strebende Deutsche, besonders deutsche Jugend, 8. Jg., Nr. 20/21/ 22 vom 1./15. 11. 1923, S. 158. Die Tagung auf dem Hohen Meißner war ein ungewollt entscheidendes Geschehen. Der organisatorische Plan wurde vom Willen der Jugend zerbrochen, alte Führer wurden zur Seite gedrängt. Parteitrennungen wurden überwunden, das Leben, der eigentliche Sinn Jugendbewegung brach wieder so stark durch wie nie mehr seit 1913.

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Dazu die Gründerin der evangelischen »Neulandbewegung« und Herausgeberin der Zeitschrift »Neuland« Guida Diehl ebd.: Ob dieser Dr. Erich Troß das Recht hat, so im Namen der freideutschen Jugend zu sprechen, weiß ich nicht. Jedenfalls ist diese Entstellung der Tatsachen geradezu erschreckend. Man spricht von »innerer Wahrhaftigkeit« und handelt gegen dieselbe. Denn diese Tagung war kein Sieg, sondern eine große Niederlage der Jugend und der Jugendbewegung. Zerrissenheit, Uneinigkeit, unwürdige ParteiAgitation, einer urteilslosen Jugend aufgedrungen, gegenseitige Beschimpfung im Parteisinn, Weichlichkeit, Unmännlichkeit – das war für Unbefangene das Gepräge der Tagung. Ein ganzes Versagen der erträumten »Jugendkultur«. Aber so wird’s »gemacht«! Künstlich soll aus dem Nichts durch Trommelwirbel ein »Sieg« und ein Geschrei gemacht werden! Armselig!« Guida Diehl: Die freideutsche Jugend auf dem Ludwigstein und Hohen Meißner (Auszug), in: Neuland, 8. Jg., Nr. 18 vom 15. 9. 1923, S. 138 – 141. (…) Obwohl einige besonnenere Elemente antworten und protestieren, ergreifen doch immer wieder die Kommunisten das Wort. Knud Ahlborn wird durch freche Anwürfe zum Schweigen gebracht, und die Übrigen, besonders der Versammlungsleiter, sind machtlos und haben keinen Mut, sich gegen diese Erniedrigung der Versammlung zu wehren. So bekommt man von diesem ganzen Tag voll Politik [gemeint ist der Freitag] den Eindruck, daß in der freideutschen Jugend nur Stimmen des Pazifismus, Internationalismus, Sozialismus und Kommunismus laut werden und daß die zum Teil sehr junge und urteilslose Wandervogeljugend ganz planmäßig parteipolitisch eingefangen werden soll. Während auf der einen Seite von allen Rednern der Krieg als unmöglich und unerträglich hingestellt wird, die jetzige Not des Vaterlandes überhaupt nicht berührt, an Rhein und Ruhr kaum gedacht wird und mit Schlagwörtern allgemeinster Art jedes Gefühl für Deutschlands Freiheit erstickt wird, werden auf der anderen Seite die Gewaltmittel, die der Kommunismus zur Fortsetzung der Revolution gebrauchen will, gutgeheißen und ihre Anwendung als notwendig proklamiert. Man fühlt sich unter der eigenen Volksjugend als Fremder, einsam in seinen Gefühlen für die deutsche Not, einsam in dem Bewußtsein, daß über dem Vaterland alle Parteisucht vergessen werden muß. Gottlob, die freideutsche Jugend ist nicht die deutsche Jugend, das ist der einzige Gedanke, der noch tröstet.« Dettmer Heinrich Zopfs (Referendar): Vom Meißner-Tage 1923 (Auszug), in: Leerer Anzeigeblatt Nr. 10 vom 13. 9. 1923. (…) Wertvoll und von grundlegender Bedeutung wurde die ganze Tagung erst durch die Anwesenheit und den erheblichen Einfluss der Kommunisten, den diese später auf die Aussprachen gewannen. Es war ein starker Teil dieses

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linkesten Flügels der freideutschen Jugend vertreten, die sich entschieden dagegen verwahrten, als Parteikommunisten aufzutreten, sondern nur als Jugendliche unter all diesen gelehrten Männern sprechen wollten. Anfangs stark persönlich und gereizt, nicht ganz ohne Schuld der Tagungsleitung, die ihnen gegenüber, sehr unter ausdrücklicher Mißbilligung des größten Teiles der anwesenden Jugendlichen und selbst einiger älterer Gäste, polizeiliche Maßnahmen anwandte – um eine grundlos befürchtete Sprengung der Tagung zu verhüten –, traten sie später durchaus ruhig und sachlich auf und waren überall das befruchtende Salz. Ohne sie wäre die ganze Tagung in einem schlammigen Brei verlaufen. (…) Das Ergebnis? Nichts was sich »erfreulicherweise in seltener Einmut« festhalten ließe. Ganz im Gegenteil: tiefe Zerrissenheit, leidenschaftliches Suchen und Fragen. Aber in allen lebt ein Glaube! Und in vielen herrschte ein Wille: Diese Jugend wird nie wieder die Waffen erheben; die Friedensgesinnung unter den Menschen nimmt zu! Daraus folgt eine würdige Haltung und Ablehnung jeglicher Narkotika, geistiger und materieller Art. Ein verantwortungsbewusstes Arbeiten ist im Wachsen, und vor allem: Gegenseitiges Verstehen und gegenseitige Achtung auch in den schärfsten Verschiedenheiten wird gelebt. So berechtigt alles zu einer schönen Hoffnung! Noch ist nichts da. Aber ist nicht dies im Augenblick alles, was wir haben: »Wir heißen Euch hoffen!« H.H.: Jugendtagung auf dem Hohen Meißner 1923 (Auszug), in: Hamburger Lehrerzeitung, 2. Jg., Nr. 37, September 1923, S. 469 f. (…) Zu den leuchtenden Stunden meines Lebens wird immer jener Tag gehören: Hart auf hart stand da der Glaube an die Notwendigkeit des »letzten blutigen Klassenkampfes«, der »heiligen, letzten Schlacht« gegen den Glauben an den Sieg des geistigen Aufbauens, der schöpferischen Liebe. Wittfogel gegen Schafft. Ihr Kampf war unser aller Kampf. Wo werden wir stehen im kommenden Bürgerkriege? In der Schule oder auf der Barrikade? Atemlose Stille über tausend Menschen. Was war die Größe dieser Stunden? Daß Gegner einander ernst und ehrlich nahmen (trotzdem ihr Kampf politisch war). Daß jeder Sprecher rückhaltlos sich selber gab, ohne Diplomatenschläue und Demagogentechnik. Und – daß in den tausend Herzen und Hirnen nur ein Gedanke hämmerte: Des Volkes Not – und nicht Interessenschacher. »Heiliger Respekt vor dem Glauben, der den andern im letzten Grunde trägt«, adelt die Stunde. Wahrhaftigkeit glaubte an die Wahrhaftigkeit des andern. Die letzten Worte Schaffts klangen leise, wie aus großer Ferne, als hätten Berg und Wald und Himmel sie durch Menschenmund gekündet: »Ich glaube an den Sieg des Geistes, den Sieg der schöpferischen Liebe.« (…) Die Meißnertagung war in ihren Höhepunkten nicht Redestreit zwischen nur-persönlichen Weltanschauungsgegensätzen, noch weniger Besprechung vorgefaßter Programme, sondern,

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für mich, ein Geschehen des ewigen Willens. »Es« geschah, daß Gegner einander erkannten als Brüder der Einen Schicksalsgemeinschaft: Deutschland. Das gab uns Meißnerfahrern ein Gefühl der Geborgenheit im Weltgeschehen, das stark genug sein wird, uns in den müden Stunden des Zweifelns zu festigen. Rudolf Lemberg: Der hohe Meißner (in: Göttinger Jugend. Blatt der Göttingen Jugendgruppen. Beilage zur Göttinger Zeitung, 1. Jg., Nr. 5 vom 5. 10. 1923, Spalte 33 – 35. (…) Schon bald nach Knud Ahlborns einleitenden Worten zeigten sich die Gegensätze und der doppelte oder auch dreifach Riß: Auf der einen Seite Knud Ahlborn und Goebel mit dem ursprünglichen Ideenkreise der Freideutschen Jugend, auf der anderen die kommunistischen Freideutschen Bittel und Wittfogel und als dritte Richtung die Idealistisch-Religiösen mit Schafft-Kassel an der Spitze. Diese drei Richtungen rangen um die Führung: Knud Ahlborn ruhig, nüchtern, doch voll Gehaltenheit und disziplinierter Kraft, die Kommunisten mit unglaublich raffinierter und geschickter Taktik, Schafft, begabt mit einer glänzenden Rhetorik, durch die er bald namentlich die Jüngeren auf seiner Seite hatte (und dadurch allerdings den Kommunisten die Führung nahm). So traten Ahlborn und Goebel in den Hintergrund, sehr zum Nachteil der Tagung, denn aus dem ursprünglich guten Plan wurde Wirrwarr, Schlamperei, Auflösung, die ganz sicher bei einer festen Führung hätte vermieden werden können, trotzdem etwa 3000 Menschen dort waren. August Messer : Die freideutsche Meißner-Tagung. Ihr geistiger Gehalt (Auszug), in: Hannoverscher Kurier, Beilage »Deutsche Jugend«, Nr. 443/44 vom 22. 9. 1923. (…) Wie Schaffts Polemik gegen Ahlborn und auch gegen ihn selbst gewendet werden konnte, das zeigte sich in den Bemerkungen des Kommunisten Wittfogel: »Nichts kann ohne Idee entstehen. Aber bei Euch herrscht Anarchismus; alle Ideen gelten als gleichwertig. In Wahrheit steht jedes Zeitalter unter einer großen Idee. Habt Ihr diese große Idee? Seid Ihr bereit, dafür zu sterben? Der eine sagt: Jugendherbergen sind die große Idee, der andere: der Kampf gegen den Alkoholismus oder gegen das Rauchstinken oder das Fleischessen oder den Krieg. Das ist ein Ferkelstall von Ideen; das ist nicht die Idee, die unsere Zeit beherrscht (die nach W. natürlich: der Kommunismus ist).« Hier wird in derselben Art, wie von Schafft, nur gröber und demagogischer in der Form, die Vielheit der Ideen von der einen Idee her verurteilt, während sie, die eine Idee, doch bei uns endlichen Menschen nur in dieser konkreten Vielheit in die Erscheinung treten und verwirklicht werden kann. (…) Was den Agitationen der Kommunisten am meisten Kraft gab, das ist unverkennbar die wirkliche Not, die in weiten Kreisen unserer städtischen, zumal

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großstädtischen Bevölkerung herrscht. Wirksamer als aus den Reden kommunistischer Führer trat diese Not vor der bewegt lauschenden Versammlung in Erscheinung in ein paar Sätzen, die eine junge Frau sich aufgeschrieben hatte und schüchtern, aber sichtlich aus Pflichtgefühl heraus vorlas: Sie lauteten etwa so: »Vom Hunger der Mütter will ich nicht sprechen, aber vom Hunger der Kinder will ich sprechen. Wir brauchen Licht, Luft, Nahrung. Ihr Männer, ich frage Euch: wer gibt uns heute die Möglichkeit, die Kinder gesund zu erhalten? Wir brauchen Land. Ich weiß viele Mütter, die gern den Spaten nehmen würden. Es ist notwendig, daß der Lebensstrom fortgeht.« Der Ruf nach Land, den hier eine schlichte Frau aus selbsterlebter Not und Sorge um ihre Kinder erhob, er ist ja derselbe, in den die tiefgelehrten Forschungen Prof. Oppenheimers ausklangen. (…) Hugo Tlustek: Zur Kritik des Meißnertages 1923 (Auszug), in: Junge Gemeinde. Von Wille, Weg und Werk der jungen Generation. Wochenblatt der wandernden Jugend, Jg. 1923, Blatt 4 vom 27. 9. 1923, S. 26 f. (…) Der Freideutsche Bund will ein Bild der Volksgemeinschaft werden. Das ganze Freideutschtum will es, die ganze Jugendbewegung. Im Mittelpunkt der ganzen Tagung standen Schule und Politik. Das ist bedeutsam. Wir wollen nun anfangen, wir können und müssen nun anfangen! Nicht mehr Problematik, nicht mehr Zersplitterung der Kräfte in Parteien und vereinsartigen Bünden, die über Sonderbestrebungen sich dem Universalen entfremden, wird künftighin das Freideutschtum, die ganze Jugendbewegung sein, sondern ein festes, zielbewußtes Eingreifen in das Geschehen, in die Politik, weil die deutsche Jugendbewegung Geschichte zu erkennen beginnt, weil sie als das Neue, das Kommende ihr eigenes Leben gestalten will. Und dieser Wille drängt und ringt um Formung, die nicht »gemacht« werden kann, sondern die geschieht. Dämmernde Erkenntnis des Schicksals, der Aufgabe, der Idee unseres Volkes ist es. Die Aufgabe der künftigen Tage wird eine durchaus soziale sein. Die Volksgemeinschaft dieser Zukunft aber wird aus dem religiösen Grund des Seins der Jugend sein ein Dienst des einzelnen an der Gemeinschaft und ein Dienst der Gemeinschaft am einzelnen. Daß der Blick nicht kurzsichtig die Enge maß, sondern durchaus auf weite Sicht eingestellt war, trotz der Unklarheit vieler Anschauungen von den gewissen Standpunkten aus, trotz des Nebelhaften und des Widerstreites der Meinungen, das deutete der zweite Meißnertag. Es geht aus der Dämmerung wieder einem Tag entgegen!

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Karl August Wittfogel: Die freideutsche Meißner-Tagung und die Kommunisten (Auszug), in: Das Wort. Unabhängige Wochenzeitung für Mitteldeutschland, 1. Jg., Nr. 41 vom 7. 10. 1923. (…) Warum sind wir »freideutsche Kommunisten« dorthin gekommen? In der Frage liegt die Antwort. Zuerst: Weil wir, allesamt Abkömmlinge des Mittelstandes, vor Jahren aktive Mitglieder der Freideutschen Jugendbewegung gewesen sind und weil wir zur Zeit der ersten Meißner-Tagung 1913 zum Teil in ihren vordersten Reihen gekämpft haben. (…) Dazu kam ein Zweites: Das wirtschaftlich-politische Programm des Freideutschen Bundes enthält neben der Forderung der Planwirtschaft und der Feststellung von der Notwendigkeit der sozialen Revolution das Bekenntnis zur »Idee schwarzrotgold« und die Ablehnung jeder Gewalt, von welcher Seite und zu welchem Ziele sie auch angewandt wird. Ein solches Programm mit seiner Vermengung falscher und richtiger Bestandteile ließ uns unsere Anwesenheit unbedingt erforderlich erscheinen, um den suchenden Freideutschen über die Tragweite des von ihnen vorgetragenen Programms und über die Stellung der Mittelstandsjugend in der gegenwärtigen Weltkrisis die Augen zu öffnen. Diese unsere Absicht suchten die schwarzrotgoldenen Veranstalter mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu hintertreiben. (…) Am ersten Tage dann verbot man uns zuerst, die Burg Ludwigstein, das Herz der Tagung, überhaupt zu betreten. Die »Pazifisten« drohten uns, den (9!) Kommunisten, die Anwendung des Hausrechts und die Vertreibung durch die »Burgpolizei« an. Am ersten Nachmittag saßen wir als geduldete »zuhörende Gäste« inmitten der programmmäßig abfließenden Reden. (…) Kaum hatten Genosse Bittel und ich das Wort zu einer »Anfrage« erhalten, da ging es wie ein Schlag durch die bisher unter dem Eindruck greisenhafter und unwesentlicher Deklamationen stehende Versammlung. Immerhin erreichten wir an diesem Nachmittage nicht viel mehr, als daß alle Anwesenden mit erregtem Interesse unsere Existenz feststellten. (…) Am nächsten Vormittag hielten wir uns zunächst zurück. Mochte sich die Ratlosigkeit und Nichtigkeit der offiziellen Redner ruhig in ihrer ganzen Armseligkeit offenbaren! Je länger diese schwarzrotgoldenen Führer sprachen, desto deutlicher mußten sie die Jämmerlichkeit ihrer demokratischen Idee entlarven. Die Redner besorgten das Geschäft der Selbstentlarvung gründlich, äußerst gründlich. Sie verstanden es, die nach einem Auswege aus den materiellen und seelischen Nöten der Zeit verlangenden Freideutschen dermaßen stark zu enttäuschen, daß die Teilnehmer der Tagung endlich selbst unsere Zulassung zur allgemeinen Aussprache forderten. (…)14 14 S. dazu den anschließenden Bericht von Erich Lüth über die Entwicklung am Samstagmorgen.

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Es gelang uns, neben dem offiziellen und dem offiziösen Redner am Feuer (Ahlborn und Schafft) durch Karl Bittel auch die Sache der revolutionären Jugend zu Worte zu bringen. Und während Ahlborn am Ende seiner Rede weinend zusammenbrach, während Schafft sich in endlosen Nietzsche-Zitaten erging, zeigte Genosse Bittel hinter dem Feuer dieser Herbstnacht riesig und weltbezwingend die Flammengestalt der aus dem Osten herandringenden Revolution. (…) Genosse Bittel knüpfte mit seinen Worten an jene Kämpfe an, die vor nunmehr zehn Jahren, zur Zeit der ersten Meißner-Tagung, eine damals oppositionell gestimmte freideutsche Jugend gegen die bürgerliche Gesellschaft geführt habe. (…) Diese Aufforderung zur Einstellung auf den revolutionären Kampf wurde von mir auf die Aufrollung der Gewaltfrage hin weitergetrieben. Hier lag der Kern der freideutschen Ideologie. In der Haltung der Freideutschen zur Gewalt gegenüber drängte sich ihr ganzes revolutionäres oder revolutionärfeindliches Programm zusammen. Die Frage laute nicht: Gewalt oder nicht Gewalt. Die Frage laute heute und noch auf lange hinaus: Gewalt in wessen Händen und zu welchem Zweck? (…) Wir Kommunisten haben auf der Tagung einen starken Eindruck ausgelöst, einen überaus starken Eindruck. Dennoch hat ein anderer die Stimmung der Mehrzahl noch stärker zum Ausdruck gebracht als wir : Hermann Schafft, der Kasseler Pfarrer. Schafft, der mit uns gegen die Bureaukraten des Freideutschen Bundes gekämpft hat, Schafft fing zugleich einen sehr erheblichen Teil der aufgelockerten Freideutschen in seinem Lager auf. Seine Parole war die eines unbedingten Pazifismus. Uns Kommunisten aber beweist die Tatsache, daß auf dem Meißner Schafft und ein in ähnlicher Weise sprechender Holländer, nicht aber wir Kommunisten, die – ebenfalls qualitativ – größten Erfolge erzielten, diese Tatsache beweist uns, wie ungeheuer notwendig es noch ist, gerade auch in diesen Mittelstandsschichten das Bewußtsein aufzurütteln, um sie zu einer ihrer objektiven Krisenstellung entsprechenden subjektiven politisch-weltanschaulichen Haltung vorwärtszutreiben. (…) Ich glaube, Genosse Karl Bittel zog die Bilanz der Meißner-Tagung für die Revolutionsbewegung richtig, als er bei seiner Feuerrede sagte: »Die Tagung brachte keine Einigung für ein Tatprogramm, aber die Überzeugung, dass, wenn das Flammenzeichen am Himmel auflodert, jeder Freideutsche weiß, wo sein Platz ist.«

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Erich Lüth: Die Verhandlungen in der Turnhalle zu Werleshausen (Auszug), in: Junge Gemeinde. Jg. 1923, Blatt 6, 11. 10. 1923, S. 42. (…) Das Bild der Tagung war bis zum Sonnabendmorgen15 eine grausame niederdrückende Spiegelung der tiefgreifenden Zerrissenheit im Volke. Fast in letzter Stunde gab sich die Gelegenheit eines allerdings nur gefühlten Zusammenschlusses. (…) Organisch ergab sich nach knapper Meinungsäußerung der Übergang auf Fragen der Gemeinschaftlichkeit. Die Leitung war auf Bittel übergegangen, als ich die Versammlung aufforderte, nach eigenem Ermessen den Fortgang der Aussprache zu bestimmen. In einer Wechselrede Bittel-Lüth brach der Unwille über das bisherige Ergebnis der Tagung der dreitausend jungen Menschen aus. Heftig wurde gegen die Versuche einer dogmatischen Festlegung gesprochen. Bittels Frage, gehören wir Freideutschen aller Richtungen, soweit wir wahrhaft jung sind, zusammen oder nicht, fand ein lebhaftes Ja. Daraufhin erklärte ich unter lebhaftester Zustimmung, daß ich die in der Rednervorbesprechung vor Beginn der Tagung eingegangene Verpflichtung, die Kommunisten von der Gestaltung der Tagung fernzuhalten, bräche und den Kommunisten die Hand böte. (…) Sagt, was ihr wollt: die hier aufklaffende Gegensätzlichkeit war eine sich gewiß aus Alter- und Wissenunterschieden ergebende Gegensätzlichkeit des Tempos, des Temperaments, des Idealismus. Den jugendlichen Meißnerfahrern – unter ihnen als starke wesensechte, reifere Persönlichkeiten den Kommunisten Wittfogel und Bittel, der Pfarrer Schafft, Kießelbach – ging es um den freideutschen Menschen als Voraussetzung kommender Gemeinschaften; der Freideutsche Bund suchte bereits die Formen dieser Gemeinschaft wie auch sein Bekenntnis (das »Bekenntnis« des Freideutschen Bundes ist Individualbekenntnis Ahlborns) zu verkünden und geltend zu machen, ohne den Menschen gefunden zu haben. Daher die scharfe Sprache Ahlborns gegen die Kommunisten. Als Ahlborn dann ohne Kenntnis der Geschehnisse in die Versammlung hineinschneite, die gerade beschlossen hatte, nur als freideutsche Jugend, als eine Gemeinschaft Gleicher zum Meißner ziehen zu wollen, und unmotivierte scharfe Angriffe gegen die »Verführungsmethoden« der Kommunisten richtete, brach ein wüster Tumult aus. Ahlborn wurde verlacht, beschimpft, maßlose Erregung griff um sich, und schon drohte alles auseinanderzufallen, als Schafft die Situation rettete und einen Vermittlungsvorschlag machte. (…) Ahlborn lenkte dann völlig ein. (…) In einem aus der Versammlung heraus gebildeten (…) »Ausschuß« wurde dann die Gestaltung der Meißnerfeier besprochen. Die Vertreter des Freideutschen Bundes (Ahlborn, von Hattingberg) fügten sich dem Willen der Mehrheit der Versammlungsteilnehmer. Ahlborn verzichtete nach 15 Wegen des schlechten Wetters waren die Verhandlungen am Samstagvormittag in die Turnhalle nach Werleshausen unterhalb des Ludwigsteins verlegt worden.

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längerer Auseinandersetzung sogar auf die offizielle Verkündung der politischen Thesen des Freideutschen Bundes und einer kleinen Gruppe von Tagungsteilnehmern. (…) Damit hatte die Jugend eine Synthese erreicht, die verheißungsvoller ist als die programmatische Zusammenfassung eines Teils der Freideutschen. (…) Hermann Schafft: Die Meißner-Tagung 1923 (Auszug), in: in: Neuwerk, Nr. 7 vom 31. 10. 1923; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 275 – 279. (…) In der Vorbesprechung in Hannover wurde das geplante Meißnerfest zu einer Sondertagung des Freideutschen Bundes umgewandelt, und zwar geschah dies infolge des Widerspruchs weiter Kreise der JB. Dieser Widerspruch hatte gar nicht zu tun mit nationalistischer Mache, wie gelegentlich vermutet worden ist; er wandte sich vor allem gegen die unbegreiflich selbstherrliche Art des gesamten Tagungsplanes, der von wenigen Menschen über die Köpfe aller bündischen Jugend hinweg gefaßt worden war. Diese Haltung kam auch darin zum Ausdruck, daß den Rednern kurz vor der Tagung Richtlinien zugesandt wurden, die den Eindruck erweckten, man solle ein fertiges Programm herausarbeiten, über dessen Geltung oder Begründung gar nicht mehr ernsthaft gefragt werden dürfe. Auch ohne die Kommunisten wäre es darum zur Spaltung gekommen. (…) Der Gesamtverlauf der Tagung wäre ein völlig anderer gewesen, wenn die einleitenden Worte Knud Ahlborns von der Kraft und Weite gewesen wären, daß sie die in der Gestalt der Kommunisten unter uns anwesende lebendige Spannung umfaßt und innerlich aufgehoben hätten, wenn er aus ganz anderer Tiefe und Vollmacht heraus über den Sinn der JB zu uns geredet hätte und dann auch über die Not und tragische Entwicklung der Bewegung nicht hätte hinweggehen können. Stattdessen trat uns bei ihm und z. T. den Nachfolgenden rationalistischer Optimismus und Reformismus entgegen, bis dann Bittels Frage nach dem Grund des Verfalls der JB wirklich befreiend dazwischen fuhr. Und nun kam doch die Aussprache über den Sinn der JB zum Ausbruch. (…) Das Schmerzlichste an der ganzen Tagung – das, was Knud Ahlborn auch der großen Mehrheit ganz entfremdete – war die Art, wie er den Hinweis auf das Mißverstehen des eigenen Wollens in der JB, den Hinweis auf die lebendige Idee, die uns ergreift und in Besitz nimmt, beantwortete mit dem Hinweis, daß es doch verschiedene Ideale gäbe, und daß er den Verdacht aussprach, hier werde die JB im Sinn einer bestimmten Richtung einseitig angefaßt. Demgegenüber bedeutete die leidenschaftliche Anklage Wittfogels einen wirklichen Fortschritt, der uns vorwarf, das sei eben das Trostlose, daß wir »einen Ferkelstall voll Ideen« hätten,

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die gar nichts bedeuteten und für die es sich nicht zu leben und zu sterben lohne. (…) So kam es dann, wie zu erwarten war. In allen lebendigen Menschen lebte das Verlangen nach einem Austausch, nach offenem Messen der Kräfte, und die Empfindung ließ sich nicht bannen, als wolle man mit technischen Mitteln diese Aussprache verhindern. Es kam an dieser Stelle die ganze Unmöglichkeit der Tagung, die zuerst als Jugendtagung einberufen war und dann »Männertagung« sein wollte im Sinne eines fertigen Bildes, die dann Tagung eines Bundes wurde und doch eigentlich immer noch mehr sein wollte, zum Ausdruck. Schon durch seine Häufung von Vorträgen war der (Freitag-)Vormittag einfach unerträglich. (…) Die Lage war schließlich so, daß es auf Vorstellungen hin auch der Leitung klar wurde, eine freie Aussprache mit den Kommunisten sei für den Nachmittag nicht zu vermeiden. (…) Hier kam es dann auch zur weiteren Aussprache über die »Idee«, für die es zu sterben lohnt. (…) Den Abschluß des (Sonnabend-)Vormittags bildete die unerfreuliche Auseinandersetzung über das Ende der Tagung auf dem Meißner. Das vorgesehene Programm wurde mit Entschlossenheit abgelehnt. Es kam hier zu einer Aussprache über den Grundschaden, der in der ursprünglich eigenmächtigen Art ihrer Einberufung und aller daraus folgenden Schwierigkeiten seinen Ursprung hat. Es wurde darauf hingewiesen, daß es von jetzt ab, sonderlich für die älteren Führer, nötig ist, klar zwischen ihrem besonderen Bunde und der freideutschen JB im Sinne des ersten Meißnertreffens zu unterscheiden. (…) Im engen Kreis wurde die Feier auf dem Meißner besprochen, zum letzten Mal der Versuch gemacht und abgewehrt, die Tagung mit einer programmatischen Erklärung zu krönen. Am Abend waren wir dann in Regen, Sturm und Kälte auf dem Berg zusammen. (…) Knud Ahlborn und Bittel, Lüth und ich haben gesprochen. Wir waren wohl alle erschöpft von den Tagen vorher mit ihren scharfen Kämpfen. Die Feier war denkbar ungesammelt, eben keine Feier. Sie war Ausdruck unserer unmittelbaren Lage, unserer Not, unserer Sehnsucht. Beruhigt, hochgestimmt, reich und satt ist keiner von uns den Berg heruntergegangen. Aber vielleicht ist uns gerade im Durchleben der formlosen Unruhe des Abends mit seiner unheimlichen Dunkelheit etwas von der Wirklichkeit unseres Schicksals aufgegangen, vielleicht haben wir gerade etwas von seinem lebendigen Ruf vernommen, der es nicht zuläßt, daß wir uns über unsere Kleinheit und Armseligkeit durch allerlei große Worte von Blut und Art hinwegtäuschen, die uns zu Narren und Toren machen, der uns über uns hinaufführt aus aller krankhaften Müdigkeit und Unruhe heraus in das wirkliche Leben, in seinen strengen und schlichten Dienst, erleuchtet und geleitet, ergriffen durch die Wahrheit, die uns frei macht.

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15. Knud Ahlborn: Meißnertagung 1923 (Auszug), in: Junge Menschen, 4. Jg., Heft 10, Oktober 1913, S. 218 – 220. (…) Gründliche Vorarbeit(en …), die die Grundtendenz der verschiedenen die neue Meißnertagung tragenden Gruppen klarlegten, berechtigten zu der Hoffnung, daß der große Wurf gelingen würde: unter Zuziehung der tüchtigsten im modernen Deutschland sichtbaren Fachleute auf den verschiedenen Gebieten hier in intensiver Gemeinschaftsarbeit das Bild des neuen Werdens, das Bild der heute sichtbaren erstrebenswerten kulturpolitischen Ziele, kurz: das Bild der Erneuerung herauszuarbeiten, an dem, wie es in der Einladung hieß, »eine neue Jugend und Volkheit sich aufrichten und in dessen Verwirklichung sie ihre schöpferischen Kräfte ausgestalten und auswirken könnten.« Verhängnisvollerweise war die ursprüngliche öffentliche Einladung, die Kommunisten und Rechtsfaschisten ausdrücklich von der Beteiligung ausschloß, durch die milde Hand einer Redaktionskommission auf der vorbereitenden Tagung in Hannover dahin abgeschwächt worden, daß sich die Einladung »an alle Bünde und Einzelnen, die in der ideellen Richtung des Freideutschen Bundes (…) heute als Träger und Fortsetzer der alten Meißnerbewegung gelten können«, richtete. Darauf ist es zurückzuführen, daß nicht nur eine große Zahl unentschiedener, noch durchaus und naturnotwendig im suchenden und schweifenden Jünglingszeitalter stehender Jugend, sondern auch die ehemals von der freideutschen Bewegung in die kommunistische Parteirichtung übergetretenen Freideutschen auf dem Ludwigstein erschienen. So traten hier drei einander ausschließende Richtungen zusammen: 1. Jugend, die auf Erlebnis von Gemeinschaft und religiöser Neuschöpfung, zum mindesten aber starker seelischer Erschütterung aus war, wobei sie am liebsten den Reichtum und die bunte Mannigfaltigkeit der ganzen Welt hier in ihren Blickkreis gezogen hätte; 2. die kommunistische Gruppe, die von dem Glauben getragen war, durch Aufrichtung ihrer Parteidoktrinen eine zeithistorische Mission erfüllen zu müssen, und 3. der Kreis des Freideutschen Bundes und seiner Freunde, die aus den innersten Triebkräften der ursprünglichen, unverfälschten und nicht ins Parteidoktrinäre abgewichenen freideutschen Bewegung heraus den Bauplan zum neuen Menschheitsreich freier Völker und zum neuen deutschen Volksreich entwerfen wollte. Kein Wunder, dass zwischen so verschiedenen Gruppen nicht gemeinsame auf ein Ziel gerichtete Arbeit gelingen konnte. Die aktive Suggestivkraft der Kommunisten fand alsbald in dem Suggestionsbedürfnis eines Teiles der jüngeren Jugend ihre passive Ergänzung, und die dadurch zustande kommende Erlebnisgemeinschaft wehrte sich wütend gegen die Durchführung der ge-

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planten Arbeit. Sie versuchten, die vom Freideutschen Bund errichteten Arbeitsstätten für eine Auseinandersetzung über und mit dem Kommunismus mit Beschlag zu belegen, während die Tagungsleitung, zum Teil von den eigenen Freunden schlecht sekundiert, sich energisch dagegen zur Wehr setzte. Keine von beiden Richtungen konnte das von ihr ins Auge gefaßte Ziel voll erreichen. Die Kommunisten, die mit Parteiphrasen und den bei dieser Partei zur Virtuosität ausgebildeten psychotechnischen Methoden die Herrschaft an sich zu reißen versuchten, wurden durch die Versammlung schnell dazu gezwungen, auf die Ebene freideutschen Gedankenaustausches emporzusteigen und sich mit den ihnen entgegengesetzten freideutschen Grundanschauungen innerlich auseinander zu setzen. Der Freideutsche Bund und seine Gesinnungsgenossen sahen sich umgekehrt durch die den Kommunisten zwangsweise überlassene Zeit und Kraft gehindert, die von ihm beabsichtigte Arbeit in der geplanten sachlichen und männlich-gründlichen Weise durchzuführen. Bei so viel voneinander zwangsweise geduldeter Widerwärtigkeit ist es ein Wunder, daß verhältnismäßig doch noch so viele sachliche und wertvolle Gedankenarbeit geleistet werden konnte. (…) Folgende klar formulierte Gegenüberstellung ergab die Auseinandersetzung mit den Kommunisten: Übereinstimmung im letzten Ziele eines zu schöpferischem Leben befreiten höheren Menschentums; Grundverschiedenheit jedoch in der Beurteilung der gegenwärtigen Lage der Menschheit und der Wege, die von hier aus zu jenem Ziele führen. (…) Immer wieder wurde den Kommunisten von den Freideutschen zugerufen: »Was wollt ihr, wenn ihr die Macht ergriffen habt, erreichen, ohne die dazu nötigen Menschen zu haben? Glaubt ihr durch Institutionen und Gesetzesvorschriften gegen die Natur der Spießer, Schieber und Genießer, die das Volk durch alle Klassen hindurch in der Überzahl erfüllen, wirklich eine neue Welt aufbauen zu können? Die wahre Revolution, besser gesagt Neuordnung von Grund auf, ist kein Werk, das man fertig aus dem Ärmel schüttelt, sondern eine Aufgabe von langem Atem, eine Erziehungsaufgabe großen Stils, die auf allen nur möglichen pädagogischen Wegen, in erster Linie in systematischer Steigerung der Erkenntnis- und Schaffenskräfte des heutigen Durchschnitts- und Untermenschen vorbereitet werden muß und nur nach sorgfältiger Organisation aller dazu befähigten Kräfte gelingen kann und wird.« (…) Den sachlichen und teilweise tief religiös begründeten Argumenten der Freideutschen hatten die Kommunisten nur immer wieder ihre schon seit Jahren geübte Auto- und Fremdsuggestion gegenüber zu stellen: »Der große Zusammenbruch kommt, wir sind mitten darin, wir haben keine Wahl.« »Wollen wir das schlechte Alte wieder aufrichten oder es endlich zertrümmern?« »Wollt ihr mit sauberen Händen beiseite stehen und uns die notwendige, schuldigmachende Blutarbeit allein überlassen?« Man sieht ähnlich düstere Umnebelung

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der Blicke, wie sie eine ganze Menschheit vier Jahre lang in den Blutrausch und Vernichtungstaumels des Weltkrieges gestürzt hat. Die in der politisch-wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft ausgearbeiteten Thesen wollen durchaus aus der erzwungenen Auseinandersetzung mit den Kommunisten begriffen sein und tragen den Stempel der Kampfstimmung, aus der sie entstanden und der durch die Kommunisten aufs äußerste eingeschränkten Arbeitszeit und -kraft an sich. Dennoch geben sie den vielen Freideutschen in der Diaspora, die nicht der kommunistischen Parole folgen wollen und die auch nicht in einer unschöpferischen Wiederholung der Zustände vor dem Kriege einwilligen, sondern den einmal beschrittenen Weg zur Selbstbesinnung und Selbstbestimmung unseres Volkes fortschreiten wollen, ein Zeichen, wo heute die im freideutschen Sinn ausbauenden Kräfte im Zusammenschluß begriffen sind. (…)16

16. Das Pflaumenschiff, in: Junge Gemeinde, Jg. 1923, Blatt 6, 11. 10. 1923, S. 46. 192317 Die Freideutsche Jugend, ahnungsschwer Stürzte sich in Problemenmeer. Aber, o weh, die Sache ging schief, Denn das Problemenmeer war zu tief, Und die Jugend wäre beinahe ertrunken. Da hat sie geschrien und um Hilfe gewunken. Und Heil!! Da läuft schon zu Hilfe einer – Wer wird es sein? Wohl der Doktor Steiner? Ach nein, s’ist wie in der alten Zeit: Der Herr Pfarrer ist es, der kommt, wenn man schreit, Der stürzt auch in die Problemenflut, Und siehe da, er schwimmt ganz gut: 16 Es folgen die oben zitierten »Meißner-Richtlinien«, bei denen hier wie auch in deren Abdruck in der Zeitschrift »Junge Menschen«, Blatt 7 vom 18. 10. 1923, die ursprüngliche Richtlinie 5 weggelassen worden ist, sowie die Hinweise zur »Praktischen Nothilfe«. 17 Der Verfasser bleibt ungenannt; als Fußnote dazu eine Anmerkung von W. H. (= Walter Hammer): »Wer sich hinter G.W. und K.A. verbirgt, wird unschwer zu erraten sein. Auch der reingefallene Zeitungsmann braucht mit vollem Namen wohl nicht genannt werden: E. T. ist gemeint.« (Gemeint sind Gustav Wyneken, Knud Ahlborn und Erich Troß). In seinem im Folgenden in Auszügen abgedruckten Text hat Walter Hammer beiläufig angemerkt, dass wohl diese »satirischen Verse auf Gustav Wyneken zurückzuführen« seien.

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War mit echtem Kanzelöl überzogen, Da glätten sich die Problemenwogen. Er reicht der törichten Jugend die Hand Und zieht sie wieder ans trockene Land. Und die Jugend fortan voll Dankbarkeit Bleibt beim Herr Pfarrer allezeit. G. W. An G. W. Wer ins Wasser fiel und schrie War »die Jugend«, meinen Sie? Und ein Pfarrer schwimmgelehrt Hätt’ sie auf den Strand gezerrt? Eine trügerische Zeitung! Woher stammt die Zubereitung? Ein Zeitungsmann fiel darauf rein, möcht’s nun nicht gewesen sein setzt sich für »die Jugend« ein und erweckt so falschen Schein. Wissen Sie noch vor zehn Jahren, als wir auf dem Meißner waren?: »Wildgeword’ner Kindertag« »Juden«, »nationale Schmach«, erst allmählich wurde klar, was der Meißner wirklich war. So auch wird es diesmal gehen, warten Sie, Sie werden sehn! K. A.

17. Walter Hammer : Zwei Meißnertage. Ein vergleichendes Schlusswort (Auszug), in: Junge Gemeinde, Jg. 1923, Blatt 9, 1. 11. 1923, S. 59 f. (…) Redner und Richtungen, die vergebens versucht hatten, während der Tagung sich und ihr Thema in den Vordergrund zu rücken, deuteten die Tagung auf ihre Weise aus, verkleinerten sie und versuchten rechthaberisch einen Wortstreit auch in der »Jungen Gemeinde« zu entfesseln. Und in der breiten Öffentlichkeit haben sich natürlich auch wieder wie 1913 vorzugsweise extreme Parteimeinungen höhnend, schulmeisternd und verzerrend über den Meißnertag 1923

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hergemacht. Dies alles muß unumwunden gesagt werden, so unangenehm es auch für manchen Beteiligten klingen mag. (…) Der Streit um das Bild vom Meißnertag soll nun beendet sein; wie man versucht hat, alles mögliche hineinzulegen, so versucht man jetzt, alles mögliche herauszuholen. Jeder versucht seine subjektive Meinung als maßgebend durchzudrücken; was der eine gut findet, beurteilt ein anderer als abscheulich. Am unzufriedensten sind natürlich die Leute, die sich vergebens als Führer angeboten hatten. (…) Mit billigen Lösungen oder gefühlsseligem Steckenbleiben in oft durchdachter Jugendbewegungs- und Jugendring-Problematik kann uns heute nicht mehr gedient sein. (…) In dieser Notzeit bleiben die Heranwachsenden nicht mehr so lange in der Romantik stecken wie vor dem Kriege; temperamentvolle, aktive Kräfte aus der Jugendbewegung heraus streben mit den Meißnerfahrern von 1913 zu einem Zusammenschluß im Zeichen eines praktischen Idealismus, im Gelöbnis befreiender Taten, im Vorsatz politischer Aktivität. So bekam der zweite Meißnertag also dennoch seinen gewollten Sinn. Es war kein Jugendtag, keine Nachahmung, keine Neuauflage, sondern eine Fortsetzung und der Beginn einer Erfüllung. Das Kraftgefühl einer großen tatbereiten Gemeinschaft ging von ihm aus. (…) Arbeit, wahrhaft völkische Arbeit bei gegenseitiger brüderlicher Hilfe, das sollte sich die Notgemeinschaft deutscher Jugend wie am Feuer auf dem Hohen Meißner so auch immer bei all ihren Zusammenkünften geloben. (…)18

18. Theodor Lessing: Die Jugend tagt (Auszug), Das Tagebuch, 4. Jg., 22. 9. 1923, S. 1333 – 1343, Wiederabdruck in: Theodor Lessing: Ich warf meine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte, Darmstadt, Neuwied 1986, S. 165 – 172. Der Hohe Meißner, eine Waldlandschaft im Kreise Eschwege, welche noch einige Spuren waldursprünglicher Urnatur zeigt, der Hohe Meißner war dazu ausersehen worden, alle Gruppen unserer deutschen Jugend (politische, religiöse, 18 In einem zweiten Teil seines Rückblicks hat Walter Hammer kurz auf die in der Presse erschienenen Berichte über das Meißnertreffen hingewiesen. Außerdem findet sich dort eine scharfe Kritik zu der im Folgenden abgedruckten Satire von Theodor Lessing: »Sehr peinlich ist allgemein die alberne Glosse empfunden worden, die ausgerechnet Theodor Lessing (Verfasser von »Europa-Asien«) im Tagebuch vom 22. September veröffentlicht und offenbar schon vor dem Meißnertag geschrieben hat. Eine ganze Anzahl Leser des Tagebuches haben durch sofortige Abbestellung dieser Zeitschrift darüber quittiert. Lessing schrieb auf einen Protest hin, daß sich die Verspottung gar nicht auf den zweiten Meißnertag beziehe; ihm habe dabei ein »dialektischer Streit« zwischen Natorp und Wyneken vorgeschwebt.«

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kommunistische, nationale, proletarische, bürgerliche) zu gemeinsamer Herzensaussprache zu vereinen. Das mächtige Bergplateau ragt aus menschenbesiedelter Ebene mit sieben Wald- und Wiesenkuppen. Sie führen die Namen: Katzenrücken, Ochsenkoppe, Hundsrück, Schafberg, Kälbersattel, Hahnenhügel und Eselsköpfchen. Alle diese von erratischen Blöcken der Eiszeit übersäten Hügelwellen umstehen einen spitzen vulkanischen Kegel, welcher, dem Parnasse gleich, die Gegend beherrscht. Er heißt die Kalbe. Nach langen Diskussionen war in den Jugendbünden beschlossen worden, daß die Führerpersönlichkeiten sich auf der Kalbe versammeln sollten. Die einzelnen Verbände wollten dann die sieben umliegenden Wiesenkuppen unter sich aufteilen. Die nationalen Verbände sollten das Eselsköpfchen haben. Der Jugendbund Eros den Hundsrück. Die fünf vegetarischen Wanderbünde und der Studentenbund Ethos den Kälbersattel. Die religiösen Verbände den Schafberg, weicher den breitesten Rücken hat. So sollte sich die Jugend über das Gebiet des Meißner verteilen und dann Stafetten aussenden auf die Kalbe, um die daselbst versammelten Führerpersönlichkeiten zu holen. Diesen sollte aber nicht vorhergesagt werden, worum es sich handele. Die Jugend behielt sich frei, bald diese, bald jene Führerpersönlichkeit bald auf diesen, bald auf jenen Hügel des Hohen Meißner zu berufen, um sie daselbst über alles, was ihr auf dem Herzen liegt, zu befragen und auszuhorchen. Zum Glück für uns alle ist Poldel Casanova Langsterbehn (in der »Jugendbewegung« einfach der Poldel genannt) ein strategisches Talent. Poldel setzte auseinander, daß die topographische Aufteilung der Gegend nicht nach Gruppen und Vereinen erfolgen dürfe, sondern nur nach Diskussionsthemen. »Denn«, so sagte Poldel mit Recht, »die einzelnen Verbände sind sich bereits klar über ihre Grundsätze und Weltanschauungen. Die Jungens und Mädels in den Verbänden kennen sich schon genau. Fruchtbar wird die Tagung der deutschen Jugend nur dann, wenn man Buben und Mädel, proletarische wie bürgerliche, unpolitische wie politische, freidenkende wie katholische, bunt durcheinander plaziert. Und das muß nach Diskussionsstoffen geschehen. Dann kann jeder das Menschheitsoder Kulturproblem aussuchen, welches er von unsern Führerpersönlichkeiten gelöst haben will.« So sagte der Poldel. Man beschloß demgemäß, bunte Reihe zu machen. Auch unter den Führerpersönlichkeiten. Denn wenn die Führerpersönlichkeit uns nicht Auskunft geben kann über alle Menschheitsprobleme, wozu ist sie dann eine Führerpersönlichkeit? Nun darf aber auch die Jugend nicht einseitig beeinflußt werden. Sie muß sich selbst ein Urteil bilden können. Und damit das geschähe, so beschloß man, daß über jedes Thema zwei polar entgegengesetzte Führerpersönlichkeiten gehört werden sollten, ein »Referent« und ein »Korreferent«, wobei sich übrigens bald

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herausstellte, daß dies auf dasselbe hinauskam, als wenn man ganz beliebige Führerpersönlichkeiten herausgriff und sie gleichzeitig um ihre Meinung bat. Als Ehrenpräsidenten über das ganze wurden ausgewählt zwei um die »Jugendbewegung« hochverdiente Männer. Der Verfasser des grundlegenden philosophischen Buches: »Der platonische Eros auf logomathischer Grundlage«, sowie der Verfasser des ebenso grundlegenden anderen philosophischen Buches: »Das absolute Logos auf physiologisch-erotischer Basis.« Diese beiden waren der ehrwürdige Philosoph Longinus Somnifer und der bacchische Gründer der Siedelung »Kosmosblütendorf«: Dionysios Wortestock. Beide Herren sollten auf der vulkanischen Kegelspitze der Kalbe einander widerlegen. Das Thema dazu wollte die Jugend sich vorbehalten. Am 28. August, dem Geburtstage unseres Goethe, in der Morgenfrühe gegen vier, klomm von Abend her, gestützt auf die Schulter der blonden Anneliese Sinntneß, der hochgestimmte Longinus Somnifer die gewaltige Steinhalde zur Kalbe hinan. Und gleichzeitig klomm auf der Gegenseite, von morgen her, gestützt auf die Schulter der schwarzen Rationella Rabies, der hochsinnige Dionysios Wortestock am Bergeshange empor. Man war auf beiden Seiten siegessicher und für jedes Thema gerüstet. Somnifer, welcher soeben den achtzigsten Geburtstag zur Freude des Landes gefeiert hatte, bedachte wie Zarathustra im Wandern, daß er sich nun schon seit achtzig Jahren und neun Monaten soziologisch betätigte und daß in Deutschland außer ihm keiner lebe, der die sechs Bedeutungen der Idee und die sieben Erosarten unterscheiden könne. Und wenn auch Wortestock viel lauter schreien konnte – was die Geduld anging beim logisch Disponieren, so konnte keiner Somnifern überwinden, denn Somnifer zählte zu den Seltenen, denen Philosophie auch den Schlaf ersetzt. Galt es begrifflich disponieren, so brauchte er nicht zu schlafen. Denn dann wurde er reines intellegibles Ich und trat heraus aus dem »bloß Empirischen«. Aber auch Wortestock wußte sich unwiderleglich. Und im Wandern repetierte er alle ihm bekannten Gegensätze der deutschen Sprache, oder, wie er das lieber nannte, alle »Antinomieen«. Denn darin war er nun wieder Somnifer über. Durch lange Übung hatte er viele hundert Gegensätze, wie z. B. Eros und Logos, Weltseele und Weltgeist, empirisch und metaphysisch, hydrotisch und pyrotisch, und vieles andere an sich vereinheitlicht, so daß er, was immer auch ein Gegner vorbrachte, leicht dazu die polare Gegenbehauptung fand, worauf er zuletzt beides, Behauptung und Gegenbehauptung, positiv bejahend mit einer seiner berühmten »kosmischen Synthesen« überbaute, so daß in seiner Gegenwart Diskussionen immer und nie zu Ende kamen. Während so unsere beiden Ehrenpräsidenten zum Gipfel strebten, wanderte Deutschlands Jugend zu den sieben Nebenhügeln. Der prachtvolle Augustmorgen des Goetheschen Geburtstages sah Deutsch-

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lands Hoffnung, mehr denn zwanzigtausend Hornbrillen und Ledermappen, aus allen Gauen der Heimat zum Hohen Meißner wallen. Der erste Sammelpunkt war die Burg Logiehenstein. Dort beschloß die Jugend zu übernachten. Freilich ist diese weltbekannte, durch Spenden der Nation erhaltene Jugendherberge durch unsere Wandervögel schon recht verwohnt. Die Jugend, welche Nächte durch dort diskutiert, wirft nicht nur ihr Frühstückstullenpapier, sondern auch ihre Broschüren und Zeitschriftenreste achtlos umher, und unsere von den Menschheitsproblemen viel zu sehr beschäftigten Wandervogelmädel vergessen dann immer am Morgen, ehe sie aufbrechen, den Fußboden von Flugschriftenresten der letzten Nacht zu reinigen. Es sieht daher schlimm dort aus. Aber immerhin erspart man dank des vielen Druckpapieres an Stroh. Der Poldel, welcher unseren Auszug zum Hohen Meißner organisierte, hatte die Nacht (eingemuschelt in Druckbögen von »Untergang des Abendlandes«, »Wiederaufbau Europas« und »Weckruf an die Menschheit«) recht gut geschlafen. Nun sah er all diese Jungens und Mädels froh durch die deutschen Wälder ziehen. Die Mädels hatten nach Sitte der Zeit sich einen Bubenkopf geschnitten oder trugen ihren schönsten weiblichen Schmuck aufgerollt in Entsagungsknoten. Die Buben hatten jeder eine Hornbrille und eine Ledermappe, worin sie ihre Broschüren und Mundvorräte zum Gipfel trugen. Vom Sirius aus gesehen schaute es aus, wie wenn Scharen großer grauer Spinnen durch die Landschaft krochen, wobei ja auch jedes Spinnenweibchen gleich ein Männchen im Beutel trägt. – Man hatte beschlossen, sieben thematische Gruppen abzuzählen. Die sieben Themata sollten dann polar gegliedert werden. So sollte zum Beispiel Amandus Polygamios Heiliger, das Haupt des katholischen Quickborn, auf dem Kälbersattel sprechen über »Die Würde des rituellen Lebens«, worauf Nathan Springquell, ein Jungzionistenführer, als Gegenleistung das Thema behandeln wollte: »Meine Gedanken über die Liturgie«. In gleicher Weise hatte man für sämtliche Hügel gegenpolare Redner vorgesehen, in der Erwägung, daß die Pfeile um so höher zur Sonne fliegen, je stärkere irdische Spannung sie beflügelt. Auf Eselsköpfchen zum Beispiel redete der Führer der Kommunistischen Jugend, Raufebald Spaltefroh, über »Das Recht der Nationalität« und hinterher der Führer unserer nationalen Jugend, Spaltelieb Raufebald, über »Liebet Eure Feinde«. Immerhin zeigte es sich bald, daß weitaus die Mehrzahl der Buben und Mädel sich für die Kalbe entschied, woselbst als Thema »Die sexuelle Frage« diskutiert werden sollte. Als Referenten für dieses Thema wählte man den achtzigjährigen Longinus Somnifer, als Korreferenten Dionysios Wortestock. Als die Schar der sechstausend Knaben und Mädchen, welche die sexuelle Frage lösen wollte, auf dem Koryphäengipfel angelangt war, da begrüßten sie zunächst die ehrwürdigen Somnifer und Wortestock mit dreimaligem freideutschem Heil! Dann machten

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sie die große Frühstückpause. Und dann begann man nach einem geeigneten Platz zum Diskutieren zu suchen. (…) Die Jugend beschloß mit Stimmenmehrheit, (…) nunmehr die Lösung der sexuellen Frage in Angriff zu nehmen. Zuvor aber sollte der Poldel seinen bekannten Vortrag halten: »Die Neugemeinschaft: Sonnengeschwister oder : Zurück zur Natur.« Während der Poldel seinen durch die bessere deutsche Presse schon zur Genüge bekannten Vortrag hielt: »Die Neugemeinschaft: Sonnengeschwister oder : Zurück zur Natur«, tagte auf einer im Morgentau blitzenden Waldwiese am Frau-Hollen-teich, welchen tausendjähriger Wald umrauscht, eine Versammlung anderer Art. Die Waldfräulein, die Erdmännlein, die Wolkenfrauen, die Faune und Wasserjungfern kamen dort zusammen aus allen Schlünden des Hohen Meißner. In der Mitte auf einem Findling der Urzeit präsidierte der alte Pan. Die Gesellschaft war wüst aufgeregt. Ein Waldschratt ergriff das Wort: »Seit drei Tagen wimmeln unsere Wälder von Ledermappen. Das Gerücht geht, die deutsche Jugend will hier tagen. Ach, Ihr lieben Geschwister! Wir wohnen hier die tausend Jahr. Dies war die letzte Stätte, wo wir sicher waren. Wohin sollen wir nun flüchten?« »Verflucht« polterte der älteste Faun. »Alles liegt schon voll Papier. Diese Gattung zieht Redespuren hinter sich, wie die Waldschnecken ihren silbrigen klebrigen Schleim.« »Genossen«, begann der Nickelmann, »wir müssen sozialisieren.« »Sehen Sie dort hinauf«, fluchte der Faun, »dort wohnt Erda, die Baumnymphe. Poldel sagt, sie sei eine Tanne. Rübe aus Wolfenbüttel, ein Naturforscher, nennt Erda eine Fichte und Wortestock hat bewiesen, daß sie keine Linde ist. Zehntausend Kinder haben wir zusammen gezeugt. Jetzt hocken dort sechstausend Hornbrillen und Bubenkopfmädel und diskutieren die sexuelle Frage.« »Schmettern wir sie zusammen«, brüllte der alte Pan. Da jauchzte die Gemeinde: »Heraus Ihr Wolkentöchter, Wettert Ihr Donnerdämone. Winde, prasselt ins Horn …« (…) Was aber ist aus der deutschen Jugend geworden? Was aus den Elementargeistern am Frau-Hollen-teich? Die Elementargeister sind ausgewandert auf primitivere Gestirne. Die deutsche Jugend aber (das muß leider gesagt sein) erwies sich als noch nicht reif für unsere der Menschheit vorangeeilten Führerpersönlichkeiten. Schrecklich endete die Tagung auf den sieben Hügeln, wo die polar gespaltenen antithetischen Führerpersönlichkeiten dasselbe Problem von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus behandelten. Man fand auf Kälbersattel und Eselsköpfchen unter Trümmern von Hornbrillen nur noch zerstreute Gliederreste. Neun Beine und eine Nase wurden

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agnosziert als die von Polygamios Heiliger, Nathan Springquell, Raufebald Spaltefroh und Spaltelieb Raufebald. Sie ruhen vereint auf dem Ehrenfriedfhof in Schwätzingen. Pioniere der Neuzeit. Über ihrem Grab trauert das Standbild der deutschen Jugend, die Muse, welche in Fichtes »Wissenschaftslehre« liest. Aber auch auf der Kalbe nahm die Sache ein schlimmes Ende. Oder eigentlich überhaupt kein Ende. Denn die sexuelle Frage wurde nicht gelöst. Knaben, welche in bartloser Unschuld auf Fahrt gegangen waren, kehrten zurück als Greise ungepflegten Vollbarts. Die Schönheit der Mädchen alterte; Ledermappen knarrten um das schlotternde Gebein. Minderwertige Elemente retteten sich zurück in empirische Raumzeitlichkeit. Bessere starben vor Entkräftung. Nicht der Poldel, nicht Rationella, nicht Anneliese erwiesen sich dauerfest im Absoluten verankert. Nur Somnifer und Wortestock bestanden jede Feuerprobe des Geistes. Der Seher blickt in die Zukunft. Ein neues Deutschland will kommen. Eine neue Jugend tagt. Pan und die Dämonen sind verschollen. Die Gegend im Kreise Eschwege wird industrialisiert. Sie gehört Stinnes. Dieser errichtete am Frau-Hollen-teich eine Papierfabrik. Aber inmitten der nützlich gewordenen Welt bewahrte man einen Naturschutzpark. Darin diskutieren Longinus Somnifer und Dionysios Wortestock, Sie ragen durch die Zeiten. Redende Denkmale für die metaphysische Wetterfestigkeit des platonischen Eros und für den deutschen Idealismus.

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Die Zwischenkriegszeit: Generationelle Zuschreibungen und Deutungen

Die Meißner-Erinnerungstage der Zwischenkriegszeit standen im Zeichen der Zäsur, die der Erste Weltkrieg im Bewusstsein zahlreicher Zeitgenossen, in spezifischer Weise auch vieler Jugendbewegter darstellte. Diejenigen, die sich in den Jahren nach 1918 an der Ausdeutung des ersten Freideutschen Jugendtages auf dem Meißner 1913 und der Meißnerformel beteiligten, gehörten generationell drei unterschiedlichen Erfahrungsgruppen an: Die Älteren wie Gustav Wyneken (1875 – 1964) und Knud Ahlborn (1888 – 1977) waren bereits 1913 als Wortführer hervorgetreten; die darauf folgende Altersgruppe bestand aus den Angehörigen der »Kriegsgeneration des Ersten Weltkriegs,« die nicht selten auch als die »verlorene« bezeichnet wird.1 Hinzu kamen jetzt auch Jüngere, die den Ersten Weltkrieg nicht mehr als junge Soldaten, sondern als Kriegsjugendliche an der »Heimatfront« erlebt hatten. Vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen generationellen Erfahrungen sowie ihrer Beheimatung in sozial, politisch und konfessionell unterschiedlichen Milieus bezogen sie facettenreich Stellung zu der Frage nach der Bedeutung des ersten Freideutschen Jugendtages auf dem Meißner 1913 und zur Meißnerformel. Vor allem die symbolische Bedeutung der Kämpfe um Langemarck und Ypern als »Opfergang der deutschen Jugend« spielte in den Rückblicken auf den Ersten Weltkrieg eine bemerkenswerte Rolle.2 Nicht zuletzt wurde von nun an die Burg Ludwigstein an der Werra östlich von Kassel 1920 von Mitgliedern der Jugendbewegung ausdrücklich als »Ehrenmal zum Gedächtnis der im Ersten

1 Vgl. Robert Wohl: The Generation of 1914, London 1980. Von den rund 10.000 Mitgliedern des Wandervogel e.V. der Vorkriegszeit, den meisten dieser Generation angehörend, war etwa jedes vierte nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. 2 Vgl. Uwe-K. Ketelsen: »Die Jugend von Langemarck«. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos der Jugend. Frankfurt a.M. 1985, S. 68 – 96, sowie Gerd Krumeich: Langemarck. in: Etienne FranÅois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 292 – 309.

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Weltkrieg gefallenen Wandervögel«3 erworben und in den folgenden Jahren ausgebaut. Die Toten seien nicht umsonst gestorben, sondern lebten – so die Botschaft – mit einem Auftrag an die noch Lebenden weiter ; letztere hätten ein »Erbe« zu übernehmen und ein »Werk« zu vollenden. Der Sinn des Opfertodes wird demnach von den Nachkommen gestiftet, die das »Vermächtnis« der Gefallenen zu hüten und deren Opfer als Verpflichtung zu verstehen hatten. Auf diese Weise wurde von nun an in spezieller Weise auch auf dem Ludwigstein eine auf den Krieg bezogene »Gedächtnispolitik« betrieben. Der Mythos Langemarck hatte in der Selbstdeutung der Jugendbewegung in der Weimarer Republik seinen festen Platz, sei es als Friedensmahnung oder – weitaus häufiger – als Auftrag, Unvollendetes zu vollenden. Friedrich Kreppel (1903 – 1992) dagegen warnte in einer Rede bei einer Langemarck-Feier der Bündischen Jugend 1923 in der Rhön unter dem Motto »Nie wieder Langemarck« davor, sich von dem um sich greifenden Langemarck-Kult vereinnahmen zu lassen. Er berief sich dabei in folgender Weise auf die Meißnerformel: »Unser Erbe ist das eiserne Willenswort der Brüder vom Hohen Meißner – wir werden, ihm getreu, bewusst und klaren Sinnes und in der Verantwortung vor unserem Gewissen allein unser Leben und unser Sterben gestalten.«4 Der Pädagoge Wilhelm Flitner (1889 – 1990), selbst Meißnerfahrer 1913 und Kriegsfreiwilliger, nahm – ebenfalls auf Langemarck bezogen – 1927 auf die zu diesem Zeitpunkt bereits fest etablierte Erzählung Bezug, die die tatsächlichen Ereignisse längst überformt hatte: Die freideutsche Jugend habe – so Flitner – »ein ungeheures Totenopfer« gebracht, dies nicht zuletzt »in den Freiwilligenregimentern, die 1914 am Yserkanal zusammengeschossen wurden«.5 Gemeinsam war vielen jugendbewegten Akteuren und Kommentatoren nach 1918, dass sie kein ausdrückliches Jubiläums-Fest in Erinnerung an 1913 in Erwägung zogen, sondern vielmehr eine breite Diskussion über die Tragfähigkeit der Kernbegriffe der Meißnerformel und die gesellschaftliche Rolle der Jugendbewegung unter den aktuellen politischen Bedingungen und Herausforderungen führten. Während der Sozialdemokrat Erich Lüth (1902 – 1989) etwa der Jugendbewegung nach dem Krieg jegliche gesellschaftliche Relevanz absprach und sie für »tot« erklärte, findet sich beispielsweise ein breites Spektrum von Stellungnahmen zu Anknüpfungsmöglichkeiten an die Meißnertradition und Meißnerformel in den nationalkonservativen »Süddeutschen Monatsheften« im Jahre 1926. Darin kam u. a. P. Theo Hoffmann (1890 – 1953), der Direktor 3 Vgl. Gerhard Ziemer, Hans Wolf: Wandervogelbildatlas. Bad Godesberg 1963, S. 208. 4 Friedrich Kreppel: Nie wieder Langemarck, siehe den Quellenauszug in dem hier vorgelegten Band. 5 Wilhelm Flitner : Die Jugendbewegung im Krieg, in: Otto Baumgarten, Erich Foerster, Arnold Rademacher, Wilhelm Flitner : Geistige und sittliche Wirkungen des Krieges in Deutschland, Stuttgart 1927, S. 292 – 302, hier S. 293.

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des Canisius-Kollegs in Berlin und Schriftleiter des »Leuchtturm«, eines Publikationsorgans des katholischen Schülerbundes Neudeutschland, zu Wort, weiterhin der evangelische Theologe und Autor einer »Evangelischen Jugendkunde« Leopold Cordier (1887 – 1939), der Schriftsteller Kurt Pastenaci (1894 – 1961), ein prominentes Mitglied des Jungdeutschen Ordens, und der Sozialdemokrat Walter G. Oschilewski (1904 – 1987). Seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre lässt sich insgesamt gesehen eine deutliche Polarisierung der Positionen beobachten: Es verstärkten sich die kritischen Stimmen, die für die nachwachsende Jugendbewegungsgeneration Gefahren darin sahen, dass bei diesen Kriegsjugendlichen eine möglicherweise recht ausgeprägte Sehnsucht nach »einem Führer und einer Fahne« bestand, zumal sie sich einer zunehmend unsicherer werdenden und oft prekären Zukunft gegenüber sahen. Themen wie »Führung«, »Gefolgschaft«, »der Einzelne und die Gemeinschaft« gewannen an Bedeutung. Zu den Autoren, die in diesem Kontext einen kritischen Umgang mit Stichworten wie »Wahrhaftigkeit« und »eigener Verantwortung« anmahnten, gehörte nicht zuletzt der Theologe Walter Dirks (1901 – 1991) – nach eigener Einschätzung ein »Katholik mit marxistischer Prägung« und damals Redakteur der linkskatholischen »Rhein-Mainischen Volkszeitung«. Gleichzeitig erhofften sich aber auch manche Beobachter und Kommentatoren, jugendbewegte Vorstellungen könnten in einer wie auch immer im Einzelnen in Zukunft zu schaffenden »Volksgemeinschaft« ihren Platz finden. Im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung und Gleichschaltung blieb die Beschäftigung mit dem »Sinn« und »Erbe« des Kriegstodes zahlreicher Jugendbewegter ein zentrales Thema in den Debatten. Als beispielsweise im Oktober 1933 auf Burg Ludwigstein der Toten-Gedenkraum eingeweiht wurde,6 war von der »Flamme vom Hohen Meißner« die Rede, die es auch und gerade jetzt weiter zu hüten gelte; bewusst wurden das Kriegsgedenken unter einem neuen politischen Vorzeichen und die bisher gepflegte Erinnerung an den jugendbewegten Aufbruch des Jahres 1913 miteinander verknüpft. Im Zeremoniell der Einweihungsfeierlichkeiten des Ludwigsteingedenkraumes standen Lieder sowie eine Fahne des Kriegswandervogels auf der einen Seite und zugleich deutlich auch die Zeichen der nationalsozialistischen Herrschaft im Mittelpunkt, die durch die Beteiligung der Hitlerjugend und das Absingen des Deutschland- und des Horst-Wessel-Liedes – für NS-Feiern in dieser Kombination typisch – ihre Präsenz dokumentierte. 6 AdJb Ü 2, Nr. 5. Vgl. Gedenkbuch für die im Weltkrieg 1914 – 1918 gefallenen Deutschen Wanderer, Bund Deutscher Wanderer, AdJb 211 Nr. 114 sowie: Totenbuch des Bundes Deutscher Wanderer AdJb 211 Nr. 115; Hinrich Jantzen (Hg.): Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1972, S. 264 f.

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Auch die seit den frühen 1920er Jahren in vielfältiger Form bestehende jüdische Jugendbewegung sah sich nun zu einer deutlichen, an die Meißnerformel anknüpfenden Selbstdefinition herausgefordert. Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980), Mitglied der Akademischen Freischar »Burschen im Bund«, Mitgründer der Freideutschen Kameradschaft sowie des »Deutschen Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden«, der der Jugendbewegung zeitlebens verbunden blieb,7 stellte zum Beispiel 1933 als »Losung« dem ersten Heft der Zeitschrift dieser Gruppierung die folgenden Sätze voran: »Wir jungen jüdischen Deutschen wollen aus uns gewordener Bestimmung, in Verantwortung vor der Geschichte, mit innerer Wahrhaftigkeit das Leben gestalten. Für das Anrecht der deutschbewußten Juden auf Gliedschaft im deutschen Vaterland treten wir unter allen Umständen ein.« Im Vortrupp-Verlag nahm u. a. auch der Führer des Bundes deutsch-jüdischer Jugend, Heinz Kellermann, Bezug auf die »Selbstbestimmung« als zentrale Botschaft der Meißnerformel, die für Kellermann unter den Bedingungen von Ausgrenzung und existenzieller Bedrohung neue Bedeutung gewann. Für Schoeps galt auch noch nach 1945: »Wer die Meißner-Formel als ›nur formal‹ schilt, weiß nicht, in welche Tiefen hinunter diese Haltung reicht.« Der Meißner sei eine »freideutsche Mitte« gewesen, so Schoeps 1956.8 Während die nationalsozialistische Gleichschaltung unangepasste Jugendliche wie zum Beispiel die »Edelweißpiraten« in die Illegalität trieb und der »Exodus« junger Juden aus Deutschland begann – unter ihnen zahlreiche Jugendbewegte – verloren Ahlborn und vor allem Wyneken zeitweise weitgehend die Distanz gegenüber dem NS-Regime, wie Ausführungen in einem 1934 von dem überzeugten Nationalsozialisten Will Vesper (1882 – 1962) herausgegebenen Band zur Jugendbewegungsgeschichte deutlich werden lassen und vor allem ein Schreiben Wynekens aus dem Jahre 1937 zeigt. Wyneken glaubte darin, sich Baldur von Schirach (1907 – 1974) als »Gesprächspartner« andienen und dem Reichsführer der Hitlerjugend ein 25-jähriges Meißnerjubiläum plausibel machen zu können, wobei er seine eigenen Verdienste selbstbewusst hervorhob. Fast zeitgleich erinnerte aus kommunistischem Blickwinkel Walther Victor (1895 – 1971) in der Exilzeitschrift »Das Wort« an die 25-jährige Wiederkehr des Meißnerfestes 1913 u. a. mit der abwertenden Bemerkung, wer die Formel eigentlich erfunden habe, sei schließlich nie geklärt worden; auch die damaligen Reden seien wohl erst nachträglich als programmatische Äußerungen gedeutet worden. Der Kommunist Alfred Kurella (1895 – 1975) ging noch weiter und 7 Vgl. Hans-Joachim Schoeps im Interview mit Zilius (Audiodateien im AdJb), ferner HansJoachim Schoeps: Die letzten dreißig Jahre, Stuttgart 1956; ders.: Ein weites Feld. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1980; ders.: Vor fünfzig Jahren: Hoher Meißner, in »Die Zeit« vom 11. 10. 1963, sowie Wilhelm Mogge: Jude, Preuße, Jugendbewegter. Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980), in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 14, 1982/83, S. 227 – 240. 8 Hans-Joachim Schoeps: Die letzten dreißig Jahre, Stuttgart 1956, S. 212 f.

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sprach dem Freideutschen Jugendtag 1913 dessen Bedeutung als Gemeinschaftserlebnis für die Teilnehmer ab: Bald darauf habe »der Kampf um eine nachträgliche Sinngebung der Jugendbewegung« begonnen, »wobei dieser Sinn nicht aus ihr selbst entwickelt, sondern von außen in sie hineininterpretiert« worden sei. In Kenntnis erinnerungskultureller Fragestellungen und Methodik könnte man Kurellas Einschätzung gleichsam als »Dekonstruktion« einer Legende bezeichnen, und zwar infolge seiner deutlichen Zielrichtung auf eine »Reihe von Erwachsenen«, die über 25 Jahre die Deutungshoheit für sich beansprucht hätten. Liest man jedoch den gesamten Text, der in dem vorliegenden Band allerdings nur auszugsweise wiedergegeben werden konnte, so erweisen sich die Überlegungen Kurellas nicht nur als ein distanzierender Rückblick auf die Anfänge der bürgerlichen Jugendbewegung, sondern es findet sich darin auch ansatzweise der abschnittsweise recht persönliche Versuch, einen jugendbewegten Habitus zu skizzieren, der dem Autor vertraut war …

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Abbildungen

Auf dem Meißner 1918. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 164.

Freideutscher Jugendtag 1918. Fotograf unbekannt, Foto AdJb FA 170.

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Im Zentrum des Meißnergedenkens: Die Burg Ludwigstein 1922, Übergabe der Burg durch den Regierungspräsidenten Springorum an die Wandervögel. Fotograf Eberth, Kassel, Foto AdJb F 3 Nr. 579.

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Ziegelsteinstaffette zum Ludwigstein, um 1923. Fotograf Julius Groß, Foto AdJb F 1 Nr. 112/1.

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Jugendbewegte in der Burg Ludwigstein, 1920er Jahre. Fotograf Eberth, Kassel, Foto AdJb F 3 Nr. 579.

Meißnertagung 1925. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 161.

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Skizze des Gedenkraumes für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Wandervögel, AdJb.

Ansicht des Gedenkraumes für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Wandervögel, Fotograf: Julius Groß, Foto AdJb N 22 Nr. 50.

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Die Meißnerformel in einer grafischen Darstellung des Bundes der Wanderer aus dem Jahre 1930, AdJb B 212 – 063, S. 160.

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Auf Burg Ludwigstein 1939 Übergabe an die Hitlerjugend, Fotograf Julius Groß, Foto AdJb F 1 Nr. 500.

»Fahnen hissen« Ostern 1939 Übergabe der Burg an die Hitlerjugend. Fotograf Julius Groß AdJb F1 Nr. 500.

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1. Friedrich Kreppel: Nie wieder Langemarck! Rede bei einer bündischen Langemarck-Feier der Rhön 1923; in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf, Köln 1963, S. 436 f.; auch in Adam Weyer (Hg.): Reden an die deutsche Jugend, Wuppertal 1966, S. 79 – 81. Einmal mag es erlaubt sein, in der Rastlosigkeit unserer Pflicht, um unseres Dienstes am Werdenden willen, die toten Brüder zu rufen und ihnen einen vollen Tag und eine ganze Nacht zu weihen – denn sie fordern das Heimrecht, das Helden gebührt, in den Herzen dieser Jugend. – Über dem langen, unendlich langen Zug weht das grün-rot-goldene Banner, unter dem sie lebten und für das sie heimlich auch starben. Wir Wandervögel wissen, daß unseren Brüdern das Sterben so notwendig war wie Geburt und Leben, darum uns die Frage nie brennend geworden ist, ob sie umsonst gefallen seien. Der Sturm bei Langemarck ist das Symbol geworden, wie deutsche Jugend singend starb, und in ihm gedenken wir der toten deutschen Jugend. Es gemahnt uns an die Zeit, die vergangen hinter uns liegt – ausgefüllt von der gewaltigen Ernte, die der Tod in unseren Reihen hielt. Wir gedenken des Sturmes von Langemarck in der Demut vor dem Leben, das sich geopfert, und in dem Stolz, daß Deutschlands Söhne so herrlich fielen. Wir Wandervögel grüßen in geziemender Ehrfurcht und aller Schlichtheit die Eltern unserer Gefallenen von dem Feuer, an dem wir Wache halten – von der Arbeit ihrer Söhne, die wir schaffend weiterwirken. Langemarck soll uns sein heilig und hehr, und wir rüsten die Feier den Toten zu Ehren unter Langemarcks Namen. Der Sturm bei Langemarck ist uns Symbol geworden, wie deutsche Jugend starb. – Der Sturm bei Langemarck soll uns ein Weiser sein, wie unser Weg fürderhin nicht weitergehen darf. Denn mit dem Morgenrot, das über Langemarcks zehnfach eisendurchwühlten Feldern heraufstieg und die Besten des deutschen Volkes tot grüßte – steigt auch wie die Brandröte der Zukunft die bittere Scham der alten Offiziere herauf, der kühlen Rechner mit dem heißen Herzen, denen die 51 % Möglichkeit immer Leitsatz ihres Handelns sein mußte. Wir wollen auch die bittere Frage nicht sparen: »Ihr Offiziere von Langemarck – wo war euer Kopf, als ihr den Sturm nicht hindertet? Wo sind eure Pistolen gewesen, daß ihr nicht den Ersten niedergeschossen habt, der zum sinnlosen Opfersturm hätte vorgehen wollen?« So fragen wir heute, – aber diese Frage drängte sich damals den Führern nicht auf, und wir haben nun und nimmer das Recht zu richten. Ihr Sterben bleibt rein, und wir haben das Recht, den Sturm der singenden Streiter von Langemarck zu preisen. – Aber – hüten wir uns, Kult zu treiben mit diesem Sturm und Fallen der Brüder.

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Langemarck, wie es war, darf nie wieder sein. Langemarck war gestern. Darum gedenken wir heute seiner ; hüten wir uns, daß es aus dem Gedächtnis des Gestern morgen abermals komme. Die Forderung Langemarcks an die Lebendigen ist: Abbau des Herzens! – Wir haben heute und morgen die Pflicht, nüchtern zu rechnen, und unser Wille hat unser Herz zu beherrschen. Vernichtung ohne Zweck ist heute ein Luxus, wie ihn sich ein Volk vielleicht nach gewonnenem Kriege als wohlberechnete Geste oder vor dem Erliegen als verzweifelnden Demonstrationsakt leisten könnte. – Die Zeit ist anders geworden; wir haben kühler und weiter zu schauen, als jene, die jubelnd fielen. Uns schrieb einst Hans Breuer in der Stellung vor Badonviller : »… Nun laßt euch nicht irre machen! Wachst und werdet stark an eurem Wandervogel. Werdet Männer, festzustehen und euren Platz auf der Erde zu behaupten! Das ist die heilige Pflicht vor euren Brüdern, die gefallen sind – ihr Leben floß dahin, damit ihr weiterbauet. Und eure Arbeit sei euer Denkmal – Bald wird Mittag sein! Wandervögel, an die Arbeit!« Es ist längst Mittag geworden. Über Deutschlands Jugend liegt hart und drückend das Schicksal der Zukunft. Die letzten, die noch ragen, und die ersten, die schon sind, treten ein schweres Erbe an. Wir wissen darum, ihr Toten und ihr Lebendigen – ihr könnt uns nicht helfen, könnt ja kaum mehr raten. Wir wissen zu leben – darum wissen wir auch zu sterben. Es ist schön, jubelnd zu sterben, im Rausch der Begeisterung dem Tod sich zu weihen, und wohl den Brüdern, die es glaubensvoll konnten. – Uns aber hat die Nacktheit des Geistes und die Kälte des Bewußtseins gepackt. Wir fragen mit dem Wort nach dem Sinn und ringen erbittert von Tag zu Tag mit dem Zweifel. Die Lieder der Begeisterung und die Reden des Pathos wollen uns schwer von den Lippen. Unser Erbe ist das eiserne Willenswort der Brüder vom Hohen Meißner – wir werden, ihm getreu, bewußt und klaren Sinnes und in der Verantwortung vor unseren Gewissen allein unser Leben und unser Sterben gestalten. Aber unser Sterben und Töten soll schon heute ein tägliches sein um des Lebens der Brüder willen, denn der Stern des Bundes leuchtet diesem Geschlecht. Auf den Gesetzestafeln unseres Lebens steht in denselben goldenen Lettern, wie auf den Malsteinen der Toten das Wort Christi: Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.

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2. Alfons Paquet: Auf dem Hohen Meissner (Auszug), in: ders.: Die neuen Ringe. Reden und Aufsätze zur deutschen Gegenwart, Frankfurt a. M. 1924, S. 195 – 214. (…) Hier versammelten sich an drei Tagen des Spätsommers die Scharen der freideutschen Jugend, einige sechzig Bünde von jungen Menschen mit ihren Freunden, die vor zehn Jahren jung waren wie die Mehrzahl der heutigen. Alle in der leichten Wandertracht, mit dem Tornister oder dem Rucksack und mit ihren Wimpeln. Viele kamen zu Fuß von weither, die meisten aus Norddeutschland, viele aus Hessen, Thüringen, Franken und auch vom Rhein. Hier blieben sie, ein einziges friedliches Feldlager, bald alle an einem Abhang versammelt, auf die Wiese hingekauert, Kopf an Kopf, seltener in Gruppen verteilt, dort in einer Scheune, in einem Steinbruch, im Schatten eines mächtigen Nußbaumes. Gitarren und frische Stimmen waren genug dazwischen, aber kein Lied erklang. In dieser ganzen Versammlung war etwas wie Ernst und Erregung von Anfang an. Gegen Ende des letzten Tages marschierten alle diese Menschen, es waren über zweitausend, zusammen davon. Sie machten eine fünfstündige Wanderung, zuletzt die felsigen Abhänge empor, durch Waldgestrüpp und feuchte Wiesen, zur kahlen Kuppe des Hohen Meißner hinauf, Sie feierten oben in Sturm und Nebel der Mitternacht vor der hoch aufprasselnden Flamme des Holzstoßes das rauhe und gewaltige Fest des Gedenkens und der Hoffnung. Der brennende Holzstoß war ihr mystisches Zeichen, das die finstere, regnerische und fast winterliche Sommernacht erhellte. Diese Zusammenkunft galt der Erinnerung an jene Tagung auf dem Hohen Meißner im Sommer 1913, als sich zum erstenmal aus dem ins Wandern geratenen Heer des deutschen Nachwuchses die freideutsche Jugend als ein eigener Körper ablöste, um der Ausdruck eines neuen Willens zu werden, der sich sogleich zu den offiziellen und satten Jahrhundertfeiern von damals in Widerspruch setzte. Zehn ungeheuere Jahre sind hingegangen, der freideutsche Bund hat Krisen, Verluste, Erschütterungen, Ausbrüche nach rechts und links erfahren. Seine Unentwegten hatten auch diesesmal die Einladungen ausgesandt und die Vorbereitungen getroffen. Kein Fest der Freude und der Begeisterung war zu erwarten; es sollte eine Arbeitstagung werden, ein Seminar in freier Luft, vielleicht die Aussaat einer neuen Idee. Die Dinge einer problematisch grauen Zeit standen auf der Tagesordnung: das Verhältnis der jungen Generation zu Elternhaus und Schule, ihre Erfahrung in den Siedlungen und Jugendgemeinschaften, ihre Stellung zu den Fragen Kirche, Kunst, Wissenschaft, Politik. Die gesamten Grundlagen unserer von Werdekräften bedrängten Zeit waren aufzugraben, man hatte eine Anzahl sachliebender und erfahrener Männer einge-

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laden, an dieser Arbeit mit der Jugend teilzunehmen. Es sollten diesesmal »Richtlinien« und »Ergebnisse« herauskommen, um dann der Volksgesamtheit als Inhalte einer einheitlichen Bewegung vorgelegt, den Partei- und Staatsgewalten gegenüber als die Wünsche einer auf Wirklichkeit gerichteten, vom Geist geführten Jugend aufgestellt zu werden: vielleicht als die Verfassung eines Staates im Staate. Es ist alles anders gekommen. Man hat freilich versucht, die Jugendbewegung auf die Bahnen der laufenden Politik zu zwingen, das ewig schwankende Verhältnis von Geist und Wirklichkeit zu stabilisieren. Dieser Versuch, der von Eiferern ausging, mißlang. Man sah nur der Jugend in das Herz. Sie steht unter den beiden Mächten, die den harten politischen Tag unseres Volkes bestimmen. Die erste dieser Mächte ist die Entbürgerlichung, die sich an den Völkern des inneren Europa vollzieht und irgendwie der Anfang ihrer neuen Haltung zur Welt ist. Man kann es auch Proletarisierung nennen. Sie macht Tausende von jungen Menschen heimlos und legt ihnen Folgerungen auf, die sich auf dem Gebiet der Rechtssuche und der sozialen und der wirtschaftlichen Umgestaltungen immerfort erheben. Sie verbindet sie mit den fernsten Völkern des Erdballes, die um ihre Selbstgestaltung ringen, sie bildet eine weltumspannende Schicksalsgemeinschaft, die noch nicht Allen bewußt ist und die doch viele ahnen; sie ist es, die allmählich das innere Europa aus seiner alten, künstlichen Isolierung löst. Die andere der beiden Mächte ist das Suchen nach der erneuerten Gemeinschaft vielleicht im Volk, vielleicht im Typus. Es ist überall ein Tasten nach dem Boden, der aus Klasse und Masse ein Volk, aus Völkern eine Familie, aus Völkerbündeln und Bruchstücken eine Menschheit macht und auch im kleinen heimatlichen Kreis die Menschheit weckt. In Vielen ist es das Suchen nach der Erfüllung des noch immer Unerfüllten der an tödlichen Wagnissen und Enttäuschungen so reichen deutschen Geschichte. Hier ist nicht mehr vom Primat des Wirtschaftlichen die Rede. Hier ist die Selbstentdeckung des Schicksals in den Kräften, die bauen und zerstören. Die Jugend spürt das Schicksal, am Kreuzweg zu stehen. Will sie den langen und schwierigen Weg der Heimkehr zur wahren Lebensordnung wagen? Wird sich ihr Wille in der bloßen Wiederherstellung der einmal bequem und gültig gewesenen äußeren Kulturzusammenhänge und Formen erschöpfen? Die Jugend steht im Alltag, in der Arbeit um ihr Brot, in den Schulen, Fabriken und Geschäften. Aber sie stieg an diesem Tag auf die Höhen, sie fühlte sich zugehörig und umgeben von einem absterbenden, armen, tief überwölkten Deutschland. Aber sie hat in ihrem Herzen eine reine und gute Hoffnung, sie ahnt, daß im alten Land auch das neue ist. (…) Niemals war in Deutschland der Unterschied der grundsätzlichen Anschauungen, der ja schließlich doch ein Unterschied der Generationen ist, so ausgeprägt wie in den Monaten, die der Meißnertagung folgten, und zugleich die

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praktische Uebermacht der alten Anschauungsweise so niederdrückend. (…) Es gibt sehr viele Aufbaupläne in Deutschland, und es ist nicht schwer, sich den Wiederaufbauplan der Großindustrien, der großen Landwirte und der Banken auszumalen; er ist gegründet auf die dumpfe Unterwerfung von Millionen Menschen unter den Gedanken, daß sie und ihre Kinder keinerlei Aussicht haben, jemals etwas anderes zu sein als das Menschenmaterial zur Erzielung von Profiten, die nach allen Seiten der Welt abfließen. Es wird niemals gelingen, dieses Heer der Jugend, das die Landstraßen abläuft und in den Wäldern und Herbergen lagert, unter die Parteien aufzuteilen. Wohl aber spürt die Jugend den Ruf zur Arbeit, die zunächst noch die Arbeit an den Möglichkeiten ist. Nein, noch ist der Kampf gegen die alte Welt nicht geschlagen. Fast unbeachtet tragen die gefüllten Züge die Auswanderer zu den Schiffen im Hamburger und Bremer Hafen. Wer zählt sie, die jungen Leute in Windjacken, die Frauen in Wachstuchhüten, umringt von Kindern, die Mädchen, kaum der Schule entwachsen, mit dem gefüllten Ranzen auf dem Rücken, die braunen Bauernsöhne vom Neckar, aus der Steiermark, aus der Pfalz und aus den niederrheinischen Städten, die still das Land verlassen? Es sind jene, die dem Problem, um das die Jugend in der Heimat ringt, in den Weltraum ausweichen. Wir sehen Lichtbilder der Waldkessel, der Einöden, der dunkel bevölkerten Städte Südamerikas mit allem groben Wohlstand dort; niemand vermag die über die Grenzen Strebenden festzuhalten; kein beschwörendes, befehlendes Wort ruft die innerlich mutlos Gewordenen aus den Urwäldern in die Reihe der Kämpfenden, in die Heimat zurück. Der andere Haufe der Jugend marschiert durch die Straßen der Städte mit dem Hakenkreuz oder dem Sowjetstern an der Mütze, sucht unter den fremden magischen Zeichen das Reich. Diese hier gehen schweigend gefaßt und einsam durch den Sturm und die Nacht vom Flammenstoß zu Tal. Im besetzten Westfalen arbeiten Studenten als Bauernknechte, werden von den Franzosen verhaftet, jener hochgewachsene blondhaarige Mann ist an ihrer Spitze, der heute zwischen den Leuten auf dem Ludwigstein umhergeht, ein Landstreicher mit bloßen Füßen, ein feuriger und starker Rufer, er predigt Rache an Frankreich durch den freiwilligen Aufbau der zerstörten Dörfer. Viele haben sich aufgemacht nach dem Reich. Das alte ist es nicht mehr. (…)

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3. Erich Lüth: Das Ende der Jugendbewegung vom Hohen Meissner. Ein Bekenntnis zu neuen Zielen (Auszug), in: ders.: Das Ende der Jugendbewegung vom Hohen Meissner. Ein Bekenntnis zu neuen Zielen, Hamburg 1925. Es wäre unnütz und lächerlich, wollte man der deutschen Jugendbewegung nur deshalb ein Grablied singen, weil man selber sich im Kreise dieser Jungen nicht mehr wohl fühlt, weil ihr Geist ein anderer wurde als man selbst ihn in sich trägt, weil ihre Haltung sich wandelte und damit unverständlich wurde für jene, die ihr einmal mit ganzer Erlebniskraft nahestanden. Gerade die besten der deutschen Jugendbewegung wehren sich verzweifelt gegen den Gedanken, daß der Traum vom Hohen Meißner ausgeträumt, und daß es vorbei sei mit dem, woran wir als an die zukunftsreiche Bewegung glaubten, die Gesellschaft und Staat mit begeisternder Kraft zu neuer idealer Formung emportreiben sollte. Die deutsche Jugendbewegung ist tot. Ich schreibe dies und weiß in diesem Augenblick sehr wohl, daß ich selber jene Freideutschen ausgelacht habe, die sich ähnlich ausließen. Die kühnen politischen und sozialen Hoffnungen, denen sich ihre geistigen Führer hingaben, sind begraben, und rückblickend stellt man fest, daß die ersten Jahre, die romantischen Jahre, die Jahre des reichsten Ertrages waren. Daß heißt mit anderen Worten: die deutsche Jugendbewegung hat eine Mission gehabt und sie hat diese Mission erfüllt. Es wäre demnach ganz einfach ein Mangel an Mut, wollte sie jetzt noch länger in seligen Erinnerungen kramen, statt sich auf die harte und profane Tagesaufgabe der deutschen Gegenwart zu besinnen. Der Kampfplatz ist die Großstadt. Es war ein Irrtum, zu meinen, die deutsche Jugendbewegung führe auf dem direkten Wege zu einer neuen Gesellschaft oder auch nur zur Bildung einer neuen sozialen Mentalität. Was der Weltkrieg zur Erschütterung derer, die ihn zutiefst als die Katastrophe der europäischen Sittlichkeit empfunden und durchlitten haben, nicht vollbringen konnte, vermag die sich in ihren besten Kräften immer noch tausendfältig widersprechende deutsche Jugendbewegung noch viel weniger. Sie wollte den deutschen Menschen wiederfinden, der tragisch in den Fabriken und Kontoren der Großstädte zerschunden wurde, sie ahnte ihn nur. Sie wollte die deutsche Volksgemeinschaft aufrichten und erreichte nur, daß dieses Wort so oft in den Mund genommen wurde, daß es heute nicht mehr gilt als ein minderwertiger Kalauer. Sie trug sich mit hohen menschheitlichen Idealen, aber sie blieb entweder im völkischen oder kommunistischen Partei- oder Rassendogma hängen und bla-

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mierte sich vor jenen wenigen Menschen, zu denen es sich im Abendlande noch lohnt emporzusehen. Sie war leidenschaftlich und zutiefst bewegt, sie spürte unerhörte Nöte der Seele und des Leibes, aber sie blieb als Gesamtbewegung unklar und hoffnungslos. Sie erkannte weder ein klares Ziel, noch fand sie eine bestimmte Arbeit, die, wenn auch Schritt für Schritt, so doch langsam und von einer klaren Erkenntnis bewegt, auf zukünftige Dinge zustrebte. Aber sie hatte einen so erschütternden Hunger nach Freiheit und einem schlichten schaffensfreudigen Leben. Das klingt wie reine Negation, die ganz bestimmt unberechtigt ist. Die Jugendbewegung war eine Revolution. Darin liegt ihr Wert. Mochte ein Teil ihrer Geschichte auch die Geschichte einer Flucht vor der Großstadt und vor den seelenlosen Erscheinungen der Zivilisation, vor einer nahezu verblödeten, unduldsam und formelhaft erstarrten Gesellschaft und einer in eine widernatürliche Umgebung versetzten Familie sein, so blieb der revolutionäre Charakter des Aufbruchs der deutschen Jugend in der Jugendbewegung doch gewahrt. Heute heißt es aber klar zu erkennen, daß es nicht mehr wie sentimental und geschmacklos wäre, wollte man nun, da man einmal in der Uebung ist, diese – ziellose – Revolution der Jugend ewig fortsetzen, etwa wie andere, die man Spießer schimpft, immer noch einen zu trinken pflegen und kein Ende zu finden wissen, vor Mangel an eigener Originalität. Die Aufgabe, die denen gestellt ist, die mit geistigem Nutzen Glieder der deutschen Jugendbewegung waren, liegt darin, die in die Bewegung chaotisch einbezogenen wertvollen Kräfte nach erfolgter Gärung zu lösen und reinlich zu scheiden, um sie dann den vielen kleinen und kleinsten Aufgaben zuzuführen, denen nur Bescheidene im rechten Geiste dienen können und die in ihrer Gesamtheit dennoch erst das geistige, soziale und politische Gebilde des deutschen Volkes und des deutschen Staates ergeben. Die Jugendbewegung ist tot. Aber ihre Ziele leben weiter. Es gilt an der Entwicklung der Millionen mitzuwirken! Die Jugend nach dem Weltkrieg Der Weltkrieg hat in der deutschen Jugendbewegung eine schaurige Ernte gehalten. Er ist ihrem ersten feurigen Ansturm in die Zügel gefallen und hat ihn mit Gasgranaten und Maschinenkraft abgewürgt. Diese Todesernte des Weltkrieges mußte um so mörderischer wirken, als die deutsche Jugendbewegung sich ja erst unmittelbar vor dem Kriegsausbruch auf ein klares Kulturprogramm besonnen hatte. Das Verhängnis des für alle Kulturvölker schändlichen Weltkrieges, der hinter der Maske nationaler Verteidigung monarchistische Großmannssucht und industriellen Egoismus verbarg, brach unmittelbar nach dem mächtigen Aufschwung des Meißnertages im

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Herbst 1913 über uns herein. Die deutsche Jugend hatte sich dort oben auf der Bergkuppe des Hohen Meißner mit prächtigem Freimut gegen den spießerhaften Kriegserinnerungsrummel gewendet, der die Jahrhundertfeier der Befreiungskriege mit Saufgelagen beging und den geschmacklosen Unfug eines Völkerschlachtdenkmals anstiftete. Da ging die neue Kriegswelle über alles hinweg. In einem Telegramm an den deutschen Kaiser, dessen Wortlaut bedauerlicherweise verschollen ist, warnte die Freideutsche Jugend, wenn auch in letzter Minute und mit ganz untauglichen Mitteln, vor dem Kriege. Es war zu spät. Und alle, denen der Verrat der deutschen Fürsten, begangen am deutschen Volke, an dem Beispiel 1813 erschreckend klar geworden war, erlagen zunächst der neuen Kriegspsychose. Sie zogen für den deutschen Imperialismus in das Feld, aber sie meinten mit glühendem Herzen das Vaterland. Die vielen, die draußen gestorben sind, glaubten an ihre kriegerische Sendung, und wir Jüngsten, die noch daheim bleiben mußten, ahnten die Größe dieses Glaubens. Wir schämten uns, zu jung zu sein und unsere Brüder allein sterben lassen zu müssen. Wir haben gezittert, als sie in Scharen in den Tod gezogen sind, Wandervogellieder auf den Lippen, treu und schlicht in ihrer Todesgeste. Die feldgrauen Wandervögel und Freideutschen sind ernste, pflichtgetreue Soldaten und menschliche Offiziere gewesen. Es waren keine Drückeberger unter ihnen. Sie haben ihr schweres, grauenvolles Kriegshandwerk mit Bitterkeit verrichtet und haben es gelernt, wie wenig der Maschinenkrieg der Gegenwart mit Ritterlichkeit und Romantik zu tun hat. Ihr Mut bestand darin, in dumpfer Todeserwartung auszuharren, durch Monate und Jahre bereit, die Heimat mit ihren jungen Leibern zu decken. Diese Menschen sind anders heimgekommen als sie hinausgezogen sind. Sie haben eine schwere Wandlung durchmachen müssen, wie sie die Brüder Unruh gleichfalls durchgemacht haben. Sie begriffen den Krieg als das furchtbarste Unrecht, das Kaiser und Könige, Reichspräsidenten und Diplomaten an ihren Völkern verüben können. Sie haben den Ekel des Mordens gelernt und mit den Soldaten Europas, mit Engländern und Franzosen, Russen und Amerikanern draußen den tiefen Versöhnungstrieb in sich wachsen lassen, der in den erschütternden Aufzeichnungen aus dem Schützengraben, die uns der große Franzose Henri Barbusse mitteilt, eine so edle und wahrhaftige Form fand. Bis heute hat dieser aus dem Inneren der auf Wahrhaftigkeit eingestellten Jugend hervorbrechende Abscheu vor dem Krieg noch keine feste Form der Kriegsbekämpfung angenommen. Eine Konsequenz wie sie Gandhi seinen indischen Brüdern lehrte, die sich ohne eine Hand zu rühren, von den englischen Kanonen hinschlachten ließen, nur um sich nicht durch blutige Gewalt zu beschmutzen, ist von der deutschen Jugend noch nicht gezogen worden. Und

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dennoch ist die Gandhische Forderung »Non resistenz« [sic] christlich im Geiste des Urchristentums. Vor allem ist sie erfolgreich. Die praktische Anwendung der zutiefst religiösen indischen Konsequenz auf Europa heißt Kriegsdienstverweigerung in jedem Falle, auch im Falle eines Bürgerkrieges. Die Jugend hat den Glauben an die Notwendigkeit der sogenannten Verteidigungskriege gründlich verloren. Sie soll die Waffen des nächsten Krieges tragen, aber sie hält den Mord nicht für das geeignete Mittel, die Ehre des Vaterlandes in menschenwürdiger Form zu schützen. Ein Nationalgefühl, das kurzsichtig genug ist, um mit fragwürdiger Jesuitenmoral dem Machtzuwachs des eigenen Staates dienen zu wollen; ist für sie schimpflich und nichts weniger als rühmenswert. Heute sind wir in der Jugendbewegung soweit, daß sich eine kleine Gruppe junger Menschen gefunden hat, die sich mit religiöser Kraft zur Kriegsgegnerschaft bekennt, die mit Bestimmtheit den Waffendienst verweigert und sittliche Größe genug aufbringt, um nationalistische Uebergriffe anderer Nationen du l d e n zu können, ohne sie mit anderen als menschlichen Mitteln abwehren zu wollen. Wir wissen, daß es in allen Völkern Gruppen gleicher Gesinnung gibt. Als verheißungsvoll sehen wir die internationalen Organisationen der Arbeiterschaft an, die schon großes soziales Elend zu lindern halfen und die eines Tages, unterstützt von den internationalen Gemeinschaft der Geistigen, stark genug sein werden, neue Kriege zu verhindern, gegen den Willen der industriellen Machthaber. Jenen Organisationen will die Jugend mit ganzer Kraft zur Hilfe eilen. Wir wissen dabei ja nur zu genau, daß die lautesten Kriegsschreier Lieferanten sind oder »Leute aus der Etappe«, Etappenschweine, wie sie von den Frontsoldaten genannt wurden. Wir empfinden auch jede Züchtung neuen Hasses gegen Frankreich oder England, die jetzt am Imperialismus leiden, als ein Verbrechen. Wer es nicht versteht, auch einmal Unrecht zu dulden und in dieser Duldung sich größer und edler als dieses Unrecht zu zeigen, sollte jede Hoffnung auf eine Zukunft des Menschengeschlechtes begraben. (…)

4. Ernst Kemmer : Deutsche Jugendbewegung (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9 (Juni), S. 153 – 162. (…) So hat das tiefe völkische Erlebnis, das in der Wandervogelbewegung sich vollzog und auf der Tagung des hohen Meißners am 11. und 12. Oktober 1913 hinreißenden Ausdruck gefunden hatte, keine Stärkung des nationalen Willens

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gebracht, sondern ist zu einem gefährlichen Element der Zersetzung geworden. Die Wandervogelbewegung hat einmal im Kampf gegen die Schäden der modernen Zivilisation sich mit der international-demokratischen Lebensreformbewegung verbunden, auch im Nationalismus wie im Rausch Barbarei und Laster gesehen, die dem Stil eines reinen und geläuterten Menschentums nicht mehr entsprachen, sie hat eine mächtige katholische Bewegung aus sich hervorgebracht, die ihre geschichtlichen Ideale aus einer abgelaufenen Geschichtsperiode entlehnt und sich für den Gedanken eines katholischen Reiches begeistert (…). Sie hat ebenso eine sozialistische Jugendbewegung aus sich hervorgebracht, die sich zwar nicht gewerkschaftlich und wirtschaftlich an die Partei binden wollte, aber gegenüber der höheren Idee des Sozialismus, wie sie ihn verstand, in der staatlichen Vertretung des völkischen Gedankens nur Egoismus sah und den Abstand der kulturellen völkischen Bewegung von den Formen des neustaatlichen Lebens nicht stark genug betonen konnte (…). Sie hat sich im freideutschen Lager aus dem Völkischen ins Gemeinmenschliche umgestellt und ist unter dem Einfluß des russischen Geistes dem Auflösungsdrang verfallen, der das abendländische Gesellschafts- und Staatsleben von Grund aus verwandeln wollte. Aber die Wandervogelbewegung hat aus sich auch eine nationale Bewegung hervorgebracht und diese stellte der radikalen Voraussetzungslosigkeit, die im problematisierenden freideutschen Lager zur Herrschaft gekommen war, den politischen Willen zu Volk und Staat entgegen. Es ist die jungdeutsche Bewegung (…). Sie ist im August 1919 auf dem Lauenstein begründet worden. Sie steht im Widerstreit mit allem Nationalismus, der mit volksfeindlichern Kastengeist gesättigt ist, sie steht darum auch im Widerspruch mit dem Staat, der abhängig geworden ist von internationalen Mächten des Kapitals und der Wirtschaft und vom nationalen Egoismus einzelner Klassen und Schichten. Aber sie bejaht gleichwohl mit aller Entschiedenheit den Staatsgedanken und fühlt daher die Pflicht, durch aktive Mitarbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einer Erneuerung des Staates zu dienen, die dann auch die Erneuerung des Volkes möglich macht. (…)

5. P. Theo Hoffmann, S. J.: Katholische Jugendbewegung (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 163 – 166. Es ist da und dort behauptet worden, daß »Katholische Jugendbewegung« in sich ein Widerspruch sei. Tatsache ist jedenfalls, daß die Jugendbewegung nicht auf katholischem Boden gewachsen ist. Man mag zu Blühers Geschichte des Wan-

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dervogels stehen wie man will, es ist nicht zu leugnen, daß sie die soziologischen Momente, welche den Wandervogel und damit die Jugendbewegung ins Leben riefen, fein erschaut und dargestellt hat. Wenn man die dort dargestellten Ursachen der Jugendbewegung sich vergegenwärtigt, dann wird man verstehen, daß der Katholik nicht gerade mit Unruhe festzustellen braucht, daß Jugendbewegung zunächst ein nichtkatholisches Gewächs ist. Jugendbewegung als Revolution setzt verrottete Zustände voraus. Zustände, wie sie uns Blüher in Steglitz schildert, hat der Katholizismus auch vor dem Kriege nicht zu beklagen gehabt. Das soll kein Selbstlob sein. Es kommt zum Teil daher, daß im deutschen Katholizismus infolge seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage gar nicht die Möglichkeit zu solchen Spannungen gegeben war, wie sie uns in Steglitz als typisch entgegentreten. Es war für den Vorkriegskatholiken wirklich keine Empfehlung, wenn er mit seiner religiösen Betätigung Ernst machte. Infolgedessen war der Gegensatz zwischen äußerer Betätigung und innerer Einstellung sicher nicht in dem Maße vorhanden wie anderswo. Sich als Katholik nach außen hin zu bekennen, setzte tatsächlich auch das Dahinterstehen der ganzen Persönlichkeit voraus. Man sieht: das später so betonte Problem der Wahrhaftigkeit im Religiösen, wuchtete nicht mit so großer Last auf dem Katholiken. Ferner hatten Gründe, die hier nicht zur Erörterung stehen, den meisten Katholiken den Weg in die höheren Kreise der Gesellschaft und damit auch in die dort vielerorts herrschende Fassadenkultur unmöglich gemacht. Familien, wie die Lily Brauns (»Memoiren einer Sozialistin«) waren doch verhältnismäßig selten in ihrer unwahrhaftigen Art: nach außen hin Repräsentation und Schein, innerlich ohne Kern. Daß man dem Katholiken oft vorgeworfen hat, die Hinwendung zu profankultureller Betätigung sei ihm nicht in dem Maß gegeben wie seinem andersgläubigen Landsmann, mag mit dazu beigetragen haben, daß der katholische Junge nicht so früh auf jene Bahnen geschoben wurde, in denen sich dem jugendlichen Auge nichts anderes bot als Verdienst, Vorankommen usw.. Wenn also Jugendbewegung ursprünglich Protest war gegen religiöse und gesellschaftliche Verlogenheit, gegen allzufrühes Töten des jungen Menschen im Berufsmenschen, so seien hier die Gründe angedeutet, weswegen diese Revolution nicht in katholischer Luft geboren wurde. Gewiß war auch der katholische Volksteil angesteckt von jener verdorbenen Luft, aber eines blieb ihm noch als letzter Halt: die Festigkeit und Unverrückbarkeit des Ideals. Unbedingte Wahrheits- und Offenbarungsreligion, wie sie der Katholizismus ist, bleibt bei allem Wechsel und Suchen und Tasten seiner Träger doch fest: die große objektive Norm, eben das Ideal. Darum fühlte sich der Katholizismus der Jugendbewegung der Meißner Formel gegenüber wesensfremd. Eine Weltanschauung, die das Subjekt vom Objekt, vom Absoluten her bestimmt, muß im Widerspruch stehen zu einer Lebensauffassung, die das Subjektive, Wahrhaftigkeit und Selbstbestätigung in sich, zu den entscheiden-

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den Lebenswerten stempeln will. Die Wahrheit geht dem Katholiken über die Wahrhaftigkeit, daher denn auch das anfängliche Einandermißverstehen bei bestem Willen. Dann wäre vielleicht noch auf eine andere Erscheinung hinzuweisen, die es erklärlich macht, daß der Katholizismus längere Zeit der Jugendbewegung mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüberstand. Allem, was nach Überbetonung, nach Schwarmgeisterei aussieht, steht er zunächst mit Kühle und Ruhe gegenüber. Als Hüter Jahrtausende alter Weisheit und Form hält er sich allem neu aus dem Schoße der Zeit Ausbrechenden gegenüber zunächst zurück. Es ist nun einmal so, daß alles Neue notwendigerweise überbetont und überspitzt auftritt, da es sonst gar nicht beachtet würde. Da spricht der Katholizismus zunächst ein »Nein« und zwingt durch dieses Nein das Neue, sich mit dem Alten auseinanderzusetzen, Maßlosigkeiten abzulegen. Erst wenn der in allem Neuen schlummernde goldene Wahrheitskern in dieser Auseinandersetzung herausgearbeitet ist, spricht der Katholizismus sein »Ja« und fügt ihn als neuen Edelstein in die Katholizität seines Wahrheitsbesitzes ein. So tat es die katholische Kirche mit der griechischen Philosophie, mit den Ergebnissen moderner Wissenschaften, so auch ist sie nun daran, es zu halten mit der Jugendbewegung. Klar und, klarer hat sich allmählich herausgestellt, daß in der Jugendbewegung neben dem Negativen, dem Revolutionären, ein positiver Sinngehalt steckt. Wahrhaftigkeit, Selbstverantwortung, das Zertrümmern der bisherigen Gesetzestafel ist der Jugendbewegung ja nicht Selbstzweck sondern nur ein Mittel, um sich frei zu machen für ihre große Sehnsucht: den neuen, den ganzen Menschen. Nur weil dieser von der Fassadenkultur unserer verkrusteten Gesellschaft erdrosselt wurde, besonders von den Vertretern der älteren Generation, die sich damit abgefunden und nun junges unverdorbenes Leben zu gleicher Abfindung bringen wollte, nur deswegen griff die Jugend in einer Art Notwehr zur Axt. In diesem Sturm leuchtete immer klarer das Ziel auf: der neue Mensch und damit wurde die Jugendbewegung je länger je mehr Zielbewegung. Hier war der Punkt, wo sich Katholizismus und Jugendbewegung begegnet sind. (…)

6. Leopold Cordier : Jugendbewegung und Protestantismus (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 169 – 173. Jugendbewegung ist der Wille der Jungen zum Neuanfang. Jeder Neuanfang muß mit dem Urdatum beginnen, muß den einen festen Pol in Rechnung setzen, dessen Leugnung Selbstauflösung bedeutet: das eigene Ich. Nicht als Selbstsucht steht die Autonomie am Eingang der Jugendbewegung. Es ist die naturgegebene

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Notwendigkeit, daß nicht die Tat, nicht die Welt, sondern zuerst das Ich gesucht wird, das sich im Wandervogeltum seine eigene Welt schafft und im Freideutschtum sich den Puls fühlt. Wer in diesem Sinne des Neuschaffenwollens nicht das eigene Schöpfer-Ich erlebt, wird Jugendbewegung im Grunde niemals verstehen können. Der Mensch der Jugendbewegung ist ausgezogen, mit dem Urgestein des Lebens die eigene Welt zu bauen, die ihm von Anfang an gegeben ist, und nun greifen in sein autonomes Leben alle die fremden Erlebnisreihen ein, die sein Eigenleben bedrohen; nun liegen die Baugeräte an seinem Wege, mit denen man seit alters Leben gebaut. Er muß den Wettstreit des Lebens aufnehmen, muß die Eisenträger prüfen, die von anderer Hand für die Brücke des Lebens gespannt sind, weil er mit ihnen zusammen über Lebensbrücken schreiten muß. In diesem Zusammenprall der Lebenskreise kommt es unverlierbar zur Geltung: ich bin kein freischwebendes, ruhendes, für sich seiendes Wesen, sondern ein in Beziehung gesetztes, schaffendes Ich! In dieser Erkenntnis steht heute die Jugendbewegung. Im Ringen des zu seiner Größe und zu seiner Not »erwachten« Ich ist der Mensch der Jugendbewegung dem Protestantismus begegnet. Er entdeckt im Protestantismus die Größe und die Not des erwachten Ich, aber auch dessen Befreiung, er entdeckt den Rhythmus des Lebens, der ihm eigen ist, die Fieberschauer, die auch ihn ergriffen haben; zugleich aber auch einen Heiltrunk, der Genesung verspricht, einen Durchblick, der über die Krisen hinaushebt in Glauben und Verheißung. Der Protestantismus ist für die Jugend ein alter Bekannter. Auf dem Boden des Protestantismus hatte sich die erste Befreiung des jugendlichen Menschen vollzogen, hatte man das »Jugendalter« abgelöst vom »Kindheitsalter« und freigegeben gegenüber dem Erwachsenenzustand. Sonderbare Heilige sind es freilich vielfach gewesen, jene pietistischen Väter, die vom Herzpunkt her das jugendliche Alter zuerst zum selbständigen Lebenselement gemacht und das verselbständigte Lebensgefährt mit der schweren Last der jugendlichen Bekehrung befrachtet haben. Man sehe von der uns heute erschreckenden Form ab: eine Großtat ist es doch gewesen, daß der Pietismus das religiöse Leben der Jungen so verselbständigt, so hoch gewertet hat! Die Aufklärung hat diese Wertung ihrem Sinne gedeutet. Unsere großen Dichter und Denker konnten zu einer Gemeinde erwachender jugendlicher Geister und in ihrem Namen reden. Auf der Wartburg feierte eine erwachte Jugend ihr Fest und war sich bewußt, das Erbe der Reformation als geweihte Gabe in Händen zu tragen. Was »Bewegung« ist in der evangelischen Jugendarbeit des 19. Jahrhunderts, in den Jünglings- und Jungfrauenvereinen, in C.V.J. M. (Christlicher Verein junger Männer) und B.K.Arbeit (Bibelkreis), hat sich immer erneut Triebkräfte schenken lassen aus der

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Verselbständigung jugendlicher Frömmigkeit auf dem Boden des Protestantismus. Der kurze Rückblick mag zur Erhärtung des Satzes genügen, daß der Protestantismus für das Urdatum der Jugendbewegung, für die Autonomie, den rechten Hintergrund zu bieten vermag. Der Protestant ist von Hause aus der Mensch der religiösen Selbstverantwortlichkeit. Er steht unmittelbar vor seinem Gott. Er kennt keine Zwischenschaltungen, die die Wirkung des göttlichen Kraftstroms abschwächen könnten. Damit ist ihm der höchste Adel zugesprochen, den es geben kann. Auf dem Boden des Protestantismus ist eine religiöse Meißnerformel gut denkbar. (…)

7. Kurt Pastenaci: Der Jungdeutsche Orden und die Jugendbewegung (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 177 – 180. (…) Wenn nun die Jugendbewegung und der Jungdeutsche Orden miteinander in Vergleich gebracht werden sollen, so ist es wohl zunächst notwendig, festzulegen, was unter Jugendbewegung verstanden werden soll. Es ist wohl am einfachsten, die Jugendbewegung aus ihrer Entstehung heraus zu kennzeichnen und dabei den Wandervogel und die freideutsche Bewegung als den Stamm der Jugendbewegung anzusprechen. Der Wandervogel war eine revolutionäre Erscheinung, die sich im wesentlichen gegen den Zwang des Elternhauses und der Schule richtete und für die eigene freie Entwicklung der Jugendlichen eintrat. Im Fahrtenwesen, in Volkslied und Volkstanz, fand diese Bewegung die ihr gemäßen Formen; sie ward dabei zu einer Kulturbewegung, deren Auswirkungen erst in unseren Tagen recht beginnen werden. Bezeichnender als die Bekenntnisformel des hohen Meissner : »Wir wollen unser Leben vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit gestalten« ist für den Wandervogel und für die ganze Jugendbewegung einmal das Verhältnis der Menschen zueinander und dann die Art, wie ihre Führer entstanden. Die jungen Menschen fanden sich in treuer Kameradschaft und gegenseitigem Verstehen und Helfen ohne, ja oft im Gegensatz zur gesellschaftlichen Höflichkeit. Ihre Führer wuchsen aus ihnen heraus. Sie wurden weder gewählt noch durch die ältere Generation vorgesetzt und aufgezwungen. Die Führer wuchsen heran und waren mit einemmal da, und sie bewiesen ihr Führertum durch die Art ihres Führens. Die Jugendbewegung führte in ihrer Entwicklung zu einer Entfaltung der einzelnen Persönlichkeiten und artete oft geradezu in Persönlichkeitskult aus. Der Gemeinschaftsgeist, der in den ersten Anfängen der Jugendbewegung stark vertreten war, schwand immer mehr in der Entwicklung der einzelnen Menschen zur Persönlichkeit.

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Damit ward aber auch der Wille zur gegenseitigen Einordnung und zum gemeinsamen Wirken und Kämpfen immer schwächer. Diese Krisis in der Jugendbewegung erhielt den letzten Stoß durch die Tatsache, daß die alten Wandervögel ins Mannesalter hineinwuchsen, in ihrem Beruf und im täglichen Leben vor neuen Aufgaben standen, denen ihr Wandervogelwesen nicht gewachsen war, und daß sie zudem durch die jüngeren Mitglieder der einzelnen Jugendbewegungsbünde aus dem bisherigen Kreis herausgedrängt wurden, weil diese Jüngeren, dem Geist des Wandervogels und der Freideutschen entsprechend, ihre Führer aus den eigenen Reihen entnahmen und die Überlegenheit der Älteren oft als Bevormundung empfanden. Zwar schlossen sich die alten Wandervögel oder die älteren Angehörigen der sonstigen Jugendbewegung in neuen Bünden oder Kreisen zusammen, ohne aber bisher den rechten Gemeinschaftsgeist wiederzufinden, und ohne neue Aufgaben, die ihnen Daseinsinhalt und Kampfrückhalt gaben, zu erkennen und anzupacken. In letzter Zeit sind, wie durchaus betont werden muß, starke Gesundungserscheinungen in dieser Richtung bemerkbar. Die jungdeutsche Bewegung und mit ihr der jungdeutsche Orden ist aus kleinen Anfängen heraus, ebenso wie die Jugendbewegung, immer stärker zur revolutionären Bewegung geworden, revolutionär nicht im Sinne der letzten deutschen »Revolution«, sondern in dem ursprünglichen Sinne des Durchbrechens eines neuen Lebenswillens und des Kampfes um eine neue Lebensart und Lebensgemeinschaft. Wie die Jugendbewegung, so ließ sich auch der Jungdeutsche Orden seine Führer nicht von außen her aufzwingen; er wählte sie auch nicht nach parlamentarischer Methode aus seinen eigenen Reihen; er ließ die Führermenschen, die sich im Kreis seiner Brüder befanden, heranwachsen und zwang sie dazu, sich zu bewähren. (…)

8. Walther G. Oschilewski: Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 180 – 185. Die jungsozialistische Bewegung, d. i. die Organisation der jungen Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei, kann in ihrer geschichtlichen und einmaligen Bedeutung nur verstanden werden, wenn man sie mit der Entwicklung der gesamten deutschen bündischen Jugend in Beziehung setzt. Allen Krisen, Irrtümern, Wandlungen, die das Gesicht der deutschen Jugendbewegung oft bis zur Ungestalt zerstörten, haben sich auch die jungsozialistischen Gruppen im Reich nicht entziehen können. Das Schicksal, zwischen Gestern und Morgen ein zer-

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störendes, erneuerndes, aufbauendes Leben führen zu müssen, ist auch ihr Schicksal geworden. Schon vor dem Kriege wurde in einem Beschluß des Chemnitzer Parteitages 1912 der älteren Parteigenossenschaft empfohlen, »durch geeignete Maßnahmen die jungen Arbeiter im Alter von 18 bis 21 Jahren für die Arbeiterorganisationen zu gewinnen«. Diese Maßnahme, bei der Gewinnung jüngerer Altersklassen für die Arbeiter-Jugendbildungsgruppen schon erfolgreich angewandt, war das Produkt eines damals allgemein als notwendig empfundenen Organisierens der vorerst rein agitativ und selbstsüchtig-pädagogisch eingestellten Sozialdemokratischen Partei. Für sie war damals Jugend kein Lebenszustand sondern ein Objekt. Dieses Pflegebedürfnis bestimmte der Grad der Explosion, welche, durch den Aufbruch der bürgerlichen Jugend vom Hohen Meißner 1913 beschleunigt, nach Kriegsende in der jungproletarischen Bewegung erfolgte. Die Sucht nach Selbständigkeit, nach einem eigenen Lebensraum, um wirklich Mensch und Kämpfer werden zu können, all das Fragen und Bangen, all das Richten- und Lösenwollen der Zwiespältigkeit des durch Stadt, Schule, Elternhaus und Erwerb vergewaltigten Lebens, zwang auch die proletarische Jugend, an der Erregung der zeitlichen Widerstände teilzunehmen. Sie tat dies um so elementarer, als sie in stärkerem Maße als die bürgerliche Jugend von den Hindernissen der Zeit umstellt war ; zu der geistigen und körperlichen Not kam die gesellschaftliche, die wirtschaftliche. (…)

9. Wilhelm Flitner : Der Krieg und die Jugend (Auszug), in: Otto Baumgarten, Erich Foerster, Arnold Rademacher, Wilhelm Flitner (Hg.): Geistige und sittliche Wirkungen des Krieges in Deutschland, Stuttgart 1927, S. 217 – 356; wieder in: Karl Erlinghagen, Andreas Flitner, Ulrich Herrmann (Hg.): Wilhelm Flitner. Die Pädagogische Bewegung. Beiträge – Berichte – Rückblicke, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Paderborn, München, Wien, Zürich 1987, S. 56 – 169. Der Rousseau-Herdersche Gedanke der Eigenwertigkeit der Jugend, wie jeder einzelnen Altersstufe des Menschen, ist hier erneuert worden. Auf diesen pädagogischen Gedanken vereinigte sich auf dem Hohen Meißner die anwesende Jugend. Die Formel, in der sie ihn zum Ausdruck brachte, lautet: »Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen

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der freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.« Eine Reihe von Bünden unterzeichnete diese Formel und trat zum »Verband der Freideutschen Jugend« zusammen, der im Sinne der Formel arbeiten sollte. Die Meißnerformel enthielt nur das eine Ergebnis dieses ersten großen Treffens: den Gedanken der Selbsterziehung und Zweckfreiheit der Jugendbünde. Die Erwachsenenaufgaben wurden fortgeschoben, die Jugend vermied es, sich vorzeitig in Dinge zu mischen, für die sie sich nicht reif fühlte, sie wahrte sich ihr Jugendleben. (…) Die Jugendbewegung im Krieg Es ist nun die Frage, wie sich die in der Jugend erwachsene Selbsterziehungsbewegung zum Kriege verhielt. (…) Die Bewegung ist nicht zum Stillstand gekommen, sie hat große Verwandlungen erfahren. Unter den Kriegs- und Revolutionsstürmen hätte sie ganz ersterben können. Aber es scheint, daß religiöse und ethische Bewegungen durch die politisch-wirtschaftlichen Erschütterungen hindurchgehen, nur verwandelt durch Erfahrung, Erfolg und Niederlage, indem sie altern, doch nicht sterben. Die Älteren aus der Jugendbewegung haben nach dem Krieg geklagt, daß die echte, auswählend-strenge, die erzieherische Jugendbewegung untergegangen sei. Die erste Blüte verwelkte. Aber die Bewegung trug doch ihr Leben weiter, wenn auch anders, als man 1913 wünschte. (…) Der Wandervogel hatte es im Felde nicht leicht, zu bestehen. Mied er den Alkohol, so schied er sich von den Trinksitten, die besonders im Offiziersstand galten. Er war von der ihm heimischen Sitte ganz verlassen und auf sich gestellt. Man brachte es fertig, in der Etappe Wandervogeltreffen zu verabreden und »Feldgaue« zu organisieren. Rundbriefe hielten manche Bünde zusammen. Im übrigen verschwanden die Krieger aus der Bewegung. Sie lernten das Volk in der Kameradschaft neu und anders kennen als früher auf den romantischen Fahrten; das wahre Verhältnis der deutschen Bildungsklassen ging vielen erst in den Gräben und Batterien auf. In der Heimat waren wenige Studenten zurückgeblieben, die jüngeren Wandervögel standen allein. Die großen Geschehnisse lähmten sie zunächst. 1915 im Sommer begannen jedoch die Wandervogelgruppen ihre Wanderungen wieder. Die älteren Mädchen hielten die Organisationen; die Feldsoldaten aus dem Wandervogel ermutigten die Daheimgebliebenen, des Kriegs wegen sich an froher Jugendart nichts abgehen zu lassen. Die Gaublätter begannen wieder zu erscheinen, und so hat sich, auch in den Schwierigkeiten der Hungerjahre, der Wandervogel immerhin erhalten und Nachwuchs aufgenommen. Für den Fortgang der Bewegung war wichtig, daß der Leiter des freideutschen Verbandes, der Hamburger Knud Ahlborn, bald nach Kriegsausbruch die

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Zeitschrift »Freideutsche Jugend« gründete, die zwischen den verstreuten Freideutschen Verbindung hielt und ein eigenes Schrifttum der Bewegung anregte. Bisher hatte man literarische Reflexionen in der freideutschen Bewegung nicht geschätzt. Die »Zergliederung der Freuden« und Bespiegelung eigener Art widersprachen den Voraussetzungen der Bünde. Viele haben auch dauernd der Zeitschrift feindlich gegenübergestanden und in ihr nie den wahren Ausdruck der Bewegung gesehen. Zwischen den schreibenden und den wirklichen Führern wurde sehr unterschieden. Doch war die Zeitschrift wichtig, sie zwang dazu, die Haltung der Jugend öffentlich zu vertreten; sie offenbarte die Schwächen der Bewegung, erzeugte heftige Selbstkritik. Es zeigte sich, daß die Selbsterziehung sich nicht loslösen kann von der Erwachsenenkultur. Eine zu frühe Festlegung zu vermeiden, war möglich für den Jugendlichen; die Älteren wurden zum Ja oder Nein gezwungen. Zum Krieg, zum Staat, zur sozialen Frage mußte eine klare Haltung gewonnen werden. Aber nicht nur dies; auch die unbestimmte Religiosität der Jugend mußte sich entscheiden, mußte ein Wort finden, mit der Kirche, mit dem Christentum sich auseinander, zusetzen. Berufe mußten gewählt werden: welche? Aus dem Umgang der Geschlechter mußte sich die Ehe ergeben: welches war die Regel, die Ordnung, die das Leben des freideutschen Menschen in diesen Bezirken bestimmte? Allgemeine Lösungen ergaben sich nicht. Es zeigte sich, daß man lange und schwer arbeiten mußte, wenn man zu zusammenhängenden Lösungen kommen wollte. Es zeigte sich, daß man in die geistigen Bewegungen innerhalb der Erwachsenenkultur einzutreten hatte, den Zusammenhang der Jugend aufgeben mußte, das Opfer bringen, das in der Berufsentscheidung liegt. Man mußte aus der Jugend ausscheiden, wie die Krieger ausgeschieden waren. Dieses Ergebnis haben die Kriegsjahre gebracht. Das Band zwischen den einzelnen ist geblieben, aber die Älteren haben sich Wirkungskreise gesucht, in denen sie im Sinne ihres Ausgangspunktes an irgendeiner Stelle arbeiten konnten. Die Kriegsdebatten zeigten die Probleme, die es für solche Arbeit gab; sie erwiesen, daß diese Probleme allein von der Grundlage der Jugend aus nicht gelöst werden konnten. (…) Unter vielen in der Heimat Verbliebenen und den verwundet zurückgekehrten Älteren aus der Bewegung ergab sich aus den erweiterten Erfahrungen nun eine grundsätzliche Ablehnung des Krieges. Sie schlossen sich der pazifistischen Strömung an, die in den letzten Kriegsjahren in der Arbeiterschaft mächtig wurde, die in den Munitionsarbeiterstreiks sich mit äußerte und schließlich in der Revolution. Eine chiliastische Stimmung bemächtigte sich vieler Deutscher damals, auch der Jugend; die Katastrophe, die sie über Deutschland hereinbrechen sahen, bejahten sie mit Schmerzen und vermuteten in ihre [sic!] eine Weltkatastrophe, die zum Untergang der alten Welt, zum Erscheinen einer neuen Gemeinschaftskultur, eines gläubigen Volkes in Europa würde führen müssen.

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So näherte sich das Kriegsende, und eine ganz verworrene Lage der Jugendbewegung bereitete sich vor. Äußerlich schien der Verband der freideutschen Jugend noch einmal eine Sammlung der Geister zuwege zu bringen. Im August 1917 hatten westdeutsche Jugendgruppen einen Jugendtag auf den Loreleyfelsen am Rhein berufen. An die siebenhundert Freideutsche und Wandervögel, darunter viele Feldsoldaten, haben sich hier erneut zur ersten Meißnerformel bekannt. Sie verkündeten als ihren Willen, die freideutsche Jugend solle wieder der Name für eine große Jugendbewegung werden wie bei ihrer Entstehung auf dem Hohen Meißner, nicht der Name für eine Jugendpartei. (…) Man machte sich keine Vorstellung davon, welche andere Lage eintreten mußte, wenn die Soldaten zurückkamen, deren innere Entwicklung man nicht mehr hatte verfolgen können. Vollends was eine Niederlage für die Freiedeutschen bedeuten müsse, war unübersehbar. Innerlich war die Bewegung als Ganzes also keineswegs auf gemeinsame Aufgaben vorbereitet. Aber die Jugendbewegung hatte im Krieg noch einen Erfolg, den herbeizuführen sie von sich aus gar nichts getan hatte. Sie hatte durch ihr bloßes Dasein geworben. Der Gedanke eines Eigenlebens der Jugend setzte sich im Krieg in der Öffentlichkeit überraschend schnell durch. (…) Nach zwei Seiten setzte die Jugendbewegung im Krieg sich durch. Zunächst machte sie Eindruck auf die Teile der Jugend, die nicht in den streng auslesenden Bünden Platz fanden. Die Bejahung jugendlicher Kraft, ohne Preisgabe der inneren Zartheit, die stolze ausschreitende Haltung, die Art zu wandern, die Tracht, das Volkslied, das Du innerhalb der Bünde und zwischen allen, die irgendwoher das »Gemeinschaftserlebnis« kannten, und vieles Drum und Dran der Wandervogelsitte: es wurde von zahlreichen Jugendgruppen nachgeahmt. Freilich meist äußerlich; so schmerzlich es den Angehörigen der alten Bünde war, diese Formen begannen Gemeingut auch solcher zu werden, die die inneren Bindungen an die Jugendgemeinschaft nicht anerkannten und nicht nach dem Auslesetypus geartet waren, auf den es ehedem angekommen war. Im Kriege bereitete sich das alles vor; bei Kriegsende wurde eine allgemeine Erscheinung daraus. Der zweite, unbeabsichtigte Erfolg der Jugendbewegung im Krieg wurde schon erwähnt: die Jugendpfleger nahmen von ihr Kenntnis, billigten den Gedanken der Selbstbildung und des Eigenlebens der Jugend und suchten die Jugendpflege im Geiste der Jugendbewegung zu erneuern. In beiden Erfolgen lagen Aufgaben und Gefahren. Die Jugendbewegung hat in Zukunft erzieherische Verantwortung nach außen auf sich nehmen müssen. Sie hatte auf einmal Anhänger, die den Geist der Bewegung nur teilweise begriffen, ihn mißverstanden, und die also erzogen werden mußten. Die Jugendbewegung sah sich selbst, ohne es zu beabsichtigen, vor die Aufgabe gestellt, in der Jugendpflege mitzuarbeiten. Sie hat das nach dem Krieg versucht.

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Und Gefahren: denn Verflachung ist nicht zu vermeiden, wenn Mengen von Anhängern und Nachahmern entstehen. Von der Selbstzucht und Strenge der alten Bünde, die im Stillen gelebt hatten, wußte die Öffentlichkeit nichts; von dem lauten und äußerlichen Wesen der Nachahmer erfuhr sie bald mehr als gut war. Der Gemeingeist der alten Jugendbewegung wich, man betonte die Unterschiede, und aus dem jungen »Volk im Volke« wurde ein kaum übersehbares Gewirr ganz verschiedenartiger, ja feindlicher Gruppen. (…)

10. Arnold Bergstraesser : Die Jugendbewegung und die Universitäten (Auszug), in: Jugendbewegung und Universität. Vorträge auf der Tagung deutscher Hochschullehrer in Weimar 1927, Karlsruhe 1927, S. 1 – 27. Die Jugendbewegung hat eine Geschichte. Ihr Problem hat einen Ablauf und strebt einem Ende zu. Sie ist etwas in historischem Sinne Einmaliges, das der krisenhaften einmaligen Situation unserer Gesellschaft zu Beginn des Jahrhunderts zugehört, und zwar unserer deutschen bürgerlichen Gesellschaft. Der Ursprung der Jugendbewegung ist durchaus im deutschen Bürgertum allein zu suchen. (…) Die Erfahrung eigenen inhaltreichen Lebens von Jugend unter sich ist nichts Neues. Das bei der Entstehung der Jugendbewegung Entscheidende besteht aber darin, daß dieser eigene Lebensbereich als solcher innerhalb des seelischen Haushalts des jungen Menschen eine Geltung erwarb, die dominierend wurde und zwar dominierend allen anderen einwirkenden Mächten gegenüber. Mit der Entstehung eines wertbetonten Selbstbewußtseins der Altersstufe, mit dem Glauben an die eigene Mächtigkeit, ja an die Höherwertigkeit des jugendlichen Lebens beginnt die Bewegung. Von da an ist der Wille zu einer autonomen Gestaltung ihre leitende Idee. Als das Schicksal des Versuchs der Autonomie ist sie zu begreifen. (…) Die Formel des Jugendtages auf dem Hohen Meißner im Jahre 1913 suchte die Idee der Bewegung in dem Willen zu verstehen, das eigene Leben »mit innerer Wahrhaftigkeit vor eigener Verantwortung nach eigener Bestimmung« zu führen. Die materiale Inhaltslosigkeit dieser vielen Interpretationen ausgesetzten Formel ist evident. Aber hinter ihr stand gleichmäßig empfunden und gleichmäßig bejaht ein Ethos der Echtheit. (…) Diese zur Freiheit autonomer Lebensgestaltung entronnene Jugend suchte in der Gemeinschaft einen Weg, auf dem die Ich-Bezogenheit ihres Lebens überwunden und ihrem individuellen Dasein ein zugleich entlastender und erhöhender allgemeiner Sinn zuteil werden könnte: ein oft sehr hoffnungsloses aber

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desto stärker brennendes Verlangen nach überpersönlicher Bindung, Ordnung und Erfüllung. Alle Versuche geistiger Orientierung, alle Versuche in der Geschichte der Philosophie, der Dichtung und der Religionen Kronzeugen und Ahnen für diese Sehnsucht zu suchen, bedeuten, daß die Bewegung letzten Endes und mit Entschiedenheit, wenn auch in sehr allgemeinem Verstande, auf das Religiöse gerichtet ist. Der Radikalismus des Autonomiegedankens wurde darum nach dem Kriege sehr folgerichtigerweise von ursprünglich christlichkirchlichen Verbänden in abgewandelter Form wieder aufgenommen. (…) Die Revolution von 1918 war ihr nicht als politisches, sondern als kulturelles Ereignis von Bedeutung. Wegen seines kulturellen Hintergrundes und seiner scheinbar dem gemeinschaftlichen Erlebnis Ausdruck gebenden antiindividualistischen Theorie ergriffen Teile der Bewegung Partei für den Kommunismus. Auf die Gesamtheit des Lebens und der Lebensführung gerichtet hat die Bewegung in ihrer kulturkritischen Periode, gejagt von der Unbedingtheit ihres Wahrheitsuchens alle denkbaren Lösungsversuche des Autonomieproblems theoretisch und praktisch erprobt. Mit der Loslösung von allen Traditionen der objektiven Welt, von Kirche, Wissenschaft und Philosophie, sollte gewissermaßen von neuem die Welt geschaffen werden. (…) War einmal der Ablösungsvorgang der Person von den Bindungen der Gesellschaft bejaht, so war auch die Frage erhoben, worin nun das Leben seinen Halt finden könne. So sehr die Meißner-Formel von 1913 zum Sinnbild eines seelischen Ethos geworden ist, war sie doch geistig höchstens im Sinne einer Metaphysik des Gewissens verstehbar. Sie ließ Unklarheit über jede Ordnung inneren und äußeren Lebens und lehnte dessen heteronome Gestaltung ab. Darum ist für jede Art konfessioneller Gemeinschaft erst in der späteren Periode der Bewegung Platz. Und auch für die katholische Jugendbewegung ist, wie Sie des näheren hören werden, das Verhältnis von Autorität und Freiheit, die Beziehung ihrer Gemeinschaften zur kirchlichen Hierarchie und zum Dogma zur entscheidenden Frage geworden. Noch jetzt gibt es Angehörige der Bewegung, die überzeugt sind, jemand, der wahrhaft zu ihnen gehöre, könne kein wahrhafter Katholik sein. Dort, wo zum Mindesten in der Fiktion Autonomie aufrecht erhalten werden sollte, blieb nur zweierlei übrig: Erziehung zur Freiheit echt philosophischer Haltung oder Herausbildung einer religiös bindenden Ordnung in den eigenen Reihen. (…) Es scheint mir, als sei unter dem Einfluß der allgemeinen geistigen Entwicklung unseres Vaterlandes erst die dem Kriege und der Revolution folgende Generation des innersten Strebens der Bewegung ganz inne geworden, die auf Bindung und Bildung des Menschen gerichtet ist. Die Altersschicht, die den Krieg in den ersten Entwicklungsjahren erlebt aber nicht mehr mitgemacht hatte, zog sich vor der politischen Krise, in der die Älteren zerstreut worden waren, zurück in die Ausschließlichkeit ihres gemeinsamen Lebens. Es entstand ein neuer Versuch seiner autonomen Gestaltung. (…) In der Auseinanderset-

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zung mit der Gesellschaft, mit der sozialen Umwelt war man hier einer Sekte, dort einer Kirche, dort einer Partei verfallen. Man hatte sich in irgendeiner Form der bürgerlichen Gesellschaft eingegliedert. Nun kehrten die jüngeren zurück zum jugendlichen Spiel, in dem sich trotz aller Phantastik doch der Ernst einer menschenbildnerischen Bereitschaft verkörpert. Ich sage Bereitschaft, denn auch hier, wie immer, erzeugt das jugendliche Alter nur die seelischen Kräfte, nicht die geistigen Formen. Die Gefahr dieser Entwicklung liegt nicht in den Träumen, die als eine gute Saat jenem Alter angemessen sind, sondern sie liegt in dem bewußten Festhalten an der Gemeinschaft, an ihrem Gehalt und ihrer Dauer. Und in der Erschwerung jeder Lösung und freien Entwicklung durch ihren autoritären Aufbau und ihren sektenähnlichen Charakter. Die Folge der Verletzung des erzieherischen Grundsatzes der Freiheit ist Unzugänglichkeit gegenüber allen die Gemeinschaft und ihre Geltung bedrohenden Eindrücken und damit die Gefahr des Zurückbleibens in der geistigen Entwicklung, der Verlängerung der Jugend, der Verzögerung der Reife. Jede solche Starrheit rächt sich. (…) Aber wenn sich auch die Erkenntnis eines entstehenden Widerspruchs zwischen den selbst geschaffenen Formen und dem Geiste der Wahrhaftigkeit anbahnt, ist doch eine produktive Loslösung sehr schwer, wenn nicht die Führer selbst sie vollziehen. Sie würden sich damit entschließen, das als solches ja doch unverlierbare Erlebnis der Gemeinschaft erst zu seiner vollen Wirkung, die Stufe des Jugendalters durch ihre Überwindung erst zu ihrem Sinn zu erheben. Hier ist im Kleinen das für die Bewegung aktuelle Problem als Aufgabe gestellt: sie zu ihrem Ende hinzuführen. Das bedeutet die Auflösung ihres in selbstisolierendem Protest beruhenden revolutionären Charakters. Der oft in prometheischer Praetention verkündete Versuch der Autonomie ist in allen seinen Formen mißlungen. (…)

11. (Jo)Hannes Aff: Kriegszeit und Kriegsnöte (Auszug), in: Der Wanderer. Sonderausgabe »Fünfundzwanzig Jahre Bund Deutscher Wanderer«, 25. Jg. 1930, S. 28 – 32. Als wir am 18. Juli 1926 auf Burg Ludwigstein standen und den gefallenen Brüdern unsere Stube weihten, da gingen Blick und Gedanken auch hinüber zum Hohen Meißner. Wieviele von Euch waren dabei damals, Ihr nahmet auf Euch den Schwur und hieltet ihn bis zum Tode! Und als wir nach zehn Jahren wiederkehrten, da waret Ihr nicht mehr ; Ihr leuchtetet uns aus der Flamme auf Bergeshöhe und wir erneuerten Euch das Gelübde. – Nun schlossen wir den Ring

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– wie bei so manchem Oster- und Sonnwendfeuer – und traten zu Euch mit Beten vor Gott, den Gerechten. …. Strahlte nicht auch das Hohe-Meißner-Erlebnis auf unseren Bundestag 1914 in Quedlinburg aus! Welch eine Kraft, welch eine Verbundenheit zeigte sich doch beim Einholen unseres Häuptlings, beim Thing und draußen auf den Höhen beim Spiel! (…) Kraft und Stärke empfand man im Gedenken an den Hohen Meißner, im Erinnern an die Sonnwenden. So klang es immer wieder aus den Rundbriefen unserer Gruppe, und so war es wohl allerorten. Ein Wort von Freund Ludwig, der von der Wildnis-Sonnenwend eine Karte erhielt, sei noch hierher gesetzt: »Ich habe die Karte beständig bei mir und halte sie manchmal in Händen. Mit ihren angebrannten Ecken gibt sie mir ein Gefühl von Feierlichkeit, und Freude steigt auf. Das Meißner Feuer lodert vor meinen Augen wieder auf und ebenso die Sonnwend in L. Die Gelöbnisse dieser Stunden und das wohltuende Empfinden der Freundestreue in der Ferne lassen mir das Blut in den Adern schneller rinnen. So wird mir das kleine Blatt ein Talisman im Kriege, kräftiger als je ein Zaubersegen der Vorzeit.« (…)

12. Walter Dirks: Ende der Jugendbewegung? (Auszug), in: ders.: Erbe und Auftrag. Gesammelte kulturpolitische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1931, S. 26 – 30. Die katholische Jugendbewegung ist verständlicherweise heute nicht mehr das, was sie in den Jahren um 1920 gewesen ist. Man kann sagen, daß sie, sofern man sie als einheitliche und geschlossene Bewegung betrachtet, einige Jahre später »zu Ende« gegangen ist. (…) Die alten Kernforderungen des Ethos der Bewegung wurden dabei von den meisten einzelnen durchaus festgehalten. Auch jetzt noch wollte man Wahrhaftigkeit und eigene Verantwortung, setzte der Künstlichkeit der modernen Bedürfnisse Einfachheit und Natürlichkeit entgegen, und bekannte sich der zeitgenössischen Zerrissenheit gegenüber zur Gemeinschaft, dem zeitgenössischen Egoismus gegenüber zum Opfer. Aber diese Forderungen waren nicht mehr Forderungen an die Kulturwelt und Waffen gegen sie, sondern Forderungen, die jeder an sich selbst stellte. Das Ethos der Jugendbewegung war privatisiert: im ganzen eine heilsame und notwendige Besinnung. Trotzdem war durch den Beruf der Kontakt mit der Welt gegeben. Manche hatten die Möglichkeit, an ihrem Berufsplatz im Sinne ihrer Forderungen zu arbeiten; von den weniger Glücklichen hielten viele die Spannung zwischen dem, was ihr Ethos von ihrem Berufsplatz forderte, und dem, was ihnen darin die Umstände er-

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laubten, sauber aus, andere überließen den Berufsplatz der rauhen Wirklichkeit, verzichteten auf seine Bewältigung vom Ethos der Bewegung her und lebten dafür ihre Ideale in einer privaten Welt neben der Berufswelt aus. Wenn hier alle diese Feststellungen in der sprachlichen Form der Vergangenheit statt in der der Gegenwart gemacht wurden, so soll das zwar nicht bedeuten, daß heute nicht mehr so gelebt werde, aber es soll andeuten, daß diese Periode der Jugendbewegung als reif zur Überwindung und von vielen schon überwunden erscheine. Das beste Anzeichen dafür ist die steigende Politisierung der Jugendbewegung. Indem sie sich mit Politik befaßt, befaßt sie sich wieder mit dem Ganzen. Es hat immer politisch Interessierte in der Jugendbewegung gegeben, aber während es bisher nur bestimmte Gruppen waren, die obendrein meist im Sinne gewisser unmittelbar ethischer Forderungen Politik machten (Pazifismus, Bodenreform, Sozialhilfe), sind es heute auch gerade die Zurückhaltenderen, die sich um die Politik zu kümmern beginnen, und zwar um die Gesamtpolitik als solche. Es dürfte schwer sein, das Gewicht der verschiedenen Gründe für diese Erscheinung gegeneinander abzuwägen. Ob es mehr innere Gründe sind, ob die Zeit der Besinnung und Kräftigung am eigenen Arbeitsplatz eben abgelaufen ist und die Kraft zum Vorstoß nach außen sich wieder angesammelt hat, oder ob der Anstoß mehr von außen und aus der Zeit heraus kommt: jedenfalls scheint der Augenblick zu einer neuen Begegnung mit der Gesamtwelt als solcher (statt mit Einzelumständen) und damit auch zu einer neuen Gemeinsamkeit der Jugendbewegung als solcher gekommen zu sein. Die positiven politischen Bewegungen, denen die jungen Menschen vertraut und denen sie geholfen hatten, denen sie vielfach auch die Politik ganz selbstverständlich überlassen hatten, die Bewegung zur Republik und Demokratie gegen die Reaktion, zur Verständigung gegen den Haß, zum Wohlfahrtsstaat gegen die Ausbeutung, sind »abgelaufen«. Das will nicht sagen, daß sie falsch oder erledigt seien, aber doch, daß man mit ihnen nicht mehr weiterkommt, daß sie geleistet haben, was sie leisten konnten, und nun offenbar machen, daß man mit ihnen die Krise nicht meistern kann. Aus dem Aspekt einer langen, schwierigen, aber im Grunde in der Erkenntnis schon gelösten Aufgabe ist wieder der Aspekt der echten Krise geworden. Vielleicht ist es dies Erlebnis der echten Volks- und Gesellschaftskrise, was die Jungen heute politisch aufgerufen hat. Hat nun die Jugendbewegung dieser Krise gegenüber etwas Eigenes und Einheitliches zu sagen? (…) Geht nicht die Forderung der Wahrhaftigkeit zentral gegen jeden ideologischen Begriff und gegen jede ideologische Wertsetzung? Geht nicht die Forderung nach eigener Verantwortung zentral gegen ein System, das dem wirtschaftenden Menschen die Wirtschaftsverantwortung entzieht und das der wirtschaftenden Gesellschaft nicht ermöglicht, die Wirtschaft Gott und dem

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Menschen gegenüber zu vertreten und zu verantworten? Ist nicht vom Willen zur Gemeinschaft aus eine Wirtschaft zu erstreben, die aus der Tatsache der Kollektivarbeit die sittlichen Konsequenzen zieht? Die Jugendbewegung ist daran, das zu begreifen. Wenn sie hier anpackt, dann fällt sie nicht einseitig auf das »Sondergebiet« der leidigen Politik herein, sondern dann setzt sie in realerer Form genau das fort, was sie bei ihrem Aufbruch vor mehr als zehn Jahren begonnen hat. Dann ist die Jugendbewegung nicht vor dem Ende, sondern vor einem neuen Anfang. Er fordert von ihr auf der einen Seite die Besinnung auf den Kern, die Offenbarung, das Evangelium, die Ausrichtung, die jeder Christ durch das sentire cum ecclesia und das sakramentale Leben erfährt, auf der anderen Seite die rücksichtslose Tatbestandsaufnahme, die Analyse der bestehenden Wirtschaft und Gesellschaft, und verlangt von beiden Seiten her ganz im Sinne des ersten Anfangs die ernste und wahrhaftige Bemühung um ein vertretbares Ziel, und allen Kampf, alle Arbeit und jedes Opfer, den der Weg zum Ziel verlangt.

13. Christian Hallig: Was bedeutet uns Jugendbewegung? (Auszug), in: Das Junge Deutschland. Überbündische Zeitschrift des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände, 25. Jg. 1931, Heft 7, S. 464 – 468. Wir waren Geführte. Über uns kam die Jugendbewegung, riß uns mit – regte uns zu Widerspruch an – oder ließ uns kalt. Wir waren nicht Führer. Wir haben nicht mitdebattiert auf dem Hohen Meißner, wir haben keine Entwicklungslinien ziehen helfen, für uns gab es keine langen Auseinandersetzungen mit der Umwelt, denn die Ideen der Jugendbewegten hatten sich unter der jungen Generation, unter uns bereits verbreitet, waren vielleicht schon verwässert, als wir mit ihnen bekannt wurden. Für uns lautete die Frage nicht: Philister, Duckmäuser, Mitläufer unserer Feinde, der alten Generation, die hoffnungslos verkalkt hinter dem Ofen hockt und in Materialismus macht, oder Stürmer, Wegbereiter, Zukunftsmensch, Vollmensch. Wir hatten fachlich zu überlegen, ob wir der Jugendbewegung oder dem Sportverein beitreten wollten. Beides bedeutete für uns Schulung der Kräfte, Stählung des Körpers, Einssein mit der Natur. Wie sehnten uns danach, unseren vom vielen Hungern und von Trauerfällen (durch den Verlust des Vaters oder Bruders im Kriege) geschwächten Körper in Licht, Luft und Sonne gesund zu baden; wir wollten erst wieder einmal spielen lernen, nachdem man uns im Kriege mit Haß gegen die Feinde und Bittgesängen für das eigene Heer zu ernsten, vaterlandsliebenden Kindern erzogen hatte.

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Wir waren ja gar keine Kinder mehr. Wir waren vollkommene Erwachsene in Kleinformat. (…) Die Jugendbewegung konnte für uns nicht mehr die Bedeutung haben wie für die Generation vor uns. Sie schlugen die Bresche, auf sie fiel der Spott und der Haß der Alten – bis die Gedanken der Jugendbewegung in etwas veränderter, bürgerlich zugerichteter Form: als Zug zur Natur, Reform der Kleidung, Anerkennung des Körperlichen, in das tägliche Dasein eines jeden übergingen. Mit dieser Verbreitung der äußerlichen Dinge der Jugendbewegung ging eine scharfe Trennung der noch oder wieder Jugendbewegten Hand in Hand. Sie legten ja den Hauptwert auf die Idee, auf den Gedanken – und wurden Opfer der Alten, die die Jugendbewegung bekämpft hatten. Denn die Alten holten sich die Jungen heran und spannten sie vor ihre Parteikarren, bis auf wenige Ausnahmen. Und das war der Tod der Jugendbewegung. Oder ihre Auferstehung. Darüber kann man noch kein Urteil abgeben, das muß die Zeit entscheiden. Eines steht für uns, die wir heute um die Zwanzig sind, fest: Der alte Geist der Jugendbewegung ist in dem Moment begraben worden, wo die parteimäßige Bindung der Jugendlichen begann. (…) Diese jungen Menschen sind für uns Parteimitglieder, sie sind eingeschrieben und tun nun mit. Ein inneres Verhältnis zu den Gedanken der Wandervögel ist bei ihnen unmöglich, weil sie ihr ganzes Dasein auf völlig anderen Grundlagen aufbauen, weil sie die Partei über die Idee stellen, stellen müssen und weil sie eines Tages in die »Posten« hereinrutschen werden, als Gewerkschaftssekretäre oder Redakteure des Parteiblattes. Und dagegen kämpfte ja gerade die Wandervogelbewegung, dagegen redeten ja die, die zuerst die Kräfte der Jugend gegen den Materialismus und die ausgehöhlte Zeit von 1890 bis 1910 zusammenfaßten. Sie redeten dagegen, denn als es soweit war, daß sie Männer wurden und verdienen mußten, wurden sie auch gute Bürger, nahmen sie Stellungen an und heirateten ganz gut bürgerlich. Aus war es mit dem erosgeführten Männerbund, aus mit dem Frei-die-Brust-Hinrecken gegen die Philister. Und das ist die Grunderkenntnis unserer Generation: Eine Jugendbewegung gibt es nicht. Es gibt Jugendbewegungen. Da ist zunächst der uralte, ewig neue Gegensatz der Generationen. Auch eine Jugendbewegung. Die älteste und die jüngste zugleich. (…)

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14. Peter Suhrkamp: Die Sezession des Familiensohnes. Eine nachträgliche Betrachtung der Jugendbewegung (Auszug), in: Die Neue Rundschau, 43. Jg. 1932, Heft 1, S. 94 – 112. Vor einigen Tagen kam ein Mann in mein Büro. Aus irgendwelchen Gründen glaubte ich, einen Bekannten vor mir zu haben. Wir sprachen von Jena in der Zeit kurz nach dem Kriege. Von einem Kreis von Menschen, Aktiven in der damaligen Jugend. Über Streitpunkte auf der Führertagung der Freideutschen Jugend 1919. Von Jugendlagern auf thüringischen Burgen, über Siedlungsversuche und ihre Bankrotte. Wir sprachen, wie man mit Menschen, die man gut kennt und mit denen man eine gemeinsame Zeit hatte, spricht: lebhaft und lässig und eine Spur intim; Andeutungen in einem Jargon genügten, um ein Problem zu beleuchten. Alles in unserm Gespräch stimmte auffällig zusammen, es klappte ausgezeichnet. Unsere Äußerungen über die Gegenwart und die heutige Jugend bestanden nur noch aus Handbewegungen, und wir verstanden uns. (…) Jetzt, wo ich wieder an diese Begegnung denke, erscheint mir mein Irrtum zu Anfang keineswegs mehr merkwürdig. Der Mann hätte sehr gut einer von meinen Bekannten aus jener Zeit sein können. Sie standen alle in der Jugendbewegung, hatten teilweise Namen unter der Jugend, ihr Ernst und ihr Eifer verhieß eine Zukunft. Viele nahmen ähnliche Wege und sind heute ähnliche Menschen. Ich treffe sie nicht ungern. Ihre Lauterkeit ist sehr angenehm. Mit allen spricht man in derselben Art, mit einer Art Arm-in-Arm-Kameradschaftlichkeit. Sie gehen alle Probleme mit Persönlichem, fast möchte man sagen: Intimitäten an; ihre Gedanken sind verkleidete Triebe; in ihren Diskussionen tritt Privates als Weltanschauung auf; sie nehmen noch immer ihr Sein als Tat. Die Zeit von der Kundgebung auf dem Hohen Meißner am 11. und 12. Oktober 1913 bis zum Kriege ist für sie die heroische Zeit in der Geschichte der Jugend. An der Art, wie sie davon sprechen, spürt man, daß dort ihr Leben liegt. Und wenn Namen von Führern aus der Jugendbewegung genannt werden, sieht man, daß sie noch der Heldenverehrung anhängen. Ohne Helden fühlen sie sich nichts. Sie fallen ab. Sie machen sich aus dem Staube. Die Schwierigkeiten, die Gefahren und die harte Gesetzmäßigkeit der Realität haben sie niemals begriffen. Ich habe beobachtet, daß diese Menschen noch immer von gewissen anderen Menschen gehegt und gehätschelt werden, man nimmt sie heimlich immer noch als nicht ganz erwachsen. (…) Heute betrachtet, zerfällt das, was mit dem einen Wort »Jugendbewegung« bezeichnet wird, in drei Momente: die Sezession der Jugend (woheraus und welcher Jugend soll hier zunächst noch nicht beachtet werden), eine philosophische Deutung der Jugend (in Verbindung mit einer Schulbewegung) und eine

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Literarisierung der Jugend. Alle drei Momente wären für den heutigen Betrachter eines, wenn die »Jugendbewegung« durchgekommen wäre, wenn die Jugend in ihrem Aufbruch nicht an der Jugendphilosophie und der Literatur gestrandet wäre, wenn dieser Aufbruch der Strom vitaler Kräfte gewesen wäre, der Philosophie und Literatur in sich auflöste und mitnahm. Wie das Resultat nun aber ist, sind die drei Momente zu trennen. (…) Es konnte nicht ausbleiben, daß die Wandervogelbewegung in Berührung kam mit einer gleichzeitigen Schulbewegung. Jener Schulbewegung, die in Landerziehungsheimen und Freien Schulgemeinden ihre Domizile hatte. Sie hatte zunächst kein weiteres Programm, als ein jugendgemäßes Leben für die Jugend, zu ihrer Gesunderhaltung. Die Städte hatten nicht nur keinen Raum und keine Luft für das Gedeihen ihrer Jugend, sondern der Lebensstil der Städte entwickelte keine Formen und bot keine Inhalte für das Leben ihrer Jugend. Die Jugend in den Städten lebte kümmerlich und vergreiste früh. Verständige Männer hatten also die Idee gehabt, ländliche Domizile eines jugendgemäßen Lebens für die Stadtjugend einzurichten, in Verbindung mit Schulen. (…) Erst in den Schulgemeinden wurde zu der Jugend eine Jugend-Philosophie hinzuentdeckt. Es wurde über »die Jugend« als einen Lebensstand (nicht ein Lebensalter) philosophiert. Jugend galt nicht mehr als ein Provisorium in der Gesellschaft der Erwachsenen, sondern als eine eigene, vollwertige Gesellschaft neben der bürgerlichen Gesellschaft, mit »Eigen- und Selbstwert«. Eine jugendliche Welt neben der Alterswelt wurde entdeckt. Und sogleich wurde die Möglichkeit einer Revolution der Altersgesellschaft durch sie ins Auge gefaßt. (…) Eine Revolution der »besseren Söhne« oder des »besseren jungen Herrn« pflegt darin zu gipfeln, daß sie den Lebensgewohnheiten ihrer Kaste entweder bübisch ins Gesicht schlagen oder sie etwas säuerlich mit Weltanschauung bekämpfen. So ist es also nicht auffällig, wenn ein Teil der Jugendphilosophie, welche jene Lehrer der Landerziehungsheime entwickelten, in Protesten »gegen die Geselligkeit, die Moral und den Geschmack der Erwachsenen« aus Weltanschauung bestand. Diese Formel: »Gegen die Geselligkeit, gegen die Moral, gegen den Geschmack der Erwachsenen« ist auf dem Hohen Meißner 1913 am Gründungstag der »Freideutschen Jugend« entstanden. Dort fand die entscheidende Begegnung zwischen der Wandervogelbewegung und der Schulbewegung statt. Das Gelöbnis der Jugend vom Hohen Meißner heißt: »Die freideutsche Jugend will aus eigner Bestimmung vor eigner Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.« An dieser Formulierung fällt die unjugendliche Überrecktheit auf. »Absolute geistige Freiheit – vorbildloses Leben – gegen die trägen Gewohnheiten der Alten!« das sind andere Forderungen aus dem Programm der »Freideutschen Jugend«. Die Begegnung auf dem Hohen Meißner war für die Jugendbewegung verhängnisvoll, verhängnisvoller als der Krieg und alle Parteiungen der Jugend in

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der Nachkriegszeit: denn die wandernde Jugend war von der Schulbewegung geblendet und sie wurde verwirrt. Die Bevorzugten, die Begünstigten (»adlige Jugend« nannte sich die Schulgemeinde-Jugend) wurden bewundert. Die Führer der Schulbewegung waren ihre Helden. Es lag in ihrem Wesen, daß sie von Verehrung für sie überwältigt war. Die Philosophie war ihr wohl zu schwer und zu dunkel, aber sie mußte sie begierig aufnehmen. Die Neugier auf die Wunder der Welt dieser Zeit, die Unbekümmertheit, das Freibeutertum in Sinnen und Gedanken, die Stromerzeit, der Jugendwahnsinn wurden nicht befriedigt, sondern mit Lasten belegt. Die Abstraktion, die ihr geboten wurde, befreite sie nicht, sondern schlug sie in die Fesseln ihres Zustandes. Sie befand sich in der Lage Sauls: sie war ausgezogen, um eine Eselin ihres Vaters zu suchen, und ihr war eine heimliche Krone aufgedrückt worden; sie hatte Sinnenfreuden, Weltlichkeit gesucht, und ihr war eine Würde und eine Mission gegeben worden; fessellose, unvernünftige, begeisterte Lust auf die Welt hatte sie hergetrieben, und mit einem heimlichen Traum von Macht, der Würde, Straffheit, Selbstzucht, heroische Nüchternheit von ihr verlangte, wurde sie entlassen. Ich kann mich noch genau an unsere Verfassung in jenen Tagen erinnern: an die plötzlichen, flammenden Begeisterungsausbrüche und an die schwelende Unfreiheit und das schlechte Gewissen. Und an unsere gereizte Empfindlichkeit gegen entblößte Körperlichkeit; die Merkmale des Kleinbürgerlichen, die plebejische Rasse der Körper quälte uns. In der Nacktheit war damals noch mehr selbstquälerischer Paroxysmus als Sinnenfreude. Gewiß waren jene Tage eine einzige Folge von Räuschen, aber das ist kein Widerspruch, denn das Schuldgefühl verleiht nicht selten ähnliche Räusche wie das Herrschaftsgefühl. Von da ab herrschte das Schuldgefühl in der Jugendbewegung auf eine verhängnisvolle Weise. Von da ab war Dostojewski bei der Jugend Mode. Von da ab war man voll ehrlicher Bewunderung für den russischen Geist und aufnahmebereit für alle Ideologien und Schöpfungen östlichen Geistes. (…) Die Jugendbewegung hat im Weltkrieg ihr Ende gefunden. Das soll nicht heißen, daß der Weltkrieg sie beendet hätte, sondern – der Weltkrieg wurde ihr Grab. Denn – nach dem Weltkrieg gehörte die Jugendgeneration aus den Anfängen der Jugendbewegung nicht mehr zur Jugend, eine neue Generation war jetzt Träger der Bewegung. Ganz allgemein wird in der Betrachtung von historischen Bewegungen die Ablösung unter den Generationen zu wenig beachtet. Ideen und Impulse werden nicht weitergeboren. Eine neue Generation übernimmt immer nur Äußerlichkeiten und Gesten von der vorigen, die Impulse und Tendenzen sind wieder andere. Und niemals vielleicht waren Einschnitte so deutlich wie am Ende des Weltkriegs. Die neue Jugendgeneration hatte nichts von der frischen Unbefangenheit, der naiven Neugier, der Lust auf die Welt, mit der die vorige Generation ihren Auszug angetreten hatte. Vor allem hatten die Kinderjahre für sie nichts von Sicherheit, Bestand, trächtiger Zukunft und

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verlockender Weite gehabt. Und selbst alltägliche Ordnungen waren in diesen wichtigen Jahren unsicher gewesen. Diese Generation trat vital und moralisch schon geschwächt auf den Plan. Sie hatte kein Vertrauen ins Leben, und sie blickte sauer. Durch die Umstände war in ihrem einfachen Sein schon die negative Komponente besonders betont. Zu allem kam noch, daß sie gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch ein Chaos vorfand. Sie nahm die Äußerlichkeiten: die Wanderungen, Jugendlager und Jugendtagungen wieder auf, sogar weit intensiver. Sie gebärdete sich auch wie unabhängige Bürgersöhne, die Ansprüche anmelden. Aber die Sabotage der Kultur, die es vor dem Krieg nur in äußeren Dingen gegeben hatte, war nun eine allgemeine geistige Epidemie. Und vollends schied eine Sucht zur Selbstverneinung, eine Selbstverachtung, die oft bis zur Würdelosigkeit ging, sie von der Vorkriegsjugend. Es war nackter Selbsterhaltungstrieb, wenn bald immer neue Gruppen dieser Jugend sich unter ein positives Programm, von welcher Seite immer es ihnen geboten wurde, retteten. (…)

15. Karl Rauch: Schluß mit junger Generation! (Auszug), Leipzig 1933, S. 8 f. (…) Das gesamte wache Deutschland horchte auf, als im Herbst 1913 diese junge Generation unter Führung der alten Wandervogelkämpen das Fest ihrer eigenen Lebensform, ihrer heimlich-offenen Verschwörung auf dem Meißner beging und damit zweierlei besiegelte: die Absage an die erstarrte Oberflächlichkeit, an die Hohlheit des offiziellen, des alten Deutschland der Vorkriegszeit, an die Unwahrhaftigkeit, mit der die herrschende Schicht des kleinen Bürgertums Dumpfheit einfing, um vor Leipzigs Toren die Jahrhundertfeier der Befreiungsschlacht mit Redeschwall, Zylinder und Ordenssegen zu begehen, während ringsum die wachen Augen der Jugend zuinnerst wußten, daß auf Leipzig und Waterloo das Stickluftregiment der Metternichaera gefolgt war und dieses eben Jene, die Träger der Befreiungskriege, die Burschenschaftler, denen diese Jungen hier blut- und wesensgleich sich fühlten, bis ins ferne Ausland hin verfolgt und unterdrückt hatte; – zum zweiten aber das Gelöbnis eines eigenständigen Gesetzes der Jugend, das als Meißnerformel in die Geschichte eingegangen ist und, was immer seither die Historiker der deutschen Jugendbewegung darüber bekundet haben mögen und weiterhin zergliedernd noch feststellen werden, in epochaler Weise sichtbar werden ließ die erlebnishafte Existenz eines jungen Deutschland, das anders war als das offiziell wilhelminische samt allem, was in dessen Schatten stand. Kein Jahr verging, und die Not des Vaterlandes riß fast alle Zugehörigen

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dieser begeisterungsfrohen, wanderfrischen, hölderlintrunkenen Jungmannschaft unter die Fahnen des Heeres, warf sie und ihren unbekümmerten Mut zur Verteidigung der Grenzen an die Front. Was dort geschah, wie vor dem flandrischen Dorfe Langemarck die Regimenter der Jüngsten, der Wandervogelstudenten und -Primaner, singend in den Tod marschierten, ist zum Mythos geworden. Im Gedicht Gerhard Drabschs, das dem Gedächtnis jener trauriggroßen Novembertage 1914 geweiht ist, lebt der Sinn dieses Vorganges weiter, mit dem die Generation Karl Fischers für das, wofür sie in Knabenromantik aufgebrochen war, für ihr erlebtes Bild eines wahrhaft heldischen Deutschland, sich in den Besten ihrer Glieder freiwillig dem Tode gab: … Einst über dem flandrischen Acker stand der Tod. Es kämpften die Knaben freiwillig umsonst, und trauriges Abendröten erlosch nach der vergeblichen Tat. Aber zuvor war das Lied von ihren Lippen gegangen, erbebte die Heimat, und Unsterblichkeit fuhr aus, mit blühendem Kranze allgütig auf Stirn und Helm hinwegzuschmücken das Ekle … (…)

16. Ernst Erich Noth [Paul Albert Krantz]: La Trag¦die de la Jeunesse allemande, Paris 1934 (Auszug); deutsch: Ernst Erich Noth: Die Tragödie der deutschen Jugend, Frankfurt a.M. 2002. Die Jugendbewegung dürfte ihren inneren und äußeren Höhepunkt auf der symbolischen Kundgebung des Hohen Meißner im Jahre 1913 erreicht haben, über der sich schon grollend der Gewitterhimmel des August 1914 zusammenzog. An dieser Pilgerfahrt zum Hohen Meißner nahmen fast alle jugendbewegten Bünde teil, die sich damals schon in Programm und Zielsetzung nicht unerheblich unterschieden. Die gewaltige Kundgebung auf dem Hohen Meißner, äußerlich schon eine stattliche Heeresschau, schien damals noch wie ein Versprechen und eine Mahnung zugleich an ein Volk, das bald darauf aus seiner

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trügerischen Sicherheit tief abstürzen sollte. Während die Bürger in lärmender Begeisterung bei hohlen Reden, im Prunk der Uniformen, im Schwall der wilhelminischen Phraseologie bierbegeistert die Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig begingen, scharrte sich in symbolischer Abseitigkeit vom allgemeinen Rausch die junge Generation auf dem Hohen Meißner zusammen, zu beraten und zu beschwören eine edlere Zukunft, ein neues verjüngtes Geschlecht zu verheißen, das der unverhüllten Dekadenz der Bürgerwelt ernste Forderungen und innerlichere Zielweisungen entgegensetzte. Die Zusammenkunft auf dem Hohen Meißner war auch Fazit und Bilanz, die stattlich genug dünkte. Die Jugendbewegung war eine Macht geworden, die geheim in den Herzen Hunderttausender junger Menschen wirkte, die einen neuen Lebensweg sahen und beschritten. (…) Leider waren diese Fortschritte sehr partieller Natur und müssen den Rückschauenden unbefriedigt lassen, der an die Totalsituation dieser Zeit denkt. Dieser so unablässig bemühten, sich in den schönsten und abwegigsten Teilaktionen erschöpfenden Jugend fehlte das wesentliche Erlebnis, um all ihr Wollen und Planen konkrete und unverlierbare Gestalt annehmen zu lassen, dort, wo Erfolg und Dauer nun einmal einzig verbürgt sind: im Staat, in der Macht, in der Gesellschaft. Wenn auch die Jugendbewegung noch so heftig von Gedanken der Freiheit und des Fortschritts begeistert und ergriffen war, ließen sich dennoch außerhalb ihrer heißen Herzen diese Gedanken nicht realisieren, denn die Kommandohöhen der Entscheidung beherrschten jene »alten« Mächte, die den Weltenbrand entfesselten oder nicht beschwören konnten, und in ihm verzehrten sich ein Jahr darauf all die Jünglinge, die der Granatdonner aus ihren schönsten Träumen riß. Während die Jungen, um »reif zu sein für dies Leben, verantwortungsvoll vor der Zukunft«, um ihre eigene innere Vervollkommnung rangen und Schönheit und Würde des freien, nur in der Verantwortung vor der Gemeinschaft der Kameraden gebundenen Individuums suchten und priesen, bereiteten jene »Alten« die letzten Pläne zum großen Massenmorden vor, in denen der noch so hochentwickelte »Einzelne« nur noch als »Material« galt und gewertet wurde und fürwahr – welch herrliches »Material« war diese Jugend gerade. Als Deutschland zu den Waffen griff, waren die Manifestanten vom »Hohen Meißner« die ersten, die freudig und bereit zu den Fahnen eilten, ihr Schicksal erfüllend, Opfer zu sein. Im kriegerischen, mitreißenden, entfesselten Aufbruch einer Nation dachten die jungen Menschen nicht mehr daran, welchen »Vätern« sie solch Opfer brachten, sie sahen nur ihr Vaterland, ihr Volk und meinten, das geheime Deutschland, von dem sie so nachhaltig träumten, wäre erstanden und erwacht. Diese nationale Erhebung sollte eine Generation zerschmettern. Es gibt eine erschütternde Sammlung von Kriegsbriefen gefallener Studenten. Wer diese Briefe liest, vermag zu ahnen, welch »Material« Deutschland damals verlor.

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Das stattliche Haus, das gebaut war, zerfiel mit dem Krieg. Trümmer blieben, Zertrümmerte kehrten zurück, einem Grauen entronnen, zögernd und hilflos, heimsuchend in einem grauen Alltag, in dem man nicht mehr heimisch werden konnte. Der Weltkrieg wurde allen, die noch ein Bewußtsein ihrer selbst und für die Welt aus ihm gerettet hatten, die große Verneinung und entsetzliche Widerlegung aller vorausgegangenen Bemühungen, und aus dem Eindruck des Verlustes erwuchs das beklemmende Gefühl der Sinnlosigkeit, das die Katastrophe hinterließ. An der Front, im Schützengraben hatten die Angehörigen der Jugendbewegung ihren Einsatz dargebracht, ihre Pflicht und ihr Geschick erfüllt, und die Überlebenden retteten großenteils auch das noch heim, was alle gefunden hatten und das schon im Gemeinschaftsleben der Jugendgruppe in der Vorkriegsheimat erstrebt war : die Kameradschaft – nicht mehr gesucht, sondern erlebt als höchste Realität einer Schicksalsgemeinschaft, Zusammenschweißung unter den harten Tatsachen, bestätigt durch Blut und Entsetzen. Aber die zerfallende, hilfloser Auflösung preisgegebene Heimat ließ auch dies Erlebnis zurücktreten, es galten andere Werte, Dinge und Formeln. (…) Und die Jugend, die der Krieg verschonte und die anonym und unbemerkt, auf jeden Fall bedenklich vernachlässigt während seines Ablaufs im männerleeren Hinterland heranwuchs, wurde zum Zwischenglied dieser Einwirkung, die Jugend kann zum Vollender einer neuen Ordnung werden. Die Jugend ist durch ihr Alter, ihre Zahl und ihre spezifischen Erfahrungen in eine verpflichtende Schlüsselstellung, in den Angelpunkt einer Entwicklung geraten. Der Typus des deutschen Jugendlichen ist von nun an von der Politik ergriffen und geprägt, die alles in sich aufsaugt. Die alte Jugendbewegung ist verschwunden, ihre Überreste gingen in den bereitstehenden und vorgefundenen politischen Organisationen oder in politischen Neugruppierungen auf. In dieser Entwicklung offenbart sich deutlich das tragische Versagen der Jugendbewegung als solcher, die am Mangel eines gesellschaftlich gültigen Programms scheiterte und über die das gesellschaftliche Geschehen vernichtend hinwegging. Die Jugendbewegung suchte ihren Lebensweg durch sich und in sich als Altersstufe, der Versuch einer so großangelegten Emanzipation mißlang wie die Deklarierung des Eigenwertes des Jugendalters, denn nach Kriegsende wurde die Jugend weitgehend nur Werkzeug und Masse in den Händen jener politischen Organisationen, die mit dem zweckvollen Ruf: »Wer die Jugend hat, hat die Zukunft!« den Kampf um die Macht in Deutschland aufnahmen. Der Generationskonflikt, der an der Wiege der Jugendbewegung gestanden hatte, hatte inzwischen durch das große Weltgeschehen, das Alte und Junge gleich einbezog und wandelte, seinen Sinn und Inhalt hinsichtlich des privaten Affektes gegenüber den Vätern verloren. Der Generationskonflikt erfuhr in der weiteren, von der Politik bestimmten und auf sie gerichteten Entwicklung der Nachkriegsepoche eine interessante Umdeutung soziologischer Natur, indem die Jungen das »feindliche

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Prinzip des Alten« von nun an im bestehenden politischen System oder im politischen Gegner schlechthin zu sehen lernten. (…) Bereitschaft zum organisatorischen Zusammenschluß in der Gruppe, die Gefolgschaftsbereitschaft, im Kriege zur Frontgemeinschaft erhärtet, fand nun ihre unter politisch zweckhaften Auspizien stehende Fortsetzung und Überführung in der militanten, zumeist militärähnlichen Organisation der vornehmlich extremen politischen Gruppen. Das Bedürfnis der Jugend, geführt zu werden, das in Deutschland noch stärker als anderswo durch jahrhundertelange Tradition und Gewöhnung ausgeprägt ist, weitete sich zur Anschlußbereitschaft an den politischen Führer aus, der nicht mehr zu Streifzügen durch Wald und Feld, sondern zur systematischen Eroberung gesellschaftlichen Neulandes aufrief. Aber auch vom romantischen Sektierer, vom träumenden Schwärmer am lodernden Lagerfeuer zum Mitglied illegaler Wehrorganisationen, in denen so viele romantische Elemente des Verbotenen und Verschworenen den Jugendlichen anzogen, dem ein erstickender Alltag mit sinnlosem Studium, schlechtbezahlter Arbeit und auswegsloser Erwerbslosigkeit wenig genug zu geben hatte, da ist im Grunde kein großer Sprung nötig gewesen. (…) Diese Feststellungen wollen nicht besagen, daß der Nationalsozialismus den Jugendlichen als Typus einzig für sich reklamiert hätte. Der Nationalsozialismus hat lediglich die größere Masse der Jugendlichen für sich zu erobern vermocht im Gegensatz zu den übrigen, besonders der republikanischen Parteien, die am Mangel an jungem Nachwuchs weitgehend scheiterten. Der Nationalsozialismus hat auch den Typus des Jugendbewegten als solchen keineswegs anerkannt oder gar gefördert, er hat ihn im Gegenteil umgeformt. Die Jugendbewegung als solche fand in dem Augenblick ihr Ende, als ihre Überbleibenden nach dem Krieg in die Politik strebten, und die übergeordneten Prinzipien der politischen Bewegungen sich als stärker erwiesen als die anerstrebte innerliche Einheitlichkeit einer Altersgruppe und Generation, »die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.« Die Jugendbewegung als geschlossener Ansturm einer in sich verbundenen Generation war erledigt, seit ihre Angehörigen sich auf die einzelnen Jugendgruppen der verschiedenen Parteien verteilten. Die Nachkriegsepoche der Spaltung, Parteiung und Zerrissenheit machte vor der Jugend nicht halt, sondern ergriff sie, deren unmittelbares Schicksal auf dem Spiel stand, am stärksten. Aber die Hauptkontingente der politisierten Nachkriegsgeneration sind vornehmlich aus den Angehörigen einer andern, zahlenmäßig viel größeren, ihrem Alter nach viel jüngeren Einheit zusammengesetzt, die nicht mehr am Krieg teilnahm, die aber den Krieg, seine Auswirkungen und Folgen mit mehr oder minder großer Bewußtheit in der Heimat erlebte, und die durch den Einbruch des Krieges vom direkten Einfluß der Ideologie der Jugendbewegung getrennt wurde und ihr auch um ihrer besonderen Erlebnisse willen innerlich fern stehen

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mußte. Aus ihr zeugte sich vornehmlich ein neuer Typus, der im Verein mit dem jungen Kriegsteilnehmer nun zusehends das Gesicht des neuen Deutschland bestimmen wird. (…)

17. Hans-Joachim Schoeps: »Losung des Deutschen Vortrupp«, in: Der deutsche Vortrupp. Blätter einer Gefolgschaft deutschen Juden (hg. von Hans Joachim (sic!) Schoeps), 1. Jg. 1933, Heft 1, Oktober (Vorspann): »Wir jungen jüdischen Deutschen wollen aus uns gewordener Bestimmung, in Verantwortung vor der Geschichte, mit innerer Wahrhaftigkeit das Leben gestalten. Für das Anrecht der deutschbewußten Juden auf Gliedschaft im deutschen Vaterland treten wir unter allen Umständen ein.« Hans-Joachim Schoeps: Das Dritte (Auszug), in: Der deutsche Vortrupp. Blätter einer Gefolgschaft deutschen Juden, 2. Jg. 1935, Heft 1 (Januar), S. 2 – 7.9 Wol ziemt zu schweigen über groß beginnen Noch jeder starke drang will kunde geben – – Taglang ist es mein einzges bestreben Aufs wort für unsern neuen weg zu sinnen. Stefan George: Das neue Reich

Die entscheidenden Dinge der Welt werden erst dann entscheidend, wenn sie mir geschehen. Es hat keinen Sinn, von der Treue als objektivem Wert zu sprechen, wenn mir nicht einmal Treue widerfahren ist. Von Gemeinschaft lässt sich nicht reden, es sei denn, daß sie geschehe, daß ich in ihrem Geschehen mein Wesen habe, weil sie als Geschenk, als Trost, als Überwindung meiner Einsamkeit zu mir gekommen ist. Wer einmal wirklich im Bunde gewesen ist, so, daß er seine Prägung von ihm her hat, kann auch jederzeit bündische Haltung realisieren. Der Jungenbund ist gewiß nur ein Lebenstadium, aus dem der Ältergewordene herauswächst. Aber doch behält er sein Wesen von ihm her und damit die 9 In Jg. 2 Heft 2 des Vortrupp vom März 1935 setzte sich Schoeps erneut mit der MeißnerFormel auseinander, und zwar unter der Überschrift: Vom gesicherten und vom ungesicherten Typus (S. 1 – 9). Er nahm hier u. a. auf Heinz Kellermann vom Bund deutsch-jüdischer Jugend Bezug, der ebenfalls die Meißner-Formel und den Freideutschen Jugendtag 1913 thematisierte. Vgl. Heinz Kellermann: Der Bund, in: Wille und Weg des deutschen Judentums, Berlin 1935, S. 30 – 45. Vgl. nicht zuletzt Irmgard Klönne: Jugendbewegung und Realitätserfahrung: Von der deutsch-jüdischen Jugendbewegung zur Kibbuzgesellschaft, in: Yotam Hotam (Hg.): Deutsch-Jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«, Göttingen 2009, S. 121 – 141.

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Elemente seines Reagierens in den Erfahrungen der Welt, genau ebenso wie das Soldatsein ein Beruf auf Zeit ist, der im wieder Zivilgewordenen soldatische Art auf Dauer hinterläßt. Im Bündischen und im Soldatischen sind Möglichkeiten angelegt, die in den Raum der Geschichte führen. Es ist uns heute darum zu tun, diese Übergänge aufzuweisen und deswegen diese Phänomene zu erhellen. Wir müssen also davon sprechen, was wir erfahren haben. Alle, die an dem Jugendaufbruch teilhatten, der auf dem Hohen Meißner begann und den Namen freideutsch trägt und der sich auf dem Fichtelgebirgstreffen Bündischer Jugend10 und der Langemarckfeier in der Rhön11 vor jetzt 10 Jahren unter Neupfadfindern, Köngenern, Reichsstand und Wandervogel-Jungenschaft wiederholte und sichtbar blieb bis zum Ende der Deutschen Freischar im Sommer 1933, – sie wissen darum, daß im Bunde sein heißt im Dienst stehen. Wir, die wir damals freideutsch waren, waren enthusiastisch Verschworene der Wahrheit. Wir bekannten uns schon früh zu einer Wahrhaftigkeit, die soviel Unbedingheit hat, daß sie den Mut aufbringt, allen Wirklichkeiten der Welt, soweit sie physisch nur irgendwie tragbar sind, ins Auge zu schauen. Zusammenstöße mit der Wirklichkeit müssen gerade dann auch noch ausgehalten werden, wenn sie die tragischen Hintergründe des Lebens offenbaren und die Wirklichkeit sinnlos erscheinen lassen. (…)

18. Heinz Kellermann12 : Der »Bund« (Auszug), in: Wille und Weg des deutschen Judentums, Vortrupp-Verlag, Berlin 1933, S. 30 – 45. Im Jahre 1933, hart an seinem Ende, stand der »Bund«13 auf. (…) In seinem Beginnen war die ganze Katastrophe spürbar, die in das deutsche Judentum eingebrochen ist. (…) 10 Im August des Jahres 1923 schlossen sich bei diesem Treffen bei Weißenstadt im Fichtelgebirge der Alt-Wandervogel, der Wandervogel-Wehrbund, der Wandervogel-Jungenbund und der Schlesische Wandervogel-Jungenbund zusammen. 11 Anfang August 1924 trafen sich rund 2000 Bündische auf dem Heidelstein in der Rhön zu einer Langemarckfeier in Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Vgl. Arndt Weinrich: Hitlerjugend und Pfadfinderbewegung. Schnittmengen und Differenzen am Beispiel des Langemarck-Gedenkens, in: Eckart Conze, Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 53 – 66, hier S. 63. 12 Führer des Bundes deutsch-jüdischer Jugend. Siehe auch Werner T. Angress: Jüdische Jugend im Umbruch nach 1933 – Schule, Freizeit, Beruf, Vortrag 1999, http://www.s-port.de/ david/angress.html, zuletzt aufgerufen am 28. 8. 2014. 13 Gemeint ist der Bund deutsch-jüdischer Jugend.

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DJJG, CV-Jugend, Jugend- und Kinderscharen, Ring, ILI, Synagogengruppen und die »Neuen« schlossen den »Bund«. Es waren damals dreitausend Menschen, nach wenigen Monaten waren es sechstausend, heute sind es rund neuntausend, die den Weg zum Bund gefunden haben. Zu den ursprünglichen Gruppen kamen die Menschen aus den Sportgruppen des RJF, und ein wertvoller großer Teil des »Schwarzen Fähnlein«. (…) (…) Man errechnete bereits den Aussterbestaat und gefiel sich in Unheilsprophezeiungen. Gegen diese Stimmung gab es keine Hilfe durch Gegentabellen und Predigten, hier gab es nur einen schlagkräftigen Gegenbeweis: Den Lebenswillen der jungen Generation. Er wurde durch nichts anderes erbracht als durch unsere Existenz, durch die geschlossene Einheit des »Bund deutsch-jüdischer Jugend«. (…) Wirklichkeit. Sie fing damit an, daß man uns verbot, etwas anderes als Juden zu sein. Wir, Menschen aus deutschen Bünden, Studenten deutscher Universitäten, Schüler deutscher Lehranstalten, Referendare aus deutschen Gerichten, wurden plötzlich Juden kraft Befehl. Türen fielen hinter uns ins Schloß, und wir standen allein auf ungewissen Wegen. Wir haben später einmal unser damaliges Erlebnis als »Existenzjudentum« zu formulieren versucht. Sehr viele von uns waren Juden einfach aus ihrem tatsächlichen Da-Sein heraus. Eine andere Möglichkeit blieb nicht, solange wir lebten oder doch solange wir in Deutschland lebten. Da wir nicht die Flucht wollten, stellten wir uns dem Befehl. (…) (…) Wir liebten das, was uns Deutschland war, immer noch und immer, und auf die Dauer wenigstens schien uns diese Liebe doch den Boden zu brauchen, auf dem sie gewachsen war. Doch wir empfanden auch deutlich die Zwiespältigkeit dieser Liebe und ihre – scheinbare – Einseitigkeit. Wir erfuhren an unserem Leibe das unbeachtete Schicksal jener Frontgeneration, die nach dem Kriege an verschlossene Türen pochte. (…) Wir entdeckten »das andere Deutschland« mit seinem Wahl-Widerspruch: trotz Deutschland für Deutschland (…) Was wir an Deutschem im Elternhaus, Freundeskreis, Bund, Schule, Universität, Lehre, Beruf und eigenstem Erlebnis in uns aufgenommen hatten, mußte auch fernerhin unser Besitz bleiben. (…) (…) auch dort, wo uns Deutschland heute scheinbar zur Fremde wird, darf unser geistiges Interesse nicht versiegen. Wer einmal unbefangen die Schriften der deutschen jungen Generation liest und vergleichsweise die Schriften der deutsch-jüdischen danebenhält, kann oft erstaunliche Ähnlichkeiten feststellen. Der Grund liegt nahe und wird offiziell auch nicht in Abrede gestellt. Er ist darin zu finden, daß die deutsche sowohl wie die deutsch-jüdische Jugend aus der gemeinsamen Jugendbewegung wachsen, die einmal eine Hohen-MeißnerFormel geprägt hat. (…)

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(…) Der bündische Mensch ist der Mensch, der im Bund die Verkörperung jener großen Gesamtverantwortung erblickt und die fruchtbarste Möglichkeit, in der der jüdische junge Mensch in Deutschland ohne die Gefahr seelischer Depression, moralischer Schädigung und geistiger Haltlosigkeit leben kann. Im Bund soll jene »subjektive Emanzipation« gestaltet werden, von deren glücklichem Gelingen es abhängt, ob deutsches Judentum sein oder nicht sein wird. Es ist kein Zufall, aber auch kein Zeichen falscher Assimilation, dass sich der deutsch-jüdische Junge vielfach den Typen des Soldaten zum Vorbild gewählt hat. Das ist ein militärischer Begriff für ihn und nicht einmal ein polemischer. Unter dem Soldaten denkt er sich den Menschen, der – negativ gesprochen – das Gewirr in den eigenen Reihen nicht durch persönliche Disziplinlosigkeit vergrößert. Er denkt – positiv gesprochen – an jenen Schüler, dessen Antwort auf die Frage nach seinen Wünschen uns Martin Buber überliefert: »Ich will keine unvergoltene Gabe, ich will ein gemeiner Soldat sein und wir selber was verdienen.«

19. Knud Ahlborn: Wurzeln der deutschen Jugendbewegung (Auszug), in: Will Vesper (Hg.): Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934, S. 23 – 40. (…) Man hat diese »Meißner-Formel« (…) oft aus ihrem historischen Zusammenhang herausgerissen und zu Unrecht daraus eine Ablehnung aller inneren Bindungen abgeleitet. Genau das Gegenteil ist richtig. Die Freideutsche Jugend hatte ja schon eine ganze Reihe innerer Bindungen: einen ausgesprochenen wertvollen Lebensstil, Bundesgebräuche, praktische Arbeitsfelder, auf denen sie in ihrem eigensten Bereiche Wertvolles und Unantastbares leistete. Es war eine Anmaßung der älteren Generation, dies alles nicht sehen zu wollen und ihr Teilgebiete praktischer Arbeit als hauptsächliche Lebensinhalte und Tatgebiete aufdrängen zu wollen. Dies wurde mit Recht von den damaligen Führern der Bewegung abgelehnt und, da sie sogleich erkannten, daß nun die eigentliche Aufgabe, die der Hanstein nicht gelöst hatte, erst angepackt werden müsse, wurde ein gemeinsamer Arbeitsausschuß mit dem Namen »Hauptausschuß der Freideutschen Jugend« eingesetzt. Seine Aufgabe war es (unter Leitung Knud Ahlborns und Bruno Lemkes und Mitarbeit von Führern der verschiedenen Gruppen und Bünde), bis zum nächsten großen Jugendtreffen neben der Abwehrformel vom Hohen Meißner und dem darin enthaltenen allgemeinen Bekenntnis zu eignener (sic!) Kraft und Verantwortung den konkreten, aus der

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Jugend selbst heraus erwachsenen Plan für die gemeinsame kulturpolitische Aufbauarbeit der Bewegung auszuarbeiten. In der Vorahnung, daß sich an die losgelöste Meißner-Formel allerlei Mißdeutungen und unproduktive geistige Kämpfe anschließen würden, umgrenzte die Freideutsche Bewegung zum Schluß der Meißner-Tagung sich noch einmal, nicht begrifflich, aber tatsächlich und wirklichkeitsgemäß, indem sie erklärte: Zur Freideutschen Jugend gehören nur und ausschließlich die auf dem Hohen Meißner zusammengeschlossenen Bünde, Schulen und solche neuen Gruppen, die in einem förmlichen Aufnahmeverfahren in die Freideutsche Jugend aufgenommen werden. (…) Aber der Ausbruch des Weltkrieges machte alle diese Bemühungen um eine geistige Neuorientierung des jungen Deutschland zunichte, brachte für die allermeisten Führer und Träger der Freideutschen Bewegung den Kampf und das Opfer für die nackte Existenz unseres Volkes und forderte ihr junges, zu höherem und edlerem Schaffen geweihtes Leben. Für diese »erste Welle« der Jugendbewegung gilt das von einem der Ihren geprägte Wort: »Die goldne Frucht im Sonnenschein wollt’ ich erwerben, des Lebens grauer Same sein muß ich im Sterben« (Walter Flex). Der Weltkrieg allein mit seinen Folgen hat die freideutsche Jugendbewegung durch die Vernichtung der sie tragenden Führergemeinschaft nicht zur unmittelbaren Auswirkung kommen lassen. Nur unwissende oder böswillige Gegner der freideutschen Bewegung haben ihr später durchaus zu Unrecht »romantische Weltfernheit« und »problematisierende Verschwommenheit« vorgeworfen und in diesen erdichteten – nur für unwesentliche Kreise am Rande der freideutschen Bewegung zutreffende – Eigenschaften die Ursache ihres Zerfalls gesehen und verkündet. Es ist nicht zuviel behauptet, wenn wir feststellen, daß die Freideutsche Bewegung als Ganzes der graue Same geworden ist, aus dem die lebensvollsten Kräfte der deutschen Erneuerung in der Gegenwart erwachsen sind, vor allem die Kräfte der inneren Gestaltung unseres Volkstums: Der Heimatschutz und die Naturdenkmalpflege, die Erhaltung der alten Bräuche und Trachten, die deutsche Singe- und Laienspielbewegung und die Bestrebungen vernunftgemäßer Lebensführung werden heute noch von ehemaligen Freideutschen oder ihnen gesinnungsverwandten Menschen getragen. Die erste Welle der Jugendbewegung, die sich kraftvoll erhoben hatte und in dem Strudel des Weltkrieges zusammenbrach und zurückgerissen wurde, ist von einer neuen, aus dem unerschöpflichen Kraftmeere unseres Volkes vorflutenden Welle aufgefangen und wiederum vorgetragen worden. Heute stehen die Reste der alten Kämpfer vom Hohen Meißner wieder in der Front, die nun, so hoffen wir, die vollständige Erneuerung unseres Vaterlandes – unter der Führung Adolf

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Hitlers und unter dem Banner des Nationalsozialismus – endlich durchführen wird.

20. Georg Müller : Rings um den Hohen Meißner (Auszug), in: Will Vesper (Hg.): Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934, S. 41 – 62. (…) Rund um den Hohen Meißner. – Tatsächlich ist das, was um ihn herum geschehen ist, wichtiger, als was auf ihm geredet wurde. Nichts Geringeres bereitete sich vor als der große Bund deutscher Jugend. Seine Führer fielen mit wenigen Ausnahmen. Die Überlebenden fanden nach der Rückkehr eine ihnen fremde Welt. Mitten aber durch das Stimmengewirr freideutscher Auseinandersetzungen, mitten durch das bunte Getön all der tausend späteren Bündchen und Grüppchen, mitten durch das laute Geschrei der an der Jugend interessierten Parteien, Konfessionen und Berufsstände retteten einige größere Bünde den besten Teil der alten Erlebniskräfte in die Tage des Anbruches des Dritten Reiches hinüber. Der Wandervogel ist heute eingegangen in die große Jugendgenossenschaft, die den Namen unseres Führers trägt, und in die Wehrbünde, die hinter ihm stehen. (…) Die Jugend des Wandervogels hat den Bann nicht brechen können, den marxistisches Denken und schwungloses Philistertum einer großen Zahl unserer Volksgenossen auferlegt haben. Sie selbst ist oft genug Verführungen von allerlei Art erlegen. Den Bann zu brechen, die Verführungen zunichte zu machen, mußte ein großes, die Volksgesamtheit erfassendes Geschehen kommen. Nun, da es da ist, gilt es aufs neue, Brunnen in die Tiefe zu graben, damit das marschierende Volk, damit das Heer der Männer und Knaben nicht dürste.

21. Friedrich W. Hymmen: Vom Hohen Meißner nach Potsdam? (Auszug), in: Wille und Macht, 3. Jg. 1935, Heft 12, S. 13 – 19. (…) Heute erkennen wir immer deutlicher, wie unzureichend, ja verderblich auch die Meißnerformel war : »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.« Vor »eigener« Verantwortung – ein Schritt rückwärts. Geschichte läßt sich nur gestalten, wenn man sich vor der Geschichte verantwortet. Aber in dieses Gefäß konnten alle möglichen und entgegengesetzten Inhalte gefüllt

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werden, und es war ein peinlicher Schlag, als Ende 1913 ein katholischer Redner in München behauptete, daß diese Meißnerformel jede katholische Korporation, ja, jeder vernünftige Mensch annehmen müsse. Gewiß war der Meißner ein Fanal, aber es fehlte die Konsequenz, gewiß war hier eine Auslese gesunder, strebender Jugend versammelt, aber an Redner ausgeliefert, ohne Führer. Nur ganz selten klingt ein Satz aus den Ansprachen des Hohen Meißner bei uns an (Es sprachen u. a. Pfarrer Traub, Wyneken, Knud Ahlborn, Avenarius) – geschweige denn, daß wir hier den ersten Ursprung unserer eigenen Bewegung sähen, etwa die »erste Manifestation des Dritten Reiches«. (…) Die traurigste Zeit der Jugendbewegung ist wohl die frühe Nachkriegszeit, etwa bis 1924. Man faßt sich an den Kopf, wenn man an das Jungentum dieser Jahre zurückdenkt. Mit aus Messing getriebenen Broschen, mit Sandalen oder barfuß, mit grellbunten Kitteln und wallenden Haaren zogen schwärmende Horden durch blutendes Heimatland, als ob sie mit Blindheit geschlagen worden seien. Trällernd tanzten junge Männer Reigen, während der Boden noch zitterte von Explosionen. Man wollte nicht hinsehen, man verkleidete seine Feigheit mit kulturellen Aufrufen, ohne zu erkennen, daß der kulturelle Niederbruch nur noch vom Politischen her zu überwinden war. Und man hatte Beifall, man gefiel zuchtloser Masse. Heute ist es für uns völlig unverständlich, wie z. B. ein kleiner Trupp Jugendbewegter ganze Städte und Landschaften in eine Art Rauschzustand versetzen konnte. Wer es nicht glaubt, höre die Berichte über das Auftreten der »Neuen Schar« Muck Lambertys 1920: »Ganz Thüringen tanzt, als gäbe es keine Sorge über die Zukunft. Nicht einzelne Personen, sondern Tausende auf einem Platz … Ist eine mittelalterliche Tanzepidemie im Anzug, deren Hintergrund religiöse Ekstase oder Verzweiflung an der Welt ist?« (Tat, Oktober 1920.) Es war der Totentanz der »Jugendbewegung«. Romantiker und Lebensreformer pflegten den Leichnam weiter, während sein gefährliches Erbe an die »Bünde« überging, für die eine zweite Wurzel das 1909 aus England eingeführte Pfadfindertum war. Aber auch der Einsatz dieser bündischen Kräfte versagte. Das ist das harte Urteil einer Jugend, die im Kampf um das Reich ohne Bundesgenossen dagestanden hat. Jener hoffnungsweckende Anfang der Wandervogelhundertschaft in den Schlesienkämpfen war kein Anfang, er war das letzte Denkmal der Kriegsfreiwilligen. Die Bünde wagten diesen Weg nicht – ihnen ging es wieder um den »reinen Menschen«. So fielen auch sie dem Meißnerfluche zum Opfer : »Charakterbildung« wurde das schöne Aushängeschild für neutrale, wirklichkeitsfremde Schwäche. Man muß sich immer wieder klarmachen, daß die Bünde nicht reine Jungenbünde waren oder gar Kinderpflegevereine, sondern neben der »Jungenschaft« auch eine »Jungmannschaft« und »Mannschaft« erfaßten, die sich hätte entscheiden und die hätte handeln müssen. (…) Diese Schuld klagt aber die gesamte Jugendbewegung um so vernichtender an, als sie immer wieder erkannt hat, was sie hätte tun sollen. Aber zum Schritt

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von der Erkenntnis zur Tat, vom Wort zur Wirklichkeit hat sie sich nie entschließen können. Schon bei den Meißner-Reden bricht oft ein Ansatz durch, aber der Mut zu weittragender Konsequenz fehlt. Z. B. war naheliegend ein Hinweis auf das Wartburgfest der Deutschen Burschenschaft, das 1817, ebenfalls zur Erinnerung an die Schlacht bei Leipzig, gefeiert wurde. Das Meißnerfest hätte ein zweites Wartburgfest werden müssen. Und wir hören einen der Redner : »Geht nicht durch unser Volk ein tiefer Querriß, und ist wirklich die Freiheit des deutschen Volkes schon zur vollen Wirklichkeit geworden? Die Jugend, die vor einem Jahrhundert auf der Wartburg zusammentrat, setzte sich die Einheit und Freiheit des deutschen Volkes zum Ziel. Freideutsche Jugend, ist Dir nicht in anderer Form noch dieselbe Aufgabe geblieben?« Dann bricht der Redner erschrocken dies Thema ab. Mit Recht fragt ein Berichterstatter des »Jung-Wandervogel« voller Enttäuschung (auch hier Erkenntnis ohne Konsequenz!): »Wo aber blieb die erwartete Tat der Jugend? Man hat den Freideutschen Jugendtag mit dem Wartburgfest verglichen. Das ist ungeschichtlich und undankbar gegen unsere Väter. Dem Wartburggeist verdanken wir einen der Granitsteine unseres Vaterlandes. Hat man am Freideutschen Jugendtag aus dem Granitfelsen einer Jugendüberzeugung Steine für Zukunftsbauten gebrochen? Worte, Fahnen, Trachten, teilweis (sic!) altertümelnd, veraltet, Unzeitgemäßes sind an uns vorübergezogen. Man hat getanzt, an Feuern gesungen. Wo war das Neue, was von der Jugend unserer Tage für die Zukunft zeugte? Die neue Tracht, die besser fürs Theater als für die Landschaft paßte? Die Reden der Alten und Jungen, die man ebenso in Berlin in einem Saal halten konnte?« Auf dem Wartburgfest 1817 ist in einer Rede das Wort gefallen: »Oh nein, wir erbleichen nicht, wir wollen!« Aber die Meißner-Führer erbleichen. In der Feuerrede entschuldigt man sich: »Aber noch ist für viele diese Zeit nicht gekommen! Noch arbeiten sie an sich selbst und müssen sich zurückhalten, um erst die volle Kraft zu erreichen, damit sie handeln können, ohne zu verpfuschen. Und darum darf und wird uns niemand vorwerfen, wir hätten diesen Tag vorübergehen lassen, ohne uns ein Gelöbnis zu bestimmter äußerer sozialer Tat zu geben. Die größte Tat, die wir alle für das Vaterland tun können, ist und bleibt, selbst möglichst tüchtig zu werden.« Wenn so die Wartburgstudenten gesprochen hätten wie hier Knud Ahlborn! Ahlborn – übrigens einer der Referenten in Vespers Buch – trat bezeichnenderweise Frühjahr 1919 mit großem Lärm in die USP, die spätere KPD, ein und trug viel zur politischen Spaltung der Freideutschen Jugend, in Völkische und Rote, bei. (Einen zweiten Meißner-Redner, den damals viel umstrittenen Gustav Wyneken, fanden wir Arm in Arm mit dem Rotfrontkämpferbund wieder.)

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Die Bünde und die Bewegung Denselben zwiespältigen Bruch zwischen Erkenntnis und Konsequenz, zwischen schuldbewußtem Gewissen und aufrechter Entscheidung treffen wir bei den Nachkriegsbünden an. Man konnte sich nicht mehr mit Pfadfinderidealen begnügen – man wurde notgedrungen »politisch«. Aber man blieb beim Menschtum, man versuchte, einen »politischen Menschen« ohne Auseinandersetzung mit der Realpolitik zu bilden (»Jungenstaat«). Das ist unser Vorwurf an die Bünde: Die elende politische Wirklichkeit Deutschlands haben sie stets wortlos hingenommen. Man blieb »neutral«. Wenn sie Worte machten, dann waren es nur Worte, Fremdworte oder geschwärmte Phrasen. Ein großer Teil der Jungen fragte und wollte. Aber ihre Führer antworteten stets ausweichend, um ihre Krone beim Einschwenken in die große Front nicht opfern zu müssen. (…) Sollen wir an die zahllosen, jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen HJ und bündischer Jugend erinnern, in deren Verlauf höchstenfalls von bündischer Seite versichert wurde, sie seien wohl auch Nationalsozialisten, aber »rein geistig«, nicht der Partei nach, denn Adolf Hitler scheine ihnen doch nicht der rechte Mann zu sein? Es ist eine Lüge, wenn heute behauptet wird, daß die Bünde bewußt Kräfte gebildet hätten, »um sie von da in die Freiheitsbewegung hineinzugeben«. Der Ausdruck »Freiheitsbewegung« ist bei den Bünden zu spät gefallen. Die Geschichte hat uns Recht gegeben. Deshalb hätten wir diese Auseinandersetzungen vergessen können, wenn nicht zu unserer großen Verwunderung nach der Revolution die bündische Jugend sich als angeblicher Sieger und Mitverantwortlicher vorgedrängt hätte. Immer noch nicht, um sich zu opfern – man wollte Ausleseeffekte als Ausgleich gegenüber der minderwertigen »Massenjugend« bleiben, ja, man spielte sich noch großspuriger auf: Wir wollen nicht die Revolution versacken lassen in Biederkeit, mehr oder minder versteckter Gewinnsucht und in Aufmärschen und Festen. Wir müssen aufrütteln! Der Kampf muß weitergehen!« (…)

22. Baldur von Schirach: Die Hitler-Jugend. Idee und Gestalt, Berlin 1934 (Auszug), S. 13 – 15, 64 f. 1. Kapitel Vom Bund zur Nation Das, was man früher als deutsche Jugendbewegung bezeichnete, ist tot. Diese Feststellung hat nichts mit bösem Willen zu tun. Kein Jugendführer dieser Zeit wird die Verdienste leugnen wollen, die sich der Wandervogel Karl Fischers um die deutsche Jugendbewegung erworben hat. Jene Jugendbewegung war in ihrer

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Zeit ebenso richtig, wie die HJ. in der heutigen richtig ist, und zweifellos hat mancher Gedanke und die Lebensform der Jugendbewegung Voraussetzungen mitgeschaffen, auf denen auch die HJ. aufbaut; die Idee der Selbstführung der Jugend, die Kampfansage gegen die Auffassungen der bürgerlichen Gesellschaft, der Wille zum Volkstum, zur Heimat, zur Kameradschaft und vieles andere mehr wird von der HJ. als verwandt empfunden. Und doch: Der erste Schritt in die große Öffentlichkeit, das Treffen, das am 11. und 12. Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner stattfand, blieb nur ein Impuls. Das Beste an den Reden des Hohen Meißner waren die Menschen, die ihnen zuhörten. Was die heutige Jugend in den alten Berichten dieser für die Jugendbewegung so wichtigen Zusammenkunft sucht, ist der ernste Wille zur Form, zur Gestalt. Wir erkennen heute klarer als die damalige Generation, daß der Wert ihrer Jugendbewegung in ihrer stillen Arbeit lag. Der großdeutsche Gedanke und die wirklich wertvolle Besinnung auf Volkstum und Einfachheit sind Taten der Jugendbewegung, die uns wesentlicher schienen als die zahlreichen Manifeste, die uns überliefert wurden. (…) Wie die Jugend des Hohen Meißner die Front als das Größere empfand, so auch wir. Zwischen dem Sommer von 1914 und dem Frühling von heute liegt eine lange graue Zeit, durch die wir alle, bewußt oder unbewußt, hindurchgegangen sind. (…) [Teil II: Vom Geist der Gemeinschaft, Kapitel 1, Das Prinzip der Selbstführung …] Deutschland ist das Land der Jugendbewegung. Jugendbewegung und Selbstführung der Jugend sind untrennbar. Der Zweck der Jugendbewegung ist nicht der, dem jungen Menschen eine Möglichkeit zur Befriedigung irgendwelcher Machtinstinkte zu geben, im Gegenteil: Jugendführung heißt gegen sich selbst härter sein als gegen die Gefolgschaft. Die HJ. ist eine Führerschule. Führer im wahrhaftigen Sinne ist aber immer nur der Gestaltende, der Zuchtvolle. (…)

23. Walther Victor : Freideutsch. Zur 25. Wiederkehr des Jugendtages auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Das Wort. Literarische Monatsschrift, 3. Jg. 1938, Heft 10, S. 95 – 102; Wiederabdruck im Reprint der Zeitschrift, Zürich 1969. (…) In der Hauptsache aber war es wohl so, daß angesichts des Umstandes, daß das Fest in die Herbstferien fiel, die meisten verstreuten Gruppen etwa auf dem Standpunkt standen: Wir sehen uns die Sache einmal an, und ihre Herbstfahrten in Richtung Hoher Meißner verlegten. Diese weitgehende Unverbindlichkeit gab der ganzen Veranstaltung das Gepräge und bewirkte, daß die zweitausend

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jungen Menschen, die sich schließlich auf dem Hohen Meißner zusammengefunden hatten, sehr wenig von der eigentlichen Problematik erfuhren und nur von der neuen Art des Gemeinschaftserlebens und von den wenigen im breitesten Rund gehaltenen Reden ergriffen wurden. Erst sehr viel später, als sich das große Erlebnis aus dem Wesen freier jugendlicher Gemeinschaft und aus der so ganz anderen, von allem Oberlehrertum, bürgerlicher Wohlanständigkeit und Kasernenhofgeist gleich weit entfernten Redeweise der Sprecher in einem freien Zusammenschluß der Freideutschen Jugend ausgewirkt hatte, erst als hier und dort in der Presse die Dinge diskutiert wurden, die ersten Polemiken in den Verbandsblättern erschienen, nach mehr als einem Jahre der Freideutsche Jugendverlag mit der eigenen Zeitschrift ins Leben trat und die fürchterliche Wirklichkeit des Weltkrieges über die Jugend hereingebrochen war – erst dann wurde die Problematik der Jugend selbst offenbar, die auf dem Hohen Meißner nur gewissermaßen hinter verschlossenen Türen, jedenfalls aber ohne die Anteilnahme der breiten Masse die Geister hatte aufeinanderprallen lassen. (…) Avenarius war es wohl, der zum ersten Male jenen Gedanken der inneren Wahrhaftigkeit, das heißt der Übereinstimmung von Wort und Tat, Leben und Gesinnung aufs stärkste betonte, der dann in der sogenannten »Meißnerformel« seinen Niederschlag finden sollte. (…) Es ist eines der seltsamen Geheimnisse um den Hohen Meißner, daß (meines Wissens) niemals authentisch bekannt geworden ist, wer nun eigentlich die Meißner-Formel geprägt und gefunden hat. Am Abend auf dem Hanstein und am Morgen des 11. Oktober, als man zum Hohen Meißner hinauf gewandert war, die Jugend heranströmte, in Gruppen abkochte und in ungebundenem Spiel vereint war, der Diskussionskreis vom Abend vorher noch einmal zusammengekommen war, um die Aussprache fortzusetzen und zu beenden, wußte auch noch niemand etwas davon. Auch als Martin Luserke von der Schulgemeinde Wickersdorf und drei oder vier andere Redner sprachen, hörte man in ihren Worten keine der Formulierungen, die dann mit einem Male auf flüchtige Zettel geschrieben auftauchten. Jedenfalls war der für den Augenblick glückliche Griff wohl von den Vätern der Freideutschen Jugendbewegung in aller Heimlichkeit getan worden. »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen ein.«

Diesem Meißnerwort gesellten sich von allgemeiner Zustimmung begleitete Feststellungen, daß weiterhin zur gegenseitigen Verständigung Freideutsche Jugendtage abgehalten werden sollten; und daß alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend unter Trink- und Rauchverbot abzuhalten seien. Der Tag verlief mit Diskussionen in kleineren Kreisen und während die große Masse der Jugend sich immer enger in ihren Spielen um den Berg zu-

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sammenzog. Er fand seine äußere Krönung in dem großen Feuer, das man des Abends entzündete und an dem Gottfried Traub, damals noch nicht der eisenfresserische Nationalist, und Knud Ahlborn die Reden hielten. Er, später der Inbegriff des Einungswillens und der Überbrückung der Gegensätze, war es auch, der die Meißnerformel nun offiziell verkündete und Wort und Begriff der Freideutschen Jugend umriß. (…)

24. Alfred Kurella: Freie Deutsche Jugend (Auszug), in: Das Wort. Literarische Monatsschrift, 3 Jg. 1938, Heft 11, S. 93 – 114; Wiederabdruck im Reprint der Zeitschrift, Zürich 1969. (…) mit diesem Mann geht manchmal eine merkwürdige Veränderung vor sich. Das ist, wenn er auf seine Jugend zu sprechen kommt. Nicht nur, daß er dann endlos erzählen kann mit vielen »Wissen Sie noch?« und »Waren Sie nicht auch einmal dort?« – am Main nämlich, in Wertheim und Freudenberg, wenn die Äpfel an den Chausseebäumen reif sind, oder in der Börde, wo in den hochdachigen Bauernhäusern mächtige Schinken und Würste in der Tenne oben unter der Decke hängen, zu denen man verstohlen hinaufschielt, während am offenen Herdfeuer der Kaffeekessel summt, oder in Reifferscheid; wintermüde vom langen Skilauf sitzt man abends in der Stube, wo es nach trocknenden Wollstrümpfen und nassem Leder riecht, und erzählt sich Schnurren. Ich höre schweigend zu und staune. Er ist dann wie verwandelt. Der gesetzte Mann bekommt etwas Jungenhaftes und beinahe Verklärtes und das wirkt irgendwie fremd. Aber es bleibt nicht beim Erzählen: im Spätsommer, jedes Jahr, kann man ihm auf dem Bahnhof begegnen und dann sieht der ehrwürdige Professor eher aus wie ein Stromer : Stoppeln im Gesicht, unwahrscheinliche Hosen an den langen Beinen und noch unwahrscheinlichere Stiefel unten dran; die Hände – sonst so fein, wenn sie Formeln an die Tafel schreiben oder schnell eine Skizze zeichnen; er kann keinen Weg beschreiben, keine Adresse mitteilen, ohne eine kleine Karte dazu zu zeichnen – die Hände sind grob und rissig wie bei einem Steinklopfer. In dem unförmigen Rucksack, den er auf seinen Wanderungen mithat, steckt in der Außentasche immer ein Buch. Ich hatte es schon früher gesehen, ich kenne den roten Lederband der Insel-Dünndruck-Ausgabe. Einmal war ich dabei, als er auspackte. Es war wahrhaftig der »Faust«. Er sah meinen erstaunten und wohl beinahe verlegenen Blick. »Ach so, jetzt denken Sie wohl auch an die alte Kriegslegende: der deutsche Soldat mit dem »Faust« im Tornister, was? Aber sagen Sie ehrlich, war das nur eine Legende …?« Ich wurde noch verlegener :

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hatte ich nicht selber den »Cornet Christoph Rilke« mit und las darin, damals vor Tahure in der Champagne, als das englische Schiffsgeschütz unsere Stellung abtastete und wir den vierten Schuß gerade auf unseren Unterstand erwarteten? Von Weglaufen konnte keine Rede sein, draußen trommelten die 21er – würde eben das Ende sein … Ja, da hatte ich in diesem Buch gelesen. (…) (…) manchmal wird es mir auch über, dann wird seine Sonderbarkeit nicht nur fremd, sondern beinahe feindlich. Das ist, wenn er – allerdings selten – auf eines seiner Lieblingsthemen kommt: »Finden Sie nicht«, sagt er dann, »daß man sich menschlich erst eigentlich wohl fühlt unter Leuten, die sowas alles verstehen? (…) Finden Sie nicht, daß es so Leute gibt, mit denen man sich gleich versteht, weil sie in der Jugend das gehabt haben, was für uns die Jugend ausgemacht hat? Es ist beinahe wie ein Geheimbund. Man erkennt sich am Blick, an den Büchern im Schrank, daran, wie man sich wäscht – ich weiß nicht woran. Das sind die Leute, unter denen ich mich wohlfühle …« (…) es geht dabei gar nicht um Wohlfühlen und persönlichen Geschmack. Da steckt etwas von »Elite« und »Auserwähltsein« dahinter. Wie paßt das in diesen Kopf, zu diesem Mann? Ich schäme mich dann ein bißchen für ihn. Nicht nur für ihn, das ist das schlimmste, auch für mich: irgend etwas in mir selber antwortet auf diese Gedanken … Aber dann schäme ich mich, daß ich mich schäme. Denn – ist das wirklich nur ein Fremdkörper in seinem Wesen, wie es mir immer wieder scheinen will (…) Und ich sehe an diesem meinem Freund: das, was er den »alten Wandervogel« nennt, ist ein Fremdkörper in ihm (…) Denn dieser »alte Wandervogel« in ihm ist der Rest, der Niederschlag eines Vorgangs, der eine sterile geschichtlich zur Unfruchtbarkeit verurteilte Nebenblüte am großen Stamm der Entwicklung war. (…) Eine solche Erscheinung war die deutsche Jugendbewegung der Vorkriegszeit: stark und eigenartig – aber nicht unmittelbar fruchtbar. (…) Wollte man die ganze Bewegung auf eine kurze Formel bringen, so könnte man den Wandervogel den jugendlichen Don Quijote der sterbenden bürgerlichen Gesellschaft nennen: hier wurde zu einer Zeit, wo es schon gar nicht mehr möglich war, die bürgerliche Kultur und ihr Menschenbild noch einmal ernst genommen – mit der ganzen Naivität, aber auch mit dem ganzen Schwung einer vom Ernst des Lebens kaum berührten (…) Jugend. (…) Die ganze Jugend-DonQuijoterie trug den Todeskeim in sich. Sie war steril (…) – und war und bleibt doch mittelbar fruchtbar, wie diese Gestalt. (…) Die Zusammenkunft auf dem »Hohen Meißner« im Oktober 1913, der sogenannte »Freideutsche Jugendtag«, aus dem die Organisation »Freideutsche Jugend« hervorging, war nicht Anfang, sondern ein Ende. Der »Hohe Meißner« eröffnete die Krise der eigentlichen Jugendbewegung, eine Krise, die im weiteren Lauf zu ihrer Zersetzung führte. Wenn wir uns ein Urteil über die gesamte Jugendbewegung einschließlich der Freideutschen Jugend bilden wollen, so

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müssen wir vorwiegend die Periode vor der Meißner-Tagung, also das Jahrzehnt von 1923 betrachten. Walther Victor meint, auf dem Hohen Meißner sei der dort vertretenen Jugend zum erstenmal zum Bewußtsein gekommen, wie groß ihre »Gemeinschaft« schon war. Das trifft nur bedingt zu. Die Öffentlichkeit bekam durch diese Tagung zum erstenmal eine Ahnung von dem Umfang und eine Vorstellung von den mannigfaltigen Äußerungsformen der in der Stille unter der deutschen Gymnasialjugend herangereiften Bewegung. Und auch das kam nicht einmal plötzlich. Diskussionen auf pädagogischen Tagungen, Presseprozesse und vor allem die Interpellationen des katholischen Abgeordneten Schlittenbauer im bayrischen Landtag hatten bereits den Vorhang gelüftet. Die Welt der »Erwachsenen« hatte die Jugendbewegung entdeckt. Seit dem »Hohen Meißner« hatte das Kind auch einen Namen. Die Jugend selbst bedurfte dieser Tagung nicht, um zum Bewußtsein ihres Daseins zu kommen. Wer vor dem »Meißner« aktiv an dem Leben der vielen Jugendbünde, vor allem der Wandervogelverbände teilgenommen hatte, kannte dieses Bewußtsein. Es war auf zahllosen Bundestagen, Treffen, Tagungen und Festen vorweggenommen worden, die jedes Jahr mehrmals zahlenmäßig größere und nicht weniger das ganze Land umfassende Scharen von Jugendlichen zusammengebracht hatten. Für die Jugend bezeichnete die Meißner-Tagung das beginnende Bewußtsein von der Krise. Der »Hohe Meißner« unterschied sich von allen andern Tagungen durch zwei völlig neue Momente: erstens die Anwesenheit einer größeren Zahl von studentischen Organisationen (im Gegensatz zu den andern genannten Tagungen, wo sich ausschließlich Gymnasialjugend versammelte) und zweitens die Anwesenheit »Fremder«, das starke Hervortreten einiger Erwachsener. Was bedeuten nun diese neuen Momente? Sie zeigten an, daß die Jugendbewegung ihre bis dahin sorgsam gepflegte und programmatische Isolierung von der »Welt der Erwachsenen« nicht aufrechterhalten konnte. Und zwar auf Grund von Vorgängen sowohl innerhalb wie außerhalb ihrer Reihen. Der Wandervogel war aufgetaucht und hatte sich entfaltet als Bewegung der Schüler der oberen Gymnasialklassen. Alles, was er erfand und schuf, war aus den Bedürfnissen und für die Bedürfnisse dieser Altersklasse der städtischen kleinbürgerlichen Jugend entstanden. Aber aus den Sekundanern wurden Primaner und aus den Primanern Studenten. Schon bei den Primanern drängte sich immer mehr das Problem auf: was machen wir einmal, wenn wir selbst »erwachsen« sind? Wie führen wir das fort, was wir im Wandervogel begonnen haben? Nach und nach wuchs an den Hochschulen die Zahl der ehemaligen Wandervögel, die sich diese Frage ernsthaft vorlegten. In den Jahren 1911 bis 1913 begannen sie sich zu eigenen studentischen Organisationen zusammenzuschließen. Doch es zeigte sich, daß es unmöglich war, die Lebensformen der

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Jugendbewegung einfach »weiterzuführen«, sie auf einer höheren Altersstufe »anzuwenden«. Es gab auch das: es tauchten die ersten »ewigen Wandervögel« auf, Handlungsgehilfen, Lehrer, Studenten mit kurzen Hosen und langen Haaren, mit Bauerntongeschirr, Fidusbildern und bebänderten Lauten in den Stuben. Aber das war unvermeidlich verbunden mit einem Rückzug in ein spießerliches Privatleben. Die aktiveren ehemaligen Wandervögel, von denen ein Teil führende Positionen in der Freistudentenschaft eroberte, ein anderer Teil neue Organisationen wie die »Akademischen Freischaren«, »Akademischen Arbeitsgemeinschaften« und andere mehr gründete, stießen auf neue Probleme, die sich aus der unvermeidlichen engeren Verbindung mit der »großen Welt«, ihren weltanschaulichen und politischen Kämpfen ergaben. Diesen Studenten schien es rückblickend auf einmal, daß die Bewegung, aus der sie hervorgegangen waren, eigentlich keinen rechten Sinn und Inhalt hatte, daß sie ihre Energien verpuffte, ohne auf die Gesellschaft einzuwirken, zu der sie, die Studenten, jetzt in Beziehung zu treten begannen. So entstand bei diesen der Schule erwachsenen Wandervögeln das Bestreben, das scheinbar bisher Versäumte nachzuholen, und ihm wiederum entsprang nicht nur die Teilnahme der genannten studentischen Organisationen an der Tagung des »Hohen Meißner«, sondern eigentlich der Plan zu der Tagung selbst. Die Beteiligung einer Reihe von Erwachsenen, die auf dem »Hohen Meißner« als Jugendführer auftraten, hatte ähnliche Voraussetzungen. Seitdem die Wandervogelbewegung durch die oben erwähnten Ereignisse in der Zeit von 1911 bis 1913 das Interesse der Öffentlichkeit erregt hatte, begannen zahlreiche Leute, die sich als »Kulturträger« fühlten, eigene Organisationen und Zeitschriften für die Durchführung ihrer Reform-Ideen geschaffen hatten und nach Anhang suchten, auf die Jugendbewegung aufmerksam zu werden. Die Jugend schien ihnen dazu bestimmt, immer gerade die Ziele anzunehmen, die sie selbst sich ausgedacht hatten. Die Beteiligung Poperts, Avenarius’, Wynekens, Paasches, Luserkes an der Meißner-Tagung (Rudolf Nelsons, August Messers, Eugen Diederichs, Hasselblatts und anderer in den folgenden Jahren) gibt nur ein unvollständiges Bild von dem Umfang der damals beginnenden Werbung um die Jugendbewegung von seiten außenstehender Organisationen und Personen. Das war bereits eine Auswahl; es waren diejenigen »Jugendführer«, die übriggeblieben waren, nachdem in den Vorverhandlungen über den Jugendtag die Akademische Freischar praktisch die Initiative an sich gerissen und der ursprünglich ganz anders geplanten Zusammenkunft eine bestimmte, relativ fortschrittliche, vor allem gegen den Hurra-Patriotismus zugespitzte Note gegeben hatte. Tatsächlich waren die Bemühungen von seiten reaktionärer, »völkischer« Elemente damals bereits viel stärker und, wie die weitere Entwicklung gezeigt hat, in der Praxis auch erfolgreicher. Diese reaktionären Elemente verzichteten darauf, sich einer neuen Dachorganisation wie der »Freideutschen Jugend« zu bedienen, da sie

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ganz andere Werkzeuge zum Einfangen der Jugendbewegung von der Peripherie aus zur Verfügung hatten: das Heer der Reserveoffiziere, die Schulbehörden, die evangelische Kirche und andere. Die Jugendführer, die auf dem »Hohen Meißner« und in den folgenden Jahren in der Freideutschen Jugend hervortraten, gingen, wie die ältere Generation der Wandervögel auf den Hochschulen, davon aus, daß die inzwischen zahlenmäßig stark angewachsene Jugendbewegung Sinn und Inhalt erhalten müsse und boten zu diesem Zweck ihre Reformsysteme an. So endete mit dem »Hohen Meißner« jene Etappe der Jugendbewegung, wo sie von der Welt der Erwachsenen und ihren Problemen isoliert, vom öffentlichen Leben abgekapselt existiert und sich entfaltet hatte. Durch die der Bewegung entwachsenen Studenten und durch die nach der Jugend schielenden Erwachsenen wurde die Bewegung nun doch ins öffentliche Leben gezogen, und die Probleme der Welt der Erwachsenen fanden in sie Eingang. Es begann der Kampf um eine nachträgliche Sinngebung der Jugendbewegung, wobei dieser Sinn nicht aus ihr selbst entwickelt, sondern von außen in sie hineininterpretiert wurde. Aber diese Bemühungen mußten ausgehen wie das Hornberger Schießen. Der »Kampf« spielte sich ab zwischen den Studenten, jungen Leuten, die selbst kaum noch ins Leben hineingerochen hatten, naive und zufällig erworbene Vorstellungen von den sozialen und politischen Problemen besaßen und auf allerlei idealistische und utopische Weltverbesserungsideen hineinfielen, und zwischen jenen Jugendführern, die, jeder ein kleiner Messias, in ihren Theorien und Heilslehren die ganze geistige Misere des deutschen Spießertums widerspiegelten. (…) Zum Westdeutschen Jugendtag auf der Loreley (August 1917) und zur Führertagung in Holzminden am Solling (Oktober 1917) Diese beiden Kundgebungen sind auch insofern für uns heute besonders interessant, als auf ihnen der radikale sozialistische Flügel stark hervortrat, der damals bereits mit der illegalen proletarischen Jugend (Richtung Liebknecht) in Verbindung stand und bald darauf durch die »Politischen Rundbriefe« die sozialistischen und kommunistischen Elemente um sich sammelte. Diese Gruppe trat auch besonders energisch gegen die Führerrolle auf, die eine nordwestdeutsche Gruppe »ewiger Wandervögel« – Knud Ahlborn, H. Tormin, Schlünz, Saal usw. sich angemaßt hatte. Diese Gruppe (…) bestand aus typischen liberalen Opportunisten und Kompromißlern. Diese Leute fürchteten nichts so sehr wie große Ideen und ernste Entscheidungen. Sie waren bemüht die »Freideutsche Jugend« unter der demagogischen Losung der »Einheit« in die Zwangsjacke ihrer lendenlahmen, schulmeisterlich beschränkten »Weltanschauung« zu pressen und führten damit praktisch ihre Spaltung herbei. (…)

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25. Gustav Wyneken: An den Herrn Reichsjugendführer, Brief vom 2. März 1937 an Baldur von Schirach, AdJb N 35, 1739. Dr. Gustav Wyneken

Göttingen, Feuerschanzengraben 1 den 2. März 1937

An den Herrn Reichsjugendführer Persönlich!

Berlin

Hochgeehrter Herr Reichsjugendführer, im Oktober 1938 wird sich zum 25. Mal das große Fest der ersten deutschen Jugendbewegung jähren, die Tagung auf dem Hohen Meißner. Gestatten Sie bitte einem der wenigen noch Lebenden, die damals im Mittelpunkt dieser Bewegung und dieses Festes standen, eine Anfrage und Anregung. Um zuerst mich selbst zu legitimieren: aus meiner Feder stammt der von den beteiligten Bünden unterschriebene Aufruf zu jenem Fest – vor einiger Zeit im »Völkischen Beobachter« (ohne Namensnennung) mit warmer Zustimmung angeführt – ich habe in der Vorbesprechung auf dem Hanstein die Verflachung der Bewegung, ihr Abgleiten ins »Reformphilistertum« verhindert und mich gleichzeitig gegen die Gefahr einer bloßen tatenlosen Romantik gewandt; auf dem Hohen Meißner habe ich eine der drei Festreden gehalten. In einem tieferen und allgemeineren Sinn weiß ich mich als einen Vertreter jener Bewegung legitimiert durch meine pädagogische Wirksamkeit oder Tat. Ich habe in die Pädagogik die Erkenntnis eingeführt, daß Jugend »nicht nur Vorbereitungszeit ist, sondern auch eine Zeit eigenen Wertes und Rechtes«, und daß ihr Leben nicht ein bloßes Anhängsel am Leben der Erwachsenen sein soll, sondern nach seinen eigenen Bedürfnissen, Aufgaben und Fähigkeiten zu gestalten ist (Jugendkultur). (Einen von Freunden meines Werkes veranstalteten Auszug aus meinen Schriften erlaube ich mir zur Orientierung beizufügen.) Die deutsche Jugendbewegung jener Tage ist für immer zu einem Stück Vergangenheit geworden; sie ist schon durch den Krieg, der fast alle ihre Führer dahingerafft hat, zerstört und nach dem Krieg durch die politische Fragestellung abgelöst worden. Sie gehört der Vergangenheit an – aber sollte sie nicht der deutschen Geschichte angehören? Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, der, mit all seinen Folgen, das Angesicht des deutschen Volkes so durchaus veränderte – dann wäre nach meiner festen Überzeugung der Jugendbewegung die Aufgabe der Regeneration Deutschlands zugefallen. Sie war damals Deutschlands größte Hoffnung, Trägerin des reinsten deutschen Idealismus, der phra-

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senfreiesten, zu Tat und Opfer bereiten Liebe zum Deutschen Volk, zu Deutscher Art und Deutschem Geist. Und sie war eine typisch deutsche Erscheinung. In welchem anderen Lande wäre sie denkbar gewesen? Aus dem Wandervogel entwickelte sich das allgemeine Jugendwandern, dies wieder führte zur Errichtung der Jugendherbergen; andere Nationen haben das erstaunt, erst ohne Verständnis und dann nicht ohne Neid beobachtet und scheinen erst jetzt anzufangen, es nachzuahmen. Aber dies Wandern war ja nur ein Zug der Jugendbewegung, eine Äußerung ihrer Verbundenheit mit Natur, Volk und Landschaft, ihres Willens zu Lebensvereinfachung, ihres neuen Körpergefühls und ihres Bedürfnisses, sich, ungestört durch den Lärm einer seelenlosen Zivilisation und durch die drohende Mechanisierung des Lebens, auf sich selbst zu besinnen, den in ihr steckenden rassischen Lebenskern wieder zu finden und aus diesem heraus das Leben zu gestalten – zuerst für sich selbst und dann für ihr ganzes Volk. Soviel ich sehe, besteht eine gewisse Unsicherheit über die Stellung der gegenwärtigen Jugendorganisation und Jugendführung zur alten Jugendbewegung, wenn ich auch wohl annehmen darf – und die angeführte Äußerung des »Völkischen Beobachters« bestätigt es ja – daß man im Großen und Ganzen die alte Jugendbewegung bejaht und als bluts- und geistesverwandt empfindet. Es ist ja selbstverständlich, daß die Jugendbewegung der Vorkriegszeit nicht eine Vorwegnahme des Nationalsozialismus bedeutet; das wird man nicht erwarten dürfen. Die damalige Zeit stellte andere Fragen und war von den kühnen und durchgreifenden Lösungen des Nationalsozialismus noch weit entfernt. Aber – will nicht die Hitler-Jugend, wie sie die Jugendherbergen selbstverständlich übernommen hat, auch die Traditionen der deutschen Jugendbewegung übernehmen und pflegen? Ich kann diese Frage nur stellen; wenn sie bejaht wird, möchte ich zunächst drei konkrete Vorschläge machen. 1. Die Erinnerung an diese merkwürdige und einzigartige Erhebung des deutschen Jugendbewußtseins beginnt zu schwinden. Es ist höchste Zeit, sie festzuhalten und geschichtlich festzulegen. Ich möchte also anregen, ein Archiv der deutschen Jugendbewegung zu gründen, in dem die geschichtlichen Urkunden jener Zeit: Bilder, Zeitungsberichte, Kritiken, Polemiken, Handschriftliches, vor allem aber auch die bunte Menge der Zeitschriften und Bücher der Bewegung gesammelt werden. (Was ich selber mir davon aufbewahrt habe, stelle ich gern zur Verfügung.) 2. Das gesammelte Material müßte zu einer großen objektiven Geschichte der Jugendbewegung verarbeitet werden. 3. Die 25. Wiederkehr des Meißner-Tages könnte durch eine Wiederholung dieses Festes im heutigen Maßstab und Geist begangen und dabei die Übernahme der Traditionen der Jugendbewegung verkündet werden.

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(Vielleicht Einweihung eines Denksteines, zugleich zum Gedächtnis der Kriegsgefallenen der Bewegung.) Wenn Sie, hochgeehrter Herr Reichsjugendführer, meine Anregung erwähnenswert finden, und wenn es Ihnen etwa erwünscht wäre, mich persönlich über meine Vorschläge zu hören, so stehe ich selbstverständlich gern zur Verfügung. Heil Hitler!

Jürgen Reulecke

1943 – 1953: Im Schatten nationalsozialistischer Unrechtsund Gewaltherrschaft

Nach Gustav Wynekens erfolgloser Aufforderung von 1937 an Baldur von Schirach (s. o., Kapitel 4), zum einen ein umfassendes Archiv der deutschen Jugendbewegung einzurichten, damit mit dessen Hilfe dann die Hitlerjugend »die Traditionen der deutschen Jugendbewegung übernehmen und pflegen« könne, und zum anderen im Jahr 1938 die 25. Wiederkehr des Meißnertages zwecks öffentlicher Präsentation dieser Traditionen »im heutigen Maßstab und Geist« zu begehen und dabei einen Gedenkstein auf dem Hohen Meißner einzuweihen,1 hat fünf Jahre später die 30. Wiederkehr des Ereignisses angesichts der erheblich verschärften Kriegssituation ab Ende 1942 in jugendbewegten Kreisen keine konkreten Aktivitäten hervorgerufen. Allerdings kam es zu einigen Überlegungen z. B. zwischen Knud Ahlborn (1888 – 1977), Waldemar Nöldechen (1894 – 1980), Enno Narten (1889 – 1973) und Hannes Aff (1879 – 1969), wie man sich anlässlich dieses Jubiläums als Freideutsche im Hinblick auf die Erziehungsvorstellungen der Hitlerjugend zu Wort melden könne. So wurden einige Pläne in Richtung Oktober 1943 diskutiert, die man dann nach Kriegsende umsetzten wollte, so z. B. die Herausgabe einer größeren Publikation2 und die Errichtung eines Denkmals auf dem Hohen Meißner. Überraschend ist, dass es bereits 1946 ohne unmittelbaren Jubiläumsanlass zu einem erneuten Treffen auf dem Hohen Meißner gekommen ist, angestoßen durch Ulrich Noack (1899 – 1974), der 1945/1946 Berater des hessischen Ministerpräsidenten Karl Geiler (1878 – 1953) und seit 1946 Geschichtsprofessor an 1 AdJb Nachlass Ahlborn N 2, 66: Kopie des Briefes an von Schirach vom 2. 3. 1937 und Antwort des »persönlichen Pressereferenten« Günter Kaufmann im Auftrage von Schirachs vom 11. 3. 1937. 2 Einen ersten Entwurf in dieser Richtung hat Waldemar Nöldechen, ehemals Mitglied des Kronacher Bundes (übrigens seit 1933 NSDAP-Mitglied), geliefert: ein zehnseitiges, engzeilig geschriebenes Manuskript mit dem Titel »Die Aussaat«, das er gegen Ende 1942/Anfang 1943 als damaliger Referent beim »Amt für Raumordnung« in Warschau niedergeschrieben hatte (Auszüge s. u.). Im Vorfeld des Meißnerjubiläums von 1953 publizierte er dann eine Broschüre mit dem Titel »Die deutsche Jugendbewegung. Versuch einer Wesensdeutung« (= Schriften des Sternbergkreises, 5. Heft, Bielefeld 1953, 62 Seiten).

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der Universität Würzburg war.3 Unterstützt von Geiler war er am 18. Mai 1946 der Hauptakteur bei einer Frankfurter Gedächtnisveranstaltung zur hundertjährigen Erinnerung an die Nationalversammlung von 1848 in der Frankfurter Paulskirche, begleitet übrigens von dem bekannten Freiburger Historiker Gerhard Ritter (1888 – 1967). In seinem Vortrag aus diesem Anlass hatte er im Hinblick auf die erhoffte Schaffung einer freiheitlich-demokratischen Kultur in Deutschland ausdrücklich auf das Treffen der Freideutschen Jugend 1913 auf dem Hohen Meißner Bezug genommen. Anschließend gründete er mit einer Reihe von Fachleuten aus der jugendpolitischen Szene die Vereinigung »Tag der jungen Generation«, die einen »Bund aller Bünde« in Deutschland anstrebte und dessen Ausschussvorsitzender Noack wurde.4 Parallel dazu – »gewidmet einer kommenden Freideutschen Jugend, die mit hoffendem Herzen für Deutschlands Erneuerung lebt«5 – veröffentlichte Noack seine Schrift »Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt«, in der er u. a. den Hohen Meißner als Gründungsort für eine neue deutsche Hauptstadt vorschlug. Der »Bund aller Bünde« sollte dann am 12./13. 10. 1946 auf dem Hohen Meißner offiziell gebildet und dort auch eine »Hohe-Meißner-Schule für politische Erziehung« ins Leben gerufen werden. Eingeladen dazu waren nicht nur die bisher schon von Noack angesprochenen Kreise, sondern auch alle an den Planungen interessierte Vertreter der jugendbewegten Älterengeneration. Trotz einer recht kurzfristigen Einladung und schwieriger Verkehrverhältnisse kamen tatsächlich diverse »alte Pioniere von 1913« wie zum Beispiel Knud Ahlborn und Gustav Wyneken (1875 – 1964) zu dem Treffen. Über das chaotisch ablaufende Ereignis, die erheblichen inneren Widersprüche und die Ablehnung der Pläne Noacks geben die folgenden Quellen Auskunft. Dass es dennoch in Richtung auf die Gründung eines deutschen Jugendringes zu einer Einigung kam, war (wie schon 1923) der vermittelnden Kunst des inzwischen zu einem Kasseler Regierungsdirektor aufgestiegenen Pfarrer Hermann Schafft (1883 – 1959) zu verdanken. Er hatte bereits Anfang 1946 dazu beigetragen, dass es zur Bildung eines Kurhessischen Jugendringes gekommen war, und übernahm jetzt die Aufgabe, von Kassel aus die Gründung eines allgemeinen Jugendringes als »Dachverband aller deutschen Jugendorganisationen« voranzutreiben. Tatsächlich konnte dann 1947 die Kasseler »Mittelstelle« Schaffts aufgrund seiner Vorarbeiten die Weiterent3 Noack war 1933 Mitglied der Bekennenden Kirche geworden, wurde 1946 Mitglied der CDU und 1948 Begründer des »Nauheimer Kreises«, der für einen pazifistischen Neutralismus als Strategie gegen die deutsche Teilung eintrat. 4 S. zur Entstehung und Weiterentwicklung dieser Vereinigung bis zum Herbst 1946 die Broschüre »Die junge Generation. Mitteilungsblatt vom Tag der jungen Generation, dem Bund aller Bünde«, Nr. 1, Jg. 1, Anfang September 1946. 5 Ulrich Noack: Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt, Frankfurt a.M. 1946, mit einem Vorwort von Karl Geiler.

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wicklung des Jugendrings an den nun die Führung übernehmenden Bayrischen Jugendring übergeben, so dass es im Oktober 1949 zur offiziellen Gründung des Deutschen Jugendrings kam.6 Während des Treffens 1946 auf dem Hohen Meißner war es infolge der Ablaufprobleme schließlich zu einer Selbstisolierung der alten Freideutschen gekommen, die sich vom Lagerplatz zurückzogen, um an anderer Stelle den vorgesehenen Vortrag von Gustav Wyneken zu hören und zu diskutieren. Die dort angesprochenen Fragen wurden anschließend am 13. und 14. Oktober auf dem Ludwigstein bei einer Arbeitstagung wieder aufgegriffen, die schließlich – nicht zuletzt aufgrund des starken Engagements von Ahlborn und auch Wyneken – auf den Plan der Gründung eines »Bundes der Freideutschen« mit Festlegung einer Satzung hinauslief. Hermann Schafft, Teilnehmer dieser Tagung aus der Generation der Älteren, stand allerdings – ebenso wie Beobachter aus der jüngeren, um 1900 geborenen Altersgruppe wie zum Beispiel der Mitgründer des Freideutschen Kreises Hamburg Werner Kindt (1898 – 1981) – dieser Gründung mit einem politischen Programm von vornherein mit großer Skepsis gegenüber,7 was dann Pfingsten 1947 bei einem Treffen der jüngeren Freideutschen im Kloster Altenberg bei Wetzlar zur Gründung eines Freideutschen Kreises ohne Bundescharakter führte. Die Hamburger Freideutschen, besonders scharf ihr Sprecher Erich Lüth (1902 – 1989), hatten Wyneken und seinen Anhängern aus der älteren Generation vorgeworfen, dass sie mit ihren Deutungen der freideutschen Vergangenheit in der Gefahr seien, sich im Hinblick auf die politische Vergangenheit Deutschlands in eine Unschuldsrolle »hineinzuschauspielern«. Allerdings geriet Lüth infolge seiner häufig scharfen Worte und seiner Forderung nach einem klaren freideutschen Schuldbekenntnis auch bei den Hamburger Freideutschen zunehmend in eine Außenseiterstellung, so dass er schließlich enttäuscht den Kreis verließ und Werner Kindt dort den Vorsitz übernehmen konnte.8 Seit den späten 1940er Jahren hatte auch Ahlborn zunehmend eine gewisse 6 Der erste Vorsitzende war Josef Rommerskirchen (1916 – 2010), Leiter des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, sein Stellvertreter Erich Lindstädt (1906 – 1952), Leiter der sozialistischen Falken. 7 Wyneken hat von Göttingen aus anschließend, unterstützt von Ahlborn u. a., damit begonnen, zur Beteiligung an der Planung einer parteiähnlichen »Deutsch-idealistischen Weltanschauungsgemeinschaft« (DIWAG) aufzurufen, nachdem aufgrund der Ablehnung durch die britische Militärregierung im Frühjahr 1946 die Gründung einer »Partei Freideutsche Jugend« gescheitert war. Die Bemühungen um die DIWAG bzw. die Aktivitäten der von Wyneken geleiteten Freideutschen Arbeitsgemeinschaft Göttingen wurden in einem Rundbrief aus Göttingen von Otto Steckhan vom April 1949 für endgültig gescheitert erklärt (Original im Archiv von Arno Klönne). 8 S. dazu die Selbstdarstellung durch Erich Lüth: Meine Auseinandersetzung mit der dritten Welle der Freideutschen, in: Hinrich Jantzen: Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1972, S. 193 f.

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Distanz zu Wyneken entwickelt und schließlich mit Blick auf das 1953 bevorstehende Vierzigjahr-Jubiläum des Meißnertreffens von 1913 eine eigene Politik zu verfolgen begonnen, die allerdings nicht nur kritische Reaktionen insbesondere bei Wyneken auslöste, sondern auch bei der Führungsspitze der Vereinigung Burg Ludwigstein unter ihrem neu gewählten Vorsitzenden Karl Vogt (1907 – 2002) – vor allem wegen der von Ahlborn vorbereiteten breiten öffentlichen Präsentation und Umwerbung des von ihm geplanten großen Jubiläumsereignisses – zu einer Distanzierung führte. Man war nur bereit, im Umfeld des Ludwigstein ein internes Treffen der Meißnerfahrer zu unterstützen. Es kam dann jedoch ein Kompromiss, d. h. die Durchführung einer größeren Arbeitstagung zustande und nicht eines öffentlichkeitswirksamen großen Festes (wie zunächst von Ahlborn geplant), so dass das Meißnertreffen von 1953 aus dem Blickwinkel aller Veranstalter letztlich doch ein voller Erfolg wurde. Sogar Wyneken hatte sich trotz seiner ursprünglich scharfen Ablehnung der Pläne Ahlborns durch die Vermittlung von Karl Vogt zu einem Gespräch am ersten Abend des Treffens auf dem Meißnergipfel einladen lassen. Gegen Ende des Ereignisses kam es dann zwischen den Freideutschen um Ahlborn, den Vertretern der Vereinigung Burg Ludwigstein und den meisten Sprechern der anwesenden jungen Bünde zwar nicht, wie in den Jahren vorher von Wyneken, Ahlborn und weiteren alten Freideutschen geplant, zu einem großen Meißnerbund, aber doch zu einer relativ lockeren Vereinigung mit dem Namen »Gilde Hoher Meißner«, die in den Folgejahren nicht zuletzt durch viele Aktivitäten auf dem Ludwigstein die Meißnertradition bis hin zum Fünfzigjahr-Treffen von 1963 pflegte.

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Abbildungen

Ulrich Noack: Meißnerformel 1946, in: Ulrich Noack: Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt, Frankfurt a.M. 1946.

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Gedenkstein auf dem Meißnergelände, wahrscheinlich 1950, AdJb F A 557.

Herbsttreffen des Freideutschen Kreises auf Burg Ludwigstein 1947, AdJb F 2 Nr. 34.

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1. Brief Knud Ahlborns vom 16. 8. 1942 an Hannes Aff (Auszug), AdJb A 210 Nr. 127. (…) Den Plan betr. Hoher Meißner 1943 finde ich gut.9 Ich stifte für diese Gedenktafel RM 50,–. Wer schafft einen würdigen monumentalen Entwurf ? Vielleicht wird der ein Gemeinschaftswerk? Ich lege hier eine erste Konzeption vor, einen Einfall der mir kam, als ich heute darüber nachdachte. So ähnlich könnte es sein: Eine Feuersäule auf freier Bergeshöhe auf »unserem« Hohen Meißner! Die jetzt an der Seite gezeichnete Plakette müßte wohl nach vorne. Darunter könnte noch das Fackelträgergedicht stehen. Ich habe es leider nicht im Kopfe. Du wirst es kennen: Ich reiche im Schwung Euch die Fackel – oder ergreifet im Schwunge die Fackel, die mir im Laufe entsinkt, (entfällt?) (o. ä.) (Ein Alter, der nicht mehr das Ziel erreichen kann, gibt sie einem Jungen, der es erreichen soll und wird).10

Der Text der drei Plaketten könnte dann: Tafel I an der linken Seite, Tafel II an der rechten Seite, Tafel III an der »Rückseite« der ja frei von allen Seiten zugänglichen Säule stehen. Als Material kommt auf dem Meißner m. E. nur Basalt und für die Platten zunächst Gußeisen, desgleichen für die Pylon-Schale später Bronze infrage. Das Beste wäre gerade gut genug! – Wie kommen wir nun in dieser Sache weiter? – Das müßten die Verantwortlichen durchführen, denen es am meisten am Herzen liegt. Enno als ersten Anreger des Gedankens und Dir gebührt als »ruhenden Polen in der Erscheinungen Flucht« die Führung dieser Sache. (…) Und wer findet den Platz hierfür? Es muß ja ein natürlicher Thingplatz werden. Und wie bekommen wir Platz und Erlaubnis? Das ist eine Sache, des Schweißes der Edlen wert! – Sende diesen Brief bitte an Freund Enno weiter. Euch lieben Beiden, immer Getreuen, in unverbrüchlicher Treuverbundenheit Euer Knud Ahlborn11

9 Offenbar hatten Enno Narten und Hannes Aff im Sommer 1942 die Idee eines MeißnerDenkmals diskutiert und Ahlborn mitgeteilt. 10 Es handelt sich um das von Wolfgang Frommel verfasste Gedicht »Die Fackel«, das – allerdings ohne Namensnennung des Autors – am Anfang des von Will Vesper herausgegebenen Sammelbandes »Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung« (Berlin 1934) abgedruckt ist: »Ich gab Dir die Fackel im Sprunge, Wir hielten sie beide im Lauf. Beflügelt von unserem Schwunge Nimmt sie der Künftige auf …«. 11 Handschriftlich befindet sich darunter, vermutlich von Aff geschrieben, die Zeile »Gut. Jetzt alles vorbereiten, ausführen nach d. Kriege«.

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2. Waldemar Nöldechen: Die Aussaat. Gedanken zur 30-jährigen Wiederkehr des Festes der Jugend auf dem Hohen Meißner am 31. (sic!) Oktober 1913 (vermutlich Ende 1942/Anfang 1943 verfasst) sowie Antwort von Enno Narten an Waldemar Nöldechen nach Information von Hannes Aff über das Projekt Nöldechens (Auszug), Brief vom 25. 3. 1943 aus Hannover, AdJb A 210 Nr. 127.12 Wandervogel und Jugendbewegung sind heute nur noch eine Erinnerung, fast schon Mythos; die Jugend des dritten Reiches kennt sie nicht mehr, obwohl sie unmittelbar und stärkstens aus ihrem Erbe lebt. Die Hitlerjugend hat diesem Erbe nicht viel Neues und Eigenes hinzufügen können, sie hat es nur ausgebaut und angewendet. Der heute tobende Krieg um unsre Lebensrechte nimmt alle unsere Kräfte in Anspruch und lässt fast keinen Raum für geschichtliche Rückblicke, und doch darf gerade dieser Tag nicht vorübergehen, ohne dass wir auf ihn und die durch ihn ausgelösten Vorgänge und Entwicklungen einen Blick werfen, denn die Jugendbewegung ist eine der Quellen für die deutsche Revolution, die unser Volk mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in immer zunehmendem Maasse erfasst hat. Der Meissnertag nimmt darin eine hervorragende Stellung ein. Mit ihm wurde das in der Jugendbewegung waltende Gesetz sichtbar uns wurde sie geschichtsfähig. (…) Die dritte Wiederkehr des Meissnertages 1933 fiel in das Jahr der nationalsozialistischen Erhebung, und war das Jahr der Auflösung der Jugendbewegung, die sich ausgelebt hatte und nicht mehr Bewegung war. Freilich, die Bünde hätten, wenn sie den Ruf der Mahner und Warner rechtzeitig verstanden hätten, als geschlossene Glieder in den neuen Bau der Volksgemeinschaft eingehen können, aber sie hatten sich in ihre Eigenpolitik versponnen und so den Anschluss an die politische Machtbildung verpasst. Denn nur der Weg über die Macht konnte die deutsche Zukunft sichern, wer Deutschland erneuern wollte. So blieben nur die Menschen als die wertvollste Gabe der Jugendbewegung übrig, und diese Menschen haben fast alle heute, ohne dass sie viel davon sprechen, an mehr oder weniger hervorragender Stelle ihre Aufgabe im Rahmen der nationalsozialistischen Führung unseres Volkes und arbeiten hier still und vorbildlich. (…) 12 Waldemar Nöldechen (1894 – 1980) war ab 1942 im Amt für Raumordnung in Warschau als Referent tätig (anschließend ab 1944 Soldat an der Westfront); von Warschau aus hat er vermutlich im Herbst 1942 seinen neun Seiten umfassenden Text an Hannes Aff geschickt, der seit Sommer 1942 u. a. mit Knud Ahlborn und Enno Narten erste Überlegungen zur Begehung des 30-jährigen Meißnerjubiläums im Herbst 1943 angestellt hatte (s. o.). Nöldechen hatte den Text als Einleitung zu einem »Meißner-Heft« geplant, zu dem er dann Beiträge von verschiedenen ehemaligen Freideutschen einwerben wollte.

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Den Schlüssel zu allem haben wir mit der »Meissnerformel« in der Hand. Wenn es überhaupt einen Beweis dafür gibt, dass es die Kräfte des Blutes und der Rasse sind, die einen Menschen und ein Volk formen, so ist er hier erbracht. Denn – was kann das Ergebnis einer aus »eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit« geführten Selbsterziehung der deutschen Jugend anderes sein als der deutsche Mensch? Der Weg zu sich selbst, zum eigenen Blute, muss zum eigenen Wesen und zum eigenen Volke führen! Und er muss dabei die eigenen schöpferischen Kräfte frei machen und kann nur Ergebnisse haben, bei denen sich die Eigenschaften des deutschen Blutes auswirken. Und es war so! Das Ergebnis der Jugendbewegung ist, ausser sittlichen Werten und Ideen, der erneuerte deutsche Mensch gewesen. Im Menschlichen wurde der Grundsatz dieser Selbsterziehung der deutschen Jugend bereits nach weniger als einem Jahre auf die härteste Probe gestellt, die denkbar ist, als der erste Weltkrieg ausbrach, und diese Menschen und ihre Bewegung haben die Probe bestanden! Auf der dem Gedenken der im Weltkriege für Deutschland gefallenen Wandervögel auf der Ehrenmalburg Ludwigstein im Werratal unweit des Meissner angebrachten Tafel ist es in schlichten Worten verzeichnet: Von etwa 12000 ausgezogenen fielen mehr als 7000! Welche Gemeinschaft – und der Wandervogel war trotz der »Zersplitterung« in mehrere Bünde eine weltanschauliche Gemeinschaft! – hat einen ähnlich hohen Beitrag für die Zukunft Deutschlands geleistet?! Es darf dabei noch erwähnt werden, dass dieser Blutzoll von einer Auslese der jungen deutschen Mannschaft geleistet wurde, also edelstes Blut betraf! Der von Walter Flex im »Wanderer zwischen beiden Welten« beschriebene Wandervogel Ernst Wurche ist das Symbol dieses Opfers geworden. Wenn die Jugendbewegung keine nennenswerten praktischen Ergebnisse gezeitigt hat, so erklärt sich das zwanglos daraus, dass sie im Kriege ihre besten Führer hingegeben hat, die ihr nach dem unglücklichen Ende vielleicht die vermasste Hinwendung auf reale Ziele hätte geben können! So verblieben nur Ideen und ideelle, aber keine praktischen Werte, und Menschen, aber auch diese sind noch gross genug, um die Jugendbewegung zu einer Kernerscheinung der deutschen Revolution zu machen. Die »Revolution« ist durch die Wirksamkeit der deutschen Jugendbewegung mit zu einer »Evolution«, zu einer Entwicklung geworden. Das Meissnergesetz enthält nämlich noch einen anderen Grundsatz, der für die Revolution in Deutschland kennzeichnend ist: es enthält das Wachstumsprinzip, stellt also die von ihm erfüllte Bewegung zu der damals äusserlich, verstandesmässig und rational bestimmten »Organisierung« von Vereinen und Kultureinrichtungen in Gegensatz und als etwas Lebendiges hin. Man kann sehr viel äusserlich »organisieren«, d. h. konstruieren, nur kein lebendiges Wesen! (…) Es sei hier noch einmal auf den schon erwähnten Parallelismus von Jugendbewegung und nationalsozialistischer Bewegung hingewiesen und damit eine

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weitere Quelle von Missverständnissen verstopft: das Wachstum eines neuen Lebewesens ist im allgemeinen ein langsamer Vorgang, vor allem kann er – man denke an das Kind im Mutterleibe – nur im geschützten Raume vor sich gehen, wenn er zu seinem natürlichen Ziele, der Reife, führen soll. Die jungen Deutschen, welche die Fragwürdigkeit im Leben unsres Volkes erkannt oder erfühlt hatten, und von den sich daraus ergebenden neuen Aufgaben erfüllt und bewegt waren, wussten, dass es zunächst darauf ankam, neue deutsche Menschen zu bilden, d. h. aber sie heranwachsen zu lassen, mit denen das Volk und sein Reich dann auch politisch erneuert werden konnte. Man konnte diese Menschen nicht »machen«, sondern musste sie wachsen lassen und ihnen einen Wachstumsraum geben. (…) Das Wachstumsprinzip wird, wenn durch unsren Sieg der Lebensraum des deutschen Volkes endgültig gesichert sein wird, gerade hinsichtlich der Selbsterziehung der Jugend in der Hitlerjugend wieder voll in Kraft gesetzt werden müssen, und dann kann man nicht mehr darauf verzichten, das Vorbild des Wandervogels und der deutschen Jugendbewegung und ihre Erfahrungen zu beachten. Dann müssen die Missverständnisse ausgeräumt sein, damit das Feld frei wird für wirklich aufbauende Arbeit. (…) Es ist die wichtigste Leistung des Wandervogeltums, für die innere und äussere Gesunderhaltung unsres Volkes die Bedeutung dieses Wachstumsraumes entdeckt zu haben. In unsrer spezialisierten Zeit ist es notwendig, dass die heranwachsenden jungen Menschen, bevor sie in ihre Sonderaufgaben hineingeführt werden, zu vollen Persönlichkeiten ausreifen können. Und dafür die Selbsterziehungskraft der jugendlichen Gemeinschaft entdeckt zu haben, ist das eigentliche Verdienst der Jugendbewegung. (…) Die Führung der Hitlerjugend ist aber nicht berechtigt, aus allen diesen Erscheinungen den Schluss zu ziehen, dass die ganze Bewegung nichts getaugt und gar nichts geleistet hat und dass es dann nur die Hitlerjugend war, die der deutschen Jugend ihre neuen Ziele gezeigt hat! Sie konnte ihr ausser den Glauben an den Führer und ausser der notwendigen Disziplinierung und Vereinheitlichung nichts Wesentlich Neues bieten. Den Nationalsozialismus trug die Jugendbewegung sozusagen im Herzen, wenn auch dieses Wort in unsrem Kreise niemals gefallen ist. Auf diesen Grundlagen baut die Hitlerjugend auf, die der Wandervogel geschaffen hat. (…)

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Antwort von Enno Narten an Waldemar Nöldechen nach Information von Hannes Aff über das Projekt Nöldechens (Brief vom 25. 3. 1943 aus Hannover, AdJb A 210 Nr. 127, Auszug). Lieber Waldemar Nöldechen! Hannes Aff gab mir Deinen Plan für ein herauszugebendes Meissner-Heft und die von Dir geschriebene Einleitung dazu. Der Plan ist famos, doch die Zeit zur Verwirklichung denkbar ungünstig. Als Du ihn entwarfst, kannten wir noch nicht die Maßnahmen der totalen Kriegsführung, und ich glaube, dass nunmehr die Herausgabe zum Oktober d. J. ganz unmöglich ist. Aber Dein Plan scheint mir so wichtig, dass ich es für gut halte, wenn Du die einzelnen Kameraden, die für diesen oder jenen Beitrag infragekommen, auf alle Fälle aufforderst, die Aufsätze zu schreiben, damit sie einmal vorhanden und dann jederzeit zur Verfügung sind. (…)

3. Ulrich Noack: Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt, Frankfurt a.M. 1946, Auszug aus Kapitel 5: Hohenmeissner. Deutschlands neue Bundeshauptstadt und die Neubegründung der Freideutschen Jugend, S. 91 – 112.13 (…) So notwendig auch die Verlegung der Reichshauptstadt erscheint, so unnötig, ja sogar schädlich wäre es, die neue Bundeshauptstadt mit einer noch immer irgendwie einseitigen Tradition zu verknüpfen. Die einzige Lösung, die dem wahren Sinne auch dieses Neubeginns entspräche, wäre die Gründung einer wirklich Neuen Stadt. (…) Wir stehen am Westhang des Hohen Meißner. (…) Hier ist Raum für eine Stadt, die zum Symbol eines erneuerten Lebens und Wollens der ganzen Nation werden soll. Eine Stadt der politischen Gestalt Deutschlands, aber vor allem auch eine Stadt der deutschen Kultur. Alle schaffenden Kräfte sollen an ihr mitwirken und die Pläne ausgestalten für die Stadt der Deutschen. (…) Diese Stadt des Neubeginns hütet (…) in ihrem Bannkreis eine deutsche Tradition, die jüngste und reinste der deutschen Geschichte. Es ist eine Tradition, deren Ursprung erst 33 Jahre zurückliegt und die noch nicht in politische Formen gegossen wurde und die darum zu uns spricht, mehr wie das Frührot eines Morgens, der noch vor uns liegt. Es ist die Überlieferung der »Freideutschen Jugend von 1913«. (…) Diese Jugend zog in den Krieg, kämpfte, blutete, 13 Noack hat seinem Buch folgende Widmung vorangestellt: »Gewidmet einer kommenden Freideutschen Jugend, die mit hoffendem Herzen für Deutschlands Erneuerung eintritt.«

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fiel für Deutschland. Die Überlebenden aber zerfielen in zwei Hauptrichtungen: Eine, der das »allgemein Menschliche« und eine, der das »Völkische« als das Wesentliche erschien. Darüber zerbrach nicht nur die Einigkeit der freideutschen Jugend, sondern es zerbrach schließlich – ein Menschenalter später, als die Jugend alt geworden war – Deutschland selbst. (…) Aus der eigenen Bestimmung wurde ein zwar begeisterter aber blinder Gehorsam, aus der eigenen Verantwortung wurde ein zwar inbrünstiger, aber von aller selbständigen Verantwortung entbindender Glaube an die alleinige Führung des Einen Starken, von dem die Lehre ausging: »Du selbst bist nichts, Dein Volk ist alles. – Gut ist, was Deinem Volke nützt.« Und an die Stelle innerer Wahrhaftigkeit trat die Unterwerfung. (…) Es ist die heilige Aufgabe aller wirklich Gutgesinnten, einen neuen gesunden Samen gerade in die suchenden Herzen der z. T. noch irrenden jungen Generation zu senken. Eine neue Freideutsche Jugend soll sich gestalten können, soll reifen dürfen, gewiß auch sie in Licht, Luft und Sonne, bei Sport und Spiel, bei Musik und Gesang, in kleinen Lagergemeinschaften, aber vor allem unter allen freiheitlichen, geschichtlichen, geistigen und kulturellen Anregungen und darum mit offenen klaren Augen für ihr Vaterland und für die Welt und für den allein möglichen Weg des Vaterlandes in diese Welt. (…) Noch nie hatte es vielleicht eine Generation schwerer, »ihr Leben aus eigener Bestimmung zu gestalten«, wie diese. Sie ist mit ihrem ganzen Schicksal an das Deutschland gebunden, unauflöslich mit dem Gesamtleben Deutschlands verwachsen, auf Gedeih und Verderb dazu bestimmt, ein Teil dieses Landes und Volkes und dereinst der Träger seines Schicksals zu sein. (…) Das kommende Symbol für dieses ewige Deutschland wird aber für die suchende Jugend die neue Stadt bedeuten. Hohenmeißner soll die Leibwerdung des Eigensten-Guten sein, von dem wieder Seele, Geist und Gemüt erfüllt sein wird in der zweiten glücklicheren Hälfte dieses Jahrhunderts. An der Wende zu dieser zweiten Jahrhunderthälfte steht eine neue Generation, die als schwerstes Erbe die Last der Mitverantwortung an den Taten der Väter auf die eigene Schulter aufgebürdet bekommt. Was kann diese Jugend, da sie Deutschlands Jugend ist, kühneres tun, als im Geiste mutiger Solidarität diese Last mit einer Haltung zu tragen, die den Schicksalsknoten aller Vorwürfe und Anklagen aus der Vergangenheit gegen die Vergangenheit auflöst und in Gefühle der Achtung und Freundschaft verwandelt. Denn so mächtig ist das menschliche Herz – und das menschliche gute Wort, wenn es zur rechten Stunde und freimütig gesprochen wird. Die Jugend darf dieses Wort der Umkehr vor der Welt in Ehren sprechen. Die Stadt Hohenmeißner wird für dieses gesprochene Wort das sinnbildliche Zeichen sein. In der Mitte des Jahrhunderts, wenn seine zweite Hälfte beginnt, am Frühlingstag von 1950, soll die Stadt des jungen Deutschland gegründet werden. Die Freideutsche Jugend aber muß dieser Gründung voranschreiten, als Herolde, als

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Pioniere, als Pfadfinder, die sie ja in Wirklichkeit sind mit dem Namen, der in der ganzen Welt gilt für die Bünde der Jugend. (…)

4. Brief an sämtliche Jugendgruppen und Jugendorganisationen der Parteien, Konfessionen und freien Bünde, der Städte und Kreise und an Einzelpersönlichkeiten vom 20. Mai 1946 (abgedruckt in: Die junge Generation. Mitteilungsblatt vom Tag der jungen Generation dem Bund aller Bünde, Jg. 1, Nr. 1).14 Wir überreichen Ihnen hiermit die Beschlußfassung vom »Tag der jungen Generation« am 18. und 19. Mai in Frankfurt am Main und bitten Sie hierzu in Ihrem Kreise Stellung zu nehmen und uns Ihre Stellungnahme schriftlich an den ständigen Ausschuß des Kongresses mitzuteilen. Wir laden Sie herzlich zur Mitarbeit ein. (…) Wir richten unsere Einladung zugleich an alle aktiven Kräfte der jungen Generation, auch wenn sie noch keiner Organisation angehören. Es soll eine der Aufgaben dieser Arbeitstagung sein, über ein großes Jugendtreffen auf dem Hohen-Meißner am 11. und 12. Oktober dieses Jahres zu beraten. Wir wollen dabei nicht nur an die Tradition von 1913 anknüpfen, die im Geiste der eigenen Bestimmung, der eigenen Verantwortung, der inneren Wahrhaftigkeit nur der persönlichen Lebensgestaltung galt, sondern es soll darüber hinaus das, was der damaligen Jugend fehlte, nämlich die Klarheit freiheitlich politischen Denkens, Gestalt gewinnen. Wir bitten Sie auch, zu diesen Vorschlägen möglichst bald Stellung zu nehmen, damit Zeit zu den nötigen Vorbereitungen bleibt.

5. Vorgesehenes Tagungsprogramm zum Meißner-Treffen am 12./13. 10. 1946, AdJb A 210 Nr. 107. Der ständige Ausschuss vom »Tag der jungen Generation« und vom »Bund aller Bünde« ruft zur neuen Begegnung der Jungen Generation Deutschlands auf dem Hohen Meissner am 12. und 13. Oktober 1946. Alle Jugendorganisationen und alle Einzelnen, die dem »Bund aller Bünde« beitreten wollen, sollen sich – wie die 14 Unterschrieben von Ulrich Noack sowie fünfzehn Mitgliedern des »ständigen Ausschusses zum Tag der jungen Generation«.

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Freideutsche Jugend von 1913 – nach 33 Jahren neu zusammenfinden, um nach dem Zeitalter der Weltkriege, der Gewaltherrschaft und Zerstörung über alle Lander- und Zonengrenzen und alle Schranken der Klassen, Parteien und Konfessionen hinaus DIE WIEDERGEBURT EINES FREIHEITLICHEN DEUTSCHLANDS, das mit der Welt in Frieden und Freundschaft zusammenleben und zusammenwirken will, zu verkünden und zu vollstrecken in freiem Willensentschluss und in neuer Gemeinschaft der Gesinnung, der Einsicht und des Herzens, im Vertrauen auf die guten Kräfte in aller Welt, im Glauben an die höhere Macht über den Völkern und im geläuterten Willen: für ihre Herrschaft auf Erden, für das Reich der Menschenliebe ein Leben hindurch einzustehen aus höchster Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit. An diesen beiden Tagen der Feier und Besinnung wird die Ältere Generation des Hohen Meissner – die Freideutsche Jugend von 1913 –, die auf ihrer Jugendburg Ludwigstein versammelt ist, heraufkommen auf den Berg der grossen Erinnerung und wird hier der Jungen Generation von 1946 begegnen. Und wir werden sie grüssen als DIE FRÜHEN KÜNDER FREIER DEUTSCHER MENSCHLICHKEIT. Diese Begegnung bedeutet unser Bündnis mit dem besten und noch lebendigen Vermächtnis aus der Zeit vor den Kriegen, vor der Verstrickung unseres Volkes in Schuld und Schicksal. Unsere Begegnung soll vor dem Volk und der Welt ein Signal sein für das Kommen einer zweiten Jahrhunderthälfte, die den Fluch des Hasses und der Not überwindet und von uns nimmt. Das HOHE FEUER, das am Abend des 12. Oktober die Sendboten der JUGEND AUS GANZ DEUTSCHLAND auf dem Hohen Meissner entzünden, wird hinausleuchten über die Grenzen der drei Zonen, die sich hier in der Mitte Deutschlands begegnen, und soll zum Zeichen werden für die NEUE EINHEIT DEUTSCHLANDS durch den neuen Bund seiner jungen Generation.– Das sichtbare und gemeinsame Werk, das sich die Jugend Deutschlands nun selber errichtet, soll am folgenden Morgen, am Samstag, begründet werden: DIE HOHE-MEISSNER-SCHULE FÜR POLITISCHE ERZIEHUNG als die Stätte der neuen Haltung der WELTVERBUNDENHEIT im Geist der Worte unseres grössten Dichter : »Der Deutsche, statt sich in sich selbst zu beschränken, muss die Welt in sich selbst aufnehmen, um auf die Welt zu wirken. Nicht feindliche Absonderung von

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anderen Völkern darf unser Ziel sein, sondern freundschaftlicher Verkehr mit aller Welt.«

6. Vorgesehenes Tagungsprogramm zum Meißner-Treffen am 12./13. 10. 1946 (AdJb A 210 Nr. 107).15 Sonnabend, den 12. Oktober 1946 FEIER AM HOHEN-MEISSNER-FEUER 1.) Wann wir schreiten Seit an Seit (Lied) 2.) Ansprache des Ministerpräsidenten von Gross-Hessen Prof. Dr. Karl Geiler 3.) Der Sprecher der Freideutschen Generation von 1913 4.) Lied 5.) Der Sprecher der »mittleren« Generation Herr Hillesheimer 6.) Ein Sprecher der sozialistischen Jugend 7.) Ein Sprecher der christlichen Jugend 8.) Ein Sprecher der Flüchtlingsjugend 9.) Lied 10.) Die Feuersprüche der Jugendorganisationen (nur kurzer Satz, und alle sollen einen Holzscheit für den Feuerstoss mitbringen) zuletzt die Sendboten aus den anderen Zonen 11.) Schlussworte von Prof. Noack 12.) Nach Abbrennen des Feuers geht man schweigend auseinander, Später auf dem Heimgang Lieder. Jede Jugendorganisation soll bei ihrer Anmeldung mitteilen, ob sie einen Feuerspruch beitragen will.

Sonntag, den 13. Oktober 1946 VOR DER FLIEGERRSCHULE von 9.30 – 12.30 1.) Rede von Dr. Franke über die Begegnung der Generationen und die Aufgabe der Hohen-Meissner-Schule 2.) Aussprache und Kurzreferate 3.) Beschlussfassungen und Begründungserklärungen der Hohe-MeissnerSchule 15 Abgedruckt auch bei Arno Klönne: Der Hohe Meißner 1946 – gesamtdeutscher Traum und ein Freideutsches Jugendtreffen, in: ZEITUNG. Zeitschrift der Deutschen Freischar, Jg. 2011, Heft 2, S. 34 – 40, auf S. 35. Zu den Programmänderungen s. u.

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4.) Schlussworte von Prof. Noack 5.) Mittagessen vor der Fliegerschule 6.) Nachmittags: Musik und Tanz für die Jugend. Gleichzeitig Aussprache im Kreise der Führenden und Leitenden über die künftige Ausgestaltung des »Bundes aller Bünde«. 7.) Abschied am Bahnhof Velmeden.

7. Vorschlag zu ENTSCHLIESSUNGEN DER HOHEN-MEISSNER-TAGUNG am 13. Oktober 1946, AdJb N 35 Nr. 1772. 1. Die am Hohen Meissner am 13. Oktober 1946 auf Einladung des ständigen Ausschusses vom »Tag der jungen Generation« versammelten Vertreter von Jugendorganisationen aus ganz Deutschland rufen die deutsche Jugend und besonders die Jugendverbände auf, sich zum »Bund aller Bünde« zusammenzuschliessen. 2. Der »Bund aller Bünde« soll für die Einigung Deutschlands eintreten und wirkt darum für den Gedanken einer verfassungsgebenden Nationalversammlung in Frankfurt a. Main im Jahre 1948, an der auch die junge Generation ihren mitbestimmenden Anteil haben soll. 3. Zur Vorbereitung auf diese Mitwirkung soll der »Bund aller Bünde« überall alle aktuellen politischen Fragen zur Diskussion stellen und zur Bildung von Diskussionskreisen anregen. In ihnen soll auch die Begegnung mit erfahrenen Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens gepflegt werden, die bereit sind, ihre Erkenntnisse der jungen Generation mitzuteilen. 4. Der »Bund aller Bünde« soll als erstes gemeinsames Werk die Schaffung und Erhaltung einer Hochschule für politische Bildung in Angriff nehmen, die den Namen »Hohe-Meissner-Schule« tragen soll. Zur Ausgestaltung und Erweiterung dieses gemeinsamen Werkes sollen alle angeschlossenen Jugendverbände und Einzelmitglieder nach Leistungsfähigkeit einen monatlichen Beitrag zahlen, der zur Hälfte für Freiplätze auf der Hochschule bestimmt ist. 5. Als Ausdruck seines einmütigen Willens wird der »Bund aller Bünde« sich in jedem Jahr zweimal zusammenfinden: am »TAG DER JUNGEN GENERATION« in Frankfurt/M. am 18. Mai und am »HOHEN-MEISSNER-TAG« am 12. Oktober.

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8. Waldemar Nöldechen: Brief an Ulrich Noack vom 29. 9. 1946 (Auszug), AdJb 210 Nr. 127. Sehr geehrter Herr Professor! Aus den Mitteilungen in der Tageszeitung und aus der Veröffentlichung des »Tages der jungen Generation« ersehe ich, dass am 12./13. Oktober am Hohen Meissner eine Gedenkfeier veranstaltet werden wird. Auch von seiten meines Freundes Aff in Darmstadt werde ich als Mitglied der »Ludwigstein-Vereinigung« sowie von Enno Narten darauf aufmerksam gemacht. Ich möchte gerne an dieser Tagung teilnehmen und melde mich daher jetzt dazu an. (…) Ich muss sowieso nach dem Ludwigstein kommen, da wir hernach eine Arbeitstagung dort haben. (…) Jedenfalls zähle ich mich zu der alten Garde der Freideutschen (völkischer Flügel) und habe schon 1942 versucht, mit Ahlborn und anderen zusammen eine Würdigung der Meißnertagung von 1913 zum Jahre 1943 wenigstens in einer Denkschrift vorzubereiten. Aber das gelang nicht, weil dies der Krieg verhinderte. (…) Wir planten schon im vorigen Jahre, bei der nächsten möglichen Gelegenheit das 1943 mißlungene oder unmöglich gewesene 30jährige Gedenken des Meißnertages nachzuholen. Wir wussten, dass uns dies nicht vor 1947 gelingen könnte, da wir dabei an das gesamte Deutschland dachten und ausserdem jetzt noch nicht wieder soweit waren, um eine solche Tagung mit öffentlicher Wirkung gestalten zu können. Denn noch haften Vielen von uns (wie auch mir) die Dinge der Vergangenheit in innerlich lähmender Weise an (Reinigung von der Pg-Schaft), so dass wir noch nicht mit äusserlich reinen Händen vor die Jugend treten können (innerlich haben alle, die aus unseren Reihen in die NSDAP eintraten, sich ihre reinen Hände bewahrt, da sie es aus Idealismus taten) und so einstweilen noch verzichten müssen. Aber es ist uns eine Freude, dass es eine neue Jugend gibt, die mit reinem Herzen und reinen Händen das Erbe der alten Bewegung antreten will. (…) Mit ergebenem Grusse und unsrem alten »Heil«! Ihr W. Nöldechen

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9. Knud Ahlborn: Persönliche Einladung für den Empfänger, verfasst am 3. 10. 1946, hier an Werner Kindt vom 5. 10. 1946, AdJb N 14 (Nachlass Kindt), Nr. 132.16 In Erinnerung an den Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meissner findet am 11. und 12.X.1946 dort ein grosses Jugendtreffen statt, einberufen von Prof. Ulrich Noack – Königstein/Taunus, genehmigt vom amerikanischen Gouverneur. Aus dem Programm: Gründung eines Bundes der Jugendbünde, Begegnung mit den im schaffenden Mannesalter stehenden Freideutschen von 1913, Gründung einer »Hohen Meissner-Schule für politische Bildung«. Vom 13.–16. Okt. folgt eine Tagung auf dem Ludwigstein mit grundlegender Aussprache über den Zusammenschluss der Älteren zum »Meissnerbunde der Freideutschen« als politischer Arbeitsgemeinschaft zum Neubau Deutschlands in enger Fühlung mit der jungen Generation. Näheres, auch über Unterkunft bei Landrat Brübach/Witzenhausen oder auf dem Ludwigstein! Mit herzlichen Grüßen Dein Knud Ahlborn

10. Erich Weniger : Der Hohe Meissner (Auszug), in: Göttinger Universitäts-Zeitung, hg. von Dozenten und Studenten der Universität mit Genehmigung der Militärregierung, Nr. 18 vom 9. 10. 1946, AdJb N 2 Nr. 52.17 (…) Die Jugendbewegung wurde zwar zu einer Massenbewegung, die aber überall die inhaltlichen Zusammenhänge und Zielsetzungen des Erwachsenendaseins übernahm. Die Versuche bündischer Erneuerung der Selbsterziehungsbewegung der Jugend vermochten die Einheit nicht wiederherzustellen und ergaben nur neue Aufspaltungen. Sie verfielen außerdem mehr oder weniger einer verhängnisvollen Führerideologie, die es dann der Hitlerjugend leicht machte, sie zu liquidieren. Nun gehörte es zum guten Ton, vom Irrweg der liberalistischen freideutschen Jugend zu sprechen. Hat es solcher Entwicklung gegenüber einen Sinn, an die Freideutsche Jugend und an das Fest auf dem 16 Im Nachlass Ahlborn Nr. 51 befindet sich eine handschriftliche Liste der Einzuladenden. 17 Erich Weniger (1894 – 1961), ehemals Mitglied der Akademischen Freischar, war Direktor der Pädagogischen Hochschule Göttingen und gilt als einer der anregendsten deutschen Geschichtsdidaktiker.

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Hohen Meißner wieder anzuknüpfen? Darf man wie Noack hoffen, daß sich diese Tradition nunmehr in politische Formen gießen lasse? (…) Die Jugendbewegung hat der Jugend die jederzeit wiederaufzunehmende Möglichkeit geschaffen, inmitten der Zerstörung schon aus einer neuen vorweggenommenen Volksordnung zu leben, wie sie echter auch in Zuständen von relativer Vollkommenheit nicht zu denken wäre. Sie hat in ihren Zellenbildungen ein Beispiel der Gemeinschaftsbildung und des Zusammenlebens in brüderlicher Verbundenheit gegeben, das auch auf alle übrigen Lebensformen wirken und überall deren Vorform werden kann. Die entscheidende Leistung der Jugendbewegung wurde dabei die Auflockerung erstarrter Fronten, die Bildung einer neuen, die quer durch alle bisherigen Stellungen, durch alle Parteien, Richtungen und Interessengruppen geht und alle lebendigen Menschen, ohne sie aus ihren Zusammenhängen zu reißen, im Kampf gegen das Unwahre und Unechte, gegen bloße Gewohnheit wie gegen leere Neuerungssucht eint. Das wird auch heute möglich sein. Auch heute kann die Jugend als ein vorwärtsdrängendes, kritisches, erneuerndes Element wirken, immer wieder auflockernd, befreiend und zu neuer Wandlung rufend. So kann die Anknüpfung an den Tag des Hohen Meißner doch einen tiefen Sinn haben bei dem Fortschreiten zur freien Verständigung der Deutschen in eigener Verantwortung, aus eigener Bestimmung und mit innerer Wahrhaftigkeit.

11. Jugendtreffen auf dem Hohen Meissner (Auszug), in: Westfalenpost vom 22. 10. 1946, AdJb N 2 Nr. 52. (…) Das Treffen wurde am Sonnabend von Professor Ulrich Noack, Wiesbaden, namens des »Tages der jungen Generation« eröffnet. Als Vertreter der »Freideutschen Jugend 1913« hielt Knud Ahlborn einen Vortrag über die Geschichte der Jugendbewegung und den Weg zum heutigen »Bund aller Bünde«. Während seiner längeren Ausführungen wurde er mehrfach durch Sprechchöre und Zwischenrufe unterbrochen: »Wir sind die Jugend von 1946 und nicht von 1913«. Im Gegensatz zur Romantik der ehemaligen Freideutschen Jugend wurde als Hauptziel der heutigen Jugend eine Gemeinschaft gefordert, die sich nicht mit Theorien herumschlage, sondern praktisch aufbaue. Der Sonntag begann mit einem Referat von Dr. Walter Franke, Frankfurt, der den Plan einer »Hohen-Meissner-Schule« für politische Erziehung entwickelte. (…) Dr. Franke musste schliesslich seine Rede infolge lebhafter Opposition seitens der sozialistischen Jugend abbrechen. Unter dem Beifall aller Jugendgruppen stellte anschliessend Professor Schafft, Kassel, fest, man müsse schlicht

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und ohne ellenlange Manuskripte Pläne entwerfen, da die Jugend ungeduldig darauf warte, praktische Arbeit zu leisten. »Die Alten sind unsere Freunde, aber nicht mehr die Sprecher der Jugend«, wurde erklärt. Nach weiteren Debatten wurde schliesslich die Gründung eines »Bundes aller Bünde« und der »HohenMeissner-Schule« abgelehnt und vorgeschlagen, einen »Deutschen Jugendring« zu bilden, der alle Jugendgruppen Deutschlands umfassen (…) soll. Mit Vorarbeiten hierfür wurde der Kurhessische Jugendring in Kassel beauftragt. (…).

12. Die junge Generation. Jugendtreffen an historischer Stätte. Debatten auf dem Hohen Meissner – Der »Bund aller Bünde« abgelehnt – Appell an die deutsche Jugend (Auszug), in: Südost-Kurier, 1. Jg., Nr. 46 vom 16. 10. 1946, AdJb N 2 Nr. 52. (…) Die Anregung zu dieser Tagung ging von Professor Ulrich Noack aus, der seine Ideen und Ziele in einer 112 Seiten starken Broschüre zusammenfasste mit dem Titel »Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt«. (…) Wie wir aufgrund verschiedener persönlicher Unterredungen feststellen konnten, finden die Ausführungen und Meinungen Professor Noacks nicht überall Anklang. Hauptsächlich die Mitglieder der »Freien deutschen Jugend« und des Kasseler Bundes, der die sozialistische Arbeiterjugend vereinigt, sind mit Professor Noack nicht einverstanden. Sie fühlten sich teils übergangen, teils zurückgesetzt. Darauf ist wohl zurückzuführen, daß der Besuch der Tagung kein überwältigender war. Zwischen 5 und 6 Uhr nachmittags trafen die einzelnen Gruppen, die zum Berg gewandert waren, zu Fuß oder auf Lastwagen ein, welche die Amerikaner zur Verfügung gestellt hatten. Es wehte die gelb-weiße Fahne der katholischen Jugend, die weiße Fahne mit dem roten Falken, dass Abzeichen der sozialistischen Arbeiterjugend. Geschlossene Schulklassen der umliegenden Ortschaften marschierten auf und lagerten sich auf dem mit abgeblühten Erikastauden durchsetzten, von Büschen belebten Wiesengrund. Es war kalt, die Sterne funkelten. Damit versöhnte der herrliche Sonnenuntergang. Ein Tal, von weit ausschwingenden, mäßig hohen Bergen begrenzt, lag zu unseren Füßen: das großhessische Bergland. Eine zarte Nebelschicht war darüber hingebreitet, die Farbtöne von besonderer Schönheit hervorruft, ein flammendes Rot, wie der Romantiker Caspar David Friedrich es malte. Lautsprecher waren aufgestellt, Fotografen und Berichterstatter liefen umher, einige Lieder wurden gesungen.

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Die Parole der Sozialisten Alles in allem ein Auftakt, aber noch kein geschlossenes Bekenntnis. Sepp Weiß, der Bezirksvertreter der SPD, Kassel, kennzeichnete die Situation mit den Worten: »Die Jugend soll nicht traditionsgebunden sein und will nicht das, was vor dreißig Jahren das Ziel war. Hauptaufgabe ist heute eine Gemeinschaft, die nicht theoretisch, sondern praktisch aufbaut. Wenn wir wandern, wandern wir heute nicht aus der Stadt hinaus, sondern in die Stadt hinein zum Wiederaufbau.«

Der zweite Tag: Diskussion und Beschlussfassung Die Rede von Dr. Walter Franke, Frankfurt, die den organisatorischen Aufbau und die technischen Einzelheiten der geplanten Schule für politische Erziehung behandelte, wurde wiederholt durch die Jugendverbände unterbrochen. Durch die Opposition der sozialistischen Jugend wurde Dr. Franke gezwungen, seine Rede abzubrechen. Professor Schafft-Kassel wußte die heutige Jugend besser zu nehmen. Er fand die Form, wie die Pläne dargelegt wurden, nicht gut und verlangte einfache und schlichte Pläne, da die Jugend ungeduldig darauf warte, konkrete Arbeit zu leisten. Der Vertreter der sozialistischen Jugend Kassels erklärte: »Die Alten sind unsere Freunde, aber nicht mehr die Sprecher der Jugend.« Lebhafte Debatten schlossen sich an. Der »Bund aller Bünde«, der geplant war, wurde von den Jugendverbänden abgelehnt. Es wurde ein deutscher »Jugendring« in Vorschlag gebracht, der alle Gruppen innerhalb Deutschlands vereinigen soll und zwar gelegentlich einer Jugendtagung, die für Pfingsten 1947 vorgesehen ist. Auch der Plan einer »Hohen-Meißner-Schule für politische Erziehung« wurde fallen gelassen. Aufruf an die deutsche Jugend! Die vom »Tag der jungen Generation« zum 13. Oktober auf dem Hohen Meißner eingeladene deutsche Jugend ruft dazu auf, überall in Deutschland, in Stadt und Land und in allen Zonen sich zu Jugendringen in demokratischem Geiste zusammenzuschließen zur gemeinsamen Arbeit mit dem Ziel der Bildung des deutschen Jugendringes. Die deutsche Jugend bekennt sich aus höchster Menschlichkeit und politischer Verantwortung der Jugend aller Völker gegenüber zum Gedanken der demokratischen und sozialen Gerechtigkeit und Völkergemeinschaft. Mit innerer Wahrhaftigkeit will sie dem Völkerfrieden dienen.

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13. Dr. Kreissel: Der Hohe Meissner 1946 (Auszug), in: Die Botschaft, 1. Jg. 1946, Nr. 23/24 vom 10. 11. 1946, AdJb N 2 Nr. 52. (…) Die alten Freideutschen, unter ihnen Dr. Gustav Wyneken, sind zu diesem Treffen mit der Hoffnung gekommen, die politischen Folgerungen der Gegenwart aus dem Geiste der freideutschen Bewegung ziehen zu können. Es ging ihnen um die Realisierung der Pläne, die die Gründung eines »Bundes aller Bünde« zum Ziel hat und um die Überwindung der Parteiungen der erwachsenen Generation durch eine Politik der Jugend, in der diese Gegensätze aufgehoben oder in fruchtbare Beziehungen zueinander gebracht werden sollen. Die Hoffnungen haben sich nicht oder nur zum Teil erfüllt. Gleich wie damals, als die ältere Generation versuchte, die Jugend für ihre Ziele, lebensreformerische, völkische, politische, kulturelle, zu gewinnen, versagte sich die Jugend auch dieses Mal den Bestrebungen des reiferen Alters. (…) Und doch ging wie damals, als die Jugend sich auf jene Meissner-Formel einigte, »aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit« zu leben, auch dieses Mal von diesem Treffen auf dem Hohen Meissner der entscheidende Anstoss zur Einigung der deutschen Jugend aus, sich »zusammenzuschliessen zu gemeinsamer Arbeit mit dem Ziel des Deutschen Jugendringes.« (…)

14. Knud Ahlborn: Bericht über die Meissner Tagung 1946 am 12. und 13.10. (Auszug) sowie Aufruf vom 14.10. (Auszug), AdJb N 14, Nr. 132, N 2, Nr. 53. (…) Der lebendige Verlauf der Tagung erzwang jedoch eine andere Reihenfolge und auch ein von den Plänen der Einberufer etwas abweichendes Ergebnis. Schon zu Beginn der Feier nötigte »dienstliche Verhinderung« des Ministerpräsidenten zu einer Umstellung der Reihenfolge. Prof. Noack eröffnete die Versammlung. Danach verlas Dr. Knud Ahlborn – aus Zensurgründen an sein Manuskript gebunden – seine Feuerrede. Da die Dunkelheit schnell hereinbrach und die zahlreich versammelte Jugend – darunter viele Schulkinder aus den benachbarten Dörfern – in der nächtlichen Kühle zu frieren begannen und unruhig wurden, wurde Gustav Wynekens Ansprache als Einleitung auf den Morgen des nächsten Tages verschoben. (…) In Abweichung von dem Plane, zuerst Gustav Wyneken sprechen zu lassen, gab dann Noack am Vormittag des 13.10. dem Hauptredner der »mittleren Generation« Dr. Franke das Wort. Dieser setzte sich zuerst mit dem alten Meiss-

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nerbekenntnis auseinander und erblickte in dem Bekenntnis zur Selbstbestimmung und -verantwortung heute nicht mehr annehmbare Grundlagen. (…) Da sich seine – ebenfalls abgelesene – Rede sehr in die Länge zog, äusserte sich, vor allem wieder bei den jugendlichen Zuhörern, zunehmende Ungeduld und Unruhe, die sich mehr und mehr in Zwischenrufen und schliesslich mit stürmischem Verlangen nach Schluss des Vortrags Luft machte. (…) Die Mittagspause liess dann die erhitzten Gemüter etwas abkühlen, und am frühen Nachmittag versammelten sich die jüngeren Tagungsteilnehmer zur Fortsetzung des Gesprächs über den Bund der Bünde und die Hochschule für die politische Bildung, während die Älteren – an einem höher gelegenen Platze um ein Feuer geschart – Gustav Wynekens Vortrag über die politischen Gegenwartsaufgaben der Freideutschen Mannschaft hörten. Wyneken wies zuerst Frankes Kritik an der alten Meissnerformel mit historischer und philosophischer Begründung als abwegig und unberechtigt zurück. Natürlich könne jede derartige Formel missverstanden und auch missbraucht werden. Im übrigen sei die Erfüllung dieser Formel mit konkreten Inhalten und insbesondere die Ausrichtung der Freideutschen Bewegung auf aufbauende kulturpolitische Gemeinschaftsarbeit von vornherein von der Freideutschen Bewegung angestrebt und nur durch die bekannten äusseren Umstände bisher vereitelt worden. Jetzt aber sei der äusserste und völlig unaufschiebbare Augenblick der Einlösung der alten Versprechen der Freideutschen Bewegung von 1913 gekommen, und aus diesem Grunde habe er sich mit Knud Ahlborn und dessen Freunden erneut zusammengefunden, um die freideutsche Mannschaft endlich zum politischen Einsatz aufzurufen.. In freier Rede erläuterte er dann den gemeinsam verfassten Aufruf und verlas ihn danach im Wortlaut. Nach einigen werbenden und zur alsbaldigen Bildung von Ortsgruppen des neuen Bundes der Freideutschen vom Hohen Meissner auffordernden Ausführungen von Knud Ahlborn schloss die in völliger Einmütigkeit verlaufene Tagung der Alten. (…) Nach der Meissnertagung hat dann noch eine Arbeitstagung der Älteren auf der Jugendburg Ludwigstein stattgefunden, in der sowohl die Arbeit der Vereinigung der Freunde der Jugendburg Ludwigstein neu ausgerichtet als auch die Vorbereitung zur Gründung des neuen Bundes der Freideutschen vom Hohen Meissner getroffen und ein Gründungsausschuss dieses Bundes eingesetzt worden ist. Es sollen nun Unterschriften unter den Aufruf gesammelt werden und – mit Genehmigung der Besatzungsmacht – überall Ortsgruppen gebildet werden.18

18 Offenbar hat es jedoch deutliche Meinungsverschiedenheiten vor allem zwischen Wyneken und Schafft über den Aufruf gegeben; s. dazu einen Bericht von Otto Steckhan vom 20. Oktober 1946 (AdJb A 210 Nr. 107).

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Burg Ludwigstein: Aufruf vom 14. Oktober 1946.19 (…) Das Bild des deutschen Menschen gilt es neu zu prägen, ein neues adliges Bild von ihm schwebe uns leuchtend vor, über allem Ringen mit der Not, bei aller harten und geduldigen Arbeit um Deutschlands äußeren und inneren Wiederaufbau und vor allem bei dem heiligen Werk der Erziehung und der Jugendführung – Deutschlands grösster, Deutschlands fast einziger Hoffnung. Zu diesem Willen rufen wir die Jugend auf, in diesem Willen sich zu uns finden, wer der alten Losung vom Hohen Meissner treu geblieben ist oder wer sich neu zu ihr bekennt. (…) Unendlich schwer wird der Kampf sein gegen die äusseren Bedrängnisse, aber vielleicht noch schwerer der gegen die innere Not. Wir wollen diesen Kampf aufnehmen im eigenen Lebenskreis und in der Öffentlichkeit, den Kampf gegen Verzweiflung und Hass, gegen Müdigkeit, Trägheit und Stumpfheit, gegen Selbstsucht, Lieblosigkeit und Gedankenlosigkeit, gegen Unwahrhaftigkeit, Feigheit, Phrase, Plattheit und Demagogie, gegen Masseninstinkte und faule Gewohnheiten, gegen Rohheit, Plattheit und Gemeinheit. Nur ein reines Wollen kann uns den Mut zu neuem Glauben und neuer Hoffnung geben. Unerschütterlich, unbestechlich, unermüdlich, der Wahrheit verschworen, zusammengeschlossen in brüderlicher Treue, so darf auch eine kleine Schar den grossen Kampf wagen, sich einreihen in den grossen Weltkampf des Lichtes gegen alle Mächte der Finsternis. Wir wollen ein Anbruch der Erneuerung, der Verjüngung unseres Volkes sein, ein Samenkorn des Guten, der Liebe, der Wahrheit und der Sicherheit in der Welt. Dazu rufen wir euch auf, Kameraden und Brüder, dazu gründen wir von neuem den Bund der Freideutschen vom Hohen Meissner. Erneuern wir den alten, schönen, heiligen Bund und erfüllen wir die Hoffnung und das Versprechen der einstigen Freideutschen Jugend! Burg Ludwigstein, den 14. Oktober 1946 Gustav Wyneken

Knud Ahlborn

19 Der maschinenschriftliche Aufruf umfasst sechs engzeilige Seiten und setzt sich vor dem hier abgedruckten Schlussteil nach einer Einleitung mit zehn Kernbegriffen auseinander : deutsche Nation, zentrale Wirtschaftsplanung, Volksgemeinschaft, Sozialismus, Demokratie, Volksbildung, Krieg und Militarismus, Antisemitismus, Jugend, deutscher Mensch – handschriftlich unterschrieben von insgesamt 21 Personen. Außerdem wurde eine »Satzung des Bundes der Freideutschen« verabschiedet. Im Mai 1947 hat – offenbar im Auftrag von Wyneken und Ahlborn – der Sprecher der Freideutschen Arbeitsgemeinschaft Göttingen Walter Gerkens den Aufruf und die Satzung in gedruckter Form verschickt – mit der Bitte um Unterstützung und Unterschrift unter eine Mitgliedserklärung, nachdem am 21. 3. 1947 die Militärregierung die Gründungserlaubnis erteilt hatte.

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15. Briefwechsel Werner Kindt/Hermann Schafft vor und nach dem MeißnerTreffen: 8.10./21.10./28. 10. 1946 (Auszug), AdJb N 14 Nr. 132. Lieber Hermann Schafft! (Hamburg, den 8. 10. 1946) (…) Ich hoffe, dass wir uns nun doch in aller Kürze sehen, denn nachdem ich heute das Programm der geplanten Wochenendtagung auf dem Hohen Meissner Ende dieser Woche erhielt, habe ich mich entschlossen, hinzufahren.20 Zumindest denke ich, bei dieser Gelegenheit allerlei Leute zu sehen und Gedanken austauschen zu können. (…) Knud Ahlborn ist derselbe geblieben: ein netter Kerl, aber ein idealistischer Phantast mit mangelhaft entwickeltem Fingerspitzengefühl. Ich habe Abende versucht, ihm seinen Wiederbelebungsplan der Freideutschen Jugend auszureden, aber ohne Erfolg. Im übrigen fährt er natürlich auch zum Hohen Meissner und will vorher noch mit Wyneken in Göttingen konferieren. Na, wir werden ja sehen, was dabei herauskommt. Mir persönlich erscheint ein menschlicher Kontakt zwischen 40 bis 50 Leuten der ehemaligen Jugendbewegung wichtiger und zukunftsträchtiger als jede Massenorganisation mit Satzungen und politischen Thesen, wichtiger auch als ein »Bund der Bünde«, wie er anschliessend für das Meissner-Treffen in Aussicht genommen ist. (…) Lieber Werner Kindt! (Kassel, den 21. 10. 1946) Leider bis Du nicht auf dem Meißner gewesen. Es war eine ganz große Pleite. Der gute Noack ist bestenfalls eine Art schwärmerischer Liturg der Jugendbewegung, aber war dem Ganzen einfach nicht gewachsen. Knud Ahlborn wurde von ihm ebenso wie Franke durch die Auflage, sich an ein Manuskript zu halten, in eine unmögliche Lage versetzt. Bei dem Ganzen ist nun nur so etwas wie ein Jugendring herausgekommen, der aber mir noch mehr eine Verhüllung als eine Lösung der vorhandenen Probleme zu sein scheint. Ich hätte gerne von Dir eine Mitteilung über die Lage in Hamburg und über den dort vorhandenen Jugendring, besonders auch über die Freie Deutsche Jugend, deren Vertreter sich ausdrücklich mit der Jugend in der Sowjetzone identifizierte. (…) Lieber Hermann Schafft! (Hamburg, den 28. 10. 1946) (…) Ahlborn hat hier in Hamburg nach der Meissner-Tagung eine grosse »Pressebesprechung« abgehalten, zu der er alle möglichen bekannten und unbekannten Leute eingeladen hatte. Ich war noch krank und konnte nicht teilnehmen. Berichtsweise hat er sich aber sehr begeistert und soll auch behauptet 20 Kindt konnte aus Krankheitsgründen dann doch nicht zum Meissnertreffen fahren.

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haben, dass Du ganz auf der Linie seines geplanten Freideutschen Bundes lägest. Heute nun erhielt ich von ihm einen langen Brief mit der Bitte, in Hamburg zusammen mit Erich Lüth (…) für Mitte November ein »vorbereitendes Treffen der Freideutschen von 1913« zu arrangieren, auf dem Wyneken und er sprechen wollen. Langatmige Satzungen und noch unmöglichere Leitsätze des von ihm geplanten Bundes hat er mir beigelegt (…). Ich habe den ganzen Schmus noch gar nicht genau durchgesehen, habe aber einige Abneigung, mich auf Knuds Wunsch einzulassen. (…) Grundsätzlich stehe ich (mit meinen engeren Kameraden aus der alten Deutschen Freischar) auf dem Standpunkt, dass sowohl Ahlborns und Wynekens Plan des »Bundes der Freideutschen von 1913« wie auch Noacks »Bund der Bünde« abwegig sind, zumal wenn sie in jugendbewegt-idealistischer Weise auf dem Bekenntnis zu Programmen und Leitsätzen (über die man dann noch diskutiert) aufgezogen werden sollen. Wichtiger erschiene mir eine engere Verbindung der 30, 40 oder 50 wesentlichen Leute aus allen Bünden, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ihre persönliche Bewährungsprobe bestanden haben, in Form einer Art verschworenen Männerbundes, der sich gegenseitig unterrichtet und in die Hände arbeitet. Es fiele nicht schwer, die Liste dieser Männer (und natürlich auch einiger dazu gehöriger Frauen) aufzustellen, aber allzu viele der alten Freideutschen wären wohl nicht darunter. (…)21

16. Knud Ahlborn: Vorbesprechung für den Meissnertag 1953/Aufruf vom Dezember 1952 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110. (…) Wenn die Meissner-Generation auch durch zwei Weltkriege und die politischen Wirren, die damit zusammenhingen, dezimiert wurde, so sind doch immer noch mehrere tausend Männer und Frauen in Deutschland am leben, die die Jugendbewegung von ihren ersten Anfängen her mit erlebt haben, ihr dauernd treu geblieben sind und noch heute an ihrem Sein und Werden lebendigen Anteil nehmen. (…) Aber nicht nur die geistige Kontinuität der Bewegung wurde bewahrt, es hat erfreulicherweise auch nie an begeisterten Trägern des neuen Reiches der Jugend gefehlt, die mit dem Meissner-Bekenntnis ernst gemacht und den Lebensraum der jungen und heranwachsenden Jugendbewegten gemäss den 21 Solche Überlegungen führten dann Pfingsten 1947 zu einem Treffen von Werner Kindt sowie von Friedrich Kreppel und Hans-Joachim Schoeps angesprochenen Jugendbewegten der 1920er Jahre im Kloster Altenberg bei Wetzlar. Ergebnis war die Gründung des bis zum Jahre 2000 bestehenden »Freideutschen Kreises«.

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Bedürfnissen der verschiedenen Altersschichten ausgestaltet haben. (…) Dass diese Neubelebung in der Form der bündischen Jugend und auch jetzt nach dem letzten Kriege wieder in vollem Umfange gelungen ist, ist den verantwortungsbewussten und mutigen älteren Führern der jetzt aufblühenden neuen Bünde ausserordentlich zu danken. (…) Wenn nun die Freude der Erinnerung und der Wiederbegegnung naturgemäss die Meissner-Generation der Freideutschen auf dem Treffen 1953 besonders erfüllen wird, so wird doch die Begegnung mit den heutigen Trägern der Bewegung, d. h. den freien Jugendbünden der Gegenwart, diesem Treffen erst die innere Begründung aus dem Geiste der Jugendbewegung selbst heraus geben. (…) Wenn sich die Gesamtbewegung in ihrer bunten Vielgestaltigkeit, die sie auch heute schon wieder, getreu ihrem Bekenntnis zum eigenen Wege, auf dem Meissnertage 1953 erneut als eine grosse Einheit erlebt und manifestiert, kann von dieser »communio mystica« eine Ausstrahlung von Kräften ausgehen, die in potenzierter Weise zu einer Erneuerung der geistigen Haltung und der Lebensformen Deutschlands beitragen wird. (…) Es gilt, 1. einen würdigen Aufruf zur Verbreitung durch Presse und Rundfunk zu verfassen, 2. eine Denkschrift vorzubereiten, die in authentischer Weise den durch die Jugendbewegung bezeichneten Lebensstrom darstellt. (…)

17. Reaktionen auf den Aufruf von Ahlborn Wyneken an Ahlborn 9. 12. 1952 (Auszug), AdJb N 2 Nr. 66. Lieber Knud, es ist an sich bedenkenswert, daß Ihr an das Meißner-Jubiläum gedacht und die Vorbereitung in die Hand genommen habt; laßt sie Euch nicht aus der Hand nehmen von Unberufenen! Nun kommt es aber darauf an, was Ihr Euch unter einem neuen Meißner-Treffen vorstellt. Möge es bloß keine Gedächtnisfeier werden, sondern wirklich, wie Deine Überschrift lautet, ein neuer »Meißnertag«, den wir ja gar sehr brauchen könnten. An einem Alten-HerrenTreffen hätte wenigstens ich kein Interesse, es sei denn, daß ein Meißner-Bußtag daraus würde. Ich wundere mich immerhin ein bißchen über Deine Behauptung, daß die Wiederherstellung der alten Jugendbünde »im vollen Umfang« gelungen sei und dies den Führern aus der alten Generation zu verdanken sei. Und die sollen nun, als die Gereiften und Erprobten, ihre »Erfahrungen« der Jugend zugute kommen lassen? Wer 1913 einen solchen Gedanken geäußert hätte, wäre ausgelacht worden. Die Erfahrungsweisheit der – jungen Romantiker, alten Spießer – kennen wir doch! Ich dachte, wir wären längst darüber einig, daß das Gros der alten Jugendbewegungsgeneration total versagt hat, und unsere Erfahrungen von 1947/48 haben uns bewiesen, daß sie das Erbe oder die Tradition

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vom Hohen Meißner nur vergessen, verschludert und verraten hat. Ich glaube, daß dieser Großteil der Älteren der gegenwärtigen Jugend nichts mehr zu bieten hat als ein abschreckendes Beispiel. Der Meißnertag war groß, schön, einzigartig, ein unvergleichlicher Tag in der deutschen Geschichte, viel wichtiger z. B. als das Wartburgfest 1817, feiern darf ihn aber nicht die Masse derer, die ihn verschludert haben, sondern nur die wenigen Getreuen mit einer neuen Jugend. Der Blick darf nicht rückwärts gerichtet sein, sondern durchaus nur vorwärts. Es haben sich auch die Probleme der Jugend geändert, und ich glaube nicht, daß das Ideengut von 1913 heute noch genügt. (…) Wyneken an Ahlborn am 23. 1. 1953 (nach Erhalt eines Rundschreibens von Ahlborn vom 15. 1. 1953) (Auszug), AdJb N 2 Nr. 69. (…) Du schlägst vor : eine Festschrift, die lediglich rückwärts blickt (»das Ergebnis der Lebensarbeit« von früheren Freideutschen in verschiedenen Berufen und Betätigungen) und eine Arbeitswoche, die sich wiederum mit den Themen dieser Festschrift beschäftigt. Also nicht nur, daß offenbar Deine Linke nicht weiß, was Deine Rechte schreibt, sondern Dir selbst ist inzwischen die Idee eines neuen Meißner-Treffens völlig abhanden gekommen und durch eine alte Liebhaberei von Dir, nämlich eine Art Vereinsmeierei, ersetzt worden. Da Dir anscheinend Phantasie und Produktivität auf diesem Gebiet fehlen, gleitest Du automatisch zurück in die landläufigen Gleise sozialer und kultureller Reformen, die an sich ganz nett und sogar wichtig sein können, aber mit dem Freideutschtum des Hohen Meißner und mit einer freien Selbstkonstituierung der Jugend – das war die Tat, das Erlebnis, die Bedeutung des Festes von 1913 nichts zu tun haben. Im Einzelnen: Die Festschrift: Ist Dir denn gar nicht klar, wie langweilig ein solches Sammelsurium (an sich wohlmeinender und sicher tief vom eigenen Wert überzeugter) Berichte werden würde? (…) Welch eine Widerspiegelung des inzwischen eingetretenen Abstieges und Verfalls wäre die Gegenüberstellung der Festschrift von 1913 und dieser von 1953! (…) Es gäbe eine Gestaltung der Festschrift, die wirklich großartig, erschütternd und klärend wäre, nämlich wenn die »Berichterstattung« durch die alten Freideutschen bewußt und gewollt und direkt eine rein negative wäre – ein peccavimus, eine Beichte all ihrer Versäumnisse. Wie ich schon schrieb: wenn retrospektiv, dann wäre ein »Bußtag« die einzig angemessene Feier mit der berühmten »inneren Wahrhaftigkeit«. (…) Du willst die Ordnung dieses Tages der Jugend überlassen – was soll sie sich dabei denken? Soll sie euch einladen (wird sie?) oder ihr sie? Soll sie von sich aus euer Fest feiern? (…) Ich halte den ganzen bisherigen Plan des Gedächtnisfestes vom Hohen Meißner für durch und durch und irreparabel verfehlt und verpfuscht; in dieser Gestalt wäre es für mich ein letztes Glied in der Kette freideutscher Versäumnisse. (…)

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Otto Steckhan an Ahlborn am 27. 1. 1953 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110. (…) 1. Der Meissnertag 1913 hat den Durchbruch einer neuen politischen Gesinnung verheissen. Zwar nur ein Versprechen, das nicht gehalten wurde, weil der erste Weltkrieg den schwungvollen Aufbruch der jungen Generation doch recht bald gedämpft und zum Teil ins Gegenteil verkehrt hat. (…) Nur wenn Du mit frischen lebendigen Kräften unmittelbar an dieses Versprechen von 1913 anknüpfen könntest, dürftest Du von einer Fortsetzung der freideutschen Sache sprechen. 2. 1913 der Durchbruch einer neuen politischen Idee und heute die Verneinung politischen Strebens gerade auch unter den alten Freideutschen. (…) Wir haben vor allem das grosse politische Versagen des deutschen Volkes erlebt. Die Schande, die auf uns ruht, können wir vielleicht nie mehr gutmachen. Es sei denn, dass sich unser Volk einmal zu einem ganz grossen Sühnebeitrag für die Zukunft der Menschheit hinaufreissen lassen wird. Heute will man noch nicht hören von der Unmenschlichkeit, die das deutsche Volk zu verantworten hat, weil es zum Teil für das Heraufkommen des Untermenschen gearbeitet hat und weil es zum anderen Teil nicht genügend dagegen gewirkt hat. Ich denke dabei noch nicht an die eigentlichen Verbrecher, von denen viele Tausende täglich unter uns herumlaufen, die schuldiger waren als die jungen aufgehetzten Leute von Oradour. Wäre es nicht eine grosse und schöne Aufgabe, das deutsche Volk von dieser ewig drückenden inneren Schuld zu erlösen? (…) Nein, diese Schande darf nicht vergessen werden, wenn das deutsche Volk noch einmal wieder Anspruch auf Geltung erringen will. Der heutigen jungen Generation zu helfen, sich für die Aufgabe aufzuschliessen, das wäre auch unsere Aufgabe. (…) Die Freideutsche Bewegung war eine politische Bewegung. Nur auf politischem Gebiet könnte eine neue Aufgabe liegen. Und auch die geplante Feier der 40jährigen Wiederkehr könnte nur unter politischem Gesichtspunkt stehen. Nicht die Pflege aller möglichen Sparten des sozialen und kulturellen Lebens, sondern nur ein grosser zündender politische Gedanke dürfte Inhalt einer solchen Feier sein. Die heutige junge Generation für diesen Gedanken zu gewinnen, würde aber eine politische Kraft erfordern, die wir seit 1945 schon hätten entwickeln müssen. (…) Wenn keine Aussicht besteht, die junge Generation durch einen zündenden Gedanken zu aktivieren, und ich sehe keinen Weg dazu, dann sollten wir überlegen, ob nicht der ganze Plan aufzugeben ist. Es steht meiner Meinung aber nichts im Wege, ein freundschaftliches Treffen der alten Meissnerfahrer anheimzustellen. Vielleicht findet das Jahr 1963 eine aufgeschlossenere Generation, mit der dann von den Überlebenden das 50. Jahr der Wiederkehr des Meissnerfestes richtig gefeiert werden könnte. (…)

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Vereinigung »Jugendburg Ludwigstein e.V.« an Ahlborn, 21. 2. 1953 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110.22 Lieber Knud Ahlborn! Nachdem nun am 15.2. auf der Burg eine Beiratssitzung stattgefunden hat, auf der sich Vorstand und Beirat eingehend mit Deinem Plan eines Meissnertreffens beschäftigt haben, können wir Dir heute die endgültige Stellungnahme unserer Vereinigung mitteilen (…): »Nach übereinstimmender Auffassung von Beirat und Vorstand der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e.V. kann die Vereinigung sich an einem Meissnertreffen zur 40jährigen Erinnerung an 1913 mit offiziellem und offiziösem Charakter (Anruf der Öffentlichkeit, Rundfunk, Presse usw.) nicht beteiligen. Dagegen wird die Vereinigung ein Treffen der alten Meissnerfahrer auf der Burg und eine Begegnung mit Vertretern der Jugendbünde, das zu Berichten und Gesprächen zwischen der jungen und alten Generation führt, weitgehend unterstützen. Sie wird sich auch selbst daran beteiligen (…).« Wir werden eine Jubiläumsfeier mit Kundgebungscharakter auf jeden Fall nicht mitmachen und uns davon distanzieren, während wir uns an einem internen Treffen der Meissnerfahrer recht gern beteiligen werden. (…)

18. Ludwigstein/Klappholttal: Einladung vom September 1953 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110. Der Freideutsche Jugendtag vom 11.–13. Oktober 1913 jährt sich 1953 zum 40. Male. Die Angehörigen der damaligen Jugendbünde (…) sind inzwischen selbst in höhere Altersstufen eingerückt und 40 weitere Jahrgänge sind durch die Jugendbewegung gegangen und haben ihre Prägung durch diese Bewegung erhalten. (…) Ausserdem sind viele geistige Impulse der Bewegung nicht nur in verwandte Jugendgruppen, die ursprünglich in den Bereich der Jugendpflege gehörten, eingedrungen und haben diese befruchtet. (…) Auf den verschiedenen Kulturgebieten sind Männer und Frauen, die einst der Jugendbewegung angehörten, aktiv und führend hervorgetreten, und viele der Anregungen, die aus der freideutschen Bewegung kamen, wurden hier inzwischen verwirklicht. Viele der Aufgaben aber, die im Laufe der Zeit von den Freideutschen als dringend und wichtig erkannt wurden, konnten infolge der Kämpfe und Wirrungen auf dem politischen und militärischen Felde bisher nicht ernsthaft in Angriff genommen 22 Der Brief ist von Hans Lacher, dem Schriftführer der Vereinigung, verfasst worden; den Vereinigungsbeschluss haben Hermann Schafft, Hans Lacher und Arthur Bode unterzeichnet.

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werden. (…) Die 40jährige Wiederkehr des ersten freideutschen Jugendtages, von dem so grosse Wirkungen ausgegangen sind, gibt nun den willkommenen Anlass, einen Überblick über die Gesamtbewegung zu gewinnen und nun die gegenwärtigen Zeitaufgaben der Bewegung auf allen Gebieten und in ihren verschiedenen Altersstufungen ins Auge zu fassen. (…)

19. Programm der Arbeitstagung »Herkunft und Wirken der freideutschen Bewegung 1913 – 1953« (Auszug), in: Das Nachrichtenblatt, Nr. 23/24, September/ Oktober 1953, S. 9. (…) Die Vorkämpfer und Gestalter, soweit sie noch am Leben sind, halten es für ihre Pflicht, das in der Jugendbewegung entdeckte Recht auf Jungsein den kommenden Generationen zu erhalten, damit auch bei ihnen entsprechende schöpferische Kräfte wirksam bleiben, die den nächsten Jahrzehnten ihre Prägung geben. Die Jugendburg Ludwigstein, die, das Erbe der einstigen Bewegung bewahrend, zur Stätte des Lebens der heutigen Jugend geworden ist, lädt zu solchem Gespräch und Gedankenaustausch ein. Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e.V. Dr. Karl Vogt23 Arbeitsausschuß Gerhard Rüpprich, Dr. Knud Ahlborn Freitag, den 13. November 1953: Ausfahrt und Wanderung auf dem Hohen Meißner – Nachmittags im Schwalbental: Rückschau und Ausschau. Leitung: Gerhard Rüpprich24 – Geselliger Abend auf der Burg Samstag, den 14. November 1953: Eröffnung der Arbeitstagung: Gerhard Rüpprich – Knud Ahlborn: Herkunft und Zukunft der freideutschen Bewegung25 – [Hermann Bohnenkamp26] Die Bedeutung der Jugendbewegung für den

23 Karl Vogt war bei der Mitgliederversammlung am 4. 4. 1953 als Nachfolger von Hermann Schafft zum neuen Vorsitzenden der Vereinigung gewählt worden. 24 Hier hat Gustav Wyneken, der sich nach anfänglicher Ablehnung der Tagung durch Karl Vogt dann doch hatte einladen lassen, ausführlich Stellung bezogen. 25 Kurz vor der Tagung hatte Knud Ahlborn eine »Kurze Chronik der freideutschen Jugendbewegung zu ihrem 40. Jahrestag« veröffentlicht (Voggenreiter Verlag Bad Godesberg, 18 Seiten). Gleichzeitig war eine Broschüre von Waldemar Nöldechen mit dem Titel »Die deutsche Jugendbewegung. Versuch einer Wesensdeutung« (= Schriften des Sternbergkreises, 5. Heft, 62 Seiten) erschienen. 26 Bohnenkamp ist im Programm noch nicht erwähnt.

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Aufbruch in der Pädagogik – W. Twittenhoff: Die Sendung der Jugendmusikbewegung27 – Willi Geißler : Jugendbewegung und bildende Kunst Sonntag, den 15. November 1953: Heinrich Heise: Stellung und Aufgabe der Jugendbewegung im politischen Raum – Allgemeine Aussprache, eröffnet durch Sprecher der jungen Bünde – Kurzbericht über die Bünde und Werke Die Teilnehmer werden gebeten, Bilder, Berichte und Dokumente, die das Meißnerfest 1913 betreffen, mitzubringen. Während der Tagung findet eine Ausstellung über das Schrifttum der Bewegung statt.

20. Rückblicke und Reaktionen W. J. [Walter Jantzen]: Arbeitstagung Hoher Meißner 1913 – 1953 (Auszug), in: Das Nachrichtenblatt Nr. 24 von Dezember 1953, S. 4 – 6. Vierzig Jahre nach dem freideutschen Jugendtag zu einer Begegnung der Überlebenden von damals mit den nachfolgenden Generationen aufzurufen, war ein Wagnis. Die Erfahrungen aller späteren 10-Jahresfeiern sprachen dagegen. Zudem war der Gedanke eines solchen Treffens auf Ablehnung gestoßen und zwar mit ernstzunehmenden Gründen. Es war richtig, daß jede Selbstbeweihräucherung verhindert werden mußte und zu Erfolgs- und Siegesfeiern nicht der geringste Anlaß bestand. Wenn die Ludwigsteiner doch daran gingen, dem an sie herangetragenen Wunsch nicht auszuweichen, dann hatten sie Gründe besonderer Art. Die Entwicklung der Arbeit auf dem Ludwigstein, die jährlich mehr als 50.000 Besuchern gilt, ist im wesentlichen bestimmt durch die »Generation der Mitte«. Die heute 40- bis 50-jährigen haben den Meißner 1913 nicht miterlebt, aber es ist ihnen bewußt, daß ihre eigene Entwicklung zwischen beiden Kriegen wesentlich mitbestimmt wurde durch die Impulse, die von jenen Älteren ausgegangen waren. Die Generation der Mitte steht heute auf der Höhe ihres Lebens, sie ist Mittlerin zu der jungen Generation von heute. Sie ist in Beruf und Bund auf der Höhe ihres Schaffens. (…) Die Meißnertage 1953 hatten einen uns entsprechenden Stil. Sie waren getragen von männlicher Kraft und verbindender Herzlichkeit. Sie entbehrten jeglicher Dissonanz und Querköpfigkeit. Sie ließen Kontinuierliches im Bezirke der geistigen Freiheit im Raume der letzten 40 Jahre hervortreten und waren frei von gekünstelter Emphase. (…) Auftakt zu den gemeinsamen Tagen war ein zwangloses Beisammensein mit Gustav Wyneken im Hause von Freund Gröling auf dem Hohen Meißner. Dabei ging es nicht darum, von diesem ältesten noch lebenden Sendboten und Anreger 27 Der vorgesehene Vortrag von Twittenhoff hat nicht stattgefunden.

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jenes freideutschen Aufbruches von 1913 Lehrmeinungen oder Proklamationen entgegenzutreten. Die Gespräche waren von jener herzlichen Verbindlichkeit getragen, die die jüngere Generation einer gereiften Persönlichkeit entgegenbringt, der sie wesentliche Anregungen sowohl in Nachfolge wie in Gegnerschaft zu danken hat. (…) W.R.: Der Schwur vom Hohen Meißner. Zum 40. Jahrestag des »Freideutschen Jugendtreffens« (Auszug), in: Der Freiheitsbote Nr. 13 vom November 1953. (…) Und nicht zuletzt durch die große nationale Not unseres gespaltenen, zerrissenen und von fremden Mächten unterdrückten Volkes muß es die Aufgabe aller deutschen Eltern und Erzieher sein, die deutsche Jugend wieder zur Verantwortung und zur inneren Wahrhaftigkeit zu erziehen. So steht heute nach 40 Jahren der Hohe Meißner vor uns, als Gelöbnis und heilige Verpflichtung der Älteren und als Mahner der deutschen Jugend. Uns allen bleibt es aufgegeben, dafür zu sorgen, daß unsere Jugend und darüber hinaus unser ganzes deutsches Volk die innere Uneinigkeit und Spaltung überwindet. Im einheitlichen Handeln liegt die Stärke unserer Kraft und die Gewißheit, daß die große Gefahr, die unserem Volke droht, nämlich daß einst deutsche Jungen unter fremdem Befehl und mit fremden Waffen und für fremde Interessen auf deutschem Boden einen Krieg Deutscher gegen Deutsche führen müssen, überwunden wird. A.G.: Bleibender Impuls einer Bewegung. Hoher Meißner 1913 – 1953 (Auszug), in: Deutsche Nationalzeitung vom 31. 12. 1953, AdJb N 2 Nr. 93. Spätherbsttage über der Jugendburg Ludwigstein. Die Berge und Hügel über der Werra sind auch in dieser Jahreszeit Inbegriff deutscher Herzlandschaft. Durch das alte Burgtor strömen alle Generationen: grauhaarige Männer und Frauen, die 1913 bereits um die Feuer ihrer Jugend gestanden haben. Menschen der Mittelgeneration zwischen 40 und 50, unter ihnen Ärzte, Kaufleute, Oberregierungsräte und Künstler ; unter sie mischen sich die Fahnen und Wimpel der jungen Bünde von heute. (…) Die Begegnung auf dem Ludwigstein im Herbst 1953 wurde bedeutsam und außergewöhnlich, weil sie die auseinandergefallenen Generationen noch einmal zusammenführte. Dieses geschah ohne Krampfhaftigkeit. Die Jungen hatten das Gefühl, daß es ihnen entsprach, die alten Vorkämpfer einer immerhin gemeinsamen Sache ritterlich zu verabschieden. Die »Generation der Mitte« hatte Anlaß, den Alten die Hand zu reichen und den Jungen ihren Gruß zu entbieten. Die Alten aber hatten die Genugtuung, ihre Saat aufgehen zu sehen. Dem Teilnehmer an jener Tagung aber drängt sich die Frage auf nach dem, was bleibt. (…) Niemand kann heute Jugendorganisationen aufziehen, ohne die Gesetze der gewachsenen Jugendgruppe zu kennen. Wer Jugend nur organisieren will, wird die Mißerfolge aller jener bloßen Nachwuchsorganisationen der Alten ernten. Wer die Jugend nur »pflegt«, gewinnt sie

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nicht. Wem es gelingt, eine Bewegung der Jugend von unten her wachsen zu lassen, wird einen Beitrag zu Gestaltung der Zukunft geben. Gustav Wyneken an Knud Ahlborn, Brief vom 27. 1. 1954 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 109. Lieber Knud, ich bin Dir eine Antwort auf Dein auch an mich gerichtetes Rundschreiben vom 12.12.53 schuldig, und ich fühle mich ebenfalls dem Ludwigsteiner Kreis gegenüber, der mich so freundlich begrüßt und geehrt hat, verpflichtet, ihm meine Beurteilung der Gedächtnistagung, zu der ich eingeladen wurde und beigetragen habe, nicht vorzuenthalten. Ich entschließe mich nicht leichten Herzens dazu. Denn im Gegensatz zu Dir, der Du (Dir) freigebig ein Gelingen dieser Tagung bescheinigst, sehe ich in ihrem Auslauf geistigen Bankrott, Leerlauf, Selbsttäuschung und also im wesentlichen Mißlingen und (wieder einmal) die versäumte Gelegenheit. Mit der Kritik an der Tagung verbindet sich meine Kritik an dem von Dir erstatteten Bericht über sie, der ja nicht der eines Dritten, Unbeteiligten, eines objektiven Beobachters ist, sondern ein offizieller und also selbst ein Teil der Tagung. (…) Von einer harten Selbstkritik der Freideutschen ist mir nichts bekannt. (…) Wenn doch Dein geschichtlicher Bericht davon etwas hätte verspüren lassen. Aber der ist leider ganz und gar auf Selbstzufriedenheit gestimmt, und sogar die flüchtige Erwähnung eines (nicht näher bestimmten) Versagens der Freideutschen ist mehr eine flaue Entschuldigung als ein mannhaftes, klärendes, ehrliches Bekenntnis. Und allein ein solches (das in der gegenwärtigen Welt und Öffentlichkeit Seltenheitswert gehabt hätte) hätte vorbildlich den besonderen alten freideutschen Geist widergespiegelt und gezeigt, was mit der Wahrhaftigkeit jenes freideutschen Bekenntnisses gemeint war. Da darf ich doch wohl die Gegenfrage stellen: Wo und wann hat die Freideutsche Jugend (und ihre Nachfahren) auch nur ein einziges Mal ihr Gelübde vom Hohen Meißner positiv gehalten, nämlich für Freiheit, Wahrheit und Jugend geschlossen einzutreten? Ist es nicht geradezu grotesk, diesen Freideutschen jetzt nachzurühmen, daß sie »stets aufs neue ihre Ziele (welche? G.W.) angesteuert und sich für deren Verwirklichung eingesetzt« habe? (was dann unter Wiederkauung der landläufigen Redensarten von Dir als ungelöste (!) Aufgabe der Freideutschen angeführt wird – was hat es mit dem Freideutschtum zu tun? (…)

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21. Knud Ahlborn unter Mitwirkung B. v. Hattingberg, H. Hertling und dem Vortragenden (Auszug), AdJb A 210 Nr. 129.28 1.) Zu der vom 13. – 15. November 1953 einberufenen Gedenktagung an den »Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meissner 1913« hatten sich nahezu 300 Angehörige aller Generationen der Gesamtbewegung, die aus der ursprünglichen Freideutschen Jugendbewegung hervorgegangen ist, auf der Jugendburg Ludwigstein versammelt. (…) 4.) Die Tagung hat die in sie gesetzten Erwartungen voll erfüllt. Sie zeigte, dass die durch die grossen Schicksalsereignisse zweier Weltkriege, durch die Zeit der Revolution und des Nationalsozialismus hindurchgegangene und von ihren Gegnern immer wieder totgesagte Bewegung trotz ihrer dabei erlittenen Einbussen an Trägern und trotz mancherlei Versagens heute noch lebenskräftig dasteht. (…) 20.) In den weiteren Ausführungen betonten die Angehörigen der älteren Meissner-Generation die Notwendigkeit, sich beim Wirken für das Gemeinwohl des Volkes nicht auf die persönliche Berufsausübung, auf den nach dem ersten Weltkrieg gepriesenen »Berufsidealismus« zu beschränken. Zwei Weltkriege lehrten sie, dass es darauf ankommt, dass sich endlich – nach 40 Jahren – aus den Kräften ernster Freundschaft entscheidende Leistungen für die Überwindung der grossen menschlichen Gemeinschaftsnöte entwickeln. (…) 21.) In ähnlicher Richtung bewegten sich die Ausführungen von Hannes Aff, der Richtlinien einer vorbereitenden Tagung des Gaues Hessen in Zwingenberg zur Verlesung brachte. In diesen Richtlinien werden die Kreise der alten Jugendbewegung energisch zu einer Mitarbeit an den Aufgaben unserer Zeit aufgerufen. Es werden darin in Ergänzung der von Deutschland eingegangenen »Westbindung« – zur Erlangung von Sicherheitsgarantien für alle Völker – baldige aufrichtige Verhandlungen mit dem Osten gefordert. Sodann wurde »40 Jahre nachdem sich die deutsche Jugendbewegung in gutem Sinne zum deutschen Vaterland bekannt hat, jetzt ihr Bekenntnis zur friedenstiftenden Gemeinschaft der Vereinigten Staaten von Europa gefordert.« Schliesslich wurde »zu einer grosszügigen Hilfsaktion für die notleidenden Brüder und Schwestern in den Ostgebieten« aufgerufen. (…) 23.) Zu Beginn der letzten Sitzung proklamierte Karl Vogt den Zusammenschluss der Meissnerfahrer von 1913, 1923 und 1953 unter dem Namen »Gilde Hoher Meissner«.29 (…) Insbesondere hat diese Gemeinschaft 28 Der Text umfasst auf acht engbeschriebenen Seiten insgesamt 25 Einzelpunkte, von denen die meisten die Inhalte der Vorträge wiedergeben. 29 Der Gründerkreis der Gilde bestand lt. Bericht aus Hannes Aff, Knud Ahlborn, Erwin von Hattingberg, Helmut Hertling, Walter Jantzen, Gerhard Rüpprich und Karl Vogt.

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auch künftige Begegnungen und Feiern der Meissnerfahrer vorzubereiten und in Zusammenarbeit mit den andern hierfür interessierten Gruppen die Gründung der von vielen Seiten verlangten politischen Arbeitsgemeinschaft einzuleiten.30 (…) 25.) Die ganze Tagung verlief im Geiste alter Verbundenheit von 1913. Sie brachte den Teilnehmern die Gewissheit, dass die Freideutsche Bewegung von 1913 nicht erloschen, sondern in mannigfaltigen Werken, Gruppen und Persönlichkeiten lebendig ist. (…) Es stärkte uns die Gewissheit, dass die Freideutsche Bewegung in dieser Haltung der Verantwortung für das Gemeinwohl wertvolle Beiträge zur deutschen Volkskultur zu liefern vermochte und der gute Zusammenhalt der Generationen weitere Dienste für die Gesamtheit erwarten lässt.

30 Bereits am 19. 11. 1953 hat Ahlborn den Mitgliedern des Gründerkreises in einem ausführlichen Brief Details zur Zielsetzung und weiteren Entwicklung der Gilde mitgeteilt sowie mit einem Anmeldeformular einen Aufruf an »alle Freunde, die mit der Freideutschen Bewegung weiterhin in Verbindung bleiben wollen«, geschickt. (AdJb, Nachlass Ahlborn 96). Die Zielsetzung lautete: »Die ›Gilde Hoher Meissner‹ bzw. der ›Meissner-Bund‹ ist der Zusammenschluß aller aus der Freideutschen Jugend hervorgegangenen oder ihr nahestehenden Gemeinschaften, Kreise und Persönlichkeiten. Seine Mitglieder eint der Wille, daß das Leben des deutschen Volkes mehr und mehr – dem freideutschen Leitspruch entsprechend – nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit gestaltet und die Freiheit in Frieden gesichert werde.«

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Das Meißnertreffen von 1963 – »auf halber Strecke« zwischen 1913 und 2013

Es ist schon etwas verblüffend, dass in den Quellen zum Meißnertreffen von 1963 nicht nur – was auf der Hand liegt – auf die zurückliegenden fünfzig Jahre geblickt, sondern mehrfach auch eine fragende Vorausschau auf das Jahr 2013 angesprochen worden ist. Der mit Abstand am meisten mit seinen Argumenten die Teilnehmer herausfordernde Redner dieses Ereignisses, Helmut Gollwitzer (1908 – 1993), hielt zum Beispiel Folgendes für sicher : »Wenn jemand im Jahre 2013 noch das Bedürfnis empfinden sollte, hier oben des Aufbruchs deutscher Jugend vor 100 Jahren zu gedenken, dann werden Kapitalismus und Kommunismus wenig mehr dem gleichen, was sich heute so nennt.«1 Gollwitzers Bemerkung passt in die Beurteilung heutiger Zeithistoriker, dass sich damals in Westdeutschland in weiten Kreisen ein Konsens darüber verbreitet habe, »dass der Bundesrepublik ihre eigentliche Bewährungsprobe noch bevorstehe.«2 Die Zeit um 1960 wird daher inzwischen als »zweite« bzw. als »intellektuelle Gründungsphase« der Bundesrepublik charakterisiert3, in der es sich nicht verbergen ließ – so hatte es bereits Wilhelm Stählin (1883 – 1975) in seiner Göttinger Festrede zum Meißnertag von 1963 ausgedrückt –, »dass wir in unserer politischen Situation unter einem tiefen und weit verbreiteten Unbehagen leiden.«4 1 Werner Kindt, Karl Vogt (Hg.): Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, Düsseldorf, Köln 1964, S. 63. 2 Michael Bock: Metamorphosen der Vergangenheitsbewältigung, in: Clemens Albrecht, Günter C. Behrmann, Michael Bock, Harald Homann, Friedrich H. Tenbruck (Hg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, Frankfurt a.M., New York 1999, S. 530 – 566, hier S. 558. 3 S. neben der in Anm. 2 zitierten umfangreichen Untersuchung, an der neben Clemens Albrecht vor allem auch Günter C. Behrmann mitgewirkt hat, den Sammelband von FranzWerner Kersting, Jürgen Reulecke, Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955 – 1975, Stuttgart 2010, sowie den Beitrag von Detlef Siegfried: Die frühen 1960er-Jahre als »zweite Gründung« der Bundesrepublik, in: Jürgen Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor: Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung 9, 2012, Göttingen 2014, S. 27 – 39. 4 Kindt, Vogt (Hg.): Der Meißnertag, S. 29.

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Worin dieses Unbehagen, das offenbar viele Meißnerbesucher zum Teil sicherlich jeweils unterschiedlich empfanden, im Einzelnen bestanden hat, lässt sich aus den im Folgenden abgedruckten Quellen ablesen. In der nun in ihre Endphase eintretende »Adenauer-Ära,« in der – zugespitzt ausgedrückt – noch vielerlei Merkmale einer »Untertanenkultur« vorherrschten, hatte seit Ende der 1950er Jahre eine breite, zum Teil recht heterogene Debatte vor allem darüber begonnen, wie man in der Gesellschaft, in Kultur und Erziehung in Zukunft einen sicheren Wandel in Richtung auf »mehr Demokratie wagen« erreichen könne. Das bisherige gesellschaftliche Umgehen mit der NSVergangenheit und die Auschwitz-Prozesse, der Ausbau der Bundeswehr und die Wehrpflicht, die Atomwaffenbedrohung und die Ostermärsche, die Auseinandersetzungen über politische Strategien in Richtung Wiedervereinigung, die »Spiegel-Affäre« von 1962 u. ä. – all dieses führte – nicht zuletzt im Generationendiskurs – zu heftigen Auseinandersetzungen, die dann in der Studentenbewegung von 1967/68 ihren ersten Höhepunkt erreichen sollten. Vor allem Wortführer aus der so genannten HJ- bzw. Flakhelfergeneration (auch »skeptische Generation« oder »1945er« genannt), geboren um 1925/1930, meldeten sich seit Ende der 1950er Jahre zu Wort und sprachen die ihnen nachfolgende Altersgruppe der Kriegskinder und der während der Phase des »Wirtschaftswunders« Heranwachsenden an. Das jugendbewegte Meißnertreffen von 1963 war in dieser intellektuellen Umbruch- und Aufbruchphase der Bundesrepublik ein zum Teil typisches, zum Teil aber auch recht eigentümliches Ereignis und wurde dementsprechend auch in einer bemerkenswert breiten Weise öffentlich wahrgenommen und in den Medien kommentiert, obwohl die Zahl der Beteiligten, gemessen an der Gesamtquantität der jeweiligen Alterskohorten, recht gering war. Die jeweilige subjektive Selbstverortung, d. h. die »Generationalität« der jugendbewegten Angehörigen mehrerer Altersgruppen mit ihren zum Teil höchst unterschiedlichen, sie jedoch immens prägenden Erfahrungen in ihrer Adoleszenzphase bestimmte die damalige jugendbewegte Kontaktaufnahme zwischen den Generationen sowie die Planung, die Durchführung und die zeitgenössische Beurteilung des Ereignisses von 1963 wie bei keinem der anderen Meißnertreffen von 1913 bis 2013. Von vorn herein hätten die Veranstalter sehr bewusst – so hat es Werner Kindt (1898 – 1981) in einem bilanzierenden Rückblick nachdrücklich betont – davon gesprochen, »dass sich vier Generationen deutscher Jugend von heute und früher auf dem Meißner zusammenfänden.« Um für diese Feststellung exemplarisch einige der in besonderer Weise damals in Erscheinung tretenden Meißner-Akteure von 1963 zu nennen: Knud Ahlborn und Wilhelm Stählin (1888 bzw. 1883 geboren) gehörten zur Meißnergeneration von 1913; Werner Kindt, Karl Vogt und Helmut Gollwitzer (1898, 1907 bzw. 1908 geboren) waren Jugendbewegte der 1920er Jahre; Horst Schweitzer, Günter

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Knitschky und Hermann Diehl (alle 1928 geboren) waren Angehörige der »Flakhelfergeneration«, und Alexander Gruber, Gerhard Neudorf und Helmut Reiser (1937, 1939 bzw. 1942 geboren) stammten aus den jungen Bünden der 1950er Jahre. Sie alle vertraten die Generationalität jeweils einer der vier von Kindt angesprochenen Altersgruppen. Die zweifellos am meisten zwischen den Generationen vermittelnde und die Gesamtplanung des Meißnertages von 1963 von vornherein entscheidend mitbestimmende Person, Karl Vogt (geprägt ab 1919 in einer Breslauer Wandervogelgruppe), war von 1953 bis 1959 Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein und wurde anschließend zur Vorbereitung des Ereignisses von 1963 deren »Meißnerbeauftragter.« Er hatte bereits in den 1950er Jahren eine Reihe der damaligen jungen Bünde zum Engagement auf Burg Ludwigstein geworben und konnte schließlich Horst Schweitzer, den Kasseler Bundesführer des Pfadfinderbundes Großer Jäger, gewinnen, die gesamte örtliche Organisation des Treffens rund um den Hohen Meißner zu übernehmen. Geistiger Anstoßgeber war jedoch (wie schon bei den Meißnertreffen von 1923 und 1953) Knud Ahlborn gewesen, der als Vorsitzender der nach dem Treffen von 1953 gegründeten »Gilde Hoher Meißner« im Spätsommer 1961 anlässlich eines Besuchs von Vogt bei Ahlborn in Klappholttal/Sylt mit diesem Kernüberlegungen zu einem Meißnertreffen 1963 erörtert hatte. Vogt lud daraufhin nach Rücksprache mit den Führern einiger Älterenbünde und der beiden jungen Bünde »Gefährtenschaft« und »Pfadfinderbund Großer Jäger« zu einem ersten Planungstreffen im Oktober 1961 auf Burg Ludwigstein ein, an dem 19 Vertreter der älteren und 16 der jungen Bünden teilnahmen. Ein Vorbereitungsausschuss von sechs Personen unter dem Vorsitz von Karl Vogt übernahm nach zum Teil recht hitzigen Debatten über den Sinn des Meißnertreffens und das Verhältnis der Alten zu den Jungen schließlich die Aufgabe, das Ereignis vorzubereiten: Neben Karl Vogt und Knud Ahlborn gehörten zu diesem Ausschuss Hans Gothe (Altfreischar), Werner Kindt (Freideutscher Kreis) und Heinz Ritter (Sternbergkreis) sowie als Vertreter der jungen Bünde Horst Schweitzer. Geeinigt hatte man sich laut Protokoll darauf, dass 1963 ein »zweigleisiges« Ereignis stattfinden sollte5 und es nicht zu einem Protest der Jungen gegen die Alten kommen dürfe, denn »bei allem Generations-Geplänkel« müssten – so hieß es – die »aus dem Geist der JB Lebenden, ob alt oder jung, gegen das Schlechte in unserer Zeit« unbedingt gemeinsam angehen.6 In der Folgezeit traf sich der Hauptausschuss zwecks intensiver Detailplanung alle zwei Monate und knüpfte eine Fülle von Kontakten, während gleichzeitig 5 Gemeint war hier noch, dass sich die Alten im Wesentlichen auf dem Ludwigstein, die Jungen in einem Kohtenlager auf der Hausener Hute unterhalb des Meißnergipfels zusammenfinden sollten. 6 S. das unten abgedruckte Protokoll, verfasst von Hermann Diehl.

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auch die Bundesführer von anfangs zehn jungen Bünden, zu denen anschließend weitere hinzukamen, im Februar und September 1962 sowie im März und im September 1963 eigene Vorbereitungstreffen durchführten. Trotz anfänglich beträchtlicher Meinungsverschiedenheiten und auch erheblicher Widerstände gegen einzelne Planungsüberlegungen – vor allem wollten die Jüngeren sich auf keinen Fall als eine bloß »würdige Umrahmung« eines Erinnerungstreffens der Alten ausbeuten lassen – gelang es nicht zuletzt durch die geschickte Moderation von Karl Vogt wie gleichzeitig auch von Horst Schweitzer, dass die Vorbereitungen in Richtung Göttingen, Bad Sooden-Allendorf und auf den Meißnergipfel schließlich doch pünktlich und erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Parallel dazu hatten die jungen Bünde im Januar, Mai und Ende August 1963 drei Meißnerseminare durchgeführt, bei denen es um Kernfragen des aktuellen Selbstverständnisses der verschiedenen Bünde ging. Ziel war es dabei auch, zum Meißnerereignis im Oktober eine gemeinsame Erklärung vorlegen zu können. Die Gesamtkonzeption der Seminare, die durch Vorträge von Gästen (u. a. von Arno Klönne), durch Beiträge von Sprechern aus den einzelnen Bünden und durch intensive Arbeitsgruppendiskussionen bestimmt waren, lief – bewusst zugespitzt formuliert – auf drei Fragen hinaus: »1. Was sollen die Bünde? 2. Was wollen die Bünde? 3. Wollen die Bünde, was sie wollen sollen?«7 Das Ergebnis war schließlich eine »Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum MeißnerTag 1963«, die bei einem zwei Wochen nach dem dritten Meißnerseminar durchgeführten Bundesführertreffen verabschiedet und dann neben zwei grundlegenden Aufsätzen von Roland Eckert (»Die Jugendbünde in der modernen Gesellschaft«) und Hermann Diehl (»Die pädagogische Bedeutung der heutigen Bünde«) sowie kurzen Selbstdarstellungen von insgesamt nun 24 beteiligten jungen Bünden in dem zum Treffen auf dem Hohen Meißner vorgelegten »jahrbuch bündischer jugend« veröffentlicht wurde.8 Wenn sich auch nach anfänglichen Auseinandersetzungen das Verhältnis der an der Vorbereitung des Meißnertreffens beteiligten Vertreter der Älterenbünde und der jungen Bünde bald deutlich entspannt hatte, so galt es dennoch im Vorfeld des Ereignisses auf diverse kritische Stellungnahmen und Herausforderungen von außen zu reagieren. In den umfangreichen Nachlässen von Ahl7 Zitat aus dem Rundbrief des Göttinger Kreises zur Vorbereitung des 3. Meißnerseminars, formuliert von Hartmut Alphei (geb. 1940, Bund deutscher Jungenschaften) am 17. Juli 1963, AdJb A 210 Nr. 89; hier befinden sich auch die Protokolle der drei Seminare. S. zu den drei Seminaren Renate Rosenau (damals engagiert im »Bund deutsche Reformjugend«) in: Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach, S. 81 – 102, bes. S. 83 ff. 8 junge bünde 1963. jahrbuch bündischer jugend. (Zum Meißner-Tag am 12. und 13. Oktober 1963), 153 Seiten. Roland Eckert (geb. 1937), damals Student an der Universität Freiburg, stammte aus dem Bund deutscher Jungenschaften; Hermann Diehl (1928 – 2004), vorher Mitglied im Bundeskapitel des Pfadfinderbundes Großer Jäger, war 1963 mit jeweils einer halben Stelle Lehrer in Bad Sooden-Allendorf und Burgleiter auf Burg Ludwigstein.

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born, Kindt und Vogt auf der einen Seite, von Schweitzer und einigen Bundesführern auf der anderen Seite spiegelt sich wider, wie sehr die Planung des Meißnertreffens, was man anfänglich nicht geahnt hatte, von vielen Beobachtern als massive Herausforderung empfunden und auch mit deutlicher Kritik bedacht wurde. Dass etwa der Bundesjugendring jede Art von Einbeziehung deutlich ablehnte, dass führende DDR-Funktionäre mit jugendbewegter Vergangenheit (vor allem Karl Bittel (1892 – 1969), aber auch z. B. Walther Victor (1895 – 1971)9 eine offizielle Einladung mit der Möglichkeit eines Grußwortes erwarteten (was nach längerem Hin und Her vom Hauptausschuss abgelehnt wurde), dass sich bereits seit Ende 1961 der sich für den bedeutendsten Akteur von 1913 haltende Gustav Wyneken mit höchst skeptischen Äußerungen zu Wort meldete10 und dass im Vorfeld des Treffens in der Presse von Außenstehenden wie von Insidern, so z. B. von Hans-Joachim Schoeps, der einen »Gespensterzug zum Hohen Meißner« vorauszusehen glaubte,11 herablassend-kritische Stellungnahmen erfolgten – all das und Ähnliches forderte verständlicherweise die Planungsgremien immens heraus. Es waren in vielerlei Weise »Mühseligkeiten, Irritationen sowie Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten« die – so Karl Vogt – einen Erfolg der Bemühungen »manchmal fast unerreichbar erscheinen« ließen. Hinzu kam die Planung und Drucklegung eines Jubiläumsbandes, der ausdrücklich nicht als »Festschrift«, sondern als »Gedenkbuch« gedacht war und bei den Herausgebern, zu denen Karl Vogt gehörte, ein beträchtliches Engagement voraussetzte. Darin sollte nämlich auch von dem zum Teil »vergeblichen Wollen«, von »Versagen, Zwietracht, Ungeduld und Schuld« der Jugendbewegung berichtet werden.12 9 Karl Bittel, vor dem Ersten Weltkrieg Wandervogel in Freiburg, war seit 1957 Ordinarius für Neuzeitgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität und Präsident des DDR-Kulturbundes, Bezirk Rostock; Walther Victor, ehemaliger Wandervogel in Posen, war Vorstandsmitglied des DDR-Schriftstellerverbandes. Beide hatten im Jahre 1963 zur Meißnererinnerung (in: Der Greifenalmanach auf das Jahr 1963, Rudolstadt, Sommer 1963) einen kritischen Aufsatz veröffentlicht (Victor S. 65 – 69 und Bittel S. 359 – 366). 10 S. z. B. Gustav Wyneken: Gedanken und Vorschläge zur geplanten Gedenkfeier der freideutschen Jugend auf dem Hohen Meissner im Jahre 1963, hg. von der Gustav-WynekenGesellschaft Göttingen e.V. (= Beilage zu jb-informationen 4/1962 des dipa-Verlages Frankfurt), 11 Seiten. Karl Vogt hat diesen Text intern als »Schmähschrift« bezeichnet, dennoch aber versucht, Wyneken zur Beteiligung am Meißnertag zu gewinnen. 11 Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980) war Mitglied der Akademischen Freischar gewesen; Lehrstuhlinhaber für Religions- und Geistesgeschichte an der Universität Erlangen und Vorsitzender der Gesellschaft für Geistesgeschichte; er hatte im Juni 1963 dem Hauptausschuss eine kritische Stellungnahme geschickt, die in gemilderter Form am 11. 10. 1963 in der »Zeit« erschien: »Vor fünfzig Jahren: Hoher Meißner. Heute muß die Jugend einen anderen Weg gehen« (abgedruckt in: Pressespiegel des Meißnertages 1963, Hamburg 1964, S. 26 – 28). 12 Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Zur. 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meissner, hg. im Auftrag des Hauptausschusses von Elisabeth Korn,

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Nach all diesen Verwicklungen in der Planungsphase war zu erwarten, dass es auch während des Ereignisses selbst Problemfelder, Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen geben würde. Die Diskussion über die Bedeutung und Unterbringung von Mädchen im Kohtenlager z. B. gehört dazu, denn es gab einige gemischtgeschlechtliche Bünde. Aber insgesamt war das Meißnertreffen bis auf wenige Ausnahmen ein nahezu völlig männlich bestimmtes Ereignis: Die Mitglieder des Arbeitsausschusses, der sieben Unterausschüsse (mit Ausnahme von Elisabeth Korn (1905 – 1988) im Festschriftenausschuss), die Führer der beteiligten Bünde und die Redner bei den Hauptveranstaltungen in Göttingen sowie auf dem Meißnergipfel waren ausschließlich männlich. Unter den Teilnehmern bei den Vorbereitungstreffen und Seminaren gab es nur einige wenige weibliche Personen wie z. B. Renate Rosenau (geb. 1941).13 Ebenso waren unter den insgesamt 37 Diskussionsleitern und Sprechern bei den sechs Gesprächsgruppen sowie unter den Leitern der musischen Veranstaltungen in Bad SoodenAllendorf nur drei Frauen. Eine erhebliche Diskussion bei den jungen Bünden im Kohtenlager löste die Planung einer Feierstunde in Richtung DDR bei Bad Sooden-Allendorf aus. Beim zweiten Vorbereitungstreffen der jungen Bünde war der Idee zugestimmt worden, am Samstagnachmittag ein gemeinsames »Singen an der Zonengrenze« durchzuführen, und die Bünde waren aufgefordert worden, Lieder vorzuschlagen. Achtzehn Bünde reagierten, elf hielten sich zurück, so dass die Vorbereitung unter der Leitung von Peter Plette (Gefährtenschaft) und Siegfried Schmidt (Tatgemeinschaft) zur Auswahl von elf gemeinsam zu singenden Liedern führte (von fünf Volksliedern, u. a. »Kein schöner Land in dieser Zeit …,« von fünf Fahrtenliedern der Jugendbewegung, u. a. »Wenn die bunten Fahnen wehen …,« und von »Morgensonne lächelt auf mein Land« als »Feierlied«).14 Allerdings führte dann dieses Vorhaben bei einer Reihe von Bünden auf der Hausener Hute zu einem »großen Mißfallen,« wie eine von den Herausgebern der Lagerzeitung »Home« ad hoc durchgeführte Befragung ergab: Manche wie z. B. die Jungenschaften und die Freischar lehnten die Beteiligung massiv ab, weil dadurch, wie es hieß, eine Politisierung der Bünde erfolge, während die Deutsche Jugend des Ostens (DJO), die Gefährtenschaft und weitere eher rechts orientierte Bünde Otto Suppert und Karl Vogt, Düsseldorf, Köln 1963, hier S. 5. Der Band enthält 17 Originalbeiträge von »namhaften Autoren« zu Stand und Entwicklung der Jugendbewegung einschließlich deren »Ausstrahlung« in katholische und evangelische Kirchenkreise, in die musische und künstlerische Welt sowie auch in Richtung Österreich, England und Israel. Als einzige Frau hatte Elisabeth Korn (1905 – 1988, Freideutscher Kreis) einen Beitrag zum »neuen Lebensgefühl in der Gymnastik« beigesteuert (S. 101 – 119). 13 S. oben Anm. 7 zu Renate Rosenau aus dem Bund deutscher Reformjugend, die in dem dort zitierten Beitrag auch kurz auf dieses Problem eingeht (ebd. S. 100). 14 S. das ausführliche Schreiben von Siegfried Schmidt »an die Beauftragten der am Meissnertag 1963 beteiligten Jugendbünde« vom 13. 7. 1963, AdJb A 210 Nr. 89.

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meinten, auf diese Weise »ihre Verbundenheit zur Zone kundtun« zu sollen.15 Erhebliche Auseinandersetzungen erzeugte weiterhin die Absprache vor allem innerhalb der jungen Bünde, nach der Rede Gollwitzers am Sonntagmittag als feierlichen Ausklang der Kundgebung gemeinsam die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen. Auch Gollwitzer war vorher deutlich dagegen gewesen, hatte sich jedoch schließlich auf Vermittlung Karl Vogts auf diesen Ausklang und die einführenden Worte dazu von Helmut Reiser eingelassen. Gollwitzer hatte mit seiner zum Teil recht deutlichen Gesellschaftskritik und nicht zuletzt mit seinem Gruß an den »diesem Fest grollend ferngebliebenen« 88 Jahre »alten Löwen« Gustav Wyneken auf eine Reihe der weit über 5.000 Anwesenden16 durchaus herausfordernd gewirkt. Dass aber bereits vor Gollwitzers Rede eine Reihe von Angehörigen vor allem der dj.1.11-Jungenschaften, der Freischar und des Zugvogels die Veranstaltung verlassen hatte, war die Folge eines scharfen Verweises von Horst Schweitzer nach vorherigen protestierenden Zwischenrufen aus diesen Kreisen, die sich vor allem gegen die zum Teil pathetischen, allzu langatmigen und auch provozierenden Ausführungen von Ahlborn und Karl Thums richteten: Schweitzer als Hauptorganisator hatte sich solche Zwischenrufe verbeten und von »Elementen« gesprochen, die sich bloß »eingeschlichen« hätten.17 Unter anderem die Mitglieder des dj.1.11-Hortenrings aus dem Ruhrgebiet entfernten sich daraufhin von der Veranstaltung, indem sie das Ostermarschlied »Strontium 90, Strontium 90 vergiftet die ganze Welt« sangen. Ihnen war jetzt klar geworden, dass sich die dj.1.11 in Zukunft von der bündischen Szene distanzieren musste. In einer Reihe von Jungenschaftsgruppen vollzog sich in der Folgezeit ein deutlicher Trend in Richtung Politisierung, denn – so lautete eine Erwartung (quasi in Vorahnung der Entwicklung in Richtung 1967/68) – »das Neue wird nicht bündisch sein.«18 Trotz solcher und ähnlicher Auseinandersetzungen während des Geschehens bei diesem Meißnertreffen und trotz der vielen anschließenden, zum Teil recht kritischen Medienberichte dazu fielen letztlich die rückschauenden Beurtei15 S. dazu Home Nr. 1 (= Lagerzeitung des Meißnerlagers 1963), Auflage: 600; Herausgeber waren Mitglieder der Trucht, der Hamburger Kuttercrew und des Bundes deutscher Jungenschaften. 16 Bei der Schlusskundgebung waren neben vielen Gästen etwa 2.000 ehemalige Jugendbewegte (über 50 Prozent im Alter von über sechzig Jahren, davon ca. 40 Prozent weiblich) sowie über 3.000 junge Leute anwesend; s. dazu den Organisations- und Finanzbericht von Karl Vogt und Gottfried Dutschke in: Karl Vogt: Lebenserinnerungen, 4. Teil (1949 – 1992), Manuskript im AdJb, S. 101 – 109. 17 S. dazu Erdmann Linde: Der Hortenring in den frühen 1960er Jahren, in: Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach, S. 135 – 141, hier S. 141. 18 fjodor (Fritz Schulte): Hoher Meißner 1963: dj.1.11 und die Bündische Jugend, in: dj.1.11Brief 1, Februar 1964, S. 6 f. S. ausführlich dazu Doris Werheid (Hg.): »glaubt nicht, was ihr nicht selbst erkannt«. Eine autonome rheinische Jugendszene in den 1950/1960er Jahren, Stuttgart 2014, S. 148 – 153.

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lungen der Hauptakteure insgesamt recht positiv aus: »Trotz unvermeidlicher Pannen« – so Karl Vogt – habe alles gut geklappt, und »die Tage (seien) voller gutem Inhalt« gewesen.19 Und Werner Kindts Fazit endete mit der Hoffnung, »daß der vom Geist und der Haltung der alten Meißnerformel von 1913 bestimmte Anruf des Meißnertages 1963 von vielen vernommen wird und seine noch immer gegenwartsnahen Forderungen viele junge und alte Herzen anrühren und neu verpflichten (würden).«20 Die im Oktober 1963 auf dem Hohen Meißner versammelten »jungen und alten Deutschen« hätten – so Kindt an anderer Stelle – »einen unüberhörbaren Beitrag zur Bildung einer neuen staatstragenden Schicht in Deutschland geleistet.«21 Tatsächlich trafen sich noch am Sonntagabend in einem Landheim der Eschweger Pfadfinder unterhalb des Hohen Meißner die Führer der jungen Bünde – »müde, verdreckt vom Regen und vom Strohlager in den Kohten«, wie Karl Vogt sich erinnerte –, um zu vereinbaren, die »während dieser Festtage gewonnene beglückende Gemeinschaft zwischen den Bünden weiter zu pflegen.« Die Folge war dann bei einem Treffen im Januar 1964 auf Burg Ludwigstein die Gründung eines »Ringes junger Bünde«22, der bis heute besteht und jüngst auch im Herbst 2013 das Jahrhunderttreffen des Meißnertages von 1913 mitorganisiert hat. Nicht nur die jungen Bünde begriffen das erfolgreiche Meißnertreffen als Anstoß, daraus gemeinsam Aktivitäten in die Zukunft zu entwerfen, sondern auch die Bundesführer der beteiligten Älterenbünde. Bereits Anfang Dezember 1963 lud Karl Vogt zu einem Treffen im Haus der Jugend in Frankfurt ein, bei dem es um die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit und auch um das Verhältnis zu den jungen Bünden ging. Zwölf Bundesführer nahmen teil, zwei weitere hatten ihr Interesse mitgeteilt.23 Die Gründung eines »Arbeitskreises der Sprecher der Älterenbünde« mit anfänglicher Geschäftsführung von Karl Vogt war das Ergebnis, und da man sich in Zukunft (bis zu seiner Auflösung im Wesentlichen aus Altersgründen im Jahre 1989) zumeist auf dem Ludwigstein traf, nannte man sich schließlich unter seinem ersten Sprecher Walther Ballerstedt24 »Kontaktkreis Ludwigstein«. Einen engeren organisatorischen Zusam19 Vogt: Lebenserinnerungen, S. 94. 20 Werner Kindt: Bilanz des Meißnertages 1963, in: Pressespiegel des Meißnertages 1963, S. 133. 21 Ders.: Vorwort, in: Kindt, Vogt (Hg.): Der Meißnertag 1963, S. 5. 22 S. dazu neben den Erinnerungen von Karl Vogt, der bis 1969 der erste Sprecher des RjB war (s. Anm. 16, S. 123 – 133), auch Renate Rosenau in: Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach sowie ebd. die Darstellung von Gerhard Neudorf: Der Ring junger Bünde, S. 213 – 221, außerdem die Berichte über die vielfältigen Aktivitäten des RjB einschließlich seiner Ostkontakte in den folgenden Jahren in: 25 Jahre RjB (= Mitteilungen des Ringes junger Bünde 66, Juni 1989). 23 S. zum Folgenden Karl Vogt: Kontaktkreis Ludwigstein (s. Anm. 16, S. 154 – 159). 24 Walther Ballerstedt (1907 – 1974), Jurist, gehörte der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein an. Von 1927 bis 1955 war er Mitglied der »Jungdeutschen Ordensjugend« gewesen und hat

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menschluss der Bünde oder gar – wie der RjB – eine gemeinsame Satzung plante man zwar nicht, führte aber jährlich Treffen und gemeinsame Arbeitstagungen durch, unterstützte nachdrücklich den Erhalt der Jugendburg Ludwigstein sowie den Ausbau des dortigen Archivs der Jugendbewegung und pflegte den Kontakt zum RjB, indem man zu den jährlichen Treffen der Älterenbünde und deren Veranstaltungen ausdrücklich Vertreter der jungen Bünde einlud. Zum 60-jährigen Meißnergedenken wurde z. B. im Oktober 1973 eine auch von vielen Jüngeren besuchte »erweiterte Archivtagung« auf dem Ludwigstein durchgeführt, die sich dem Thema »Geistesgeschichtliche Auswirkungen der Jugendbewegung im In- und Ausland« widmete.25 Erwartungshorizonte, so hat es der Historiker Reinhart Koselleck (1923 – 2006) einmal betont, entstehen immer nur aus den jeweiligen persönlichen Erfahrungsräumen, in denen die Zeitgenossen geprägt worden sind. Die optimistischen Erwartungen und Deutungen in Richtung Weiterentwicklung der klassischen Jugendbewegung mit Blick auf die nächsten fünfzig Jahre, wie sie Kindt und seine Altersgruppe bis hin zu den meisten Angehörigen der bis Anfang der 1940er Jahre geborenen Akteure des Meißnertreffens von 1963 zunächst im Sinn hatten, lassen sich – trotz der vielfältigen Aktivitäten etwa des RjB in den folgenden Jahren – kaum mit dem in Verbindung bringen, was die gesamte bundesrepublikanische Jugendszene mehr und mehr seit Beginn der 1960er Jahre bestimmen sollte. Hatten schon manche Kritiker des Meißnertreffens von 1963 festzustellen geglaubt, dass die sich auf dem Meißner noch einmal in ihrem traditionellen Gewand so munter präsentierende Jugendbewegung eigentlich bereits »tot« sei, so vollzogen sich – wie oben bereits mit Blick auf dj.1.11-Horten angesprochen wurde – in den folgenden Jahren unter dem Einfluss diverser mentalitätsgeschichtlicher Neuorientierungen in der Gesellschaft in Richtung »zweite Gründung der Bundesrepublik« ganz erhebliche Veränderungen. Arno Klönne (geb. 1931) hat deshalb als intensiv Beteiligter beim jugendbewegtjungenschaftlichen Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich als wissenschaftlich-kritisch analysierender Zeithistoriker davon gesprochen, dass bis zum Beginn der 1960er Jahre die Geschichte der klassischen Jugendbewegung letztlich nur noch eine Art »Restgeschichte« gewesen sei:26 Eine »neue 1940 wegen einer Hochverratsanschuldigung (Anlass: Fortführung einer verbotenen Organisation) 14 Monate in Untersuchungshaft gesessen. 25 An der Tagung nahmen etwa dreihundert Personen teil, durch die über fünfzig Bünde der alten und der neuen Jugendbewegung vertreten waren; s. Hinweise zur Tagung und die Texte der Vorträge in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 6, 1974; s. außerdem in Bd. 4 der Erinnerungen von Karl Vogt, S. 182 – 188 in den dort beigefügten »Mitteilungen 2/1974 an den Kontaktkreis Ludwigstein« einen ausführlichen Bericht über die Tagung. 26 S. hierzu und zum Folgenden Arno Klönne: 1963 – der »mittlere« Meißner, in: Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach, S. 247 f.

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Welle« in Fortsetzung der Autonomieansprüche und der gesellschaftlichen Reformziele der bisherigen Jugendbewegung sei, so Klönne, nicht mehr zustande gekommen. Allerdings haben sich Mitglieder bündischer Gruppen bei den Ostermärschen und vor allem auch bei den gesellschaftskritischen Chansonfestivals auf Burg Waldeck im Hunsrück seit 196427 engagiert und waren so durchaus am Entstehen einer neuen, d. h. einer »alternativen jungen Kulturszene« in den 1960er Jahren beteiligt, die schließlich in die Studentenbewegung als eine Art »neuer Jugendbewegung« einmündete. Dass ohne Zweifel die in der Adoleszenzphase unter Umständen lebenslang prägenden Erfahrungen der Zugehörigkeit zu einer bündischen Gruppe mit ihren Stilformen bei den folgenden Meißnerereignissen spürbar waren und bis heute noch gemacht werden, ist selbstverständlich nicht zu bestreiten, im Gegenteil! Eine bemerkenswerte gesellschaftliche Wirkung der klassischen Jugendbewegung in den »50 Jahren danach« ist jedoch, wie 1963 erhofft, nicht mehr erfolgt. Zu sehr ist seither die »bündische Welt« eine, wenn auch durchaus bemerkenswerte Facette im Gesamtspektrum der jugendlichen Subkulturen in unserer Gesellschaft geworden.

27 S. dazu Michael Kleff: Die Burg Waldeck Festivals 1964 – 1969. Chansons Folklore International, Hambergen 2008; s. auch Hotte Schneider : Die Waldeck. Lieder, Fahrten, Abenteuer. Die Geschichte der Burg Waldeck von 1911 bis heute, Potsdam 2005, 5. Kapitel (S. 313 – 386), und Detlef Siegfried: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, bes. S. 571 – 600.

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Abbildungen

Erster Mai 1962: Grundsteinlegung auf Burg Ludwigstein: Der Meißnerbau soll zum 50jährigen Meißnerjubiläum fertig werden. Fotograf unbekannt, Foto AdJb CH 1 Nr. 212.

Dezember 1962: Die Richtkrone über dem Meißnerbau auf Burg Ludwigstein. Fotograf unbekannt, Foto AdJb CH 1 Nr. 212.

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Einweihung des Meißnerbaus am 11. Oktober 1963 auf Burg Ludwigstein. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 2 Nr. 26.

12. Oktober 1963: Feierstunde in der Universität Göttingen anlässlich der 50-Jahrfeier des Meißnerjubliäums. Fotograf Hermann Fräncke, Lüneburg, Foto AdJb CH 1 Nr. 443.

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Konzert am 12. Oktober in der Aula der Universität Göttingen. Fotograf unbekannt, Foto AdJb 20.70.

Teilnehmer des Meißnerlagers 1963 (Jungenschaftsangehörige). Fotograf Benno Radke, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-46.

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Nerother beim Meißnerjubiläum 1963. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 162.

Blick auf das Kohtenlager auf dem Meißnergelände 1963. Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-10.

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Auf dem Festgelände 1963. Fotograf Helmut Kleinsteuber, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-05b.

Nahaufnahme: Kohten und Fahnen. Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-08.

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Feuerstellen auf dem Festgelände. Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-19.

Mahlzeit während des Meißnerfestes 1963. Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-22.

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Singen mit Fritz Jöde beim Meißnerjubiläum 1963 (Jöde zum Betrachter gewandt, zweiter von rechts im hellen Anzug). Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 162.

Teilnehmergruppe beim Singen (links Mitte mit Brille Helmut Gollwitzer). Fotograf unbekannt, Foto AdJb 2072.

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Helmut Gollwitzer (vorne rechts). Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-16.

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Zuhörer während der Meißnerreden 1963. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 162.

Helmut Gollwitzer spricht. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 4 Nr. 162.

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Knud Ahlborn spricht. Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 196310-17.

Karl Vogt auf dem Meißner 1963. Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-15.

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Alexander Gruber, Sprecher der »Jungen Bünde« 1963 auf dem Meißner. Fotograf Hellmut Kalle, Foto: Archiv des Mindener Kreises 1963-10-24.

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1. Brief von Karl Vogt an Knud Ahlborn vom 18. 8. 1961 betr. Einladung zur ersten Vorbesprechung für den Meißnertag 1963 am 21./22. 10. 1961 auf dem Ludwigstein (Auszug), AdJb N 2 Nr. 165. (…) Wie neulich besprochen, wäre es ratsam, wenn diese Einladung außer von der Gilde Hoher Meißner (mit unseren beiden Namen) und von der Vereinigung Ludwigstein (Kulke, Hartmann, Bode) auch noch vom Arbeitsausschuß des Freideutschen Konvents und einigen jungen Bünden unterschrieben werden könnte, um gleich von vornherein eine repräsentative, breite Basis zu schaffen. Aus Gründen des Zeitgewinns wollten wir hierfür die im Vorstand der Vereinigung Ludwigstein vertretenen jungen Bünde, nämlich Gefährtenschaft, Deutscher Wanderbund, Fahrende Gesellen und Pfadfinderbund Großer Jäger auffordern. (…) Eine vorher hergestellte gemeinsame Grundeinstellung dieser Bünde im Sinne der Einladung könnte es erleichtern, daß die sicherlich zu erwartenden Meinungsverschiedenheiten im »Plenum« der Vorbesprechung über die Gestaltung des Meißnertages schneller überwunden werden. (…) Eine echte Gemeinsamkeit in der Auffassung ist Voraussetzung für zügige Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung des Meißnertages; es wäre bedauerlich, wenn sich bereits während dieser Vorbereitung Spaltungen und Gruppierungen entwickelten, etwa gar verschiedene Unternehmungen für den Meißnertag geplant würden. Du kennst wie ich die Gefahren, die in dieser Richtung bestehen und die es im Interesse des großen Zieles auf jeden Fall zu vermeiden gilt. (…) Der Ordnung halber habe ich auch noch mal alle diejenigen Bünde und Gruppen aufgeschrieben, die eingeladen werden sollen; bitte ergänze diese Liste auch noch durch solche Gruppen, die Dir etwa inzwischen noch eingefallen sind. (…) Es ist auch nochmals gründlich zu überlegen, ob die Pfadfinderbünde nicht auch eingeladen werden müßten, nur habe ich deshalb Bedenken, weil dann außer DPB und BDP auch die evangelischen und katholischen Pfadfinder berücksichtigt werden müßten. Ginge das nicht über den Rahmen einer »freien Jugendbewegung« hinaus? (…)

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2. Protokoll des ersten Treffens des Vorbereitungsausschusses für den Meißnertag 1963 am 21./22. 10. 1961 auf dem Ludwigstein, Protokollant Hermann Diehl (Auszug), AdJb N 1 Nr. 17. Vogt begrüßt die Anwesenden: man solle die Chance nutzen, die das Datum mit sich bringt, um in der Öffentlichkeit einmal zu dokumentieren, was JB in Geschichte und Gegenwart bedeutet hat und immer noch bedeutet. Will man das Datum nutzen, so gehe es um die Frage, wer nutzt es und mit welcher Absicht. Soll es ein Fest der alten oder der jungen Generation werden? Ein Jubiläum, Erinnerung, allenfalls historische Würdigung oder eine neue Manifestation? Dies zu klären, sei das Ziel dieser Zusammenkunft. Ahlborn: (…) Jede Zeit braucht für die Bewältigung ihrer Aufgaben die Kräfte der Jugend. Sie muß die echten Werte der Überlieferung in sich aufnehmen und mit den besten Gedanken der – ihrer – Gegenwart zu eigener Lebens- und Zukunftsgestaltung verbinden. Wir Alten müssen dazu den Jungen unsere Erfahrung und Vorarbeit zur Verfügung stellen. Leider verhalte sich die heutige junge Generation der Bünde solchen Hilfs-Angeboten gegenüber meist sehr reserviert. Vogt: Da die JB inzwischen Gegenstand eines sehr regen publizistischen und wissenschaftlichen Interesses geworden ist, besteht die Gefahr, daß das geplante Fest sich in rein geschichtlicher Würdigung erschöpfen könnte. Es müsse vor allem das Bekenntnis der heutigen bündischen Jugend zum Gedanken und zur Form eines freien Jugendlebens im Mittelpunkt stehen. Man soll sich jedoch hüten, den Versuch einer großen Bündigung machen zu wollen. Richter28 : Müßte man nicht den Rahmen über die traditionell jugendbewegten Gruppen und Bünde hinaus erweitern? (…) Die Gruppen und Bünde der JB sind damals Ausdruck des Zeitgeistes gewesen, heute sind sie fast sektiererhafte Randerscheinungen. Liebs29 : warnt vor einem »Fest«. Feste stehen nicht am Anfang. Wer will denn feiern? Wenn nur Gutwillige ohne tiefere Gemeinsamkeit zusammenkommen, gibt es einen Jahrmarkt. (…) 1913 war ein Schlußpunkt im Sinne einer Reife: danach kam Sterben. Aus diesem Sterben erblühte dann die bündische Jugend, 28 Hans Richter. 29 Ludwig Liebs.

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aus deren Sterben entstanden bisher nur schwache Keime. Warum sollen wir in einem noch zarten Frühling ein Herbstereignis herbeizuführen versuchen? Die Wahrscheinlichkeit, daß es mißglückt, ist groß. (…) Schultz: Das Generations-Problem ist zu wenig beachtet. Die Alten fordern die Jungen auf, sie fortzusetzen. Die Jugendbewegung ist zu Ende und hat noch antiquarisches Interesse. Ich möchte nicht Vorspann für einen geradezu restaurativen Impuls werden. Die JB wird sich auf dem Fest selbst die Totenrede halten, zu deren Dekoration die jungen Bünde nicht gehören möchten. Vogt: Wir suchen keine Erben, sondern nur wirksame Kontakte zwischen Alten und Jungen, wie sie sich etwa in der gemeinsamen Arbeit für den Ludwigstein innerhalb der Vereinigung entwickelt haben. (…) Kindt: Den Jungen ist unwohl bei dem Gedanken, in eine Feier einbezogen zu werden, die für sie eine historische Angelegenheit ist. Soll man daher die Jugend nicht nur als Gäste laden? (…) Das Fest muß einen geschlossenen Charakter bekommen. Der Teilnehmer-Kreis muß geladen werden. Das Fest braucht durchaus keine Grabrede zu werden. Es gibt deutliche Möglichkeiten zur Antithese, die sich aus dem Unbehagen an dem geistigen Klima der Bundesrepublik ergeben. Diese Antithese sollte zum Thema gemacht werden. (…) Liebs: Bisher hat die Diskussion nichts weiter gebracht als eine große BegriffsVerwirrung. Bisher ist Inhalt und Form immer verwechselt worden. Worauf es immer ankam, (1913, 1923, 1933, 195530), wir wollen unser Leben selbst gestalten. Die Identität der Grundidee besteht also. Das muß man erkennen, dann sind Kontakte untereinander wertvoll. (…) Schweitzer : (…) Der Termin ist bisher das einzige, was wir Jungen gebrauchen könnten. Wenn wir Bünde uns engagieren wollen, gehört die zukunftsweisende Idee dazu. Was bewegt uns über die Bünde hinaus? Daß uns noch etwas bewegt, ist sicher, auch wenn es sich nicht formelhaft erklären läßt. Das sei der Generation der Alten gesagt, die sich getrost ihre Meißner-Formel vergolden sollen. (…) Diehl: trägt das Ergebnis des Gesprächskreises der jungen Bünde vor :31 Das gestrige Geplänkel zwischen Alt und Jung darf nicht zu dem Schluß führen, daß

30 Es muss hier wohl »1953« heißen. 31 Nach dem abendlichen Ende der Diskussion am 21.10. 1961 haben sich dann am nächsten

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wir Jungen nicht wollen. Wir haben uns deshalb gesperrt, weil seitens der Alten bereits eine Reihe sehr detaillierter und präzisierter Vorschläge vorlagen, die in uns den Eindruck erweckten, daß wir nur noch als Vorspann dienen sollten. Das Meißner-Jubiläum soll von uns aus keinen Protest der Jungen gegen die Alten bringen, sondern der aus dem Geist der JB Lebenden, ob alt oder jung, gegen das Schlechte in unserer Zeit. Bei allem Generations-Geplänkel gehören wir diesem Schlechten der Zeit gegenüber zusammen. Wir glauben, daß wir die Chance nutzen sollten, die uns das Datum gibt. Deshalb wollen auch wir die MeißnerFeier, an deren Konzeption im Einzelnen man sich jedoch nur langsam herantasten soll. Wir halten eine zweigleisige Feier für das Beste: die Alten auf dem Ludwigstein, die Jungen in einem Kohtenlager auf dem Meißner ; deren Programme sollen sich nur in einer großen gemeinsamen Kundgebung berühren. Im Februar wollen wir unser Gespräch hierüber fortsetzen und dazu alle uns erreichbaren Gruppen und Bünde einladen. Die Protestsituation ist für uns vordergründig gegeben in der ganzen bürokratisch-wohlfahrtsstaatlichen Jugendarbeit der großen Verbände und Behörden, die evtl. eine erhebliche Tiefendimension bekommen kann.

3. Protokoll eines Vorbereitungstreffens der Führer von zehn Bünden zum Meißner-Treffen 1963, Burg Ludwigstein 17./18. 2. 1962, Protokollant Horst Schweitzer (Auszug), AdJb A 210 Nr. 89.32 (…) Der Teilnehmerkreis bejahte den Gedanken eines Treffens der bündischen Jugend im Herbst 1963 auf dem Meißner ; die anwesenden Führer sagten die Teilnahme ihrer Bünde und Gruppen zu. Es wurden 3 Ausschüsse gebildet: Der 1. Ausschuß will die Frage prüfen, ob die bündische Jugend von heute eine Aussage zu machen hat und evtl. einige Vorschläge erarbeiten. Zum Ausschuss gehören: Peter Plette, Helmut Benze, Eike Rachow, Hans-Albrecht Pflästerer, Hans Heintze, Gerhard Neudorf.

Morgen zunächst die beiden Kreise getrennt getroffen, um schließlich gegen 11 Uhr gemeinsam dieses Gesprächsergebnis zur Kenntnis zu nehmen. 32 Es nahmen von insgesamt zehn Bünden 27 Vertreter teil (BDP, DWB, dej. 58, WvdB, JOGT, NWV, BdUJ, Gefährtenschaft, Fahrende Gesellen, Großer Jäger). Horst Schweitzer (Pfadfinderbund Großer Jäger) vertrat zudem den Pfadfinderbund Nordbaden. Entschuldigt fehlten die Deutsche Freischar und der Bund deutscher Jungenschaften. Sprecher des 1. Ausschusses war Peter Plette (Gefährtenschaft), des 2. Ausschusses Jochen Franke (BDP). Als Vertreter der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein war Hermann Diehl anwesend.

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Der 2. Ausschuß will Vorschläge zum Ablauf des Treffens erarbeiten (Programmgestaltung). Zum Ausschuss gehören: Jochen Franke, Karl Oelbermann, Hermann Diehl, Elke Branz, Burkhard Müller-Using, Hans-Albrecht Pflästerer. 3. wurde Horst Schweitzer beauftragt, mit einigen Führern seines Bundes die gesamte Organisation des Treffens in die Hand zu nehmen und mit der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e. V. Kontakt zu halten. (…) Das zweite Vorbereitungstreffen der Bundesführer soll stattfinden am 22./ 23. September im Pfadfinderheim »Großer Jäger« in Hofgeismar bei Kassel. Außer den am 17./18.2. auf Burg Ludwigstein vertretenen Bünden sollen zu dem Hofgeismarer Treffen eingeladen werden: Pfadfinderbund Nordbaden, Pfadfinderschaft Grauer Reiter, Deutscher Pfadfinderbund, Freie Pfadfinderschaft Lübeck, Deutsche Freischar, Bund deutscher Jungenschaften, Aachener Jungenschaft, Trucht, Deutsche Gildenschaft Frankfurt, Österreichischer Wandervogel. (…) Nachtrag vom 15. April 1962: Rundschreiben von Peter Plette: »An alle Bünde, die ihre Teilnahme und Gestaltung an der Meißner-Feier 1963 zugesagt haben« (Auszug), AdJb A 210, Nr. 89. [Plette erinnert darin an die Aufgabe seines Ausschusses] (…), der versuchen will, eine Formulierung zu finden, die 1963 als eine Aussage über die heutige bündische Jugend gelten kann. In diesem Zusammenhang erinnere ich noch einmal an unsere erste Runde am 21./22. Okt. 1961, in der wir feststellten, daß wir auf keinen Fall eine »würdige Umrahmung« für die Jubiläumsfeier abgeben wollen, und auch sagten, daß die damalige Meißnerformel heutzutage allein nicht mehr ausreichend als gültige Aussage über die bündische Jugend sei. Ferner hatten wir uns darauf geeinigt, daß die Zeit bis 1963 vorwiegend dafür ausgenutzt wird, daß die Bünde sich ein wenig näher kennenlernen wollen mit dem Versuch, die uns heute verbindenden Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Hierfür soll mit diesem Rundschreiben der Anfang unternommen werden. Ich bitte Euch, mir möglichst noch in diesem Monat ein Exemplar der Satzung, der Leitsätze, der Zielsetzungen oder Aufgaben, die Pfeilsätze oder wie die einzelnen Bezeichnungen auch lauten mögen und die in wesentlichen Zügen den jeweiligen Bund kennzeichnen, zuzuschicken. (…)

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4. Stellungnahme zur Meißner-Formel beim 2. Meißner-Seminar der Jungen Bünde vom 17. bis 19. Mai 1963, Leitung Gerhard Neudorf (Auszug), AdJb A 210 Nr. 89.33 (…) 1. Die Meißner-Formel ist auch heute die allgemeine Basis, auf der sich die bündische Jugend begegnet und die sie als einen Ausgangspunkt ihrer Erziehungsziele nimmt. 2. Sie ist zugleich Abgrenzung nach außen, gegen Interessengruppen, Ideologien und die ältere Generation. 3. Als formales Prinzip garantiert die Meißnerformel die Freiheit des Einzelnen. 4. Die Meißnerformel ist nicht nur Überlieferung, sondern in den Gruppen latent vorhanden. Deshalb gewinnt sie im Erlebnis der Gruppe immer neu Gestalt. 5. Bei der funktionalen Erziehung in der Gruppe kommt man von der Daseinsbewältigung im Raum der Gruppe zur Daseinserhellung. (Nach Adorno und Jaspers führt im Allgemeinen Daseinserhellung zur Daseinsbewältigung). 6. Dabei entstehen Wertmaßstäbe, die bei einer Konfrontation mit der sozialen Wirklichkeit wieder in Frage gestellt werden. Dieses Infragestellen bewirkt einen Bruch, der die Bewältigung der Realität unmöglich machen kann. 7. Die Bünde sollten sich darüber klar sein, daß sie dem Einzelnen bei der Überwindung dieses Bruches helfen müssen. 8. Hat man diesen Bruch überwunden, so wird das bisher geübte qualitative Denken (Denken in Alternativvorstellungen) in der Realität verwertbar. Dadurch hat die Gruppe, deren Existenz physisch nicht unbedingt notwendig wäre, vom Qualitativ-Ästhetischen her ihre Daseinsberechtigung erwiesen. (…) Die Entstehung der Bundesrepublik, der wachsende Wohlstand und die Festigung der Gesellschaft führen die Bünde in eine Krise. Ihre Selbstbestimmung führt sie zu einer Auseinandersetzung mit Staat und Gesellschaft. Die Bünde bekennen sich zum demokratischen Rechtsstaat und zu der im Grundgesetz verankerten Wiedervereinigungspflicht. Sie sehen es daher als ihre Aufgabe an, 33 Es handelt sich bei den folgenden acht Punkten um in der Arbeitsgemeinschaft 2 unter Leitung von Elke Branz (BdUJ) erarbeitete Thesen. In der AG 1 ging es um den »Lebens- und Wirkraum der bündischen Gruppe« und in der AG 3 um »Jugendbewegung und Politik«, die zu dem anschließenden Urteil kam.

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ihre Mitglieder unter diesen politischen Leitmotiven zu erziehen. (…) Die Bünde sind sich der Notwendigkeit der Existenz von Parteien und Interessenverbänden in unserer Gesellschaft bewußt. Die Bünde zählen sich nicht zu diesen Gruppierungen, sondern erziehen ihre Mitglieder frei von Gruppeninteressen zu unvoreingenommener Betrachtung des Gesellschaftsganzen und zu Entscheidungsfähigkeit. Ziel dieser Erziehung ist es, dass die Mitglieder der Bünde als Erwachsene politisch aktiv werden.

5. Einladung des Hauptausschusses zur Vorbereitung des Meißnertages 1963 an Gustav Wyneken: Briefwechsel Vogt-Wyneken Juli/August 1963 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 11. 3.7.63 Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Wyneken! Die Freunde, die mit mir an der Vorbereitung des Meißnertages 1963 zusammenarbeiten, haben mich vor kurzem beauftragt, Sie zur Teilnahme an diesem Fest als unseren besonders geehrten Gast herzlich einzuladen. Es ist mir eine ganz große Freude, daß ich diese Einladung aussprechen darf, und ich hoffe, daß Sie sie annehmen werden. Wir vermögen uns nicht vorzustellen, dass Sie an diesem Tage fehlen könnten. (…) Es ist wirklich erfreulich, dass die jahrelange Vorbereitung und die manchmal sehr harte Auseinandersetzung innerhalb des vorbereitenden Kreises nunmehr dazu geführt haben, dass dieser Meißnerstag 1963 vornehmlich einen in die Zukunft gerichteten Charakter haben und keine bloße Jubiläumsfeier alter Leute werden wird. Ich sehe die besondere Bedeutung und den größten Erfolg unserer Vorbereitungsarbeit darin, dass die wesentlichsten der heutigen Jungen Bünde – insgesamt 30 an der Zahl – diesen Meißnertag 1963 zu ihrer Sache machen und ihn mitfeiern werden. (…) Ich darf, lieber Herr Dr. Wyneken, diese offizielle Einladung an Sie an einen unserer wesentlichsten Ehrengäste mit der persönlichen Bitte schließen, dieser Einladung Folge zu leisten (…) 25. 7. 1963 Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Vogt,34 mit einiger Verwunderung habe ich die Einladung Ihres Komitees erhalten, mich an einer Feier zu beteiligen, die mir dazu bestimmt zu sein scheint, die Erin34 Es handelt sich um einen engzeilig beschriebenen, acht Seiten langen Brief, aus dem hier nur

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nerung an das geschichtliche Fest vom Hohen Meißner 1913 auszulöschen oder zu verfälschen. (…) Zunächst sei noch einmal festgestellt, daß jenes Komitee, von dem der Plan und die Organisation einer Art Wiederaufnahme des geschichtlichen Treffens von 1913 ausgegangen ist, zu einem solchen in keiner Weise legitimiert war. Ein beliebiges Komitee hat den historischen Namen, Ort und Gegenstand des Festes von 1913 usurpiert und nach eigenem Geschmack und Vermögen gehandhabt. Der geflissentliche Ausschluß des Mannes, dem das Fest von 1913 seinen Charakter und geschichtlichen Rang in erster Linie verdankt, zeugt zur Genüge von der Gesinnung dieser sich als Treuhänder des Jugendfestes von 1913 aufspielenden Gruppe. (…) Es ist ein Sammelsurium alten Stils ohne einen Grundgedanken, ohne eine große gemeinsame Gesinnung, ja überhaupt ohne eigenen Sinn (…) Und aus ist es mit der geistigen Freiheit, der Parole von 1913, und schon hat die geistige Fremdherrschaft wie die Bakterien sich eingenistet. Ein sogenannter Bischof35 hält die einleitende Weiherede, zwei konfessionell gebundene Bünde gehören zu den Einladenden – ja, tatsächlich! Die betreffenden Seelsorger führen ihr eingefangenes und gezähmtes Wandergeflügel im Käfig mit sich, und zwei sogenannte Gottesdienste der beiden entzweiten Religionsparteien beschließen die Jugendfeier. Und an einem solchen kirchlich eingerahmten Fest sollte ich teilnehmen? Das glauben Sie doch hoffentlich selbst nicht. (…) Dieser Kotau vor dem konventionellen, stets nach Totalität strebenden kirchlichen Religionsbetrieb ist in meinen Augen ein Verrat an der um Freiheit ringenden Jugend und eine ungeheuerliche Befleckung ihres ursprünglichen und eigentlichen Lebensgefühls. Und da soll ich schweigend mitmachen? Da muß ich mich durch die anfängliche geflissentliche Ignorierung meiner Person ja geradezu geehrt fühlen, weil man mir eine Beteiligung am Verrat des Freiheitsgelübdes von 1913 nicht zumuten wollte? (…) Der Tag wird kommen, der hierüber Gericht hält, aber der Tag ist schon da, der hier Anklage erhebt. Und Sie behufs Entweihung des Hohen Meißners eine ganze Armee von Philistern und Philisterchen aufbieten – es soll Ihnen nicht gelingen. Für uns ist dann dieses Ihr Fest nichts als ein auf und mit dem Hohen einige wenige Sätze zitiert werden sollen. Eine Reihe der kritischen Argumente hatte Wyneken bereits in einer Broschüre Ende 1961 veröffentlicht, die Vogt zwar kannte, auf die er aber nicht eingegangen ist; Titel: »Gedanken und Vorschläge zur geplanten Gedenkfeier der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner 1963,« hg. von der Gustav-Wyneken-Gesellschaft Göttingen, 11 Seiten (= gedruckt als Beilage zu jb-information 4/1962 des dipaverlags). 35 Gemeint ist Altbischof Wilhelm Stählin (1883 – 1975), der dann bei der Festversammlung am 12. 10. 1963 in der Göttinger Universitätsaula die Festrede gehalten hat (»Die Jugendbewegung – Erreichtes und Nichterreichtes«).

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Meißner getriebener Unfug (…). Ich, der ich vor 50 Jahren dem Hohen Meißner zu seiner einzigartigen symbolischen Bedeutung für die Jugendbewegung verholfen habe, fühle mich berechtigt und verpflichtet, ihm diese Bedeutung zu wahren und ihn vor Mißbrauch und Verschleuderung zu schützen. (…) Ich verlange und nehme an, dass Sie diesen meinen Protest gegen Ihre geplante Veranstaltung auf dem Hohen Meißner den Leitern aller beteiligten Jugendbünde sowie allen in Aussicht genommenen Rednern mitteilen. (…) Ich behalte mir vor, diese meine Absage zu veröffentlichen, wenn eine sachliche Erwiderung erfolgt, zusammen mit dieser. Ich weiß mich hier als einen Verteidiger des Glaubens der Jugend an sich selbst und an ihre Verantwortung und des Sinnes und Ranges ihres Gelübdes 1913, das mit dem Namen des Hohen Meißners verbunden bleibt. (…) 9.8.1963 Sehr geehrter, lieber Herr Dr. Wyneken! Ihre eingehende Antwort vom 25.7.63 auf unsere Einladung zum Meißnertag 1963 an Sie habe ich mit schmerzlicher Betrübnis gelesen. Ihr Protest gegen unser Fest und die Begründung, die Sie dafür geben, haben mir deutlich bewiesen, dass alle meine bisherigen Bemühungen, Sie über die Absichten und Gedanken aufzuklären, die wir während der Vorbereitungszeit diesem Fest zu Grunde gelegt haben, leider erfolglos gewesen sind.36 Ich vermag nach wie vor nicht einzusehen, was Sie veranlaßt, bei uns Absichten oder gar Hintergedanken zu bekämpfen, die wir gar nicht haben. (…) Es tut mir wirklich leid, nunmehr feststellen zu müssen, dass meine Bemühungen um einen Ausgleich zwischen Ihnen und uns ein Mißerfolg gewesen sind. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich nunmehr auf eine weitere sachliche Erwiderung oder Richtigstellung verzichten möchte, nachdem die bisherigen erfolglos blieben. (…) Brief Vogts vom 9. 8. 1963 an die Bundesführungen bzw. Meißnerbeauftragten, an die Mitglieder des Hauptausschusses und seine Mitarbeiter sowie an die Redner des Meißnertages. Liebe Freunde! In der Anlage übersende ich Euch Abdruck eines Briefwechsels mit Dr. Gustav Wyneken, um Euch darüber zu unterrichten, daß und warum er nicht am Meißnertag 1963 teilnehmen wird. Trotz meiner vielfachen Bemühungen hat Gustav Wyneken seine Stellung36 Vogt hatte einige Zeit vor seiner offiziellen Einladung vom 3. 7. 1963 Wyneken privat in Göttingen besucht und ihm dabei bereits den Plan des Meißnerfestes vorgestellt und erläutert.

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nahme gegenüber dem Meißnertag 1963 in gleicher Weise aufrecht erhalten, wie er sie bereits Ende 1961 veröffentlichte. Diese Feststellung finde ich sehr betrüblich (…). Ich bin überzeugt, daß der Verlauf des Meißnertages 1963 klar beweisen wird, daß er nicht von Spießern und Philistern, sondern von solchen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen getragen wird, in denen der Gedanke der geistigen Freiheit und der Achtung vor dem Engagement des anderen wie vor 50 Jahren lebendig ist. Laßt uns gemeinsam alles tun, um dies zu beweisen. (…)

6. Karl Vogt: Meißner-Jahr 1963. Über den Sinn und die Aufgabe des Meißnertages 1963 (Auszug), in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 65 vom August 1963, S. 5 – 8. Bereits vor zwei Jahren wurden sich die meisten heutigen Bünde und Verbände der alten und jungen Jugendbewegung darüber einig, im Jahre 1963 die 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages 1913 auf dem Hohen Meißner gemeinsam zu feiern. In erstaunlicher Einmütigkeit wurde für diesen Meißnertag, der am 12. und 13. Oktober stattfinden soll, ein Festprogramm beschlossen, das neben einem großen Zeltlager mit einigen gemeinsamen Veranstaltungen der Jungen Bünde für die Älteren einen Festakt in der Aula der Göttingen Universität und eine bunte Reihe von Veranstaltungen in Sooden-Allendorf vorsieht. Höhepunkt des Meißnertages 1963 wird eine gemeinsame Kundgebung aller Teilnehmer auf dem Hohen Meißner am 13. Oktober 1963 sein. Es ist erfreulich und zugleich beglückend: die Bedeutung dieses Anlasses hat sich als so groß erwiesen, daß junge wie alte Angehörige der Jugendbewegung trotz aller Bundesunterschiede sich gemeinsam zu ihrer bündischen Wurzel bekennen wollen. Deshalb kann Sinn und Aufgabe des Meißnertages 1963 auch nicht sein, lediglich Erinnerungen an 1913, an vergangene Zeiten, Kameradschaft, Freundschaft und Jugenderlebnisse zu wecken. Es soll kein Jubiläum gefeiert werden. Man will sich auch nicht nur rechtfertigen und der Jugendbewegung wieder Gewicht geben. Wäre dies der Inhalt des geplanten Meißnertages 1963, dann würden wir heute das gleiche tun, wogegen die Freideutsche Jugend 1913 aus Anlaß der Jahrhundertfeier der Leipziger Völkerschlacht damals protestierte. (…) Es gilt, dem Menschen wieder Mut zu geben, Persönlichkeit in schöpferischer Wechselwirkung gegenüber der Gemeinschaft zu sein, ihm zuzumuten, eine Gesinnung zu haben, seine Kraft zu individueller verbindlicher Verhaltensweise zu stärken. Offenheit und redliches Vorwärtsstreben, die immer zu den Tugenden der Jugendbewegung gehört haben, sollen auch dem Meißnertag 1963

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das Gepräge geben. Das ist es im Grunde, was sich 1913 in der Meißnerformel ausdrückte. Wenn wir diese Meißnerformel jedoch ernstnehmen als das, was sie damals war, dürfen wir sie nicht als alleinigen Wert für Heute ernstnehmen. Nach vielem, was an Wertem und Unwertem geschehen ist, nach unseren ehrlichen, ernsten, aber nicht immer erfolgreichen Versuchen, unser Leben nach dieser Formel auszurichten, sollten wir den Mut haben, festzustellen, dass die Meißnerformel von 1913 heute nicht mehr ausreicht. Damals ist nur von Ich gesprochen worden, heute wird mehr von uns verlangt. (…) Wir betrachten es als besondere Verpflichtung unserer Generation, die Belastungen gänzlich anderer Art aushalten mußte, als man sie 1913 voraussehen konnte, ihren Beitrag zur Überwindung der Not unserer Zeit zu leisten, ihr Leitbild an einem solchen Gedenktage hörbar und sichtbar werden zu lassen und sich und anderen die besondere Verpflichtung zu bekunden, die sie auf sich nimmt. Wie Wyneken in seiner großen Ansprache 1913 werden wir auch jetzt wieder – weil es für die heutige politische Situation mindestens ebenso wesentlich und entscheidend ist wie für die damalige – den Menschen im einzelnen Menschen anrufen, seine Gaben des Geistes, der Wahrhaftigkeit und der Toleranz. (…) Keineswegs dürfen wir einen Meißnertag 1963 feiern, wenn wir uns mit billigen Mittelchen und raffinierten Schlichen, mit schönen Reden und tönendem Wiedersehensglück um die beängstigende Unruhe unserer heutigen Situation herummogeln wollten. Der Sinn eines solchen Festes kann nur in einer geistigen Leistung für die Allgemeinheit liegen. (…)

7. Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißner-Tag 1963 (Entwurf des 3. Meißnerseminars der jungen Bünde am 30.8./1. 9. 1963, offiziell beschlossen von den Bundesführungen am 14./15. 9. 1963 bei einem Treffen auf dem Meißner), AdJb A 210 Nr. 89; abgedruckt dann in: Junge Bünde 1963. Jahrbuch Bündischer Jugend zum Meißner-Tag am 12. und 13. Oktober 1963, S. 57. In den freien und eigenständigen bündischen Gruppen finden sich Jungen und Mädchen aller Schichten und Bekenntnisse zusammen. Ihre Zugehörigkeit gründet sich auf gegenseitiger Zuneigung und Hilfsbereitschaft. Kraft dieser menschlichen Übereinstimmung wollen Jüngere und Heranwachsende gemeinsam an der Gestaltung ihres Lebens arbeiten. Die Bünde sind um die ganze Fülle des Lebens bemüht. Neben der Fahrt, auf der sie das Erlebnis von Menschen und Ländern suchen, dem Lager und dem Wettkampf steht daher im gleichen Rang die handwerkliche, musische und

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geistige Anstrengung in Gespräch, Lesung, Laienspiel und Chorsingen. Dabei erfahren Jungen und Mädchen zum ersten Mal, daß Gemeinschaft freiwillige Bindung ist. Disziplin des Geistes und des Körpers als Grundlage jeder Freiheit, ernster Leistungswille, Mut zur Auseinandersetzung mit dem anderen und Bewährung in der Verantwortung für den anderen wie für das Ganze bestimmen Lebensstil und Haltung der bündischen Jugend. Die Form der bündischen Gemeinschaft, die nur mitverantwortliche Zugehörigkeit kennt, ist besser geeignet, Verantwortungsbewußtsein wachsen zu lassen als der unverbindliche Gruppenstil der Jugendverbandsarbeit. Nur die Zielvorstellungen der Jugendverbandsarbeit sind für den Jugendlichen verbindlich. Sie sind von Erwachsenenorganisationen vorgegeben. Darin sehen wir die Gefahr, daß der Heranwachsende seiner Entscheidungsfreiheit beraubt wird. Wir wollen ihm eine Reifezeit sichern, in der er frei von Verbandsinteressen das Gesellschaftsganze betrachten und zur Entscheidungsfähigkeit gelangen kann. Ein politisches »Engagement« darf nur auf dem selbständigen Urteil eines erwachsenen Menschen beruhen, nicht auf Gewöhnung. Die bündische Gemeinschaft vermittelt humane Werte und Haltungen zweckfrei. Wir sind deshalb der Ansicht, daß sie besser auf eine freie Gesellschaft vorbereitet als die Gruppe eines Jugendverbandes, die frühzeitig an interessengebundenen Aktionen teilnimmt. Wir wissen, daß der Versuch der bündischen Jugend, ein Leben in Freiheit zu führen, für ihre Mitglieder wie für die Gesellschaft ein Wagnis bedeutet. Wir fordern von einer Gesellschaft, die der Freiheit verpflichtet ist, dieses Wagnis nicht nur zu dulden, sondern ihm den nötigen Raum zu sichern. Wir wehren uns gegen alle Bestrebungen, die uns diesen Raum einengen. Da unser Bemühen um Selbstverwirklichung nur in einem freien Staate gelingen kann, verpflichten wir uns, die uns anvertraute Jugend von der Idee des demokratischen Rechtsstaats zu überzeugen. Wir hoffen, daß auch der Teil der deutschen Jugend, dem alles dies verwehrt ist, eines Tages mit uns ein Leben in Freiheit führen kann. Für die Freiheit der Jugendlichen, sich mit Freunden zu einer Gruppe zusammenzuschließen, um in Verantwortung vor dem eigenen Gewissen wie in Verpflichtung für die Gesellschaft ein Jugendleben in eigener Bestimmung zu gestalten, tritt die bündische Jugend unter allen Umständen geschlossen ein.

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8. Offizielle Ankündigung des Meißnertages 1963, in: Die Reden der Gesprächsgruppen und die Einführungsworte zu den musischen Vorführungen und den Ausstellungen auf dem Meißnertage 1963 in Bad Sooden-Allendorf, Selbstverlag der Gilde Hoher Meißner, hg. von Knud Ahlborn und Helmut Hertling, Klappholttal/Sylt 1964 (nach der Titelseite).

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9. Programme des Meißnertages 196337 Göttingen, Sonnabend 12. Oktober 1963 Festversammlung in der Aula der Universität (10 Uhr) 1. Große Festmusik (G. F. Händel) 2. Eröffnung und Begrüßung durch den Senator a. D. Heinrich Landahl 3. Grußansprachen des Rektors der Universität und eines Staatssekretärs für den Ministerpräsidenten Niedersachsens sowie die Verlesung einer Grußbotschaft des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier 4. Motette (J. S. Bach) 5. Festrede des Altbischofs Professor Dr. D. Wilhelm Stählin: »Das Bleibende der Jugendbewegung« 6. Gemeinsames Schlußlied »Unsere Saat, die wir gesäet …« 7. Schlußchoral (aus einer Kantate von J. S. Bach).

Bad Sooden-Allendorf, Sonnabend 12. Oktober 1963, ab 15.30 Uhr I. Informationsgruppen: Persönliche Lebens- und Erfahrungsberichte 1. Erziehung in Elternhaus und Schule (Leitung: Heinrich Heise) 2. Jugendbildung in heutiger Zeit (Leitung: Karl Seidelmann) 3. Politische Ordnung (Leitung: Ludwig Metzger/Heinrich Steinbrinker) 4. Mensch und Gesellschaft (Leitung: Gerhard Weisser) 5. Lebensschutz und Lebensweise (Leitung: Theo Gläss) 6. Naturschutz und Landschaftspflege (Leitung: Hans Krieg) II. Gymnastische und tänzerische Vorführungen der Gymnastikschulen Medau und Loheland III. Vorführung »Ballett an Fäden« des Marionettenstudios Kassel IV. Konzert (mit Werken von Komponisten aus der Jugendbewegung) V. Tänzerisch-musikalisches Spiel – gespielt von der Spielschar Schloß Fürsteneck VI. »Der Fischbecker Wandteppich« von Manfred Hausmann – gespielt von der Laienspielgemeinschaft Klappholttal VII. Kunstausstellung »Kunst der Jugendbewegung« VIII. Festliches Beisammensein der Teilnehmer in verschiedenen Sälen 37 Dieses Programm (hier zum Teil gekürzt wiedergegeben) ist der im Auftrage des Hauptausschusse für die Durchführung des Meißnertages von Werner Kindt/Karl Vogt herausgegebenen Schrift »Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte«, Düsseldorf, Köln 1964, S. 72 – 75, entnommen. Eine Reihe von Aktivitäten der Jungen Bünde vor allem auf der Hausener Hute wird in diesem Programm nicht erwähnt (s. u.).

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Gleichzeitig auf Burg Ludwigstein: Archivausstellung des Archivs der Deutschen Jugendbewegung

Hoher Meißner, Sonntag 13. Oktober 1963 8.30 Uhr Lagergottesdienste der Jungen Bünde auf der Hausener Hute unterhalb des Gipfels 10.00 Uhr Offenes Singen für alle alten und jungen Teilnehmer des Meißnertages in der Waldecke im »Rebbes« auf dem Gipfel des Hohen Meißner, Leitung: Fritz Jöde 11.00 Uhr Gemeinsame Kundgebung aller Teilnehmer des Meißnertages im »Rebbes« auf dem Meißnergipfel 1. Intrada für Bläser 2. Eröffnung, Begrüßung, Totenehrung: Karl Vogt 3. Gemeinsames Lied: »Der Mensch hat nichts so eigen …« 4. Grußworte: Staatsminister Hans Hemsath (für den Ministerpräsidenten Zinn); Karl Thums (Sprecher des Österreichischen Wandervogels), Willie Jahn (ehemaliger Bundesführer des »Jungwandervogels«) 5. Gemeinsames Lied: »Grünet die Hoffnung …« 6. Sprecher der Generationen: Knud Ahlborn für die Meißnerfahrer von 1913, Alexander Gruber für die Jungen Bünde von 1963 7. Sprechchor des Bundes Deutscher Jungenschaften: Chorspiel »Kolumbus« (geschrieben von Alexander Gruber für den Meißnertag 1963) 8. Festrede von Helmut Gollwitzer 9. Ansage des Schlußliedes: Helmut Reiser 10. Gemeinsames Schlußlied: 3. Strophe des Deutschlandliedes »Einigkeit und Recht und Freiheit …«

Veranstaltungen der Jungen Bünde im Kohtenlager auf der Hausener Hute Freitag 11. Oktober 1963 1. Aufbau des Kohtenlagers auf der Hausener Hute durch die beteiligten Bünde 2. Teilnahme von Vertretern der Bünde an der Einweihung des Meißnerbaues auf Burg Ludwigstein (Abfahrt 15 Uhr) 3. Sängerwettstreit auf der Wiese oberhalb der Hausener Hute (20 Uhr)

Sonnabend 12. Oktober 1963 1. Darbietung der Männertanzgruppe der Musischen Gesellschaft (Sportplatz unterhalb der Hausener Hute ab 10 Uhr)

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2. Eröffnung der Werkausstellung der Werkgilden (im Lager der Grauen Reiter um 12 Uhr) 3. Abfahrt zur Feierstunde an der Werra bei Bad Sooden-Allendorf (14 bis 18 Uhr) 4. Einladungen der Bünde im Kohtenlager (ab 21 Uhr): z. B. Marionettenspiele (BDP), Singen und Puppenspiel (Nerother), Lichtbildvortrag über den bündischen Widerstand im 3. Reich (Schwarze Schar), Interbündisches Gespräch (Wandervogel deutscher Bund), Finnlandabend (Pfadfinderbund Großer Jäger)

Sonntag 13. Oktober 1963 1. Motette für Sprecher : »Hiob und seine Freunde« (Bund deutscher Jungenschaften, 7 Uhr) 2. Gottesdienste (8.30 Uhr) 3. Teilnahme am Offenen Singen (Leitung: Fritz Jöde, 10 Uhr oberhalb der Hausener Hute) 4. Kundgebung gemeinsam mit den Freunden aus den älteren Bünden (11 Uhr) 5. Gemeinsames Mittagessen (14.30 Uhr) 6. Treffen der Bundesführer (17 Uhr) 7. Lagerfeuer der Bünde (20 Uhr)

10. Einweihung des Meißnerbaues auf Burg Ludwigstein am Nachmittag des 11. Oktober 1963 (Auszug), in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 66, Februar 1964, S. 6 – 9.38 [Erich Kulke]39 war es, der in feiner und sinniger Weise den dankbaren Gefühlen aller den rechten Ausdruck verlieh. Sein Dank an die Ministerien, Behörden, Industrie, Gönner und Freunde der Vereinigung und deren Mitglieder für die finanzielle Hilfe kam aus vollem Herzen. Das Lob an die Architekten, Bauleute 38 Ab 1960 hatte die Vereinigung Jugendburg Ludwigstein die Planung des Gebäudes begonnen, ein 27-köpfiges Kuratorium einflussreicher Personen des öffentlichen Lebens berufen, finanzielle Unterstützung vom Land Hessen und aus dem Bundesjugendplan eingeworben sowie eine breite Spendenaktion durchgeführt, so dass mit dem Ziel der Fertigstellung des Meißnerbaus zum Meißnertag 1963 die Grundsteinlegung am 1. 5. 1962 und das Richtfest am 8. 12. 1962 stattfinden konnte. 39 Nach einem Orgelspiel und nach der Schlüsselübergabe für den Neubau mit seinem großen Saal folgte zunächst der Eröffnungsvortrag von Erich Kulke.

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und Handwerker für die termingerechte Fertigstellung des Baues erntete den Beifall der Festgemeinde. In seinen weiteren Ausführungen sprach Erich Kulke von der geistigen Sinngebung eines solchen Bauwerkes: »Das wichtigste Ergebnis des Meißnerbaues war die uns beglückende Tatsache, daß wir an dieser Aufgabe wuchsen, weil wir ein großes Ziel vor uns sahen. Unsere Aufgabe ist es nun, die Gemäuer dieses Hauses mit gutem Geist zu erfüllen, damit es ein rechtes Zuhause werde. Die Burg ist groß, holt alles herein, was allein zu schwach ist, damit es in der Gemeinschaft erstarke. Diese Burg soll eine Verbindung von Volk zu Volk schlagen, sie ist gewidmet den Lebenden und den Toten, die sie mit ihrem guten Geiste füllen sollen. In diesem Sinne übergeben wir den Meißnerbau seiner Bestimmung.« Die Grüße des Schirmherrn des Meißnerfestes 1963, Ministerpräsident Zinn, überbrachte Minister Hemsath. Er rief die Burg und Vereinigung auf zu einer nie nachlassenden Bemühung um die Wiedervereinigung der getrennten Teile unseres Vaterlandes. Im Namen des Kuratoriums der Meißnerbaus sprach Altbischof Stählin. Er wies auf die Bedeutung des Archivs der Deutschen Jugendbewegung hin und führte aus, daß nur der geschichtstüchtig sei, der auch in der Vergangenheit wurzele. [Im Folgenden aus der Rede von Ilse Timm, der Vertreterin der Jungen Bünde im Vorstand der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein, zit. ebd.]: Der Anspruch der inneren Wahrhaftigkeit verpflichtet uns, den andersartigen Weg der heutigen Jugend anzuerkennen. Jede Bewegung ist Ausdruck einer Kraft, die sich bewähren muß. Bewegung ist immer dynamisch. Wir haben uns immer wieder neue Aufgaben zu stellen, nur dadurch bleiben wir lebendig. Wähnten wir uns am Ziel, dann hörten wir auf zu leben. Hinter der Aufgabe der Burg steht keine Ideologie, keine Religion, keine Politik. Wir bieten Hilfe an, weil wir die Erfahrung haben und bereit sind, begangene Irrtümer einzusehen. Die 7.000 gefallenen Wandervögel der beiden Weltkriege und die auf unserem Friedhof bestatteten 300 Gefallenen des letzten Weltkrieges sollen uns immer Mahnung und Aufruf sein. (…) Allen Zweifeln und Streitigkeiten zum Trotz, er steht da, der Meißnerbau. Wir haben uns in dieser bedeutsamen Stunde zum ersten Mal in seinem Meißnersaal zusammengefunden. Am Vortage eines Jubiläums, das einem alten gilt, können wir hier ein neues, junges Gebilde aus der Taufe heben. (…) Die Aufgabe heißt, den Meißnersaal mit Leben zu füllen, ihm seinen Inhalt zu geben. An dieser Aufgabe mitzuwirken – nicht nur unter »ferner liefen«, sondern mit an erster Stelle – wird die Jugendbünde beschäftigen müssen. (…) Mit dem Bekenntnis zur Burg und dem Willen, sie in unsere Mitte zu stellen,

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läuft parallel die Bereitschaft, sich den Gesetzen der Burg zu unterstellen. Diese Gesetze aber fordern uns zu einer Haltung und Handlung auf. Das erste Gesetz ist meiner Meinung nach die Bereitschaft zur Offenheit. (…) Das zweite Gesetz ist die Bereitschaft, den anderen Menschen, die andere Gruppe, den anderen Bund in seiner Eigenheit zu respektieren und miteinander um Gemeinsamkeiten zu ringen. (…) Das dritte Gesetz gilt der Wahrung der Freiheit und dem Willen zur Freiheit. (…) Das vierte Gesetz muß heißen: Die Not unseres Volkes müssen wir wenden. Von der Ostseite des Meißnersaales sieht man auf den Hanstein, die zur Zeit unerreichbare Burg auf der anderen Seite der Zonengrenze. Der Ludwigstein, einst in der Mitte des ganzen Deutschlands gelegen, sollte durch seine heutige Lage an der Zonengrenze den Auftrag übernehmen, die Verpflichtung zur Wiedervereinigung unseres Volkes, so wie sie im Grundgesetz verankert ist, wachzuhalten. In diese Verpflichtung als selbständig denkende Menschen hineinzuwachsen und sie in voller Verantwortung zu übernehmen, sollte die Aufgabe der heutigen Jugend sein. (…)

11. Die am Meißnertreffen von 1963 teilnehmenden Bünde, in: Der Meißnertag 1963 in der Sicht des Freundeskreises Jung-Wandervogel, 34. Rundbrief Juni 1964.40 1. Bund deutscher Jungenschaften, zu dem die Jung-Wandervögel 1956 gehören 2. Bund Deutscher Pfadfinder, Landesmark Hessen 3. Bund deutsch-unitarischer Jugend 4. Christliche Pfadfinderschaft (Hannover) 5. deutsche evangelische Jungenschaft 58 6. Deutsche Freischar 7. Deutsche Gildenschaft 40 Über die 24 Bünde hinaus, die in dem pünktlich zum Meißnertreffen erschienenen »jahrbuch bündischer jugend« vertreten sind, hatten sich bis kurz vor dem Ereignis noch weitere 14 Bünde offiziell angemeldet. Von den über dreitausend Teilnehmern aus den jungen Bünden stammten etwa 1.000 allein aus den vier Bünden BDP Hessen, DPB, Pfadfinderbund Großer Jäger und Deutsche Freischar. S. dazu und zum gesamten technischen Ablauf sowie zur Finanzierung des Treffens den Bericht des für die gesamte Buchhaltung zuständigen Mitglied des Jung-Wandervogels Gottfried Dutschke (friedel): Gedanke, Durchführung und Ausklang des Meißnertages 1963, in: Der Meißnertag 1963 in der Sicht des Freundeskreises Jung-Wandervogel, 34. Rundbrief Juni 1964, S. 8 – 15, bes. S. 11 f.; abgedruckt sind darin auf S. 8 f. auch die »Grußworte« von Willie Jahn zur Festveranstaltung.

300 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.

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Deutsche Jugend des Ostens dj.1.11. Hortenring d.j.e.V. deutsche Reformjugend e.V. Deutscher Pfadfinderbund Deutscher Pfadfinderbund 1911 Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg (Aachen) Deutscher Wanderbund Deutsches Reformjugendwerk e.V. Die Gefährtenschaft Die Tatgemeinschaft Die Schar im Bund der katholischen Jugend Dreieichgau der Christlichen Pfadfinderschaft Fahrende Gesellen Fahrtenschaft Nebelreiter in der Deutschen Waldjugend f.k.k. jugend Freie Pfadfinderschaft Junge Adler, Deutscher Jugendbund Jungengemeinschaft Quickborn Maulbronner Kreis Nerother Wandervogel Österreichischer Pfadfinderbund Österreichischer Wandervogel Pfadfinderbund Großer Jäger Pfadfinderbund Nordbaden Schwarze Schar Späherbund Turnschar Volker Wandervogel Deutscher Bund Zugvogel, deutscher Fahrtenbund Pfadfinderschaft Grauer Reiter

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12. Zitate aus den Reden zum Meißnertag 1963, in: Werner Kindt, Karl Vogt (Hg.): Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, Düsseldorf, Köln 1964. Reden beim Akademischen Festakt am 12. 10. 1963 in der Aula der Universität Göttingen: Senator a. D. Heinrich Landahl (1895 – 1971). Der Meißner-Tag ist ein Wagnis, ein Wagnis, das gewagt werden muß. Er ist mit gutem Grund nicht Meißner-Fest genannt worden; ein Fest, das an ein Jubiläum erinnert, würde wenig zu dem passen, was uns seit Jahrzehnten und heute bewegt. (…) Es hat viele Umwege und auch gefährliche Irrwege gegeben. Wir sollten uns nichts vormachen. Aber wir ahnten immer und wissen heute: das alles war und ist nicht das Eigentliche. Das Eigentliche ist, daß wir, jeder als einzelner, in der Gruppe eine Bindung ganz eigentümlicher Art erfahren haben, welche die meisten sich für das ganze Leben bewahren konnten. (…) Möge der Meißner-Tag uns in der Überzeugung bestärken, daß unsere Art und unser Streben beide ihren guten Sinn gehabt haben. Möge er uns die Zuversicht geben, daß beide ihre Berechtigung auch heute haben und morgen weiter haben werden in dieser unserer widerspruchsvollen Welt. (…) Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (1906 – 1986).41 (…) Ich wäre gerne gekommen, um heute zu sagen, wie dankbar ich mit vielen anderen für das bin und bleiben werde, was uns in der Jugendbewegung zuteil geworden ist. Es ist mehr als die Achtung vor den Träumen unserer Jugend, es ist auch nicht nur die Erinnerung an beglückende Gemeinschaftserlebnisse und einen befreienden Lebensstil, die mich das sagen lassen. Es ist vielmehr die Dankbarkeit für die innere Orientierung unseres Lebens auf das Wesentliche hin, was ich mit vielen anderen in der deutschen Jugendbewegung empfangen habe. (…) Was wir Deutsche gewiß auch heute ganz unverändert brauchen, ist nicht nur die alte liebevolle Hinneigung unserer Bünde zur Natur und zum verpflichtenden Kulturerbe, sondern erst recht der Mut, vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit an der Lebensgestalt unsres Volkes und unserer Zeit mitzuwirken. Es ist auch heute kein Kinderspiel, damit schon diesseits des eisernen Vorhangs wirklich ernst zu machen, und jenseits ist es lebensgefährlich. (…)

41 Da Gerstenmaier kurzfristig absagen musste, wurde seine »Grußbotschaft« verlesen.

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Universitätsrektor Arnold Scheibe (1901 – 1989). (…) Nicht von ungefähr hat sich wohl gerade in Göttingen schon bald nach der Jahrhundertwende eine akademische Jugend eingefunden und zusammengeschlossen, die als »Akademische Freischaren« oder später als »Freideutsche Gilden«, »Bündische Jugend« usw. das Jugendleben des Wandervogels in Haltung und Gesinnung sowie in korporierter Form auch im Rahmen der Universität fortzusetzen bestrebt war. An geistigen Auseinandersetzungen dieser jungen akademischen Gruppen mit einer anders gesinnten und auch traditionsgemäß andersartig gebundenen akademischen Jugend hat es, das versteht sich von selbst, auch hier in Göttingen nicht gefehlt. (…) Sie zeigen, daß hart und leidenschaftlich um die Grundsätze in der geistigen Haltung und in der Lebensführung, gerade auch auf der studentischen Ebene gerungen wurde. Und das war gut so, weil es rechtens war und weil eine solche Haltung der geistigliberalen Tradition entsprach, aus der diese Universität einst gegründet wurde. (…) Staatssekretär Curt Miehe (1903 – 1965) – in Vertretung des niedersächsischen Ministerpräsidenten. (…) Die Jugend, die sich während der Jahrhundertwende gegen den Ungeist der Gründerjahre erhoben hatte und sich erstmalig auf dem Hohen Meißner sammelte, umfaßte nur eine kleine Gemeinde, aber unter ihnen, das kann man heute wohl sagen, war die beste Auslese der deutschen Jugend. Von ihrem Fest auf dem Hohen Meißner ging eine prägende Kraft aus, deren Nachwirkungen auch heute noch in der Erziehung, in den Formen jugendlichen Lebens und in der Gemeinsamkeit der Grundanschauung und der Lebensführung vieler Menschen dieser Generation zu verspüren sind. (…) Altbischof Wilhelm Stählin (1883 – 1975). Was ist der Sinn dieser festlichen Stunde? Unbeeinflußt durch die positive Vorwegnahme dessen, was vorauseilende Berichterstattung von dieser Stunde erwartet hat, und ebenso unbeirrt vor der Angst vor Gespenstern, die nach der Meinung einiger besorgter Freunde in diesen Tagen spuken könnten, sollten wir ganz sachlich fragen, was der Sinn dieser Stunde sein kann und was ihr auf der anderen Seite Recht und Sinn geben könnte. (…) Was die Menschen der Jugendbewegung verbindet und woran sie einander erkennen, ist eine bestimmte Art des Seins, eine innere Form, die sie auch als längst gereifte Männer und Frauen weder abstreifen können noch abstreifen wollen. (…) Diese menschliche Grundhaltung versuche ich unter drei Gesichtspunkten zu beschreiben oder wenigstens so weit anzudeuten, dass vor Ihnen ein Bild dieses inneren Seins entsteht. (…) Ich nenne an erster Stelle ein elementares Gefühl für die Einheit und Ganzheit

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des lebendigen Menschen. (…) Das zweite unter den Kennzeichen, die ich beschreiben oder andeuten möchte, ist ein intensives und persönlich verbindliches Verhältnis zur Natur. (…) Als drittes Merkmal, an dem die Menschen, die durch die Jugendbewegung hindurchgegangen und an ihr geprägt sind, sich gegenseitig erkennen, nenne ich die unbefangene Offenheit für den anderen in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch. (…) Hat das alles, was ich hier zu sagen versucht habe, etwas zu tun mit den konkreten Formen der Verantwortung, unter denen wir heute stehen? (…) Niemand kann sich verbergen, daß wir in unserer politischen Situation unter einem tiefen und weitverbreiteten Unbehagen leiden. Dieses Unbehagen richtet sich weniger gegen falsche Gesetze als gegen ein menschliches Versagen. Wo sind die Menschen, die im Getriebe technischer und bürokratischer Apparate sich ein lebendiges Verhältnis zur gewachsenen Natur und ein tiefes Verlangen nach menschlicher Ganzheit, Einheit und Echtheit bewahrt haben? Wo sind die Menschen, die einander nicht mit pflichtmäßigem Misstrauen, sondern in menschlicher Offenheit begegnen und auch in dem anders Denkenden und anders Redenden den lebendigen Menschen suchen? Wo sind die Menschen, in deren Denken, Handeln und Sein der Mensch als solcher, das Menschliche im Menschen, den ihm gebührenden Wert und Rang behält? Hier, wenn irgendwo, scheint mir das Bleibende der Jugendbewegung zu liegen, oder nicht eigentlich der Jugendbewegung, sondern ihrer Sehnsucht nach echtem Menschentum. (…)

Reden bei der Kundgebung am 13. 10. 1963 auf dem Hohen Meißner : Begrüßung von Karl Vogt (1907 – 2003). (…) Wir Alten achten die jungen Bünde als Inseln jugendlichen Verweilens und Reifens, auch wenn bei ihnen vieles anders ist, als es bei uns war. Daß trotz der Unruhe, der Zerspaltenheit und der vielen schmerzlichen Ereignisse des vergangenen halben Jahrhunderts eine solche Einheit der Generationen erhalten geblieben ist, beweist bereits zur Genüge die Kräfte, die die deutsche Jugendbewegung ausstrahlt. Daß wir alle hier, Alte wie Junge, an diesem Meißnertag imstande gewesen sind, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen, vereint hier oben zu stehen, macht deutlich, wie sehr die Jugendbewegung heute noch lebt, beweist ihre Fähigkeit zu historischer Kontinuität. Soll sie aber weiter bestehen bleiben und ihren Wert als einigendes Band und ausgleichende Kraft nicht nur für uns, sondern durch uns auch für andere behalten, so müssen wir willens bleiben, die uns gestellten besonderen Aufgaben in der geistigen und gesellschaftlichen Lage unserer Tage zu erkennen und uns um ihre Lösung zu bemühen. Wir Heutigen der alten und jungen Jugendbewegung sind zwar keine Weltverbesserer mehr und jagen keinen Utopien nach, sondern wir sind gewillt,

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real, nüchtern und die eigene Grenze erkennend die Besonderheit unseres Wesens und Verhaltens ins Spiel für das Ganze zu bringen. (…) Grußwort des Staatsministers Heinrich Hemsath42 (1902 – 1978) – in Vertretung des hessischen Ministerpräsidenten. (…) Ob die Zukunft besser und wirksamer gestaltet werden kann, hängt von uns allen, d. h. auch und vor allem vom Verhalten der jungen Generation ab. Sie wird den großen politischen Entscheidungen der Gegenwart und der Zukunft nicht ausweichen können, weder in ihren Gruppenabenden, noch auf der Burg Ludwigstein, weder in der Gestaltung ihres beruflichen Lebens noch in ihrem Verhältnis zur Politik und zum Staat. (…) Darum begrüßt die Hessische Landesregierung die Leitsätze der bündischen Jugend zum Meißnertag 1963, in denen es u. a. heißt: »Es gilt auf dem Meißner auch, zu dokumentieren, daß bündische Jugend heute allein in einem demokratischen Rechtsstaat möglich ist; daher bekennen sich die Bünde zum demokratischen Rechtsstaat.« Liebe Freunde, das ist ein Bekenntnis, das ist ein gegebenes Wort, das bindet und verpflichtet, das die Kritiker und ihre oft mit spitzer Feder geschriebenen Analysen der letzten fünf Jahrzehnte und ihre Prophezeiungen ins Unrecht setzen wird, wenn Euer Verhalten entsprechend ist. (…) Grußwort des Österreichischen Wandervogels Karl Thums (1904 – 1976). (…) Es gab und es gibt nur eine deutsche Jugendbewegung, mag diese in noch so viele Bünde, Gruppen, Gemeinschaften und heute auch bereits in mehrere Generationen gegliedert sein – so wie es auch nur ein einziges deutsches Volk in seiner Vielheit von Stämmen, Gauen, Parteien, Konfessionen oder anderen Gruppierungen und trotz seiner Zugehörigkeit zu mehreren Staaten gibt. Denn Staatsgrenzen oder diese Zonengrenze hier, Schlagbäume, Mauern, Drahtverhaue und Minenfelder, sie können ein Volk nicht auflösen so wie der Geist frei und unteilbar ist, der uns stets erfüllt hat und uns auch heute bewegt. In diesem Geist der Freiheit sind wir alle eine große Gemeinschaft: Ihr hier, wir drüben im Südosten unseres geschlossenen Volksraumes, aber auch die Vertriebenen und die von uns Abgetrennten, denn – wie es in einem unserer alten Lieder hieß – wir alle sind Brüder, wie alle sind gleich. (…) Darum heißt unser Wunsch: möge es nach nochmals fünfzig Jahren ebenso sein wie beim Ersten Meißner-Fest und heute: daß auch dann junge und alte Menschen aus Österreich, zutiefst bewegt, hier im Ringe stehen. (…)

42 In der Publikation lautet der Vorname »Hans«, S. 34.

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Grußwort von Willie Jahn (1889 – 1973), früherer Bundesführer des Jungwandervogels und Meißnerfahrer von 1913. (…) Es geht um das Recht der Jugend, in ihrer Freizeit ohne Bindung durch Schule oder politische Parteien in der Erziehungsgemeinschaft eines freien Jugendreiches zu leben und so vorerst Charakter und Persönlichkeit zu werden. Das heißt keineswegs, der Verpflichtung zum politischen Standort auszuweichen, wie es den Jugendbünden zu Unrecht vorgeworfen wurde und wird. Denn rechte Bünde können keine politischen Bindungen sein. Jeder hat da für sich einzustehen. Freiheit zur Entwicklung gebührt der Jungenschaft, politisches Begreifen und Handeln der Mannschaft. (…) Rede von Knud Ahlborn (1888 – 1977) als Vertreter der »Alten«. Als einer der Ältesten der Jugendbewegung, der das seltene Glück hatte, sie von Anfang an mitzuerleben und bis heute aktiv daran teilzunehmen, will ich versuchen, den Bogen von 1913 bis 1963 zu spannen. (…) Schwer aber bedrückt uns heute wie alle Deutschen die als Folge des letzten Krieges eingetretene Spaltung unseres Volkes. Auf beiden Seiten der Mauer, vom besten Willen erfüllt, leiden wir Freideutschen gerade am heutigen Tage schwer unter dem harten Zwang dieser Trennung. (…) Schwere Versündigung gegen den Gedanken der Menschlichkeit haben viele Völker im letzten Kriege auf sich geladen, leider auch ganz besonders unser eigenes Volk. Jetzt sollte es nur noch die eine Parole geben: »Geht von allen möglichen Punkten und auf allen möglichen Wegen an’s Werk einer echten Völkerverständigung.« (…) Rede von Alexander Gruber (geb. 1937) als Sprecher der Jungen Bünde. (…) Wir jungen Menschen in den Bünden führen ein unserer Jugend gemäßes Leben in Gemeinsamkeit. In dieser Gemeinsamkeit lernen wir, Ansprüche an unser eigenes weiteres Leben zu stellen. In dieser Gemeinsamkeit erfahren wir, daß solche Ansprüche nur zusammen mit anderen Menschen zu verwirklichen sind. In dieser unsere Mitarbeit und Einordnung fordernden Gemeinsamkeit erleben wir, daß, über jeden Selbstgenuß und Eigenwillen hinaus, die Offenheit und Bereitschaft zur Begegnung mit Welt und Menschen heißt: gemeinsam leben, für andere leben, sinnerfüllt leben. Wir haben das Recht, dieses Leben zu führen. Wir verlangen von allen, daß dieses Recht uns erhalten bleibt. Und wir sind bereit, uns für diese Freiheit einzusetzen. Denn wir können sagen, was wenige sagen dürfen: Bei uns erfährt ein junger Mensch in aller Greifbarkeit, was jede Hoffnung auf die Zukunft erst berechtigt, weil nur Erfahrung die Hoffnung glaubhaft macht – daß Sonne und Wind, Freude und Trauer, Mühsal und Lachen, daß Einsamkeit und Freundschaft Teile jener größeren und menschlich-ver-

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pflichtenden Gemeinsamkeit sind, die Leben heißt, Glück heißt, Frieden heißt. (…)43 Festansprache von Helmut Gollwitzer (1908 – 1993). Für uns Ältere ist dieser Tag ein Fest der Dankbarkeit und der Prüfung zugleich; für euch Junge ist es ein Tag des Hörens auf Vergangenes und Vorausschauens auf eure Zukunft. Wie kann unser Vergangenes eurer Zukunft dienen? Das ist heute die Frage! (…) Wir sind nicht ewige Wandervögel, und wir proklamieren nicht die ewige Jugendbewegung. Wohl aber hat es Notwendigkeit und Sinn, uns Rechenschaft zu geben, was heute zu lernen sei aus dem damaligen Aufbruch deutscher Jugend, aus seinen Erfahrungen und seinem Verlauf, aus seinem Gewinn und aus seinen Irrtümern. (…) Die Meißner-Formel ließen wir Bündischen oft als individualistisch verleumden, statt zu erkennen, daß man sie als die Kernformel eines demokratischen Bewusstseins verstehen kann. Heute scheint sich das herrlich geändert zu haben: An Bekenntnissen zur Demokratie überbieten sich Hitlergeneräle, Franco-Liebhaber und alle Bürokraten, die ungeniert wie zu Führers Zeiten den Staat und die Regierung mit einander gleichsetzen. Zur Demokratie bekennt sich der Verfassungsschutz, wenn er das Grundgesetz, das er schützen soll, missachtet; zur Demokratie bekennt sich die Regierung, wenn sie Notstandsgesetze von der Art vorlegt, daß mit ihnen im Anwendungsfall die demokratische Ordnung, die man zu schützen vorgibt, beseitigt wird; zur Demokratie bekennen sich Führer der Vertriebenenverbände, wenn sie sogenannte Verzichtpolitiker ins Gefängnis bringen wollen. Das Bekenntnis zur Demokratie ist die bequemste Sache der Welt; die Demokratie selber aber die schwierigste, unbequemste und riskanteste Staatsform, die sich denken lässt. Warum wollen wir sie trotz aller Nachteile? Weil sie die Staatsform für erwachsene Menschen ist! Wer sie will, darf also den Staat nicht als Kindergarten und nicht als Kaserne wollen. Er darf den Untertan und die Uniformierung der Köpfe nicht wollen. Er muß den Menschen wollen, der sein Leben »nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit« führen will. (…) Gustav Wyneken, der alte Löwe mit seinen 88 Jahren, ist diesem Fest grollend ferngeblieben, weil er aus den Gottesdiensten und den Namen zweier evangelischer Theologen auf dem Programm entnahm, auch hier marschiere wie sonst in der Bundesrepublik die Klerikalisierung, und statt freier Jugend werde hier gezähmtes Wandervogelgeflügel unter Assistenz der Kirche für den nächsten Heldentod abgerichtet. (…) Jawohl, für den nächsten Heldentod abgerichtet! Ist das nicht schon zweimal geschehen? War die Jugendbewegung daran nicht 43 Es folgte nach dieser Rede von Alexander Gruber das von ihm verfasste Chorspiel »Kolumbus«, vorgetragen von einem Sprechchor des Bundes deutscher Jungenschaften.

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kräftig beteiligt? Stimmen nicht alle Zitate, mit denen man heute beweist, wie der Weg der bündischen Jugend zielsicher ins 3. Reich einmündete? Jawohl, sie stimmen! Die Seuche des Nationalismus und des Antisemitismus war unter uns ebenso verbreitet wie unter den Erwachsenen. (…) Wir wollen uns hüten, unsere Irrtümer mit unserer damaligen Jugend zu entschuldigen. Den Wahnsinn des Krieges und die Greuel der Juden-, Zigeuner- und Polenermordung haben auch wir auf unsere Weise, ohne die Konsequenzen zu ahnen und zu wollen, in Torheit und Blindheit mit vorbereitet. Soweit wir daran (wie auch ich) beteiligt waren, wollen wir das nicht uns selbst verzeihen, sondern nur Gott und die betroffenen Völker um Verzeihung bitten. Was wäre aber diese Bitte ohne den entschlossenen Bruch mit jenen Torheiten von damals und ohne Aufbruch zu neuen Wegen? Was ist geschehen seither? (…) Für uns heute, nach dem zweifachen Gemetzel, in das sich die europäische Jugend hat hineintreiben lassen, muß klar sein: 1. Diese Todesopfer waren sinnlos, und die nächsten, für die man euch heute einübt, werden noch sinnloser sein. 2. Der Zusammenbruch Deutschlands fand nicht 1945, sondern 1933 statt, unter kräftiger Mitwirkung vieler Jugendbewegter. 3. Darum ist heute das Gebot (…) »die äußerste Anstrengung für die Erhaltung des Friedens«. Dies ist das Kriterium, an dem ihr Politiker, Programme und Regierungen messen sollt, und es ist zugleich die Verpflichtung, mit dem Erwachsenwerden in die politische Arbeit einzutreten, in die zähe, nüchterne, politische Arbeit, viel zielbewusster, als wir es damals getan haben, – aber mit diesem Ziel vor jedem anderen. 4. Und dies in Solidarität mit der Jugend der ganzen Welt. Denn eure Zukunft werdet ihr westdeutsche und westliche Jugend nur gewinnen können zusammen mit der Jugend der anderen Völker und nicht gegen sie. (…) Habt den festen Willen, an den Trennungen der alten Generation nicht wieder einmal die Zukunft zu Schanden werden zu lassen. (…) Wenn jemand im Jahre 2013 noch das Bedürfnis empfinden sollte, hier oben des Aufbruchs deutscher Jugend vor 100 Jahren zu gedenken, dann werden Kapitalismus und Kommunismus wenig mehr dem gleichen, was sich heute so nennt, – und dann wird ein solches Gedenken nur möglich sein, wenn die europäische Jugend sich nicht aufs neue hat den Torheiten der älteren Generation zum Opfer bringen lassen. (…)

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Helmut Reiser (geb. 1942)44 : Ansage zum Schlußlied. Liebe Freunde! Der Kern unserer politischen Haltung heißt: Wir wollen wachsam sein. Wir wissen, wofür : für die Freiheit des Einzelnen, für das Recht im Staate, für die Einigkeit der Deutschen. Nach dem, was eben hier gesagt wurde, glaube ich hinzufügen zu müssen: Wir müssen auch für diejenigen unter uns, die heute auch unter uns stehen, die glauben, im Notfall auch mit der Waffe in der Hand für die Freiheit des Einzelnen eintreten zu müssen, und auch für die, die ebenfalls unter uns weilen, die glauben, daß zum Recht des Einzelnen auch das Recht auf Heimat gehört, Verständnis und Achtung gewinnen. (…) Wir glauben an Einheit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Deshalb wollen wir diese Strophe als gemeinsames Schlußlied singen. Wir wissen zwar, wie sehr dieses Lied abgesungen, belastet und verbraucht ist. (…) Uns schmerzt die Armut und Hilflosigkeit unserer Situation eines gespaltenen Deutschlands, die auch darin ihren Ausdruck fand, daß es uns so viel Mühe bereitete, ein gemeinsames Schlußlied für den Meißnertag zu finden. Wir glauben jedoch, daß trotz allen Mißbrauchs dieses Lied dem Ernst unseres Anliegens, der Not unseres Volkes und der Würde des heutigen Tages gerecht wird. Wir jungen Bünde, die wir nicht durch politisches Scheitern persönlich belastet sind, glauben, daß dieses Lied keine Notlösung ist. Wir haben uns deshalb entschlossen, ganz bewußt mit diesem Lied die Gewissen wach zu singen. Wir wollen es für alle deutschen Menschen singen!

44 Reiser war Mitglied der Akademischen Gilde Frh. v. Stein in Frankfurt, vorher in der Landesmark Schwaben des BDP. Zur Rede Gollwitzers hat er anschließend in den Blättern der Deutschen Gildenschaft (6. Jg., Folge 1/2, Februar 1964, S. 15 – 18) eine kritische Stellungnahme veröffentlicht, in der es neben Gollwitzers positiver Einstellung zur Kriegsdienstverweigerung auch um dessen Kritik am Singen der 3. Strophe des Deutschlandliedes ging.

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13. »Lebensfragen und Gestaltungswille« – Arbeitsgemeinschaften des Meißnertages 1963 am Nachmittag des 12. Oktober 1963 in Bad Sooden, in: Die Reden der Gesprächsgruppen und die Einführungsworte zu den musischen Vorführungen und den Ausstellungen auf dem Meißnertage 1963 in Bad SoodenAllendorf, Selbstverlag der Gilde Hoher Meißner, hg. von Knud Ahlborn und Helmut Hertling, Klappholttal/Sylt 1964.45 Aus der »Einleitung« von Knud Ahlborn (1888). (…) Das die brennenden und wichtigen Fragen der Gegenwart behandelnde, von sachkundigen Freideutschen und ihren Freunden geführte Gespräch in SoodenAllendorf stellte die Fülle der Aufgaben, die in unserer gemeinsamen Lebensspanne der praktischen Bewältigung harren, klar heraus und zeigte dazu viele praktische Möglichkeiten und Wege. Die sehr aufschlußreichen Ausstellungen von Kunstwerken und literarischen Erzeugnissen sowie die meisterhaften musischen Darbietungen bewiesen, wie viel schöpferisch gestaltende Kräfte in den vergangenen fünfzig Jahren aus dem großen Kraftstrom der Freideutschen Bewegung hervorgegangen sind und noch heute in voller Lebenskraft in Erscheinung treten. In solcher Anreicherung innerhalb eines einzigen Tages repräsentiert die Soodener Arbeits- und Festtagung einen Teil der besten Schaffenskräfte unseres Volkes! (…) Zu den sechs Gesprächsgruppen. Gesprächsgruppe I: Pädagogische Fragen – Rahmenthema »Erziehung in Elternhaus, Schule und Freizeit«, Vorträge von Heinrich Heise (1904) »Lebensführungslehre in der Schule«, Hans Bohnenkamp (1893) »Fragen der Schulordnung«, Hermann Mitgau (1895) »Die Bedeutung der Familiengemeinschaft für die Erziehung der jungen Generation«, Hans Thierbach (1907) »Über die Möglichkeiten einer Jugendbewegung in Sowjetrußland und in den Vereinigten Staaten«, Albrecht Leo Merz (1884) »Die Entwicklung der schöpferischen Kräfte«46 Gesprächsgruppe II: Pädagogische Fragen – Rahmenthema »Jugendbildung in heutiger Zeit«, Vorträge von Karl Seidelmann (1899) »Jugendbildung in eigener Verantwortung und mit innerer Wahrhaftigkeit«, Hans Richter (1903) »Bildungsaufgaben heute – aus dem Blickpunkt der Wirtschaft«, Wolfgang Heybey (1906) »Bildungsdenken und Bildungswirklichkeit der Höheren Schule 45 Es wird im Folgenden das Geburtsjahr der Vortragenden hinzugefügt, das aus dem biographischen Anhang hervorgeht. 46 Wegen Krankheit des Redners ausgefallen, aber in der Publikation abgedruckt.

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in kritischer Sicht der jugendbewegten Menschen«, Otto Weise (1910) »Bild, Wort und Buch als Formkräfte in der Jugendbildung« Gesprächsgruppe III: Fragen der politischen Ordnung – Rahmenthema »Deutschland, Europa und die Welt«, Vorträge von Heinrich Steinbrinker (1901) »Unsere politische Verpflichtung«, Ludwig Metzger (1902) »Aus meiner politischen Tages- und Lebensarbeit«, Rudolf Kurtz (1910) »Die politische Verantwortung eines ehemaligen Quickborners als Ingenieur im Landtag«, Heinz Kloppenburg (1903) »Neue Wege in der Politik – die Alternative zum FreundFeind-Denken«, Christel Küpper (1906) »Der Friede als Aufgabe der Forschung« Gesprächsgruppe IV: Fragen der sozialen Ordnung – Rahmenthema »Mensch und Gesellschaft«, Vorträge von Gerhard Weisser (1898) »Der Lebensraum des Einzelnen in der organisierten Gesellschaft«, Ferdinand Goebel (1886) »Neue und alte Wege zur Wandlung des Menschen«, Helmut Reiser (1942) »Die Funktion des Jugendbundes in der Gesellschaft«, Fritz Katz (1900) »Die Elendsbekämpfung in der Welt«, Hans-Ulrich Smoltczyk (1935) »Internationale Gemeinschaftsdienste« Gesprächsgruppe V: Fragen der Lebenshaltung – Rahmenthema »Lebensschutz und Lebensweise«, Vorträge von Theo Gläß (1897) »Lebensschädigung und Lebensgefährdung durch Genußmittel. Lebenserneuerung durch Kampf für ein gesundes Jugendleben und für Volksgesundheit«, Bodo Manstein (1911) »Die Gefahren der ungesteuerten Technik«, Rolf Gardiner (1902) »Arbeits- und Lebensbericht für den Meißnertag 1963«, Ernst Hass (1909) »Angewandte Anthropologie als Grundlage der Lebenssicherung« Gesprächsgruppe VI: Fragen des Naturschutzes und der Landschaftsgestaltung – Rahmenthema »Natur- und Landschaftsschutz in Gesetz und Praxis«, Vorträge von Hans Krieg (1888) »Schutz unseres Lebensraumes«, Alwin Seifert (1890) »Schafft neue Landschaft«, Alfred Toepfer (1894) »Naturschutz, Naturschutzpark und Landschaftspflege«, Knud Ahlborn (1888) »Der Hohe Meißner in Idee und Wirklichkeit« Es folgen anschließend die Einführungsworte und die Berichte zu den Musischen Vorführungen (Festliches Konzert mit Werken von Komponisten aus der Jugendbewegung, Medau Gymnastikgruppe, Europäische Volkstänze, Legendenspiel »Der Fischbecker Wandteppich« von Manfred Hausmann, Marionetten-Spiel »Ballett an Fäden«, Tänzerisch-musikalisches Spiel »Das Märchen von den Winden«) und zur Eröffnung der Ausstellungen (Kunst der Jugendbewegung, Malkunst Klappholttal, Archiv-Ausstellung). Dazu aus dem »Nachwort als Vorwort« von Helmut Hertling (1890) (Auszug), ebd. S. 202 – 215. (…) Es war eine große Freude, bei der Vorbereitung und Durchführung wie bei der Durchsicht der Soodener Reden und Ausführungen wahrzunehmen, daß in

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allen Informationsgruppen, den pädagogischen, der soziologischen, der politischen wie den der Gesunderhaltung oder Regeneration von Mensch und Landschaft betreffenden, immer wieder die Überzeugung hörbar wurde, daß der verführerische Mißbrauch der Spezialisierung, der in Gesellschaft und Politik zu Erscheinungen von Schizophrenie geführt hat, nur durch eine Synthese der Teilwissenschaften überwunden werden kann. (…) So seien denn zum Schluß in Konsequenz der vorangegangenen Überlegungen drei Fragen gestellt, von deren tätiger, positiver Beantwortung, wie mir scheint, der Zukunftswert des Meißnertreffens 1963 abhängt. 1.) Können und wollen wir vier Erlebnisgenerationen, die aus der Kaiserzeit, der Weimarer und der Hitlerepoche wie diejenige der jungen Bünde ihre eigentümlichen Sonderkräfte und Erfahrungen der einen notwendigen Sache zur Verfügung stellen, dem Aufbau eines gemeinsamen freien Bildungswerkes, das sich um die Synthese der für die gesellschaftliche Erneuerung unentbehrlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Künste bemüht? (…) 2.) Wollen wir, auch zur Überwindung der Weltspaltung, die wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen so ernst nehmen, wie sie es verdienen, auch wenn ihre freie Erörterung uns zu Erkenntnissen führt, die jedem Konformismus den Garaus machen? (…) 3.) Anerkennen wir die Pflicht, an der Herstellung eines humanen, ganzheitlichen Friedens mitzuarbeiten? (…) Ist auch für uns »die äußerste Anstrengung für den Frieden« das Kriterium, an dem wir Politiker, Programme und Regierungen messen wollen, das uns Nebensächliches, Zeitvertreib, Hobbys von lebenswichtigem Tun unterscheiden lehrt? Es schadet im Übrigen nicht unbedingt, wenn die Idee bei unseren sehr kritischen jüngeren und den vielfach müden älteren Bundesbrüdern zunächst einer Abwehrhaltung begegnet (…). Wollen die Mitglieder und Freunde der alten Bünde in Zusammenarbeit oder Abstimmung mit einigen optimistischen Gruppen aus dem Ring junger Bünde es vielleicht trotz allem wagen? (…) Wollen wir uns von unseren Irrtümern befreien, weiter entwickeln, was zukunftsträchtig gewesen ist, und so mit neuen Einsichten und frischen Kräften gemeinsam vorausschauen und vorwärtsgehen? Es bleibt uns keine andere Wahl, wenn uns – trotz allem – das Leben lieb ist. –

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14. Berichte über und Rückblicke auf den Meißnertag 1963. Rückblick von Fritjof Korn47 (Auszug), in: Rundschreiben des Arbeitsausschusses des Freideutschen Konvents, Nr. 92/93, Dezember 1963, S. 520 – 523. (…) Würden wir den Angehörigen der alten Jugendbewegung näher kommen können, würde es fruchtbare persönliche Gespräche geben? Welche Verbindungen gab es überhaupt zwischen dem Eigenleben der alten und neuen Bünde? Und ging nicht bereits aus dem Programm hervor, daß da zwei Treffen parallel verliefen, in Bad Sooden-Allendorf und auf der Hausener Hute? (…) Niemals nach dem letzten Kriege ist die Gesamtbreite des Spektrums der Bünde verschiedenster Richtungen und Schattierungen bis hin zu jenen extremen Bünden, deren Erscheinen und Verhalten im Lager und auf der Hauptkundgebung leider auch in der Presse mehr Beachtung fanden, als sie es verdienten, so sichtbar geworden wie auf dem Meißnertreffen 1963. (…) Mancherlei im Lager hätte anders sein müssen, und über das Negative hat die deutsche Presse in oft völlig entstellenden Übertreibungen und unsauberer Gleichmacherei genug geschrieben. Diese »Einheit in der Vielfalt« mußte Außenstehenden verwirrend erscheinen. (…) Für die 3.100 Jungen – die Mädchen traten im Gesamtbild kaum jemals in Erscheinung – bot sich die einmalige Gelegenheit, möglichst viele der 38 am Lager teilnehmenden Bünde kennenzulernen. Ich habe indessen den Eindruck gewonnen, daß die Einmaligkeit dieser Chance von den Jungen nicht genügend genutzt worden ist, daß manches Gespräch zu sehr im Vorübergehen geführt wurde, daß bisweilen Anmaßung anderen Bünden gegenüber und Nichtachtung der Kohtennachbarn, Abkapselung anstelle von Kontaktbereitschaft das Verhalten bestimmte. Daß jedoch überhaupt die Bünde sich in einem gemeinsamen Lager trafen und unzählige Begegnungen stattfanden, daß dabei die Gemeinsamkeiten das Trennende sicherlich bei weitem überwogen – darin wird eine der wichtigsten Nachwirkungen dieses Treffens noch auf lange Zeit zu spüren sein. Höhepunkt war die große Kundgebung oberhalb des Kohtenlagers am Mittag des 13. Oktober. 6.000 Menschen waren mit 1.200 Autos zur Festversammlung gekommen: die Alten, die Jungen und die Gäste fanden sich in einmaliger Weise zusammen. Meißnerfahrer von damals, die heute an wichtigen Schaltstellen des öffentlichen Lebens in Deutschland stehen, saßen neben den Jungen aus dem Kohtenlager unter den Flaggen der jungen Bünde, als Karl Vogt die Kundgebung 47 Fritjof Korn (1930 – 1989), ehemals Deutsche Freischar, 1963 tätig im Goethe-Institut auf Zypern und – ehrenamtlich – u. a. im Beirat des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein.

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mit der Begrüßungsansprache eröffnete. Wenn es Prof. Gollwitzer, dem Hauptredner des Meißnertages, darum ging, die Menschen aufzurütteln, zum Widerspruch aufzufordern, aufhorchen zu lassen und in geistige Unruhe zu versetzen, so ist ihm das in hohem Maße gelungen. (…) Zum ersten Male seit 1933 hat sich die bündische Jugend der breiten Öffentlichkeit gestellt. Obwohl ständig Reporter und Fernsehleute auf der Jagd nach Sensationen im Lager waren, hat kaum einer von ihnen die Zeit gefunden zu einem gründlicheren Gespräch, einem Besuch der Werkausstellungen oder der besonderen Programme einzelner Bünde. (…) Die Presse hat versagt. Für die Bünde bleibt der unschätzbare Gewinn einer bislang nicht dagewesenen Zusammenarbeit in den zwei Jahren der Vorbereitung. (…) Es bleibt die Hoffnung auf das Entstehen einer Arbeitsgemeinschaft der bündischen Jugend. Anfänge dazu sind gemacht worden; das Weitere bleibt abzuwarten. Rückblick von Horst Schweitzer (Auszug), in: Rundschreiben des Arbeitsausschusses des Freideutschen Konvents, Nr. 92/93, Dezember 1963, S. 526 f. (…) Betr. Presse: Sie wurde zur bittersten Enttäuschung unserer jungen Führer. Die Herren kamen mit festen Vorurteilen, die sie sich nur bestätigen ließen; keine Frage zum Geschehen im Lager, zu Werkgilden, zum Sängerwettstreit, zu den Seminaren – man wollte einfach das Positive nicht sehen und klammerte sich an Randerscheinungen. Ein einziger Totenkopfwimpel unter 150 reichte zum Stempel »SS-Jugend«, eine Rune auf einer Kohtenbahn wurde zum Hakenkreuz verzerrt und zierte Herrn Dörrlamms Bericht in »Christ und Welt.« (…)48 Wo liegt die Bedeutung des 13. 10. 1963 für die jungen Bünde? Sie liegt zunächst einmal darin, daß die Führer von 38 Bünden über zwei Jahre hinweg diesen Tag vorbereitet haben, ohne daß es auch nur eine einzige Trübung, ein einziges Zerwürfnis gab. Wer in der bündischen Jugend zuhause ist, der weiß, daß das allein so etwas wie ein bündisches Wunder ist! Die Bedeutung liegt weiter darin, dass die Studenten der Bünde sich in regelmäßigen Seminaren fanden und eine Grundsatzerklärung zuwegebrachten, zu der sich alle Bundesführer ohne Ausnahme bekannten und die im Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat gipfelt. Sie liegt darüber hinaus darin, dass auf der Hausener Hute ein Lager von 3112 Mädchen und Jungen erstand, das einen Stil, ein Gesicht hatte. (…)

48 Horst Schweitzer (1928 – 2006), Beauftragter der jungen Bünde bei der Vorbereitung des Meißnerlagers, hatte bereits in einem Leserbrief vom 25. 10. 1963 in der FAZ eine massive Kritik an einem dort zum Meißnertag erschienenen Artikel formuliert (s. dazu: Pressespiegel des Meißnertages 1963, hg. von Werner Kindt, Hamburg 1964, S. 118).

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Blickt doch nicht nur zurück in Euren Kreisen.49 Macht Euch doch einmal von dem Wahn frei, mit Euch sei die deutsche Jugendbewegung erloschen. (…) Helft mit, unseren Jungen Wege freizuboxen nach einem eigenen Heim, nach einem Platz, wo sie noch ohne Campinggenossen zelten können, erzählt ihnen keine ollen Kamellen, sondern gebt ihnen Anstöße, Anregungen für ihre (verteufelt schwergewordene) Alltagsarbeit! (…) W. Hausen50 : Hoher Meißner 1963. Einige Informationen und Eindrücke (Auszug), in: Beilage »J« zu »pläne, eine junge zeitschrift für politik und kultur«, Nr. 10/11, 1963, ohne Seitenangaben. (…) Die Initiative zum Meißnertag ging von den Alten aus. Sie richteten an die jungen Bünde etwas gönnerhaft eine Einladung; mit der im bündischen Raum gebotenen Zurückhaltung und Uneinigkeit gingen die Jungen darauf ein. Aber dann erwies sich der Begriff des Hohen Meißners als dynamisch genug, immer mehr Bünde zu der Überzeugung gelangen zu lassen, dort auf keinen Fall fehlen zu dürfen, und so wuchs die Bereitschaft zur Teilnahme lawinengleich (…) Sie wollten eine gewisse Distanz zu den Alten, aber sie wollten von diesen Alten wiederum etwas mehr als nur den Schatten abbekommen. So wurde die Ausgangsbasis zu einer etwas schwankenden Angelegenheit. Und dann geschah, was die jungen Bünde, die die Öffentlichkeit suchten in dem Wunsch, die Öffentlichkeit möge sie anerkennen, nicht erwartet hatten: Die Öffentlichkeit stürzte sich förmlich auf sie. Der Meißnertag der Alten, na ja – aber was ist mit den Jungen dort oben, was sind das für Bünde, was wollen sie, sind sie Epigonen? Echte Erben? Neue Jugendbewegung? Allen diesen Fragen waren die Bünde an Ort und Stelle nicht – vorerst gar nicht, dann umwunden – gewachsen. Aber sie erreichten, ohne das gewollt zu haben, daß die 50. Meißnerwiederkehr nunmehr im Schatten ihrer Kohten und Jurten verschwand. (…) Der Meißnertag der alten Jugendbewegung sollte nicht Jubiläum und Erinnerung sein, und wurde doch gerade das. Daß sie außerdem eine Bestätigung ihres Wirkens auf verschiedenen Gebieten erlebte und einige erfreuliche Leistungen ausgestellt fand, soll nicht unterschlagen werden. (…) Am Sonntagvormittag musste der alte Meißner alle Begleiterscheinungen einer Massenveranstaltung erdulden: Gestaute Autoschlangen, nervöse Polizisten und überfüllte Parkplätze, abgehetzte Kellnerinnen im Gasthaus am Meißner-Sender, daneben ein fahrbares Sonderpostamt und im Karree die Küchenzüge des Deutschen Roten Kreuzes, um ein Eintopfgericht bereitzuhalten. (…) Die Ansprachen von Willie Jahn (Jungwandervogel) und Karl Thums 49 Die Kritik richtet sich an den Freideutschen Kreis, in dessen Rundschreiben die Stellungnahme abgedruckt ist. 50 Verfasser ist unbekannt, vermutlich Pseudonym für Günther Welter (welf).

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(Österreichischer Wandervogel), an sich schon unmotiviert, wurden wegen ihrer pathetisch-nationalen Töne belacht und ausgepfiffen – ein ermutigendes Zeichen. Knud Ahlborn unternahm eine anderthalbstündige Vorlesung über die Geschichte der Freideutschen Jugend und erreichte, dass Gruppen die Kundgebung verließen. So trat Helmut Gollwitzer vor eine 5.000-köpfige Zuhörerschaft, der man schon allerhand zugemutet hatte. Aber hier kam der unmittelbare Sprung in die Gegenwart, die konkrete Frage: Und was tut ihr? Mit einer rhetorischen Handbewegung wischte Gollwitzer die Alten hinweg und sprach nur noch zu den Jungen. Diese Rede wurde nicht mit ungeteiltem Beifall aufgenommen, aber sie wurde von 5.000 jungen und alten Menschen angehört, um sich damit auseinanderzusetzen. (…) Nun zum Lager der Jungen Bünde: (…) Auffallend groß war die Zahl alter Männer, die in den Bünden aktiv führend sind. Sie waren zum Teil mit allerlei spaßigen Attributen im Lager zu sehen. (…) Einige wichtige Bünde – so die Hamburger Autonome Jungenschaft – fehlten. Das eigene Lagerprogramm zeigte einige beachtliche Leistungen, bei denen der Bund deutscher Jungenschaften die Spitze hielt. (…) Mehr als einmal, schriftlich und mündlich, wurde von den Bünden die Verpflichtung betont, sich für die Wiedervereinigung nach Kräften einzusetzen. Das dürfte mit der Realität, wie sie die Menge der bündischen Gruppen bietet, kaum zu vereinbaren sein. (…) Die Mehrzahl der heutigen Bünde lebt nicht in bündischer Ausschließlichkeit, sie lassen sich nicht mehr von Emotionen leiten, das »spezifisch Bündische« stirbt bei ihnen mit den Alten aus und erweist sich als nicht vererbbar. Daß es auf dem Meißner ein Neben- und Miteinander so verschiedener Anschauungen gab, daß man über die Thesen Gollwitzers heiß diskutierte, daß im Dorf Hausen junge Israelis und Araber mit Bündischen zusammensaßen, daß die Jugend gegen pathetische Anwandlungen der Ehemaligen mit einfachen Liedern anging, daß man sich über das Absingen des Deutschlandliedes fast zerstritt, daß man zur inneren auch die äußere Freiheit betonte, daß die Bünde ein Volksliedersingen an der Werra nicht als rechte Bekundung für die Zusammengehörigkeit der ganzen deutschen Jugend ansahen, daß Kriegsdienstverweigerer Flugzettel verteilen konnten, daß man das Zeichen der Ostermarsch-Bewegung neben anderen Runen sah – dies alles gehört zu der Hoffnung, die vom Hohen Meißner 1963 ausgeht.

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Friedrich Hoffmann:51 Rückblick auf den Meißnertag 1963 (Auszug), in: Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, hg. von Werner Kindt und Karl Vogt, Düsseldorf, Köln 1964, S. 68 – 71. (…) Überraschend viele Männer und Frauen aus den Reihen der früheren Jugendbewegung, etwa 2.000 durchweg im praktischen Leben stehende und in der Berufsarbeit ergraute Menschen im Alter von 50 bis 70 Jahren – untereinander in lockerer Fühlung stehend – hatten sich, die meisten anfänglich wohl mit stillen Vorbehalten, aus allen Teilen Westdeutschlands zusammengefunden. (…) Die Meißnerfahrer von 1963 wollten die Tragfähigkeit des Lebensgrundes bezeugen, der sich ihnen in der Jugendbewegung erschlossen hatte. (…) Die Jungen waren sich in diesem Lager in solcher Zahl selbst zum ersten Mal begegnet und wurden sich nun in der vollen Breite erst der Gemeinsamkeit des eigenständigen Lebens der bündischen Gruppen bewußt. So empfanden und begriffen sie sich als Einheit und stellten sich als solche in bewußter Fortsetzung der Meißnertradition sich selbst und der erstaunten Öffentlichkeit vor, indem sie sich über die Vielfalt im einzelnen hinweg zusammenfanden in dem entschiedenen Eintreten für die bündische Gruppe als einer in innerer Wahrhaftigkeit und personaler Verantwortung gebundenen Selbsterziehungsgemeinschaft junger Menschen. (…) Die Führer und die jungen Menschen machten in ihrer gelösten und doch zuchtvollen Haltung, in ihrer Ordnung in Freiheit einen prächtigen Eindruck, und viele der Alten waren tief bewegt über das deutlich spürbare Weiterwirken der eigenen tiefen Lebensströme und der eigenen Verhaltensweisen in einer neuen bündischen Generation. (…) Nach Grußworten des Österreichischen Wandervogels und einer langen in die Geschichte der Jugendbewegung zurückgreifenden Rede des Sprechers der Meißnerfahrer von 1913 Knud Ahlborn sprach Alexander Gruber für die jungen Bünde von 1963. Er entwarf in knappen Zügen das von ihm bejahte Vorbild eines Menschen, der offen und bereit ist, jenseits der Zwecke zu leben und mit dem Mut des Herzens für andere Menschen und ein menschenwürdiges Leben einzutreten. Nach einem Sprechchor aus einem von Alexander Gruber für den Meißnertag 1963 geschriebenen Chorspiel »Kolumbus« führte dann Prof. Helmut Gollwitzer nochmals auf einen Höhepunkt mit einer mitreißenden, glänzend formulierten, vor harter Selbstkritik nicht zurückschreckenden Rede, die die jungen und alten, vorher schon ein wenig ermüdeten Hörer sichtlich an- und aufregte durch die eigenwilligen Antworten auf die Frage, was von dem Damaligen heute und für die nächsten 50 Jahre noch aktuell sei. Und wenn auch sein gegen den Schluß zu stark hervortretender extremer Pazifismus nicht Ausdruck einer allen gemeinsamen Überzeugung war, so wurde diese sehr persönliche 51 Friedrich Hoffmann (1903 – 1984), Oberregierungsrat, war ein ehemaliger Wandervogel und von 1961 bis 1964 Obmann des Freideutschen Kreises.

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Meinung eines seinem Gewissen verpflichteten und aus ernster Sorge um Deutschland handelnden Nonkonformisten doch von allen in echter Toleranz angehört. (…) Der Meißnertag 1963 war für die deutsche Öffentlichkeit und für die Nächstbeteiligten, die Angehörigen der alten Jugendbewegung und der jungen Bünde, dadurch bedeutsam, daß hier erstmals eine in die unmittelbare Gegenwart hinein wirksame historische Kontinuität der deutschen Jugendbewegung sichtbar und spürbar wurde. (…) Bericht aus Kreisen der dj.1.11 – jungenschaft (Auszug), in: Der Bogen 14, Dezember 1963, S. 6 – 16. Meissner-Impressionen (ali): (…) Überhaupt: der Parkplatz der »Jugendbewegten« war fast so groß wie das Lager. Welch ein Wandel! Das Lager : Ganz ehrlich imponierend. Etwa 500 Kohten und Jurten zogen sich einen sanften Hang hinauf, Rauch aus ihren Öffnungen. Also doch wieder Jugendbewegung. Die »Bündische Jugend« ist nicht tot! Hier ist der Beweis. (…) Annähernd 4.000 Bündische aus allen Richtungen, und sie sind sich nicht einig. Können es gar nicht sein. In jedem Lager wird wohl ähnlich diskutiert. Was ich vermisse, ist die große Diskussion zwischen den Teillagern. Aber man lebt hier isoliert vor sich hin, beschieden auf seinen eigenen kleinen Platz. Schade. (…) Kundgebung: Wir haben die Festversammlung verlassen. Warum eigentlich? War das nötig? Sind wir wieder einmal dumm aufgefallen? (…) Läßt sich vielleicht tief in die Krise der heutigen Jugendbewegung blicken, daß die einzigen für unsere Zeit »bewegenden« Worte nicht aus den Reihen der jungen Bünde kamen, sondern daß sie Prof. Gollwitzer sprechen mußte? Mehr noch: daß irgendein (und wohl nicht nur dieser irgendeine) halbwüchsiger Pfadfinderführer (wohl BDP LM Hessen) nach Gollwitzers Rede nichts Eiligeres zu tun hatte, als die Ankündigung des Schlußliedes (3. Strophe der Nationalhymne) zu einer Entgegnung auf Gollwitzers europäisches Denken auszudehnen und »deutsche« Eigenart und »deutsches« Erbe zu preisen. Kritik (hajk): Während der Kundgebung hielt ein alter Freideutscher eine lange und vielleicht auch langweilige Rede. In den Bünden »Deutsche Freischar«, »Zugvogel«, »CP Dreieichengau« und »dj.1.11« (+ dj. 53) begann man zu murren, schließlich sogar zu singen. – Auf Horst Schweitzers (»Pfadfinderbund Großer Jäger«) Einspruch hin, beruhigte man sich schließlich wieder. – Dann wurde vom Redner mit Hinweis auf Schweitzer von »Elementen« gesprochen, »die sich eingeschlichen haben und nicht zu den Jugendbünden gehören.« Daraufhin verließen die vier Bünde die Kundgebung. (…)

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50 Jahre »HOHER MEISSNER« (tapo). Fünftausend liegen in der Sonn’, die Reden plätschern munter großväterlich durchs Mikrophon den Hohen Meißner runter. Ein alter Wandervogelgreis, fast steif, mit grauen Haaren, der spricht sehr lang, der spricht sehr leis von goldnen Jugendjahren. Aus Österreich, man glaubt es kaum, schreit einer laut und fleißig: »Großdeutschland ist mein Jugendtraum!« (wie anno ’39!). Mit »Heil« er seine Rede schloß, ein alter Mann mit Glatze. Weil manche das doch sehr verdroß, da gingen sie vom Platze.

15. Werner Kindt: Bilanz des Meißnertages 1963 (Auszug), in: Pressespiegel des Meißnertages 1963, hg. von Hans Dehmel und Heinz Gruber, Hamburg 1964, S. 127 – 133. Wenn wir von einer Bilanz des Meißnertages 1963 sprechen, dann ist daraus unversehens – wie wir heute mit Genugtuung feststellen können – so etwas wie eine Zwischenbilanz der Jugendbewegung überhaupt geworden. Diesmal freilich eine, die nicht, wie seit drei Jahrzehnten üblich, von Außenseitern oder Gegnern der Jugendbewegung von Baldur von Schirach über Harry Pross bis zu zahlreichen geschichtsklitternden Zeitkritikern in Presse und Rundfunk, Schule und Jugendpflege, die den »Tod« der Jugendbewegung verkündeten, aufgemacht wird. (…) Das Ergebnis war positiver als erwartet werden konnte: In einer von den jungen Bünden gemeinsam herausgegebenen Verlautbarung bekannten sie sich übereinstimmend zu einer verpflichtenden Lebensführung in innerer Wahrhaftigkeit und personaler Verantwortung gegenüber ihren freien Gruppen, deren Eigenleben sie nur in einem demokratischen Rechtsstaat gewährleistet sehen. (…) Auf jeden Fall machten sie – Führer wie Jungen – einen prächtigen Eindruck, von denen man sich für die Zukunft viel versprechen kann. (…) Umgekehrt darf die Vermutung geäußert werden, daß vielen Jungen auf dem Meißnertag 1963 ebenfalls zum erstenmal die Bedeutung der alten Jugendbe-

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wegung vor 1933 auch für ihr eigenes Leben aufgegangen ist. Die Beachtung, die die aufrüttelnde und zukunftsweisende Rede von Prof. Dr. Helmut Gollwitzer gefunden hat, spricht dafür, daß das von ihm ausgesprochene Bekenntnis zur bündischen Haltung noch Stoff für manche Überlegung und Diskussion im Kreise der jungen Bünde abgeben wird. (…) Das Presse-Echo über den Meißnertag 1963 war zwiespältig, ja vielfach enttäuschend. (…) Daß diese Berichte vielfach kritisch, mitunter auch verständnislos waren, kann nicht wundern. Zu oft ist die Jugendbewegung in den Jahren nach 1945 von unberufenen und schlecht unterrichteten Interpreten als Vorläufer des Nationalsozialismus mißdeutet worden. Selbst gutwillige Historiker haben nicht verstanden, daß Nationalsozialismus und Hitlerjugend die Symbole und Lebensformen der Jugendbewegung ebenso übernommen und mißbraucht haben wie auch andere deutsche Traditionen. (…) Die Ansprache Prof. Gollwitzers bildete den Schluß der Kundgebung, als sich schon Ermüdungserscheinungen bemerkbar machten. Aber dem hervorragenden Volksredner gelang es schon mit seinen ersten Worten, die Zuhörer in seinen Bann zu zwingen. Er selber gehörte einstmals dem Großdeutschen Jugendbund an, einem der nationalen Bünde, die sich im Laufe der zwanziger Jahre zur Jugendbewegung durchgekämpft hatten. Die von ihm geübte offene Kritik, nach der sich die Jugendbewegung »kräftig an der Abrichtung der deutschen Jugend für den Heldentod beteiligt« habe, und seine Klage, daß »die Seuche des Nationalismus und des Antisemitismus auch unter ihr verbreitet war«, trifft für den Bund, in dem er groß geworden ist, sicherlich zu, wie auch für manche andere. Aber was hat es in der Jugendbewegung nicht gegeben? Ihre Mannigfaltigkeit war so groß, daß in ihren Reihen alles möglich war, daß aber ebenso die Meinung des Andersdenkenden in echter Toleranz ertragen wurde, weil man ihm zubilligte, daß er ehrlich aus seinem Gewissen und seiner Verantwortung heraus denke und handele. Diese Achtung wurde auch Gollwitzer von den Zuhörern der Meißnerkundgebung entgegengebracht, als er sich – inspiriert durch den Geist der Stunde – zum Schluß seiner Ausführungen in ein persönliches Bekenntnis hineinsteigerte, bei dem ihm bestimmt nicht alle Teilnehmer folgten. (…) Bewußt hatten die Veranstalter davon gesprochen, daß sich vier Generationen deutscher Jugend von heute und früher auf dem Meißner zusammenfänden. Die dritte dieser Generationen ist die der Hitlerjugend, die bewußt nicht wie üblich ausgeklammert, sondern wie selbstverständlich in die Geschichte der Jugendbewegung einbezogen worden war. Gewiß waren – teils aus Ressentiment, teils wohl auch, weil diese nachträgliche Verbundenheit noch nicht gespürt wird – nur wenige Vertreter der dritten Generation erschienen. Vielleicht sogar war sie am stärksten in den Reihen der kritischen Presseberichter vertreten. Jedenfalls entsprach es der Haltung des Hauptausschusses, daß unter alle Schuld und alles

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Leid, die gerade der dritten Generation vom Schicksal zuteil wurden, um der Zukunft willen ein Strich gezogen werden mußte und sollte. So ist zu hoffen, daß der vom Geist und der Haltung der alten Meißnerformel von 1913 bestimmte Anruf des Meißnertages 1963 von vielen vernommen wird und seine noch immer gegenwartsnahen Forderungen viele junge und alte Herzen anrühren und neu verpflichten!

16. Nachwirkungen des Meißnertages von 1963. Bundesführergespräch am 7./8. 12. 1963 in Frankfurt am Main im Haus der Jugend (Auszug), Niederschrift AdJb N 2 Nr. 99. Der Einladung von Karl Vogt zu diesem ersten Gespräch der am Meissnertag 1963 beteiligten Älteren-Bünde hatten Folge geleistet: Vereinigung Ludwigstein, Freideutscher Konvent, Gilde Hoher Meissner und Klappholttaler Bund, Deutsche Gildenschaft, Karl Fischer-Bund, Altfreischar, Jungwandervogel, Österreichischer Wandervogel, Sudetendeutscher Wandervogel, Köngener Bund, Boberhauskreis (…).52 Zweck dieses Treffens war, unter den Bundesführern ein Gespräch darüber zu führen, welche Auswirkungen der Meissner-Tag 1963 auf die zukünftige Zusammenarbeit der Bünde haben könnte und sollte. Man war sich darüber einig, dass der enge Kontakt, der während der Vorbereitungen des Meissnertages entstanden ist, aufrecht erhalten werden müsste, dass jedoch organisatorische Zusammenschlüsse nach den bisherigen Erfahrungen hierfür nicht geeignet sein könnten. Es wird vielmehr für zweckmässiger gehalten, durch regelmässige Gespräche der Bundesführer (etwa zweimal jährlich) zur erforderlichen Information über die Absichten und Pläne der einzelnen Bünde beizutragen. Auch wurde die Durchführung gemeinsamer Arbeitstagungen empfohlen, bei denen wichtige Themen bearbeitet werden sollen, an deren Klärung die Bünde der alten Jugendbewegung mitzuarbeiten sich verpflichtet fühlen. (…) Karl Vogt wurde gebeten, die Geschäftsführung dieser »Bundesführerrunde« zu übernehmen. Für die erste gemeinsame Arbeitstagung, um deren Durchführung der Österreichische Wandervogel gebeten wurde, wird eine Erörterung der Volkstumsarbeit und des Volksbegriffes für zweckmässig gehalten. Die Erörterung der Wirksamkeit der Jugendbewegung auf diesem Gebiet in der Meissnerfest52 Die Vertreter des Dörnbergbundes und des Sachsenkreises hatten sich entschuldigt. Insgesamt dreizehn Personen waren anwesend, darunter Knud Ahlborn und Hans Dehmel. Verfasst und unterschrieben wurde diese »Niederschrift« am 25. Februar 1964 von Karl Vogt.

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schrift53 und die Reaktion auf das Grusswort von Thums (ÖWV) anlässlich der Meissnerkundgebung machen eine Klärung dieses Themenkreises notwendig. (…) Besonders eingehend wurde das Verhältnis zu den Jungen Bünden erörtert. Man war sich einig darüber, dass eine Vertiefung der Kontakte im wesentlichen davon abhängen wird, wie weit die Angehörigen der Bündischen Jugend der zwanziger Jahre hierbei stärker in Erscheinung treten. Auf dem Meissnertag sind sie wenig zur Geltung gekommen. Allgemein wurde festgestellt, dass die Aufnahme von Kontakten zu einzelnen Führern der Jungen Bünde sehr behutsam, mit sorgsamer Hand und viel Geduld erfolgen müsse. Die Jungen Bünde brauchen zur Stärkung ihrer charakteristischen Eigenart den notwendigen Abstand. »Man legt sich den Jungen Bünden nicht auf, versagt sich aber nicht, wenn man gerufen wird.« (Dehmel) Andererseits besteht kein Zweifel, dass die Älteren zur Lösung der Jungmannschaftsfrage in den Jungen Bünden manches beitragen können. (…) Aus den Gesprächen kam eindeutig die Überzeugung zum Ausdruck, dass sich alle Beteiligten aufgrund des Meissnertages 1963 darüber im klaren sind, dass dieses erfolgreiche und geschlossene Auftreten der gesamten Jugendbewegung Anlass dafür sein muss, die besonderen Möglichkeiten der bündischen Arbeit zur Mitarbeit an der Klärung der brennenden Fragen unserer Zeit einzusetzen. (…) Karl Vogt: Ring junger Bünde. Grundlagen, Aufgaben, Aufbau und Krisen 1983 bis 1973 (Auszug), in: 25 Jahre RjB. Mitteilungen des Rings junger Bünde, Nr. 66, Juni 1989, S. 35 – 61, hier S. 35 f. Ursprung, Grundregeln, Aufgaben: Am letzten Abend des Meißnerlagers 1963 trafen sich die übermüdeten Führer der jungen Bünde zu einer Abschlußrunde im Landheim der Eschweger Pfadfinder unterhalb des Meißner. (…) Es ergab sich allgemein der Wunsch, die auf dem großen Lager erlebte Gemeinsamkeit weiterhin aufrecht zu erhalten und zu nutzen. Deshalb wurde beschlossen, sich Anfang 1964 auf dem Ludwigstein zu treffen und darüber zu beraten, in welcher Weise die einmalige Begeisterung der Meißnervorbereitung und der gemeinsam im Lager verbrachten Tage feste Formen bekommen könnte. Bei diesem Treffen, das am 25./26. Januar 1964 stattfand und an dem 19 Bundesführer teilnahmen, wurde offiziell die Gründung des »Ringes junger Bünde« beschlossen und ein vierköpfiger »Sprecherkreis« gewählt (Karl Vogt, 1. Sprecher, Hermann von Schroedel-sim, Deutscher Pfadfinderbund, 2. Sprecher, 53 Angespielt wird hier vor allem auf den Beitrag von Karl Thums »Wandervogel im Grenzland« in: Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Zur 50. Wiederkehr des freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düsseldorf, Köln 1963, S. 185 – 201.

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Horst Schweitzer, Pfadfinderbund Großer Jäger, und Günter Knitschky, Bund deutscher Jungenschaften, als Beisitzer). Es wurde festgelegt, welche Voraussetzungen ein Bund für seine Aufnahme in den Ring zu erfüllen hatte: – Bekenntnis zur Grundsatzerklärung der Jungen Bünde zum Meißnertag 1963, – Gliederung nach dem Hortenprinzip in eigenständigen Gruppen, – Leistungsprinzip für jeden Gruppenangehörigen, – Unabhängigkeit von Älterenverband und parteipolitischer Richtung, – Mindestmitgliederzahl von knapp 10 Horten und 100 Jugendlichen unter 20 Jahren. Außerdem wurde festgelegt, daß der Ring kein Hochbund, sondern lediglich ein Zusammenschluß völlig autonomer Bünde zu gemeinsamen Unternehmungen und zur Kontakterhaltung, zu Erfahrungsaustausch sowie zur Interessenvertretung bündischer Belange nach außen sein sollte. Jeder Bund, ungeachtet seiner tatsächlichen Mitgliederstärke, sollte bei den Beschlüssen des Bundesführergremiums nur eine Stimme haben. Und schließlich nahm man sich vor, die Manifestationen des Meißnertages 1963, soweit sich daraus Aufgaben für die jungen Bünde ergaben, in die Tat umzusetzen: Alexander Grubers »Aussage für die junge Generation«, Helmut Gollwitzers Rede und – nicht zuletzt – die Inhalte der gemeinsamen Grundsatzerklärung. Protokoll über die Beratung der Sprecher am 11. 4. 1964 in Paderborn (Auszug), in: Mitteilungen des Ringes junger Bünde 1/1964 vom 10. Juni 1964. (…) 2. In Auslegung des Protokolls v. 25./26. 1. 1964 über die Aufgabe des RjB wird eingehend beraten und festgestellt, daß der RjB nicht das Ziel haben kann, Bündigungsbestrebungen zu unterstützen oder einzuleiten, die zu einem »Großbund« führen. Es ist lediglich ein Interessenbündnis im Sinne der festgelegten Aufgabenstellung, nämlich einer gemeinsamen Vertretung der Jungen Bünde nach außen und eine Kontaktpflege der Bünde untereinander. 3. Meißnerseminar : Die Fortführung der bisherigen Meißnerseminare wird begrüßt. Sie sollen in Zukunft Veranstaltungen des RjB sein (als Seminar Junger Bünde) und vor allem der Kontaktpflege der Älteren und Erarbeitung gemeinsam interessierender Probleme dienen. (…) 4. Besonders wichtig ist die Aufnahme von Kontakten zum Bundesjugendministerium. (…) Das Ministerium soll über den Meißnertag 1963 und den Ring junger Bünde informiert werden mit dem Ziel, für den RjB die »große Förderungsfähigkeit« zu erlangen, nach Möglichkeit ohne Zugehörigkeit zum Bundesjugendring. (…) 5. Schweitzer regt an, möglichst bald Kontakt mit dem Bundesverteidigungsministerium aufzunehmen und dort eine Regelung zu erbitten, dass

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Bündische Führer vom Wehrdienst zurückgestellt werden können, bei fester Verpflichtung hinsichtlich des Termines, zu dem sie ihren Wehrdienst ableisten. Durch eine solche Regelung ließe sich die Lebenszeit der Bündischen Gruppen, die durch frühzeitige Einziehung der Führer gefährdet ist, verlängern, außerdem mancher Gewissenskonflikt von Gruppenführern vermeiden, die gegen den Willen aus Treue zu ihren Gruppen zur Wehrdienstverweigerung gedrängt werden könnten. (…) Anlage zum Protokoll des Bundesführertreffens des Ringes junger Bünde in Hofgeismar am 24./25. 10. 1964 (Auszug).54 Finanzielle Förderung aus Mitteln des Bundesjugendplanes (BjPl): Der Ring junger Bünde tritt dem Bundesministerium für Familie und Jugend (BMFJ) gegenüber künftig als »mitverantwortliche Zentralstelle« auf. Anträge der Mitgliedsbünde des RjB auf finanzielle Förderung aus Mitteln des BjPl sowie Verwendungsnachweise sind daher an den RjB zu richten. Sie werden dort gesammelt, geprüft und als Sammelanträge bzw. Verwendungsnachweise an das Ministerium weitergeleitet. (…) Die Veranstaltungen, für die eine Beihilfe beantragt wird, sollen für den Träger (Bund, Verband) von zentraler Bedeutung sein. Es muß Gewähr bestehen für eine zuverlässige, dem Leistungsanspruch des RjB genügende Durchführung. Der Sprecherkreis des RjB behält sich vor, an Veranstaltungen teilzunehmen oder Beauftragte zu entsenden. Beihilfen für die Jugendarbeit stehen auch aus Mitteln der Länder, der Landesjugendämter (bei den Landschaftsverbänden) zur Verfügung. Anträge auf diese Beihilfen stellen die Bünde und Verbände des RjB weiterhin direkt an die genannten Stellen. (…)

17. Presseresonanz auf den Meißnertag 1963. Einführung zu: Pressespiegel des Meißnertages 1963 (Auszug), hg. für den Hauptausschuss des Meißnertages in Zusammenarbeit mit Hans Dehmel und Heinz Gruber von Werner Kindt, Hamburg 1964, S. 5 f. (…) Vom Meißner zurück mußten sich einige Tausend Augenzeugen der Veranstaltungen angesichts des Presseechos die Frage stellen, ob sie selbst oder ein beachtlicher Teil der berichtenden Journalisten unter Bewußtseinsspaltung litten. Was sich selbst einige hochangesehene Zeitungen an Verdrehung bis zu offensichtlicher Unwahrhaftigkeit leisteten, überstieg das Maß. (…) Viele un54 Faksimile ebd., S. 34.

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serer Freunde, die nicht selbst am Meißnertag teilnehmen konnten, sondern zunächst auf die Tagespresse angewiesen waren, wurden durch die Presseveröffentlichungen anfänglich grob enttäuscht. Was freilich später in eine harte Verurteilung der irreführenden Berichterstattung umschlug. Andere, die persönlich einen durchaus positiven Eindruck von den Ereignissen gewonnen hatten, suchten ihrer Empörung durch geharnischte Leserbriefe Luft zu machen, deren ungekürzte Wiedergabe jedoch selten erfolgte. Wir bedauern besonders, daß zahlreiche leitende Mitglieder der »Jungen Bünde« auf diese Weise Eindrücke von einer Fragwürdigkeit der Berichterstattung überhaupt erstmalig erhielten. (…) Wenn die Lektüre unserer »Revue« dazu beitragen würde, bei künftigen Ereignissen und deren Pressedarstellung sich immer mehr vor Augen zu halten, daß in der pluralistischen Welt auch »Pressewahrheiten« vielerlei Gesichter annehmen können, so wäre die Herausgabe allein schon aus diesem einen Grund nicht ohne Nutzen. Vielleicht könnten wir damit zum politischen Reifungsprozeß der Bürger des deutschen Bundes, aber besonders der Mitglieder aller jungen und alten Bünde rechtzeitig unseren bescheidenen Teil beigetragen haben. Hans Oberländer : Meißnertag 1963 – Kritisch erlebt (Auszug), in: Neue Politik, Hamburg, Nr. 43 vom 26. 10. 1963.55 (…) Bei der Verlesung eine Begrüßungsschreibens des Auchfreideutschen Dr. Gerstenmaier, Bonn, wurde der Eindruck zur Gewißheit, daß sich aus dem Protest der Meißnerfahrer 1913 gegen die nationalistisch-militaristischen Tiraden der Leipziger Völkerschlacht-Feier kein Protest der Heutigen gegen die reaktionär-klerikale Aufrüstungspolitik der Bundesregierung entwickeln würde. Die notwendigen Forderungen der Gegenwart: Erhaltung des Friedens und deutsche Wiedervereinigung kamen nicht zur Sprache. Gustav Wyneken (…) war grollend ferngeblieben, obwohl er in Göttingen wohnt. Ein Protest gegen die von ihm erwartete honorige Belanglosigkeit gewisser Redner, die nicht ausblieb! (…) Leider wurde das Thema »Politische Ordnung«56 konformistisch, um nicht zu sagen reaktionär, behandelt: Hauptredner war ein CDU-Abgeordneter, der es an den Propagandaformeln »Freiheit, Zone, Mauer, Stacheldraht« nicht fehlen ließ, während ein anderer Redner mit vielen Worten wenig Neues oder gar Not55 Hier zitiert nach dem Abdruck in »j«, Beilage zu Heft 10/11 (1963) von »pläne. eine junge zeitschrift für politik und kultur« (ohne Seitenangaben). 56 Der Autor bezieht sich auf die Gesprächsgruppe III in Bad Sooden-Allendorf am Nachmittag des 12. 10. 1963; der erwähnte Hauptredner war (neben dem ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Ludwig Metzger) der hessische CDU-Landtagsabgeordnete Rudolf Kurtz (1910 – 1987).

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wendiges zu sagen wußte. Zwischenrufe wurden vom Leiter des Gesprächs als »Störung« untersagt, und die gerade für dieses Thema erforderliche Diskussion durfte »wegen Zeitmangels« nicht stattfinden! Empört verließen viele Teilnehmer den vollbesetzten Kurhaussaal: mit Jugendbewegung und freideutscher Offenheit hatte diese Knebelung der Meinungsäußerungen nicht zu tun! (…) C. T. Kommer : Wanderer zwischen beiden Welten. Jugendbewegung als wehmütige Reminiszenz (Auszug), in: Rheinischer Merkur, Nr. 42 vom 18. 10. 1963.57 (…) Gollwitzer ging der Kritik an der Jugendbewegung nicht aus dem Weg. Das war erregend und bedeutungsvoll zugleich. Während die sonstigen Reden rückblickend von der »Rebellion gegen das hohle Pathos und die leere Gefühlsduselei« schwärmten, um dann bald selbst in ein idealisierendes Wortgeklingel einzuschwenken, legte Gollwitzer den Finger freimütig auf die Wunde: »Viele unter uns haben nicht erkannt, daß die angemessene staatliche Form für unser Leben die Demokratie ist. Wir ließen sie uns madig machen.« (…) Die Demokratie sei die unbequemste und schwierigste Staatsform. Sie müsse jeden Tag neu erkämpft werden. Konkret als die Freiheit der Andersdenkenden. »Wollt und tut Ihr das?« rief Gollwitzer den versammelten Jugendlichen zu. (…) Nachdenklich, aufgeschreckt, teilweise verwirrt zogen buntuniformierten Lagerteilnehmer nach dieser Ansprache wieder in ihre Zeltstadt zurück. Die Fahnen mit Runen und Symbolen flatterten nicht mehr so keck im Wind. Die »Veteranen« strebten ihren Autos zu. Vielleicht hatten sie sich den Ausklang ihres Erinnerungstreffens (…) romantisch-verklärter vorgestellt. (…) Idealität, Illusionen, Schwarm und Träumereien, Blaue Blume – ein Teil der Jugendbewegung. Ein Teil, der keine Zukunft mehr hat. (…) Sie gingen aus Opposition in den Wald. Isolierten sich auf einer verklärten Insel der Gefühle. Wanderer zwischen beiden Welten. Von den silbernen Sternen über hohen Tannen künden ihre Lieder. Wandervögel ohne Richtung? Pfadfinder ohne Kompaß? Wohin die Fahrt geht – der Hohe Meißner hat darauf keine Antwort gegeben. Von einer Einigung der verwirrend-vielfältigen Bünde war keine Rede. (…) Josef Schmidt: Nach 50 Jahren: Romantische Erinnerung und kritische Bilanz (Auszug), in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 246 vom 14. 10. 1963.58 (…) Ein »alter Sack«, wie die alten Meißnerfahrer heißen, springt in die Bresche, als in einer Pressekonferenz die Sprecher der vertretenen »Bünde« es schwer haben, die Fragen über ihre Vielfalt zu erklären. Der »alte Sack« erläutert es so: 57 Abgedruckt in: Pressespiegel Meißnertag 1963, Hamburg 1964, S. 76 – 79. 58 Abgedruckt in »j« (s. Anm. 55), ohne Seitenangaben.

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»Es ist ein freiwilliger Zusammenschluß von Individualisten. Die ›Bündischen‹ sind heute die Nonkonformisten unter der Jugend.« Er erwähnt nicht, daß unter den im Zeltlager versammelten Gruppen, vornehmlich unter der DJO (Deutsche Jugend des Ostens) und den »Gefährtenschaften« Erscheinungen auftreten, die mitunter an die Hitlerjugend erinnern. (…) Rolf Dörrlamm: Mit Bünden leben. Kritische Gedanken nach dem MeißnerTag 1963 (Auszug), in: Christ und Welt, Nr. 42 vom 18. 10. 1963.59 (…) Der Meißner-Tag 1963, an dem der fünfzigste Geburtstag der deutschen Jugendbewegung gefeiert wurde, war eine Manifestation dessen, was heute noch unter dem Namen »bündische Jugend« lebt und wandert – oder oster-marschiert. (…) Was als Positivum auf drei Pressekonferenzen unter der Bezeichnung »Einheit in der Vielfalt« beschworen und angepriesen wurde, das war andererseits als Negativum so zu erkennen, wie Professor Seidelmann es in der Festschrift beschrieben hatte: »Es gab widerlich siebengescheite Wirrköpfe unter den fünfzehnjährigen Wandervögeln und knäbisch Retardierte unter den volljährig gewordenen Freideutschen.«60 Die Frage der Generationen beantwortete sich in diesem Sinne zum Beispiel im Lager der »Deutschen Jugend des Ostens«, die vor ihren runengeschmückten Zelten standen, ohne von Runen auch nur das geringste zu verstehen. (…) Die Jungen hingegen, die von Runen nichts verstanden, rechtfertigsten sich. »Warum sollen wir nicht? Schließlich stammen wir doch von den alten Germanen ab.« Und begründeten genau, warum und wieso. Zwar wußten sie nicht genau, von wann bis wann diese alten Germanen gelebt hatten, doch konnten sie auf eine achtjährige höhere Schulbildung verweisen. Einige Meter von ihnen entfernt hatten »jugendliche Abenteurer« – wie sie nachher entschuldigend genannt wurden – eine nicht zu übersehende schwarze Totenkopfflagge gehißt. Um das als Waffen-SS-Zeichen bekannte Symbol standen die Zelte von »Gefährtenschaft« und »Tatgemeinschaft«. Auf das suspekte Zeichen angesprochen, erzählten die Jungen Geschichten von dem »Seeräuber Störtebecker«. (…) Und dann zogen sie zurück ins Lager, wo sie über der lodernden Flamme vier Spanferkel rösteten. Ganz wie die alten Germanen. Und vor ihrer umstrittenen 59 Abgedruckt in: Pressespiegel Meißnertag 1963, S. 83 – 87. 60 Dörrlamm zitiert hier einen von ihm aus dem Zusammenhang gerissenen Satz aus der (ausdrücklich nicht als »Festschrift« bezeichneten) Publikation »Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung« im Vorfeld des Meißnertages, hg. von Elisabeth Korn, Otto Suppert und Karl Vogt, Düsseldorf, Köln 1963 (Zitat S. 15 in dem von Karl Seidelmann verfassten Beitrag »Der ›neue Mensch‹«, S. 11 – 33). Seidelmann hat nach dem Dörrlamm-Artikel einen scharfen Leserbrief an »Christ und Welt« geschrieben, der im »Pressespiegel« abgedruckt ist (S. 88 f.): Dörrlamms Artikel, so Seidelmann, sei »lieblos, taktlos, indiskret und völlig sachfremd«, auch »verständnislos bis zur Albernheit« sowie »sophistisch und ungehörig«.

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Flagge saßen sie und dachten an ihre Grundsätze: »Ehrenhaft vor uns selbst, ehrfürchtig vor dem Höheren, einig in der Tat.« (…) Für die »alten Meißner-Fahrer« dürfte der Tag eine Enttäuschung gewesen sein. Was auch soll der freundliche ältere Herr, der nachts im Hotel einem Journalisten seine Jugenderinnerungen erzählt und als Dank fürs Zuhören jenem am Morgen die Schuhe putzt, zünftig und spiegelblank, was soll er anfangen mit denen, die nach ihm kamen? Was sollen die Göttinger Akademiker, aus deren Reihen Idee und Planung des Meißner-Festes 1913 hervorgingen, mit einer Runen- und Totenkopfjugend beginnen? Was sollen die Veranstalter, die sich soviel Mühe gaben, den extravaganten Jugendlichen, die sich zur Demokratie »heute« und »daher« bekennen und im gleichen Atemzug einen Protestmarsch gegen Atomwaffen oder Bundeswehr planen, mehr sagen als freundliche Worte? Sie glauben ein Erbe zu entdecken. Können sie sich zur Umkehrung dieses Satzes entschließen: Einheit in der Vielfalt – Einfalt in der Vielheit? Niemand kann es von ihnen verlangen. (…) Tradition ist eine schöne Sache. Doch zwischen dem Protest von einst und dem von heute ist ein bedeutsamer Unterschied. Wo wird es diese »Bündische Jugend« denn noch einmal so leicht haben, zu protestieren, Forderungen zu stellen … wie in der bundesrepublikanischen Demokratie des Jahres 1963? Sie meint, ihr Lippenbekenntnis adle den Staat. Und der Staat, gutwillig und unkritisch, bedankt sich auch noch dafür. Bernd Nellessen: Einer der Jungen aber meldete Protest an. Bilanz des Meißner-Tages 1963 (Auszug), in: Die Welt, Nr. 240 vom 15. 10. 1963.61 Der große Augenblick kam in allerletzter Minute. Ohne ihn wäre das MeißnerTreffen nur eine Veteranenerinnerung geblieben. Sie saßen, Sonne im Gesicht und Wind im Haar, am Hang des Hohen Meißner und hörten den Reden aus ihrer eigenen Geschichte zu. Achtzigjährige und Fünfzigjährige, Rauschebärte und Gesundheitsapostel, Frauen gedirndelt oder in sportlicher Eleganz, Männer kurz behost, mit Schillerkragen oder sittsam nach der Mode unserer Zeit gekleidet. Ministerialbeamte und Landschaftsplaner, Lehrer, Professoren, Pastoren. (…) Am roh gezimmerten Podium vor einer hohen Tanne lösten die Redner einander ab. Manche brachten es nicht über sich, die vorgeschriebene Redezeit einzuhalten. Überwältigt von der Erinnerung und der Landschaft verloren sie sich, zitierten Gedichte, das Pachantenlied. »Heil« riefen sie auch, die 3.000 störte weder die Länge der Reden noch der jugendbewegte Heilruf. Dies war ihr Fest; nur am Rande der festlichen Versammlung im herbstlichen Kraut begann es zu rumoren. Am Rande saßen die Jungen. (…) Dann sprach Helmut Gollwitzer, Professor der Theologie und Freund der 61 Abgedruckt in: Pressespiegel Meißnertag 1963, S. 55 – 57.

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antiatomaren Ostermärsche. Er wischte in ungestümer Leidenschaft das Bild jugendbewegter Idylle hinweg und holte in zehn Minuten nach, was die Veteranen anderthalb Tage versäumt hatten. (…) Wie nicht anders zu erwarten, verband er, auch darin ungestüm, mit der Kritik an der Jugendbewegung des zerstörten Reiches eine ätzende Kritik an der Bundesrepublik, an ihrer Hymne und an ihren Waffen. Die Alten ließen es über sich ergehen. Da endlich, zwei Minuten vor Schluß des Meißner-Treffens, kam die Stunde der Jungen. Einer von ihnen ging auf die Tanne zu und meldete seinen Protest gegen die politischen Thesen dieser Rede an. Er schaute über die Menschen hinweg zur Kuppe hinauf, hinter der irgendwo der Todesstreifen der Zonengrenze verläuft, und er rief sein Ja zum Deutschlandlied und zur Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik in den Wind. Dieser Junge – nicht die Alten taten es – riß den Meißner-Tag aus den unverbindlichen emotionalen Erinnerungen zurück in das Jahr 1963. (…) Von der Meißner-Formel, der Gesetzestafel der alten Jugendbewegung, gilt nach wie vor das Gebot, in innerer Wahrhaftigkeit leben zu wollen. Aber ihm muß heute nicht abseits der Gesellschaft, sondern in ihr nachgestrebt werden. Das Rezept dazu kann die alte Jugendbewegung nicht mehr geben, die junge hat das neue noch nicht gefunden. Sie ist, auch in Kluft, nicht einmal das, was die alte Meißner-Generation war : eine Generation des Engagements aus Protest. Hein Kröher62 : Hoher Meißner : Bericht von einem »Traditionstreffen« (Auszug), Süddeutscher Rundfunk, Abt. Jugendfunk, gesendet am 19. 10. 1963, 15.00 – 15.30 Uhr, Textvorlage AdJb B 255 – 011. (…) Die Bündische Jugend, das wohlgelittene Stiefkind unserer Gesellschaft, zeigte auf dem Meißnertag 1963, daß die deutsche Jugendbewegung lebt. All die Bünde, von deren äußerer Form wir uns in den letzten Jahre manchmal distanzierten, boten einen Anblick, der Anerkennung verdient. (…) Bis dato hatte die Bündische Jugend noch kein Bekenntnis zur Demokratie abgelegt. Es verdient festgehalten zu werden, daß die Bündische Jugend 1963 in ihrer Publikation für den Meißnertag dokumentiert, »daß Bündische Jugend allein in einem demokratischen Rechtsstaat möglich ist«. Mit dieser Grundhaltung, propagiert auf dem Hohen Meißner 1963, wird sich der Bundesjugendring auseinandersetzen müssen. Jetzt wird es nicht mehr angehen, diese Jugend als am Rande der Gesellschaft wuchernd und vegetierend zu betrachten und auch zu behandeln. (…) Das Bild, das sie ihrem Heimatland boten, spontan und freiwillig dargebracht, ist ein Bild, auf das eine Öffentlichkeit stolz sein kann. (…) Sie repräsentieren 62 Hein Kröher (geb. 1927): zusammen mit seinem Zwillingsbruder Oss seit den 1950er Jahren einer der bekanntesten jugendbewegten Liedermacher und Folk-Sänger.

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nicht die Jugend der Halbstarkenkrawalle, die Jugend der aus öffentlichen Mitteln bezahlten Profifunktionäre der Mammutorganisationen. Es wird nunmehr Zeit und Gelegenheit sein, dass der Bundesjugendring seine Einstellung zu der Bündischen Jugend revidiert und zu den Bünden Kontakt aufnimmt, die ihm wiederum Gewähr für anständige Zusammenarbeit, korrekte Haltung und demokratische Grundeinstellung bieten müssen. Es ist bezeichnend für die Jugendbünde, dass im Lager sowohl das Lied der Atomgegner »Strontium 90« von einer Abteilung aus dj.1.11. gesungen wurde als auch das Lied der Gebirgstruppen »Wir Jäger lassen schallen«, daß die Deutsche Jugend des Ostens ihre Forderungen, ihr Recht auf Heimat propagierte und daß etwa 700 Mitglieder der jungen Bünde sich zum Singen an der Zonengrenze einfanden. (…) Lutz Niethammer63 : Der Meissnertag 1963 – eine Nachlese. Beobachtungen und Anmerkungen (Auszug), Südwestfunk-Jugendfunk, gesendet am 2. 11. 1963, 14.20 – 15.00 Uhr, Textvorlage AdJb B 255 – 002. Ehrlich gesagt, ich bin aus purer Neugier hingefahren. Ich hatte zwar ein paar Bücher über die Jugendbewegung gelesen; aber gerade diese Lektüre hatte mir den Eindruck vermittelt, das alles sei mittlerweile eine papierene Angelegenheit geworden. Und jetzt gab’s auf einmal ein Fest – ein Jubiläum der alten Wandervögel – 50 Jahre Hoher Meissner – und eine Kundgebung der Jungen Bünde. Das wollte ich sehen, wenn die Geschichte mit einem Opabart herumstolpert und aus ihrer Jugend berichtet. Und wer waren überhaupt diese jungen Bünde? Ich hatte ein recht ungutes Gefühl dabei. (…) Viele alte Leute, respektable Erscheinungen, meist dünn, zuweilen asketisch, Charakterköpfe, man kann sagen, Persönlichkeiten: Lehrer, Universitätsdozenten, Pfarrer, höhere Bürokratie, Großstadtintellektuelle. Man spürt es noch heute, daß die Jugendbewegung einmal der letzte Ausweg dieser bürgerlichen Jugend war. (…) Die alten Leute gefallen mir, nicht alle, aber einige. Vielleicht ist es nicht ganz einfach, mit ihnen auszukommen, sie zu verstehen, aber – kann man das heute noch sagen? – sie gebieten Achtung. (…) Die jungen Bünde bekennen sich zum demokratischen Rechtsstaat, zum Pluralismus, zum Frieden, zur Freiheit, zu der Notwendigkeit der Parteien – kurz, zu allem, was dem Bundesbürger heilig ist. (…) Sie sind nicht mehr apolitisch wie einst der Wandervogel, nicht mehr mit versponnenen Ideologien befrachtet wie die bündische Jugend der zwanziger Jahre, keine Einheits- und Gemeinschaftsfanatiker mehr, die sich von ihren Organisationen so leicht in Reih und Glied auf Vordermann bringen ließen – für wen, für welche Ziele? 63 Der Autor (geb. 1939) studierte damals Geschichte, evangelische Theologie und Sozialwissenschaften an der Universität Heidelberg und wurde später ein bekannter Geschichtsprofessor in Essen, dann in Hagen und Jena.

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Mittags sind Informationsgruppen angesetzt: da hört man es von den Jungen immer wieder, zum Teil in recht erfrischender Tonart. Im Grunde ist es eine Sensation, ich meine nicht nur den Inhalt ihrer Verlautbarungen, sondern die Tatsache, dass sich die Bündischen überhaupt einmal auf etwas einigen konnten, auf ein Manifest von 4 Seiten, dazu noch über eben die heiklen Fragen, die ihnen von der überaus kritischen Öffentlichkeit gestellt werden. (…) Abends besuchen wir das große Lager auf dem Hohen Meissner ; zwei- bis dreitausend Jungen und Mädchen haben hier ihre Zelte aufgeschlagen, fachmännisch ausgedrückt, ihre Kohten gebaut. (…) Es sind nette Kerle. Die Führer sind Abiturienten oder junge Studenten, die Gefolgschaften reichen von 10jährigen Pimpfen bis zu gestandenen Männern. Die Buben sind ganz bei der Sache; herzhaft derb, mit etwas verträumten Augen: sie investieren ihre Phantasie und sicher nicht wenig Gefühl in den imaginativen Scholarenzauber ; sie diskutieren immer etwas zu ernsthaft, als dass man sie ernstnehmen könnte, sie schmettern inbrünstig ihre Lieder und schauen mit glänzenden Augen in das Feuer. (…) Was mag da alles an Wanderlust und Komplexen, an Einbildung und Schwärmerei, an Drang zur Selbständigkeit und an gruppenkonformem Nonkonformismus zusammengekommen sein? (…) Glauben sie wirklich, dass eines Tages aus diesen neutralisierten Jugendlichen Erwachsene werden, die sich für eine Partei entscheiden? Und selbst wenn man annimmt, dass sich bei dieser Erziehung »Persönlichkeiten« entwickeln – der Vorstellung eines harmonisierten Standbildes kann ich immer nur mit Mühe entfliehen – was nützt es, wenn diese Persönlichkeiten holzhacken können, sich in der Wildnis zurechtfinden, ganz bestimmt edel reden und moralisch denken, aber in der Bürokratie, in den Verbänden und Parteien von den Funktionären und Technikern der Macht mühelos an die Wand gespielt werden? (…) Ich finde man sollte gerecht sein. Ob jemandem die Formen der Jugendbewegung gefallen, ist seine eigene Sache; die Bünde erheben keinen normativen Anspruch. Sie wollen innerhalb der Gesellschaft leben und sie wollen auf diese Gesellschaft hin erziehen. Das ist ihr Recht und die Bemühung ist umso lobenswerter, als sie in der Praxis schwer zu vollenden sein wird. Eine andere Frage ist allerdings, ob dieses Bemühen überhaupt möglich ist, ob Bund und Pluralismus zusammenpassen, ob die Formen des Bundes überhaupt tatsächlich geeignet sind, den Geist des demokratischen Rechtsstaates auszudrücken. Ich möchte es bezweifeln. (…) Aber selbst wenn die Rechnung der Bünde aufginge, wäre ich nicht allzu besorgt; denn eigentlich bestehen die Bünde aus ganz normalen, sympathischen jungen Leuten. Und deshalb bin ich auch mit einem recht guten Gefühl nach Hause gefahren. Fehler werden schließlich überall gemacht.

Barbara Stambolis

1988 – Jugendbewegte »Restgeschichte« in der Diskussion

Die Vorbereitungen für die Meißnerfeierlichkeiten 1988 setzten – wie gewohnt – bereits geraume Zeit vor der 75-Jahrfeier in Erinnerung an den ersten Freideutschen Jugendtag 1913 ein. Zu einem ersten Vorgespräch hatte der Ring junger Bünde im Sommer 1984 eingeladen, der sich im Kontext des Meißnerjubiläums 1963 konstituiert hatte.1 Mitte der 1980er Jahre begannen auch bereits umfangreiche Bauarbeiten auf Burg Ludwigstein, die finanziell von der Hessischen Landesregierung, der Stiftung Deutsche Jugendmarke und Spenden von Seiten der »Freunde der Jugendburg Ludwigstein und des Archivs der deutschen Jugendbewegung« im Rahmen einer »Bausteinaktion« getragen wurden.2 Es ging um Sanierungs- und Renovierungsarbeiten sowie vor allem um einen »zweiten Ring«, nämlich um zwei neue Erweiterungsbauten zu beiden Seiten des zum Meißnerjubiläum 1963 fertig gestellten Meißnerbaus – als Bilstein- und Hansteinflügel bezeichnet – sowie den An- bzw. Ausbau eines Wirtschaftstraktes.3 Am 8. November 1985 erfolgte die Grundsteinlegung, und am 19. Juni 1987 im Vorfeld des Meißnertreffens von 1988 wurden schließlich »die neuen Trakte an der Nordwestseite der Burg« im Beisein von Vertretern der Landesregierung, des Landtages, der Kreis- und Kommunalverwaltung, der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein, des Freideutschen Kreises und der Bünde feierlich eingeweiht.4 In seiner Festrede stellte Roland Eckert (geb. 1937) die Jugendbewegung

1 Ring junger Bünde, Mitteilungen 59, Oktober 1987: »Orientierungsheft Meissner ’88«, S. 6: Meißner ’88 – Im bündischen Netzwerk geboren. 2 Jugendburg Ludwigstein. Bausteinaktion 1985 (mit dem Foto einer Bausteinaktion auf Burg Ludwigstein von Julius Groß aus dem Jahre 1923 (= Beilage zu den Ludwigsteiner Blättern 3, 1985, Heft 148, AdJb Z/300, 2149). 3 Informationen des Stiftungsvorstandes der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e.V., seit 1970 Rechtsträger für Burg und Archiv (Hans Achim Schubert, Siegfried Antelmann, Jürgen Reulecke), in: Ludwigsteiner Blätter 3, 1985, Heft 148, S. 5 – 8. Eine Kurzchronik der Baugeschichte in den 1970er Jahren s. Ludwigsteiner Blätter 2 1977, Heft 1116, S. 10 – 15., S. 4 Ludwigsteiner Blätter 3, 1987, Heft 156, S. 30 – 39. Vgl. Jürgen Reulecke: Zwischen gestern und

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in den weiteren Zusammenhang sozialer Bewegungen im 20. Jahrhundert, betonte den Gedanken der »Selbsterziehung«, zitierte die Meißnerformel und gab der Hoffnung Ausdruck, »dem Ludwigstein als Stätte der Begegnung, der Bildung und der Forschung« möge es gelingen, »an dieser ›Selbsterziehung‹ mitzuwirken.5 Ebenfalls 1987 wurden ein »Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988« gegründet und erste Überlegungen zu einer »Erklärung zum Meißnertag 1988« vorgelegt. Seit 1970 war das Plateau am Meißnergipfel allerdings Naturschutzgebiet geworden, weshalb die Mitglieder des Trägervereins einen anderen Lager- bzw. Festort finden mussten (der sich dann nahe Frankershausen am Nordhang des Meißner bot).6 Im November 1987 wurde auf Burg Ludwigstein eine auf die Meißnerformel bezogene »Gemeinsame Erklärung« beschlossen. Auch die Symbolik eines geeigneten Signets beschäftigte die Organisatoren. Es kündigten sich damit durchaus grundlegende Veränderungen an. Nicht zuletzt die endgültige Version des Meißnersignets des Jahres 1988 dokumentiert mit dem Greif für den Wandervogel, dem Falken über drei Wellen für die Jungenschaft und der Lilie für die Pfadfinder (unter Hinzunahme eines »neutralen« Kreises für weitere Bünde) das gleichberechtigte Zusammenspiel der zentralen jugendbewegten Gruppierungen in Vorbereitung und Durchführung des Festes,7 das es bei den vorangegangenen Meißnerjubiläen so nicht gegeben hatte. Unter den rund siebzig teilnehmenden Gruppen8 (etwa 3.000 Teilnehmer) waren die Pfadfinder erstmals ebenso bemerkenswert stark vertreten wie unter den Organisatoren. Hier kündigte sich eine Entwicklung an, die 2013 ihre Fortsetzung fand, als erneut der Greif, der Falke über drei Wellen und die Lilie (allerdings ohne den »neutralen« Kreis des Jahres 1988) die Meißnerakteure und -teilnehmer »repräsentierten«. Unter »weiteren Bünden« hätten sich beispielsweise die Nerother vertreten sehen können, jedoch war das beabsichtigte Miteinander mit sonstigen »Kreisen« keineswegs selbstverständlich. Die Nerother Wandervögel

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morgen. Überlegungen zur Konzeption der Arbeit auf Burg Ludwigstein, in: Beilage zu Heft 148 der Ludwigsteiner Blätter 1985. Roland Eckert: Jugendbewegungen und moderne Welt. Festvortrag zur Einweihung der Neubauten auf Burg Ludwigstein, in: Ludwigsteiner Blätter 3, 1987, Heft 156, S. 34 – 39, hier S. 39. Ring junger Bünde, Mitteilungen 59, Oktober 1987: »Orientierungsheft Meissner ’88«, S. 29: Brief von Hartmut Keyler an Andreas Hahn vom 6. August 1987 (AdJb A 210 Nr. 122); Brief von Thomas Grothkopp an den Arbeitsausschuss vom 17. August 1987 (AdJb A 210 Nr. 121); Brief von Thomas Grothkopp an Hartmut Keyler vom 24. September 1987 (AdJb A 210 Nr. 122); Erläuterung zum Signet-Vorschlag von Klaus-Dieter Dahms (ohne Datum) (AdJb A 210 Nr. 121). Liste der teilnehmenden Bünde s. in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 160.

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sagten daraufhin ihre Meißnerbeteiligung ab und organisierten eine eigene Feier, die sie jedoch nicht als Gegenveranstaltung verstanden wissen wollten.9 Die Frage nach der aktuellen gesellschaftlichen Relevanz der Jugendbewegung spielte in dieser Diskussion eine nicht unerhebliche Rolle und nahm insgesamt gesehen – sowohl in der medialen Wahrnehmung als auch während des Treffens unter den Festbeteiligten, den Rednern und Kommentatoren – einen breiten Raum ein. Bereits im Vorfeld hatte das Fest erneut eine beachtliche überregionale mediale Aufmerksamkeit gefunden,10 und die regionale und lokale Berichterstattung setzte intensiv in der Woche vor den Feierlichkeiten ein. Kurz vor dem Fest, einen Tag vor Beginn der 75-Jahrfeier des Freideutschen Jugendtages, titelte dann die »Werra-Rundschau« am 11. Oktober 1988: »3000 ›Pfadis‹ kommen zum Meißner«,11 und in einem Bericht in der Hessische/Niedersächsische Allgemeine (HNA) über den Festbeginn war zu lesen: »›Die Gedanken sind frei‹ – mit diesem historischen Bürgerlied vom Hambacher Fest 1832 eröffneten 2500 Pfadfinderinnen und Pfadfinder (…) ihr Zeltlager ›Meißner 88‹ nahe Frankershausen am Fuß des Hohen Meißners. (…) Nach einigen Fahrtenliedern dann der ›Urknall‹: An einem hohen Gerüst entstand Fackel für Fackel zunächst ein roter Kreis, dann darin ein grünes Pferd und schließlich dessen Reiter – der Fackelreiter, Symbol des Meißnertages 1913, der unter großem Applaus mehrere Minuten den Abendnebel erhellte.«12 Dass die Pfadfinder 1913 mit ihren speziellen, noch keineswegs jugendbewegten Ausrichtungen nicht zu den aktiv Beteiligten gehört hatten, dürfte wohl nicht allen Lesern der Lokalpresse deutlich gewesen sein, der Mehrheit der Teilnehmer jedoch sehr wohl. Und dass 1988 anlässlich des Festereignisses eine umfangreiche, mit ausführlichen interpretierenden Texten versehene Dokumentation des Freideutschen Jugendtages 1913 erschien, scheint in der Rückschau schon deswegen keineswegs zufällig, weil die »Meißnergenerationen« von 1913 bis 1963 im Jahre 1988 zu einem großen Teil bereits selbst schon Geschichte 9 Nerother, Stellungnahme in: Die Buschtrommel 1988, Heft 1, sowie in: – schrift – 36, Bundesinfo 44, Der junge Bund 4/88, Schwarze Tanne 22, S. 8 unter der Überschrift: »›Allen wohl und niemand weh!‹ Nerother verzichten auf Teilnahme am Meißnerlager.« 10 Eine etwa einstündige NDR-Sendung (Redaktion Forum 3 vom 4. 12. 1988) berichtete unter dem Titel: »Wann wir schreiten seit an Seit – 75 Jahre deutsche Jugendbewegung«, von Kai Funke-Kaiser (AdJb 210 Nr. 123). Eine Sendung des SFB 1 befasste sich ebenfalls mit Jugendbewegung und Meißner-Tradition (Manuskript im AdJb, A 210 Nr. 126). Auch die Sendung Zeitzeichen widmete sich wohl der 75sten Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages (am 11. oder 12. 10. 1988, ein Hinweis findet sich im AdJb, A 210 Nr. 122: Brief von Thomas Grothkopp vom 10. 11. 1988 an den WDR Köln). 11 Gedenken an großen Tag der Jugendbewegung. 3000 »Pfadis« kommen zum Meißner, WerraRundschau am 11. Oktober 1988 (ohne Autorenangabe). 12 (mwx/ie): Meißer-Treffen ’88/ 3500 Pfadfinder im Zeltlager. »Urknall« zur Eröffnung, in: HNA vom 13. 10. 1988.

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geworden waren.13 Gustav Wyneken (1875 – 1964) war bereits 1964 verstorben, Knud Ahlborn 1977. Alexej Stachowitsch, genannt Axi (1918 – 2013), sei »wahrscheinlich der älteste aktive Wandervogel, der heute noch durch die Wälder« streife, hieß es in einer Rundfunksendung.14 Mit den Planern des Festes kündigte sich ein Generationenwechsel an und damit ein zum Teil neuer Stil und eine Fülle neuer thematischer Akzente. Das zeigte sich in den Reden von 1988 und in den vielfältigen Programmpunkten der Meißnerwoche ebenso deutlich wie in den begleitenden und den nachträglichen Beobachtungen und Beurteilungen von Insidern und Außenstehenden. Die »Alten« hielten sich insgesamt deutlich zurück, mischten sich allenfalls gelegentlich im Hintergrund ein und erhoben jedenfalls, wie es beispielsweise Fritz Uplegger (1905 – 2004) durchblicken ließ, nicht den Anspruch, im Mittelpunkt des Festgeschehens stehen zu wollen. Heinz Gruber (1911 – 2000) sprach den Organisatoren Dank aus, verwies auf das gute Miteinander der Generationen sowie vor allem auch auf die große Zahl von teilnehmenden Mädchen und jungen Frauen, und Rudolf Br¦e (1907 – 2003) sprach im Rückblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts die »Verführbarkeit« der Jugend, vor allem seiner eigenen Generation an, als er auf der Hausener Hute auf dem historischen Festgelände an dem Meißnergedenkstein, den Alfred Toepfer 1984 hatte setzen lassen, an 1913 erinnerte. Dem Kommentar von Günter Knitschky (1928 – 1999) nach handelte es sich hierbei um ein wehmütiges Abschiednehmen der jugendbewegten Generation der 1920er Jahre. Zwischen 1963 und 1988 hatten – wie hier nur kurz angedeutet werden soll – die neuen sozialen Bewegungen, nicht zuletzt die Ökologiebewegung, in vielen jugendkulturellen Milieus ebenso wie bei Akteuren aus der historischen Jugendbewegung deutliche Spuren hinterlassen.15 So überrascht es nicht, dass nach Alfred Toepfer (1894 – 1993) und Jürgen Reulecke (geb. 1940) der jüngste Redner des Meißnerfestes, der Politologe und Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich (geb. 1950), Umweltfragen in den Mittelpunkt seiner Festrede stellte, womit ein Bogen zu den lebensreformerischen Vorstellungen hergestellt wurde, in die sich bereits die Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg eingefügt hatte. Vor allem auf Hans Paasche (1881 – 1920) konnte man in diesem

13 Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Deutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988. Aus dem Jahre 1988 stammt auch ferner eine Fernsehproduktion mit dem Titel »Zu Fuß durchs 20. Jahrhundert. Zur Geschichte der Jugendbewegung« (Rainer Ott, Rudolf Schweigert für den Sender Freies Berlin (SFB), die einen Überblick über die Geschichte der Jugendbewegung gibt (AdJb V2/15). 14 Siehe Anm. 10. 15 Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 369 f.; Hermann Glaser : Deutsche Kultur 1945 – 2000, S. 372 – 377.

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Kontext Bezug nehmen.16 Programmatisch wirkte in diesem Zusammenhang beispielsweise auch der zum Abschluss des Festaktes gemeinsam gesungene Kanon »Nach dieser Erde« mit einem deutschen Text des DDR-Songtexters Gerd Kern nach der Melodie von Don McLeans Popsong »By the Waters of Babylon«17 aus dem Jahre 1971. Das breite Erlebnisangebot während der Festtage vom 12. bis 16. Oktober 1988 richtete sich also in erster Linie an die jugendlichen Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die wohl mehrheitlich eine unbeschwert-neugierige Sicht auf die Vielzahl künstlerischer und handwerklicher Workshops hatten, deren breites Spektrum sich mit der sprachlichen Wendung »farbige Bescheidenheit« charakterisieren lässt.18 Treffend bemerkte Corona Hepp in der Süddeutschen Zeitung, die jungen Festgäste seien zumeist »lässig-nüchtern« gewesen und hätten keinerlei »Bekenntnisseligkeit« gezeigt; sie seien zudem mit ihren Jeans, Turnschuhen, Stiefeln und Gitarren »kaum von den hunderttausend jungen Trampern und Rucksacktouristen« zu unterscheiden, die überall in der Welt unterwegs seien. »Nur ihre Halstücher, Kordeln und Ärmelabzeichen« machten »sie kenntlich als Bündische, als farbentragende Urenkel einer Jugend, die sich um die Jahrhundertwende aus den studentischen Kneipen und Paukböden zurückzog und die auszog ins einfache Leben.« In der Festschrift zum Meissner ’88 lassen sich die unbeschwerte Atmosphäre und das Erscheinungsbild Jugendlicher lediglich an einigen wenigen Fotografien ablesen, die die spielerischen Seiten des Lagerlebens festhalten und den Blick des Betrachters nicht auf die zahlreichen vorhandenen Gesamtansichten der Festkulisse mit den überwiegend schwarzen Kohten und Jurten richten. In der archivalischen Überlieferung unterrepräsentiert sind leider auch zeitnahe Berichte »durchschnittlicher« jugendlicher Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie die unter Nr. 25 der Quellen auszugsweise wiedergegebenen Überlegungen eines Pfadfinders, der sich Gedanken über die Meißnerformel aus Sicht eines damaligen Heranwachsenden machte. Er gehörte zu jener nachwachsenden Generation in diesem Meißnerlager, die anders als die Festredner bereits in einer Zeit aufgewachsen war, in der Schlagworte wie »Selbständigkeit«, »Freiheit« und »Selbstbestimmung« einen breiten Raum einnahmen und autoritäre Verhältnisse in Schule und Elternhaus kaum noch zentrale Probleme darstellten. Er stellte deshalb bezeichnenderweise aus einer anderen Perspektive als Angehörige älterer bündischer Generationen fest: »Freiheit zu eigener Gestaltung des 16 Hans Paasche: Lukanga auf dem Hohen Meißner (1913), in: Die Sternschnuppe. Pfadfinderbund »Großer Jäger«. Für seine Jungen, Mädchen und Freunde, 1988, ohne Seitenangabe. 17 Aus Don McLeans Album »American Pie«. 18 Kaspar Maase: Farbige Bescheidenheit. Anmerkungen zum postheroischen Generationsverständnis, in: Michael Wildt, Ulrike Jureit (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 220 – 242.

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Lebens, ausschließlich vor dem persönlichen Gewissen! Die Gruppe haben wir uns selbst gewählt – und dann? Nutzen wir die Freiheit, weiter selbst auszuwählen. Wir haben die Freiheit, doch wir wissen vielleicht zu wenig damit anzufangen. Zu unseren zu bewahrenden Werten seien spätestens seit dem Meißner auch die Themen »Leben«, »Ernährung«, »Ökologie« und »Natur« erwähnt, auf denen wir frischen Fuß fassen könnten. Oder soll es uns ergehen wie vielen unserer außerbündischen Klassenkameraden und Freunde, die mit dem Übermaß an gewährter Freiheit nicht allein fertig werden; Folge: Isoliertsein, Einsamsein, Verödung …«. Typisch für eine solche Argumentationsrichtung ist auch die Grafik, mit der sich der Pfadfinderbund Bayern e.V. als teilnehmender Bund am Meißnerlager 1988 in der Zeitschrift »Der Eisbrecher« vorgestellt hat (s. u.). Die Frage, ob sich die Jugendbewegung überlebt habe und den Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts möglicherweise keine Orientierung mehr bieten könne, bestimmte die nachdenklichen Reflexionen mit und ohne Insidererfahrungen. Der Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher Gerhard Kluchert (geb. 1949), damals wissenschaftlicher Mitarbeiter am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, gehörte zu denjenigen, die jetzt ausdrücklich nach der Zeitgemäßheit jugendbewegter Vergemeinschaftung fragten. Unter Insidern, besonders aus »Jungenschaftskreisen« der Altersgruppe der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, wurde die Jugendbewegung zunehmend als gesellschaftlich unbedeutend betrachtet und bilanzierend unter dem Stichwort »Restgeschichte« als der Vergangenheit angehörig bezeichnet. Arno Klönne (geb. 1931) und Jürgen Reulecke haben wiederholt nach der Schlüssigkeit dieses Urteils gefragt,19 und Roland Eckert hat zeitnah, d. h. sicher noch unter dem Eindruck des Festes selbst, dagegen argumentiert. Er betonte die überzeitlichen Chancen adoleszenter »Selbsterfahrung« z. B. in jugendbewegten Gemeinschaften, und zwar mit ihren sinnlichen und gefühlsmäßig begeisternden Aspekten. Außerdem hob er die Bedeutung von Phantasie und Spiel, die nicht zuletzt den Kern festlicher Ereignisse ausmachen, hervor und denen während des Meißnerlagers 1988 zweifellos große Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Schließlich verwies er auf »Askese« als Faszinosum jugendbewegter Vergemeinschaftung – ein Stichwort, das er 2013 anlässlich des 100-jährigen Meißnerjubiläums, nach dem unverwechselbar Besonderen jugendbündischer Erfahrungen gefragt, erneut aufgegriffen hat.20 19 Arno Klönne, Jürgen Reulecke: »Restgeschichte« und »neue Romantik«. Ein Gespräch über Bündische Jugend in der Nachkriegszeit, in: Franz-Werner Kersting (Hg.): Jugend vor einer Welt in Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland, Weinheim, München 1998, S. 87 – 103, hier S. 101 f. 20 Roland Eckert im Interview mit dem Fernsehsender phoenix im Oktober 2013 in der Dokumentation »Bewegte Jugend – 100 Jahre freideutscher Jugendtag«: https://www.youtube.

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Abbildungen

Der Hohe Meißner war auch während einer Reihe von Tagungen des Archivs der deutschen Jugendbewegung als zentraler »jugendbewegter Erinnerungsort« präsent. Hier eine Aufnahme von der Archivtagung 1973, »unter freiem Himmel« auf dem Meißnergelände (in der Mitte mit Baskenmütze Knud Ahlborn). Die »erweiterte Tagung« im Zeichen der 60-Jahrfeier in Erinnerung an den ersten freideutschen Jugendtag 1913. Fotograf unbekannt, Foto AdJb F 2 Nr. 31.

com/watch?v=C6byG-IJGO8, zuletzt aufgerufen am 31. 8. 2014. Vgl. auch Roland Eckert: Gemeinschaft, Kreativität und Zukunftshoffnungen. Der gesellschaftliche Ort der Jugendbewegung im 20. Jahrhundert, in: Barbara Stambolis, Rolf Koerber (Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5, 2008, Schwalbach, Ts. 2009, S. 25 – 40, sowie ders.: Der Meißner 1963 als Versuch, »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« zu versöhnen, in: 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen, hg. von Jürgen Reulecke (= Jahrbuch Jugendbewegung und Jugendkulturen 9/2012 – 13), S. 249 – 253.

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Grundsteinlegung zu den Erweiterungsbauten Bilstein- und Hansteinflügel am 8. 11. 1985. Der Vertreter der Hessischen Regierung, Rolf Lettmann, und des Werra-Meißner-Kreises, Landrat Eitel O. Höhne, enthüllen den einzumauernden Schlussstein mit einem Greif als zentralem Wandervogelsymbol (er wurde rechts neben dem Archiveingang am Hansteinbau angebracht). Fotograf Werner Keller, HNA, Foto AdJb F 2, Nr. 28.

Gedenkstein, auf Initiative von Alfred Toepfer im Jahre 1984 in Erinnerung an das Meißnertreffen 1913 auf dem historischen Meißnergelände aufgestellt. Die Einweihung fand 25. November 1984 im Beisein des Stifters statt. Bis dahin hatte nur eine 1950 in einen Felsen eingelassene Platte auf dem Meißner an das historische Ereignis 1913 erinnert. Fotograf: Veit Mette für die Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. 2006.

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Grafische Darstellung der Meißnerereignisse in einer Gesamtschau: 1913, 1963, 1988 und mit Ausblick auf 2013, in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, 29. Jg. 1988, Heft 3, S. 114. Mit der Abbildung präsentierte sich der Pfadfinderbund Bayern e.V. als teilnehmender Bund am Meißnerlager 1988.

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Thomas Grothkopp, Lagervogt, zur Eröffnung des Meißnerlagers am 12. Oktober 1988. Fotograf Manfred Heide, Berkatal/Frankershausen, Foto AdJb F 4 Nr. 163.

75-Jahrfeier des ersten Freideutschen Jugendtages 1913, Blick auf das Festgelände. Fotograf Manfred Heide, Berkatal/Frankershausen, Foto AdJb F 4 Nr. 163.

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Alfred Toepfer während seiner Ansprache am 15. Oktober 1988. Fotograf Manfred Heide, Berkatal/Frankershausen, Foto AdJb F 4 Nr. 163.

Teilnehmer des Meißnerlagers 1988. Fotograf Manfred Heide, Berkatal/Frankershausen, Foto AdJb F 4 Nr. 163.

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Selbstdarstellung des Pfadfinderbundes Bayern (PbB) mit Blick auf die Meißnertradition mit folgender Unterschrift: »Inflation der Ziele. Wir sind noch unterwegs zu Ziel 1.« Grafik zum Meißner ’88 in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, 30. Jg. 1988, Heft 1, ohne Seitenangabe.

Signet des Meißnerfestes 1988, AdJb.

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1. Aus den Bünden. Was wird auf dem Meißner 1988 geschehen? in: Rundschreiben des Freideutschen Kreises Nr. 198, Juni 1987. Aus den Bünden Was wird auf dem Meißner 1988 geschehen? Der Entschluß der Nachkriegs-Bünde, die 75. Wiederkehr des Meißnertages von 1913 im Oktober 1988 festlich zu begehen und dabei das gemeinsame Bewußtsein von Jugendgemeinschaft zu einer sichtbaren Darstellung zu bringen, hat schon seit über einem Jahr erhebliche Aktivitäten in Gang gebracht. Was bis heute als feste Verabredung kundgetan werden kann, haben die Bünde im Januar in einem umfangreichen Rundbrief »An die Bundesführer der teilnehmenden Bünde Meißner 1988« zum Ausdruck gebracht. Hierüber kann berichtet werden. Die Jungen Bünde wachen – mit Recht – darüber, daß ihnen in die Gestaltung ihres Meißner-Lagers und des Höhepunktes in einer Feier von keiner Seite hineingeredet wird. Was haben die Bünde beschlossen und geplant? Gemeinsames Zeltlager der Bünde Bündischem Brauch entsprechend wird das Meißnerfest 1988 durch ein gemeinsames Zeltlager begangen, das für den 12. bis 16. Oktober beschlossen ist. Der Lagerplatz für das Kohten- und Jurtenlager liegt zwischen Bad SoodenAllendorf und Osterode. Es wird mit etwas über 3000 Teilnehmern gerechnet. Unter 15jährige sollen nicht teilnehmen. Es beteiligen sich über 60 Bünde, von den großen Pfadfinderverbänden bis zu kleinsten Bündchen. Die Organisation liegt im wesentlichen bei den Pfadfindern. Organisationsleiter ist Thomas Grothkopp (Tom) (Pfadfinderbund Nord PBN). Zur Gestaltung der Feierstunde am Sonnabend, dem 17. 10. 1988, beschäftigt die Gestalter auch die Frage: Wie sind die »Alten« zu beteiligen? Man sieht es als sinnvoll an, sie als Personen zur Feierstunde zu laden, nicht aber die verschiedenen Altenbünde. Wohnmöglichkeit für sie soll der Ludwigstein werden. Wer von den Alten als Redner gebeten wird, werden die Jungen allein entscheiden. Zur Selbstdarstellung der Bünde wird das ganze Zeltlager in »Zentren« gegliedert. In den Zentren wollen die Bünde ihre Arbeit und Eigenart zeigen. Da geht es z. B. um das Umweltdenken, das auf »die vier Elemente« Wasser, Feuer, Erde, Luft bezogen sein soll. Der DPB sucht einen musisch-kulturellen Schwerpunkt und will ein anspruchsvolles »Theaterstück« aufführen. Es gibt »Graphik und Fahrtenbuchchronik«, »Bündisches Chorsingen«, »Volkstanz und Liedgut«. Ein Bund will »sinnvolle Ernährung« zeigen. Es gibt ein »christliches Zentrum« mit Andachten und stiller Besinnung. Es gibt eine »Hecken-Universität«. Die

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überbündischen Projekte Handwerkerhof, Tannenhof, Wandervogelhof Reinstorf, Jugendburg Streitwiesen wollen sich zeigen. Zu den geistigen Grundlagen In der Bundesführer-Drucksache hat Michael Fritz (siddha) eine Reihe von Fragen aufgeworfen und auch für alle beantwortet, die jedem von uns Alten bewußt machen, daß sich die Fragen von heute gar nicht so sehr von denen unterscheiden, mit denen wir uns vor über 50 Jahren herumgeschlagen haben. Siddha stellt an den Anfang seiner Ausführungen den Satz: »Wer keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft«. Er sagt dazu: »Im Oktober 1988 sind wir also aufgerufen, uns der Frage nach unserer Identität im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft zu stellen. Sicherlich ein wahrhaft hoher Anspruch gemessen an dem, was an Realität in den Bünden zu vermuten ist.« Die Frage nach einer Neuorientierung der Bünde beantwortet siddha eindeutig mit Ja! und sagt dazu: Wir müssen uns der Moderne öffnen, und das in geeigneten Formen, die den verschiedenen Entwicklungsstufen unserer Bundesbrüder und -schwestern gerecht werden. Wir werden dadurch die Existenz der Bünde nicht gefährden, sondern bereichern. »Es gibt neben den äußeren auch erkennbare inhaltliche Zusammenhänge zwischen unseren Bünden, wenn wir nur bereit sind, sie zu erkennen.« Die für siddha wichtigste Fragestellung ist, »ob unsere Bünde es erreichen, für sich die sogenannte ›Älterenfrage‹ zu lösen«. – Wir haben ja auf den Bündischen Foren auf dem Ludwigstein dafür Ansätze geschaffen, deren weitere Verwirklichung jetzt von den Älteren auf die »mittlere Generation« übergegangen ist. Der Mut und die Tatkraft, mit der unsere »Enkel« an das Meißner-Vorhaben 1988 herangegangen sind, kann gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Sie müssen alles so gestalten, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Wir wünschen ihnen dafür gutes Gelingen. Heinz Gruber (heigru) Wie steht der Freideutsche Kreis zu dem Meißner-1988-Vorhaben der jetzigen Bünde? Heinz Gruber hat aus den Schriftstücken, die die Bünde zur Vorbereitung veröffentlicht haben, zusammengestellt, was sie planen und verwirklichen wollen. Daraus kann man ersehen, daß es sich um eine Veranstaltung der Jungen Bünde handelt, zu der die ältere Generation der Jugendbewegung nur in einer kurzen Ansprache eines ihrer prominenten ältesten noch lebenden Führer aus den 20er Jahren gefordert ist. Die Bünde wollen sich bemühen, einen solchen Sprecher zu gewinnen. Dazu werden sie sich u. a. an den Freideutschen Kreis wenden. Wir können uns dazu erst im Sommer 1988 äußern. Von uns sind keine parallelen Aktivitäten und Veranstaltungen vorgesehen und werden auch nicht

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von uns erwartet. Es besteht aber ein enger Kontakt zu dem Vorbereitungsausschuß der jungen Generation. Wir werden euch weiter informieren. Rudolf Schwarz Meißner 1913 – Meißner 1988 Die Diskussion über die Inhalte und die Form der 75-Jahr-Feier ist in vollem Gange und spiegelt sich in vielen Veröffentlichungen der alten und jungen Bünde wieder – hier ein paar Aussagen dazu: Aus »der eisbrecher« 4/85 Helmut Schröcke, Bündische Hochschulgruppe München, schreibt dazu u. a.: »… Die Bedeutung des Meißnerfestes von 1913 liegt darin, daß in der Auseinandersetzung mit der damaligen Zeit etwas zeitlos durch die Zeiten Tragendes und Allgemeingültiges ausgesagt wurde. Es ist eine Frage, ob das gefeiert werden soll oder ob – auch von einem ähnlichen Standpunkt aus – in der Auseinandersetzung mit dieser unserer Zeit eine in die Zukunft tragende Aussage gewonnen werden soll …« Karl Vogt meint in seinem »Eisbrecher«-Beitrag unter dem Titel »Meißner 88 – Prüfstand der Bünde«: »… Ich bin – wie Ihr wißt – ernsthaft der Ansicht, daß sich an diesem Meißnertag 88 entscheiden wird, ob die Jugendbewegung eine geistige Kraft ist oder nicht. Dabei ist meines Erachtens nicht so entscheidend, ob alle Bundesführer und alle Lagerteilnehmer mit ihrem Denken dabei mitwirken, daß eine überzeugende Aussage zustande kommt. Auch 1963 war das nicht so … Nach meiner Meinung kommen die entscheidenden geistigen Aussagen vom Einzelnen ebenso wie sie auch 1913 von Einzelnen gekommen sind …« Alexej Stachowitsch (Axi) äußert sich in »stichwort« 4/85 zu diesem Thema unter »Meißnerfieber im Steigen«: « … Wir wollen hier lediglich feststellen, daß wir auf den Sieg bündischer Vernunft und bündischen Stils hoffen und ein lebendiges Treffen in wirklicher Vielfalt und wirklicher Gemeinschaft erleben dürfen, fern von überzogenen Teilnehmerzahlen, Organisationsformen, Bürokratismen und Effekthaschereien. Der Meißner darf nicht zu einer Show mißbraucht werden, der Zweck darf auch hier nicht Mittel heiligen, die bündischem Geist widersprechen …» Im »Eisbrecher« 1/86 heißt es: Zum »Süd-Forum« auf Burg Balduinstein hatten sich im Oktober 1985 rund 40 Teilnehmer aus den unterschiedlichen Bünden zur oft beschworenen »Ge-

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meinschaft in Vielfalt« zusammengefunden, die hoffen läßt für das Gelingen eines Meißner-Festes 1988. Die Treffen und Besprechungen zu Meißner 88 mehren sich. »stichwort« 3/86 befaßte sich ausführlicher mit diesem Thema und legte konkrete Planungen für das große Lager bei Osterode vor.

2. Entwurf einer Erklärung zum Meißner-Tag 198821 (Fassung vom 14. 6. 198722) AdJb A 210 Nr. 119. [I.] Wir, die 1988 am Hohen Meißner versammelten Jugendbünde, bekennen uns erneut zu der grundlegenden: Aussage der Gruppen der historischen Jugendbewegung, wie sie 1913 formuliert wurde: »Wir wollen aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit unser Leben gestalten. Für diese innere Freiheit treten wir unter allen Umständen geschlossen ein.«

Wir tun dies in dem Bewußtsein, daß junge Menschen in unseren Bünden, die sich die damals postulierte Haltung zu eigen machen, von Verantwortung ihrer sozialen und natürlichen Umwelt gegenüber geprägt sind, aber auch von rational-kritischer Weltoffenheit wie von musisch-ästhetischer Erlebens- und Gestaltungsfreude. So können sie einen wesentlichen Beitrag zu Bestand und Fortentwicklung unserer Gesellschaft leisten. Unabhängigkeit des Denkens, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, Streben nach Wahrhaftigkeit und [nach] Vervollkommnung sind Werte, ohne die eine lebendige Demokratie absterben müßte. Wir sehen den Menschen als eine Ganzheit von Leib, Seele und Geist. Diesen zur Entfaltung zu verhelfen, bemühen wir uns in unseren Gruppen und Bünden. Dort bieten wir Freiräume, in denen sich der junge Mensch seinen Veranlagungen und Neigungen entsprechend allseitig entwickeln kann. Dabei setzen wir darauf, daß jeder Mensch in seinem Leben nach einem Ziel strebt und sich um Vervollkommnung bemüht. Selbstfindung und Selbstverwirklichung in der sozialen Einbindung in Gruppe und Bund bewahren vor unkritischer Hingabe an 21 Handschriftliche Ergänzungen in eckigen Klammern; per Hand durchgestrichene Worte werden in eckigen Klammern und durchgestrichen wiedergegeben. 22 Fußend auf den Diskussionen des West-Forums am 21.02.87 auf Burg Blankenheim, zusammengestellt von Ulrich Altenkirch; inzwischen ergänzt und überarbeitet durch Anregungen aus dem Arbeitsausschuß und – bis zum Doppelstrich – durch – Alexej Stachowitsch.

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den Zeitgeist, [an] Fremdbestimmung, Orientierungslosigkeit und [Selbstliebe] Narzißmus. Selbstbestimmte personale Entwicklung im Miteinander der Gruppe führt zu Offenheit und Vielfalt und schützt vor Einseitigkeit und Verengung. [II.] Unsere wesentlichen Erlebnis- und Handlungsbereiche sind die Abenteuer : – des Lebens in der Gruppe, – der Fahrt zu anderen Menschen, in andere Landschaften und Kulturen, – des Lagers als Ort des einfachen Lebens in und mit der Natur und der vertieften Aneignung musischer und geistiger Fähigkeiten. Alle drei Bereiche finden wesentlichen Ausdruck in unseren Liedern. Die Gruppe In der Gemeinschaft der Gruppe und des Bundes üben wir uns ein in Verantwortung gegenüber uns selbst und anderen. Selbstbestimmtes Handeln und das Gestalten der Gemeinschaft werden gegenüber dem Konsum vorgegebener Inhalte und der Übernahme vorgegebener Formen und Strukturen als wertvoller erfahren. Die Notwendigkeit der Achtung des Anderen und seiner Meinung sowie die Konfliktlösung mit friedlichen Mitteln werden hier handelnd erlernt. Die Gruppe ist der Ort der Auseinandersetzung mit sich und der Mitwelt. Hier werden Interesse, Phantasie, Kreativität, Begeisterungsfähigkeit, Wille und Fähigkeit zum Handeln, Selbstbewußtsein und Wertbewußtsein geweckt, herausgefordert und gefördert. Hier werden Angenommensein, Freundschaft, Gemeinschaftserleben als materiellen Werten überlegen erfahren. Hier werden Hingabe, Einsatz für den Anderen, Verantwortung für die Gemeinschaft gelebt. Das Leben in der Gruppe verhilft dazu, das eigene Gewissen zur Maxime allen Handelns zu machen. Die Fahrt In eigenem und gemeinsamem Erleben erschließen wir uns auf unseren Fahrten die Landschaften unseres Landes und unser eigenes Kulturgut sowie die Kulturkreise und Lebensräume anderer Menschen. Die Fahrt lebt von Neugier, Offenheit, Abenteuerlust und der Bereitschaft zu körperlicher und geistiger Anstrengung. Sie weitet den Horizont und schafft Verstehen und Verständigungsbereitschaft. Das intensive Erleben von Natur und Landschaft bewirkt Achtung vor ihrer Schönheit und Größe. Das Kennenlernen anderer Menschen, ihrer Lebensumstände und Probleme weckt den Wunsch nach Solidarität und nach friedlichem Zusammenleben aller Menschen, Völker, Religionen und Rassen. Das Zusammenleben in der Gruppe unter den Herausforderungen der

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Fahrt und im bewußten Ausgesetztsein an die Naturgewalten verstärkt die Hinwendung zur Gemeinschaft. Das Lager Auch im Zeltlager erfahren wir sommers wie winters durch enge Berührung mit der Natur unsere Abhängigkeit von ihr, ihre Schönheit und Stärke. Wir erleben uns als Teil der Natur, ihr ausgeliefert und ihr verbunden. Wir lernen, mit der Natur und nicht neben ihr oder gegen sie zu leben. Aus dieser Erfahrung wächst uns der Wille zu, sie vor Bedrohungen zu schützen und ihren Erhalt als unsere Lebensgrundlage zu verteidigen. Das Lager bietet uns die Muße zur Zuwendung an musische, sensibilisierende Tätigkeiten. Das Lagerleben erfordert in der Beschränkung auf das einfache Leben die Einheit von Wissen und Können, von geistiger Durchdringung und handwerklicher Bewältigung der Lebenssituationen. Die bewußte Beschränkung der äußeren Reize und die Hinwendung zu eigenem Tun setzt Wirkkräfte im Menschen frei, die gegen Reizüberflutung und Konsumorientierung widerstandsfähig machen. Das Lager gibt besondere Gelegenheit zu vertieftem Austausch über Probleme, Meinungen und Vorstellungen des Einzelnen. Am abendlichen Feuer findet er Gesprächspartner, die ihn als Menschen ernstnehmen, und mit denen er seine Weltsicht und seine Lebensentwürfe erörtern und sich seines Weges vergewissern kann. Feste und Feiern fordern Gestaltungswillen, Einbringen der eigenen Person in all ihren Facetten, Stilempfinden und Sozialität heraus. Sie fördern die Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit, bereichern und stiften Harmonie und Gemeinschaft. Ein solcher Ansatz der Selbstfindung [und Selbstverwirklichung] der Erlebnisorientierung [und Naturverbundenheit], der Gruppenerfahrung und Gemeinschaftsfähigkeit schließt jegliche [Orientierung an oder] Abhängigkeit von [anderen] Erwachsenenorganisationen aus. Wir halten an unserer geistigen und [partei]politischen Unabhängigkeit fest. Unsere [(älteren)] Mitglieder bringen [(als Erwachsene)] die in unseren Gruppen und Bünden gewonnenen Haltungen und Erfahrungen, ihre Wertorientierungen und Standpunkte, ihr Wissen und Können [als] verantwortlich [Beisp] in die Gesellschaft ein und wirken aktiv an der [Aus]Gestaltung und [(Fort)Weiter]entwicklung einer humanen, solidarischen und freiheitlichen Gesellschaft [Ausgestaltung] mit [weiter]. -----

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[Bis hierher ist der Text mit axi abgestimmt und wird von ihm mitgetragen. Weitergehende Ausführungen hält er für unnötig. Die Bünde des West-Forums meinen demgegenüber, dass gerade mit der Weiterführung in Teil III die Stimmigkeit und Glaubwürdigkeit der gesamten Erklärung steht und fällt.] [III.] Wir, die 1988 am Hohen Meißner versammelten Jugendbünde, sehen uns in unserem Wollen mehr und mehr eingeengt durch gesellschaftliche [(Fehl)] entwicklungen. Beunruhigt und besorgt beobachten wir – Entsolidarisierungs- und. Diskriminierungstendenzen, die deutlich werden in der Ausgrenzung wehrloser Minderheiten, – die Verstärkung der Reizüberflutung und Fremdbestimmung durch Massenkonsum und neue Medien, – die Zerstörung von Landschaft und Umwelt durch ungehemmte wirtschaftliche Interessen, – die wachsende Bedrohung des Lebens durch Rüstungswettlauf, katastrophenträchtige Technologien und neue zivilisationsbedingte Krankheiten, – die Zerstörung von Persönlichkeiten und Schicksalen durch dauerhaften Ausschluß von Menschen aus dem Arbeitsprozeß. Wir fordern deshalb von allen Verantwortlichen in Staat, Kirchen und gesellschaftlich relevanten Gruppierungen, aber auch von uns selbst, entschieden Verantwortung zu übernehmen – für gegenseitige Achtung und Gleichberechtigung der Geschlechter und aller Überzeugungen, Veranlagungen, Nationen, Rassen und Religionen, – für geistige Freiheit und Förderung der Selbstbestimmung, – für eine intakte Umwelt, – für eine angstfreie, lebenswerte Zukunft dieser und kommender Generationen, – für gleiche Chancen aller durch Ausbildung und Beschäftigung für alle. Wir sind bereit, uns einzeln und gemeinsam einzusetzen – für den Aufbau einer solidarischen, offenen Gesellschaft und gegen jegliche Ausgrenzungs- und Diskriminierungstendenzen, – gegen alle Entpolitisierungs- und Konditionierungsversuche über den immer massiver werdenden Medieneinsatz, – für die Festschreibung des Umweltschutzes als Staatsziel und gegen Landschaftsvernichtung und Naturraubbau, – für den Abbau gefährlicher Energie- und Chemietechnologien, in kritischer Beobachtung der Entwicklung auf gentechnologischem Gebiet, für Technologiefolgen-Einschätzung als eine der zukünftigen Hauptaufgaben unserer demokratischen Parlamente,

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– für die Beendigung des Wettrüstens und die Entwicklung neuer Denkschemata zur Bewahrung des Friedens, – insgesamt für eine Politik, die eine möglichst umfassende Entwicklung der Persönlichkeit vor anonyme Interessen stellt. (…)

3. Holger Grünke [für : Deutscher Pfadfinderbund Hamburg]: Brief an Thomas Grothkopp vom 2. September 1987 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 121. Lieber Tom, mit großem Interesse haben wir innerhalb des Bundes den Entwurf einer Erklärung zum Meißner-Tag 88, in der Fassung vom 14. 6. 1987, diskutiert. Das Zwischenergebnis, der noch andauernden Diskussion, möchte ich Dir mitteilen. Die Teile 1 und 2 des Entwurfes finden unsere Zustimmung. Eine Erklärung zum Meißner-Tag sollte nach unserer Auffassung aus einer zeitlosen Wortwahl bestehen. Begriffe, die durch die Tagespolitik eindeutig belegt sind, die dem Wortschatz von Psychologen und Soziologen entstammen, halten wir für deplaziert. Wir sind der Auffassung, daß die Meißnerformel, gerade aufgrund ihres zeitlosen Inhaltes, nicht an Bedeutung verloren hat. Die in ihr enthaltenen (drei) zentralen Aussagen sind nicht allgemein gültig zu erklären. Sie sind, wie in Teil 1 treffend erklärt: abhängig von Geist, Leib und Seele. Der dritte Teil findet nicht unsere Zustimmung. Er enthält weitgehend Aussagen und Forderungen, die einem Parteiprogramm entnommen sein könnten. Die dort zum Ausdruck kommenden Inhalte sind bereits in Teil 1 und 2 ausreichend beschrieben. Diese zusätzliche Konkretisierung mag für eine Gruppe oder einen Bund zutreffen, kann aber nicht für alle gelten. Neben der parteipolitischen Zuordnung sehen wir Probleme in der Umsetzung, der Verwirklichung dieser Forderungen. Unsere Mittel sind das Erlebnis und die Erziehung innerhalb der Gruppe und während der Fahrten. Die hier erfahrenen Werte und Normen und ihre Umsetzung durch unsere Mitglieder in der Gesellschaft kann eine Änderung der Gesellschaft herbeiführen. Nicht aber Forderungen, deren Realisierung aussichtslos sind. Wir würden uns damit auf die Stufe der Vereine begeben, die zum Teil medienwirksame Erklärungen abgeben, die aber ohne jede Wirkung verhallen. Unsere Stärke liegt im Morgen, im Erfassen des ganzen Menschen und einer Arbeit ohne große Schlagworte. Es heißt: »Steter Tropfen höhlt den Stein«. Dies ist unser Weg, im Stillen, mit wenigen Worten aber konsequent an uns arbeitend. (…)

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4. Gemeinsame Erklärung 1988, beschlossen auf der Bundesführerversammlung Ende November 1987 auf Burg Ludwigstein, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 37. Mit Betroffenheit verfolgen wir den Weg, auf dem die heutige Zivilisation voranschreitet. Die unverantwortliche Zerstörung der Natur, die Vereinsamung der Menschen und die Abkehr von Qualitäten des Lebens gefährden die Existenz der Erde und ihrer Geschöpfe. In der Suche nach einem neuen würdigen Weg der menschlichen Kultur sehen wir die Aufgabe eines jeden, der der heutigen Zeit gerecht werden will. Ihre gemeinsame Suche wollen die einzelnen Bünde, Gruppen und Persönlichkeiten im Sinne der Meißnerformel von 1913 nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit gestalten.

5. Stellungnahmen zur »Gemeinsamen Erklärung der Bünde zum Meißnerlager 1988« von Eleonore Nebelsiek, Lothar Meiß, Frank-D. Pölert und Ekkehart Krippendorf (Auszug), in: Idee und Bewegung Heft 3, 1988, S. 15 – 18. Eleonore Nebelsiek: Lieber Gerhard!23 Du fragst mich nach meiner Meinung zum Meißner-Formel-Vorschlag der jungen Bünde. Ich will es Dir sagen: Ich war schlichtweg glücklich, als ich ihn las. Du sollst auch wissen, warum. Zunächst ist der Inhalt der Formel etwas, mit dem sich jeder heutige Mensch Tag und Nacht beschäftigen müßte: Die Umweltzerstörung, die befürchten läßt, daß die Erde eines Tages unbewohnbar wird. Die Jugendbewegung entzündete sich an der Tatsache, daß die Jugendlichen keinen ihnen gemäßen Platz in der Gesellschaft hatten. Unsere heutige Lage ist so, daß wir, wenn die Menschheit so weitermacht, möglicherweise alle keinen lebenswerten Platz mehr auf dieser Erde haben werden. Ich habe schon oft gedacht, daß sich an diesem Punkt eigentlich eine neue 23 Gemeint ist der Pädagoge Gerhard Neudorf (1939 – 2014), Herausgeber und Schriftleiter von »Idee und Bewegung« bis 2013/2014.

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»Jugendbewegung« entzünden müßte. Eine »Jugendbewegung«, die quer durch alle Altersstufen und Bevölkerungsgruppen gehen müßte. Und nun lese ich, daß sich die jungen Bünde auf eine Formel geeinigt haben, die den Anstoß für eine solche Entwicklung geben könnte. Du siehst, die Beschreibung meiner Empfindungen beim Lesen mit »glücklich« ist wirklich nicht übertrieben. Natürlich sollte man auf eine gute Sprache achten. Trotzdem können einige Unebenheiten die unmittelbare Wirkung erhöhen. Und: Diese Formulierung hat ihre erste Bewährung hinter sich, man hat sich spontan auf sie geeinigt. Auf eben diese Spontaneität kommt es an, wenn größere Kreise angesprochen werden sollen. Reiner Rolffs Vorschlag ist poetischer. Spricht er darum mehr Menschen an? Ich meine: Nein, denn die poetische Sprache mildert auch die Härte der angesprochenen Tatsachen. Reiner Rolffs Kritik ist dennoch berechtigt. Ich würde aber trotzdem nicht allzuviel ändern, auf jeden Fall aber : »… Weg, auf dem die Menschheit voranschreitet …« in: »dahintreibt« oder »bergabgleitet« o. ä. Wenn einzelne Bünde Eigenes dazu sagen möchten, wäre es kein Unglück. Wenn nur diese gemeinsame Formel deutlich hervorgehobener Kern aller weiteren Äußerungen bliebe. Kurz, eine solche Formel ließe mich wieder ein bißchen mehr hoffen. Euch allen, die Ihr Euch um ein würdiges Meißnerjubiläum müht, herzliche Grüße! Lothar Meiß: Lieber Gerhard, (…) Eine kurze Formel für den Meißner zu finden, die einerseits in unsere Zeit, in das Suchen nach Auswegen aus den äußeren und inneren Krisen, in die wir alle verwickelt sind, paßt, und doch das Besondere der Jugendbewegung hervorheben und verdeutlichen will, ist natürlich fast unmöglich. Aber ich finde es gut, wenn viele Menschen ihren Kopf zerbrechen. Mir sind die Vorschläge zu nebulös und allgemein. Ein Landwirt vom Dottenfelder Hof sagte neulich kurz und bündig: Es kommt heute darauf an, daß jeder Mensch selbständig sein Tun und Denken bestimmen will, und daß andererseits niemand seinen Willen auf Kosten anderer, seien es Tiere, Wälder, Menschen oder zukünftige Generationen, durchsetzen darf. In diesem Satz sind doch die beiden Eckpunkte markiert, um die sich heute alles dreht. Für den Meißner, und für die Entwicklung der Jugend ganz allgemein, ist aber natürlich außerdem deutlich zu machen, daß ja heute die Jugend und Kindheit selbst unmittelbar bedroht sind. Hier müßten konkrete Ziele formuliert und vor allem die derzeitige Lage umfassend analysiert werden. Zum Ludwigstein werde ich wieder kommen (…). Zum Meißner möchte ich

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auch gern pilgern. Der Themen und Zentren scheint es ja beinahe zu viele zu geben, aber schön, daß so viel Interessantes getan werden soll. Frank-Dietrich Pölert: Lieber Gerhard, (…) inzwischen bin ich im Heft 2 von Idee und Bewegung vorangekommen. Die Meißnererklärung aus der Neuen Trucht24 finde ich ziemlich unerträglich. Das sind ja wirklich nur Leerformeln, wie sie jeder drittklassige grüne Landpfarrer allsonntäglich predigt. Wenn schon ein Text »Mit Betroffenheit …« beginnt, dann ist es geradezu beruhigend, daß die »Zivilisation voranschreitet«. … Je weiter ich die »Formel« lese, umso mehr reizt es mich, zum roten Stift zu greifen. Lieber nicht … ketscha Ekkehart Krippendorf: lieber gerhard, ich bedanke mich fuer die wiederholte zusendung des rundbriefes. schmunzelnd lese ich die liste fast vergessener namen. sie erweckt erinnerungen an gute menschen, situationen und erfahrungen. aber zum schreiben langte es noch nicht. ein grund ist, daß mein deutsch recht rostig geworden ist. ich lebe seit vielen Jahren in einem fernen land [USA, Philadelphia; SP] mit eigenen problemen. mein hiesiges engagement – kommunikation, epistemologie, ökologie, design, ethik, kybernetik und zen – hat sich ohne zweifel auf den erlebnissen im wandervogel aufgebaut, ist aber weit darüber hinausgewachsen. und nimmt mich sehr in anspruch. vielleicht bin ich auch weiser geworden und nicht sicher, was ich zu den gesprächen beitragen kann. doch dann kam die idee, die meißnerformel von 1913 aufzufrischen. der erste gedanke, der mir dabei kam, muß wohl dem geähnelt haben, der den konstruktiven protest gegen das feiern des 100-jährigen Jubiläums der völkerschlacht auf dem hohen meißner motivierte. soll man den beginn einer protestbewegung feiern? kann man stolz darauf sein, was daraus wurde? was sind schon 75 jahre? wer feiert hier was? danach kam der entwurf einer gemeinsamen erklärung (rundbrief 2, S. 9), die kaum etwas positives beinhaltet und die ursprüngliche formel zum paradox macht: die meissner-formel von 1913 war revolutionär : »eigene bestimmung«! »eigene Verantwortung«! »innere Wahrhaftigkeit«! in einem bürgerlich kaiserlichen deutschland. in dem man gewohnt war, befehle zu befolgen, verantwortung 24 Wohl die Zeitschrift »Polarstern. Zeitschrift der Neuen Trucht«, Periodikum des 1982 gegründeten Bundes »Neue Trucht. Wandervogel e.V.«

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nach oben abzuschieben, und sich hinter historischen fassaden, uniformen, elitären kulturvorstellungen und äußeren zeichen des wohlstands zu verstecken! dazu gehörte schon mut. im krassen gegensatz dazu beginnt die erklärung von 1988 reaktiv: »mit betroffenheit verfolgen wir …«, lamentiert dann über »unverantwortlichkeit«, »abkehr von … Qualitäten«, droht mit »existenzgefährdung«, kurzum, sie beschreibt eine verrottende gesellschaft, weint einer verlorenen zeit nach (an deren verlust die schreiber natürlich völlig unschuldig sind!), und drückt eine allgemeine ohnmächtigkeit aus. der dritte paragraph versucht dann etwas wertvolles zu sagen, was allerdings jeder unterschreiben kann, ohne auch nur über sein leben reflektieren und sein verhalten ändern zu müssen. wer könnte schon gegen einen »würdigen weg« sein, wer gegen »zeitgerechtes handeln«, wer gegen »menschliche kultur« (solange sie oder er das privileg beansprucht, kultur zu haben)? das sind kaum ernst zu nehmende plattheiten ohne praktische konsequenzen. was mir besonders weh tat, ist die möglicherweise unbewusste, aber falsche kontextualisierung der meißnerformel im vierten paragraph. die formel von 1913 spricht nicht für organisationen, bünde, gruppen und (vermutlich wichtige) persönlichkeiten, wie die von 1988, sondern für eine gesamtheit von einzelnen. das war damals und ist noch heute wichtig. die am hohen meissner versammelten waren sich wohl bewußt, daß sich die organisationen, parteien, kirchen, interessengruppen u.s.w. für die jugend interessierten und wollte sich nicht vor die wagen anderer spannen lassen. es war ein versuch innerer emanzipation, die persönliche verantwortung den existierenden organisationen zu entziehen, dem einzelnen zu übergeben und mit den damit eröffneten möglichkeiten neue soziale wege zu erschließen. tatsächlich entstanden eine vielzahl neuer gemeinschaftsformen, die diese emanzipation zu unterstützen suchten und deren legendäre autonomie sich immer wie ein roter faden durch die geschichten aller gruppen, bünde und sozialen experimente flocht. bünde können keine verantwortung übernehmen, nur individuen können das tun (siehe die nürnberger gesetze). nur diejenigen, die das verstanden hatten und so handelten, konnten im dritten reich widerstand leisten und können auch heute noch ihre eigenen wege gehen. die anderen verkauften sich bald oder wurden zu mitläufern. der vierte Paragraph dreht also die meißnerformel auf den kopf, indem sie blinden, gruppen und persönlichkeiten (vielleicht sogar noch führern) genau die verantwortung gibt, von der sich die jugend von 1913 zu befreien suchte. verantwortung kann nur der übernehmen, der sich selbst versteht, unabhängig denken kann, zu alleinigem handeln bereit ist; und das heißt, nicht von hierarchischen organisationsformen (einschließlich der eines bundes) abhängig zu sein. nur individuen können fackeln tragen, sich die hände reichen und aus

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gefängnissen ausbrechen. (einer meiner freunde definierte faschismus einmal als ein system, in dem das leben des einzelnen gegenüber dem leben des ganzen entbehrlich ist. die neue formel enthält eine vielleicht unbewußte einladung dazu.) die längere fünf-punkte fassung (auf gleicher seite 9) spricht von zwar wissenschaftlich richtigen Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten, deren unspezifische allgemeinheit aber nur auf zwänge aufmerksam macht und ohnmacht reiffiziert, ohne hoffnung, einen weg aus dieser lage auch nur zu erdenken. das sieht die obrigkeit gern. mein vorschlag ist die historische meißnerformel zu verallgemeinern, ihr aber eine polito-psychologische, eine soziologische und eine ökologische interpretation hinzuzufügen. also: (1) WIR SEHEN DIE GÜLTIGKEIT DER 1913 AUF DEM HOHEIT MEISSNER GEPRÄGTEN FORMEL NICHT NUR FÜR DIE ALS SOLCHE NICHT MEHR EXISTIERENDE FREIDEUTSCHE JUGEND, SONDERN ERKENNEN IN IHR EINE LEBENSBEJAHENDE NOTWENDIGKEIT FÜR ALLE. ZUM ALKOHOL UND NIKOTIN HABEN SICH HEUTE ANDERE BETÄUBUNGSMITTEL GESELLT, Z.B. DROGEN UND MASSENMEDIEN. EINE SAUBERE UMWELT, EIN GESUNDER GEIST, UND EIN HANDLUNGSFÄHIGER KÖRPER SIND FÜR UNS UNKOMPROMITTIERBARE WERTE. (2) MEHR ALS JE ZUVOR HABEN WIR DIE MÖGLICHKEIT, UNSERE POLITISCHE UND PSYCHISCHE VERGANGENHEIT ZU VERSTEHEN UND WOLLEN UNS GEGENSEITIG HELFEN, UNS VON ALLEN FORMEN DER OPPRESSION ZU EMANZIPIEREN. (das heißt: sich zu einem prozeß kontinuierlicher innerer befreiung durch reflexion, kommunikation und bewußtwerdung sozialer verhältnisse zu verpflichten). (3) WIR HABEN IMMER DIE MÖGLICHKEIT UND DAS RECHT, TEILNAHME AN HIERARCHISCHEN ORGANISATIONSFORMEN, GEWALTAUSÜBUNG JEDER ART, EINSCHLIESSLICH KRIEG ZU VERWEIGERN, UND SETZEN UNS FUR DAS SCHAFFEN VON KOOPERATIVEN (HETERARCHISCHEN) GEMEINSCHAFTEN AUS VERANTWORTLICHEN EINZELNEN BESTEHEN AKTIV EIN (das heißt durch sozial bewußte gestaltung respekt für andersgesinnte, zusammenarbeit und frieden zu fördern.) (4) WIR BESITZEN DIE TECHNISCHEN MÖGLICHKEITEN, HARMONISCHE BEZIEHUNGEN MIT UNSERER UMWELT HERZUSTELLEN UND FÜR DIE ZUKUNFT ZU SICHERN UND WOLLEN DER VIELZAHL VON ANDEREN KULTUREN, LEBEWESEN UND PFLANZEN DAS GLEICHE LEBENSRECHT GARANTIEREN, DAS WIR FÜR UNS SELBST BEANSPRUCHEN. (das heißt, unser ökologisches System, das uns hervorgebracht hat und nährt, in seiner vielfältigkeit zu erhalten, zu bereichern und vor ausbeutung zu schützen).

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diese aufgaben sind eine bewegung wert. sie entsprechen in etwa denen, die die fortschrittlichsten denker in anderen teilen der welt zum handeln motivieren! wie gesagt: ich wohne in des hohen meißners ferne mit menschen, die in ihrer eigenen weise an sich arbeiten, kriegsarbeit verweigern, kooperativ handeln und sich selbst, andere und die erde respektieren. an einem gespräch über eine fruchtbare erklärung würde ich schon ganz gerne teilnehmen. ob ich aber im oktober nach deutschland kommen kann, bezweifle ich. ich kann dich, gerhard, daher nur bitten, vielleicht mir das deutsch meines vorschlages zu verbessern, ihn interessierten personen zur kenntnis zu bringen, und wenn es irgendwo sinnvoll erscheint, zur diskussion zu stellen, bevor es zu spät ist. vielleicht sollte man zu einer ernsteren internationalen arbeitstagung anstelle eines jubiläumsfestes einladen. mit vielen grüßen und mit bleibender verbundenheit zu dem, was ich im wandervogel lernte klaus

6. Christian Geyer : Probleme haben die Wandervögel nur mit ihren Lederhosen (Auszug), in: Die Welt vom 5. 4. 1988.25 (…) Hier muß es irgendwo sein, das »Wangenrot und Allgemein-Märzhafte«, worin sich nach Ernst Bloch die Wirkung der Jugendbewegung erschöpft habe. 25 In diesem Artikel wird das Meißner-Fest des Jahres 1988 lediglich am Rande erwähnt, das bevorstehende Jubiläum scheint vor allem ein Anlass zu sein, sich mit jugendbewegter Restgeschichte zu befassen; der Autor widmet sich den Nerothern, die sich 1988 vom Meißnerfest distanzierten. Vgl. HNA vom 17. 10. 1988: Nerother Wandervogeltreffen in Witzenhausen. Darin heißt es: »In Kniebundhosen, Kappen und festem Schuhwerk waren sie aus allen Teilen der Bundesrepublik nach Witzenhausen gereist: Rund 500 Nerother Wandervögel begingen am Freitag abend im Bürgerhaus mit einem Konzert ihr Fest zum 75jährigen Jubiläum des Meißner-Treffens 1913. (…) Die Gründe, warum sich die Nerother an dem Treffen nicht beteiligten, nannte Bundesführer Fritz-Martin Schulz in seiner Festrede. Schulz warf den Jugendpflegeverbänden, die ›durch Annahme sozialer, politischer und pädagogischer Aufträge klar als solche definierbar sind‹, vor, dass sie sich als Erben einer Bewegung sähen, die sie gar nicht begriffen. 1913 hätten die Bünde ihre Übereinstimmung in eine Formulierung gegossen, die auch heute noch gültig sei: die Lebensgestaltung ›aus eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit.‹ Diese ursprüngliche Forderung der deutschen Jugendbewegung richte sich an den einzelnen Menschen, nicht aber an die Gesellschaft als Ganzes. Gesellschaftliches Engagement bezeichnete Schulz als falschen Weg. (…) Am Samstag hatten die Nerother ihr Programm mit einer Wanderung zum Hohen Meißner und einer Abendveranstaltung für alte und junge Nerother fortgesetzt.« Die vollständige Ansprache von FM findet sich in der Broschüre »Meißner-Treffen 1913 – 1988« im AdJb.

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Nach dem Märzhaften muß man in der Tat nicht lange suchen. Schließlich haben wir uns für den Besuch bei den »Nerother Wandervögeln« das letzte Wochenende im Monat März ausgesucht. Und rote Wangen? Bei näherem Hinschauen entdeckt man unter den etwa drei Dutzend Jugendlichen auch das eine oder andere leicht gerötete Gesicht. Entlarvt sich hier also nun der ideologische Hintergrund der Jugendbewegung oder das Lampenfieber vor dem Auftritt? Angesichts des vollbesetzten Bürgerhauses in Saarbrücken-Burbach spricht zunächst einiges für die letzte These. Etwa 300 Leute sind gekommen, um die Generalprobe für die Deutschland-Tournee der Nerother Wandervögel mitzuerleben, die morgen in Hamburg ihren Auftakt nimmt und im weiteren Verlauf durch die Städte Wiesbaden, Bonn, Stuttgart, Nürnberg und München führt. Das Wort »Tournee«, das manch einer der Burbacher Besucher stolz im Munde führt, klingt den Nerothern freilich etwas vollmundig. Wenn sie Kostproben ihres Liedgutes geben und mit Diavorträgen ihre Geschichte dokumentieren, haben sie kein öffentliches Spektakel im Sinn. Es reicht ihnen zu zeigen, daß sie noch da sind – als die »letzten Wandervögel« der Republik, wie es ein VeranstaltungsPlakat formuliert. Ja, es gibt sie noch, die Überbleibsel der klassischen Jugendbewegung, die im Herbst diesen (sic!) Jahres die 75. Wiederkehr des Meißner-Tages feiert, an dem sie sich ihr Programm gab. Im Unterschied zu vergleichbaren Gruppierungen wollen die Nerother Wandervögel bewußt ihren jugendbewegten Gründungsgeist hochhalten. Und zwar »kompromißlos, ohne Abstriche«, wie ihr Bundesführer Fritz-Martin Schulz (von seinen Getreuen nur »FM« genannt) betont. (…) Als betont unpolitische Gruppierung erlebten die Nerother (…) ihre Blütezeit zwischen den Weltkriegen, bevor sie 1933 von den Nazis zur Auflösung gezwungen wurden. Obwohl zahlenmäßig schon damals eher unbedeutend, meinten maßgebliche NS-Führer – darunter Himmler und Goebbels –, daß man mit der »Überwindung des Nerother Wandervogels ein wesentliches Element jugendoppositionellen Widerstands aushebeln könne«. Hier war offenbar eher an jene Form des Widerstands gedacht, die nicht Rebellion war, sondern der Versuch, trotz totalitärer Bedrängung seine Eigenart zu bewahren. Zurück zu Robert Oelbermann, der 1941 im Konzentrationslager Dachau starb, während sein Bruder Karl, gegen den im Rahmen der NS-Aktion zur »Vernichtung bündischer Reste« Haftbefehl vorlag, mit einer Spielschar durch Südafrika zog und in den fünfziger Jahren die versprengten Bund-Relikte neu zusammenführte. Was sind das für junge Leute, die sich im Zeitalter der Walkmen, Diskotheken und Vespa-Roller-Romantik zusammentun, um bei Wind und Wetter durch Deutschlands Mittelgebirge oder die Wälder Alaskas zu wandern? Die in Lederhosen, Fahrtenhemd und Halstuch zu Laute und Gitarre greifen und die alten Weisen aus der Volksliedsammlung »Zupfgeigenhansl« singen? Die das Abko-

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chen und Nächtigen im Freien den Küchen und Kojen der Jugendherbergen vorziehen? »FM« Schulz stört nicht das »Gerede von Leuten, die uns argwöhnisch beäugen, nur weil sie uns nicht ins Rechts-Links-Schema einordnen können.« Er sieht die Nerother vielmehr als »Avantgarde von übermorgen«. In dem um sich greifenden »Überdruß am dekadenten Konsumklima« erblickt er weiterhin einen Nährboden der Wandervögel. »Viele, die zu uns kommen, wollen sich bewußt fordern, weil sie sich im Alltag verhätschelt vorkommen«, sagt er. Gelegenheit dazu besteht etwa bei den Bauarbeiten an der Burg Waldeck, dem Zentrum des Bundes im Baybachtal bei Kastellaun. Dabei lehnt man öffentliche Zuschüsse bewußt ab. Und das nicht nur, weil die eigene Hände Arbeit den Stolz der Burgherren ausmacht. Die Unabhängigkeit von staatlichen Beihilfen gehört vielmehr wesentlich zur Philosophie des Bundes, der sich scharf gegen den »Geist der Jugendpflege« abgrenzt, wie der »FM« hervorhebt. Er attackiert die Funktionärskader der Verbände, in denen »eitles Postendenken« den Elan lähme. Bezuschußt werde häufig nur noch die »Beschäftigungstherapie«, der Finanzierungsplan ziehe nur allzuoft »Korruption und Betrug« nach sich. »Wie oft werden da Teilnehmerlisten und Abrechnungen manipuliert, um mehr Geld zu erhalten. Allein das ist für uns schon ein Grund, öffentliche Beihilfen abzulehnen, für das Fahrtgeld zu jobben und beim Burgbau selbst Hand anzulegen.« Michael Swidersky, der der Wiesbadener Ortsgruppe »Grimme Leuen« (Grimmige Löwen) vorsteht, ist einer derjenigen, die schon viele Wochenenden für die Herrichtung der Burg geopfert haben. Als angehender Bauingenieur kommt die berufliche Leidenschaft hinzu. Freilich gibt es auch für ihn Grenzen der Zumutbarkeit. Die liegen beispielsweise bei den Verpflegungsrationen der letzten Amerika-Großfahrt: »Morgens drei bis vier Löffel Haferflocken. Mittags jeweils ein Stück Karotte, Zwiebel, Apfel und zwei Scheiben Toastbrot. Abends 250 Gramm Linsen für vier Personen.« Er verzieht leicht das Gesicht: »Da kommt man nach vier bis sechs Wochen recht abgemagert nach Hause.« Aber so muß es nun einmal sein, wenn man gezwungen ist, das Gepäck zu rationieren auf tagelangen Märschen durch unberührte Natur. »Auf Fahrt« lebt man grundsätzlich aus einer gemeinsamen Kasse und Muttis unvermeidliche Rucksackspezialitäten werden zu Beginn ohne Rücksicht auf widerstrebende Gefühle in der Runde verteilt. »Das ist doch Ehrensache«, meint ein Steppke von zwölf Jahren aus Erftstadt. Schwerer, so sagt er, falle es ihm, Lederhosen zu tragen. »Denn da lachen meine Klassenkameraden immer.« »Ich kann es nicht gelehrt beschreiben, aber wir wissen, was das ist: Freundschaft«, sagt der »FM«. Für Hans-Georg Schäfer, der in Clausthal-Zellerfeld Geophysik studiert, ist dies ein wesentliches Motiv, um den Nerothern auch in der Studienzeit noch die Treue zu halten. »Vielleicht wissen Sie nicht

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direkt, was ich meine. Aber hier erlebt man Freude, echte Freude und nicht nur Spaß«. Es scheint ganz so, als habe Ernst Bloch zu kurz gegriffen.

7. Thomas Grothkopp [als Sprecher des Arbeitsausschusses zum Meißnertreffen 1988], AdJb A 210 Nr. 122. Leserbrief zu »Probleme haben die Wandervögel nur mit ihren Lederhosen« von Christian Geyer in: Die Welt vom 5. 4. 1988, siehe Quellenauszug Nr. 6. Sehr geehrte Redaktion, Zu kurz gegriffen ist es, wenn sich der Nerother Wandervogel mit wandern, singen, sich fordern und Unabhängigkeit von staatlichen Beihilfen als »Avantgarde von übermorgen« bezeichnet. Nicht die aktuellen Methoden und Prinzipien oder gar das Hochhalten jugendbewegten Gründungsgeistes der 20er Jahre kennzeichnen die Avantgarde, sondern immer nur das Weiterführende, das Wegweisende. Richtungsweisend wollen die übrigen ca. 60 Jungen Bünde wirken, die sich im Oktober 1988 zur 75-Jahr-Feier am Hohen Meißner treffen. In einem fünftägigen Zeltlager werden sich über 3.000 junge Menschen mit Zielsetzungen, Methoden und Grundelementen ihrer eigenen Bewegung und ihrem Verhältnis zu Gesellschaft, Umwelt und mit ihrem eigenen Zukunftsverständnis auseinandersetzen. Die wesentlichen Merkmale einer die Wandervögel, Jungenschaften und viele Pfadfindergruppen umfassenden Bewegung sind weitreichender : Freiwillige Zugehörigkeit zu einer Kleingruppe mit einem hohen Maß an Verbindlichkeit und Stilbildung, auf Überzeugungskraft und Begeisterungsfähigkeit basierende Einübung sozialen Verhaltens, selbstbestimmte Gestaltung von Gruppenabenden, Wochenend- und Großfahrten bis hin zur mehrwöchigen Auslandsfahrt, eine breite Betätigung auf musischem, kulturellem und praktischem Gebiet von Singen und Musizieren über Werken, Theater, Sport, Umweltkundschaften bis hin zu Bergsteigen und Segeln. Der Nerother Wandervogel ist ein wichtiges Phänomen der traditionellen Jugendbewegung. Wer heute jedoch avantgardistische Ansätze der autonomen, von Erwachsenenorganisationen wie Kirchen, Parteien und Gewerkschaften unabhängigen Jugendbünde sucht wird Antworten eher auf dem Meißnertreffen 1988 finden.

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8. Fritz Uplegger : Brief an Thomas Grothkopp vom 15. April 1988 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 124. (…) Es ist gewiß sehr glücklich, daß die Bundesführer sich auf diese knappe Erklärung geeinigt haben, die die heutigen Gefahren anspricht und die dann in den alten Meißner-1913-Worten ausmündet. Diese Worte sollten für uns alle mehr sein als »Meißener-Formel«. Wir nehmen die drei Leitbegriffe daraus doch voll ernst, weil es der künftigen Mannschaft, die aus bündischer Einstellung hervorgeht, gewiß nicht erspart bleiben wird, womöglich sehr beträchtliche künftige Gesellschaftsentscheidungen verantwortlich mitzutragen und dies aus eigener, nicht von den Mächten und Autoritäten bevormundeten Bestimmung und wahrheitliebend ohne Illusionen. Hoffen wir, daß sie dann besser gerüstet als wir einst auch unter schweren Umständen »geschlossen dafür eintritt.« (…) Wir stehen gar nicht mehr in einer Ära spezifischer Jugendbewegung und gar nicht mehr in Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. Das ist vorbei. Jetzt stehen alle drei Generationen der einst und heute bündisch Bewegten in einer gemeinsamen Diskussion und Klärung dessen, was uns bewegt: – Der soziale und moralische Gesamt-Gestaltungsauftrag ist die Bewegung aller Bewegten gegen die stur oder ratlos Unbewegten. Daher hat die Jungenschaft gar keine neuen, sondern die bewährten Lebensformen. Daher gibt es gar keine neue Stufe von Emanzipation. Aber das allseitige Bemühen aller Bewegten geht ums Begreifen und um die Leitbegriffe der künftigen Verantwortung. Daher nehmen wir alle ja auch recht ernst, daß es neue Sprachregelungen geben soll, aber keine neuen ideologischen Programme. Denn die Zeit, in der die weltanschaulichen Mächte idealistisch-philosophisch oder ideologisch-machtpolitisch das »Volk« und »die Jugend« erziehen wollten, ist für uns, die Bewegten vorbei. (…)

9. Gerhard Kluchert: 75 Jahre Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner. Manuskript zur Radiosendung »Kulturtermin« im SFB 1 (Auszug) (5. Oktober 1988, 19:05 – 19:30 Uhr), AdJb A 210 Nr. 126. (…) Von heute aus betrachtet mag vieles an der damaligen Jugendbewegung fremd und merkwürdig erscheinen, angestaubt wie die Plüschwohnzimmer der Zeit, aus denen die Jugendlichen flohen. Einiges von ihren Einstellungen aber hat sich noch nicht überlebt, zum Beispiel die Sehnsucht nach einem einfachen und harmonischen Leben in überschaubaren Zusammenhängen. Der Blick in die

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gegenwärtige Alternativszene beweist es. Eine immer komplexer und anonymer werdende Gesellschaft produziert diese Sehnsucht offensichtlich stets aufs neue. Und gerade die Jugend, die in das gesellschaftliche Leben noch nicht völlig eingepaßt ist, zeigt sich dafür von Zeit zu Zeit empfänglich. So könnte man im Gedenken an den Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner mit einigem Recht ausrufen: Die Jugendbewegung ist tot. Es lebe die Jugendbewegung!

10. Thomas Grothkopp: In wenigen Wochen ist es so weit!, in: Die Buschtrommel Heft 3 (1988), S. 1 f. Vor vier Jahren fand das erste Gespräch zur Vorbereitung des Meißnerjubiläums 1988 statt. Auf vier Bundesführertreffen wurde seither diskutiert, um Meinungen gestritten, Übereinstimmung gefunden oder auch herausgestellt, wo kein Konsens zu finden ist. Die Versammlung hat sich in dieser Zeit nicht erpressen lassen, sondern immer wieder klargemacht: Querelen zwischen Gruppen, Abspaltungen, Gegengründungen sollen auf dem Meißnertreffen keine Rolle spielen. Jeder darf und soll seine Position deutlich machen, wenn notwendig auch überpointieren, wenn es der Klarheit dient. Er hat jedoch die persönliche Meinung eines anderen zu respektieren – auch die einer Gruppe. Die Gemeinsamkeit des Lagers vom 12. bis 16. Oktober sind Verbindlichkeit, auch im Verhältnis zum Lager, das Prinzip der Kleingruppe im Bund als Erlebnis- und Selbsterziehungsgemeinschaft, weitgehende Autonomie von Erwachsenenverbänden und Ideologien und die Tatsache, sich nicht in erster Linie als Älterengemeinschaft, sondern als Junger Bund zu verstehen. Die wichtigsten Zusammenschlüsse von Mitgliedern der bündischen Jugend früherer Generationen, die Vereinigung Jugendburg Ludwigstein und der Freideutsche Kreis, treffen sich hiervon unabhängig auf dem Ludwigstein und im Meißnerhaus und nehmen an der Meißnerfeier als Gäste teil. Das Lager bei Frankershausen besteht aus 18 Zentren, die von einzelnen oder mehreren Bünden gemeinsam getragen werden, wobei sich durchaus auch mancher Bund an mehreren Zentren beteiligt. Es wurden keinerlei inhaltliche Vorgaben für die Zentren gemacht, nicht eingeschränkt oder gar zensiert. Damit könnte das Treffen im Herbst durchaus vergleichbar sein mit der Meinungspluralität des Freideutschen Jugendtages 1913. Das geht nur, weil es sich nicht um eine Veranstaltung eines Bundes oder Verbandes handelt, sondern um eine ganz und gar freiwillige Teilnahme. Andererseits wird es schwierig sein, beispielsweise interessierten Journalisten ein repräsentatives Bild der Jungen Bünde zu vermitteln. Kürzlich fragte der Redakteur eines NDR-Fernsehteams

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nach einem Bund als »pars pro toto«. – Er hat sich letztlich für den Bund entschieden, dem er selbst vor vielen Jahren angehörte. Schwierigkeit mit dem Meißnertreffen wird derjenige haben, der gewohnt ist, in hierarchischen Strukturen zu denken und zu leben. Es gibt kein imperatives Mandat, auch keine Zäune oder gar eine Lagerpolizei. Trotzdem soll von möglichen Problemen nicht abgelenkt werden: Einzelne Zentren könnten durchaus Agitation betreiben, andere Personen oder Gruppen diskriminieren oder behaupten, ihr politischer oder jugendbewegter Erkenntnisstand sei dem aller anderen überlegen. Dagegen schützen auch die gemeinsame Erklärung oder irgendwelche Verbote nicht. Ein solches Zentrum hätte jedoch schnell die Geschäftsgrundlage dieses gemeinsam konzipierten und vorbereiteten Lagers verlassen. Drei gemeinsame Veranstaltungen sind vorgesehen. Im Mittelpunkt steht zweifellos die Meißnerfeier am 15. Oktober von 15.00 bis ca. 18.00 Uhr. Dieses Fest wird einen logischen Aufbau haben, durch die Auswahl der Redner und ihrer Themen sowie vom musischen Teil. Es sind viele Vorschläge berücksichtigt worden, beileibe nicht alle, denn diese Feier soll auch ein Erlebnis darstellen. Eingeladen sind alle Bünde und Älterengemeinschaften. Als Jubiläumsveranstaltung sollen auch Respekt und Anerkennung für die menschlichen und kulturellen Leistungen früherer bündischer Generationen zum Ausdruck kommen, auch gegenüber Menschen, die sich schwerwiegend geirrt haben und dies inzwischen erkennen mußten. Die Schwäche der Meißnerfeier ist die Möglichkeit fremden Mißbrauchs. Sicherlich gibt es Personen, die sich selbst am liebsten als Redner sehen, und Bünde, die dieses Forum gern für eine eigene Kundgebung nutzen wollen. Der Preis dafür wäre jedoch hoch, denn es könnte die gesamte Veranstaltung platzen, womit niemandem genützt wäre außer Chaoten, die ihr Ziel in der Destruktion sehen. Das wäre nicht der Stil bündischer Jugend und ihrer Tradition. Wer eine Kundgebung abhalten will, möge sich selbst die Mühe machen und sich sein Auditorium verschaffen, nicht aber Schmarotzer sein. Alkohol und Nikotin waren als Drogen nicht nur 1913 ein Problem. Sie sind auch heute die beliebtesten Rausch- und Suchtmittel unserer Gesellschaft. Vor 75 Jahren wurde gefordert, daß Freideutsche Jugendtage alkohol- und nikotinfrei sein sollten. Heutzutage beschränkt man sich darauf, Exzessen abzuschwören und auf dem Lager auf harte Alkoholika zu verzichten. Wer jedoch kommt, um sich zu besaufen oder dessen Gemeinschaft Alkohol braucht, um sich in selige Zustände zu Versetzen oder in Stimmung zu kommen, sollte sich den Weg nach Frankershausen sparen. Damit sei keinesfalls dem Spaß, dem Ausdruck von Emotionen und der Lebensfreude abgeschworen, Meißner ’88 wird dadurch auch nicht zum Abstinenzlerkongreß. Doch gehört zu »eigener Bestimmung und vor eigener Verantwortung« auch, unabhängig von Drogen zu sein. Das sollte auch auf dem Lager selbstverständlich sein.

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Diese Klarstellungen sollten genügen, um sich den wichtigeren Dingen des Lagers zu widmen: den Veranstaltungen der Zentren, inhaltlicher wie praktischer Art, dem Gemeinschaftsleben und dem mit diesem Treffen verbundenen Versuch, entscheidende Einstellungen und Aussagen der Bünde auch nach außen zu tragen, in praktischen Beispielen, in Darstellungen und Dokumentationen. In die Bünde hinein soll das. Lager ermuntern, als Mädchen und Junge, als Frau und Mann weiterhin in der Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen und niemals sich selbst als endgültig anzusehen – zumindest solange man in einer Gruppe von Jüngeren lebt und somit Vorbild ist.

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11. Ausführliches Programm, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 161 – 163.

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12. Festfolge, Einladung zur Meißnerfeier anlässlich des 75. Jubiläums des Freideutschen Jugendtages 1913. Sonnabend, 15. Oktober 1988, 15.00 Uhr bei Frankershausen, Gemeinde Berkatal, Werra-Weißner-Kreis, AdJb A 210 Nr. 115.

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13. Alfred C. Toepfer : Grußworte eines Meißnerfahrers von 1913. Ansprache auf der Meißnerfeier am 15. 10. 1988, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 11 – 13. Meine lieben Freunde, liebe Jugend, unsere Gedanken sind heute – 1988 – bei der Meißnertagung von 1913 und damit bei jenen 2500 bis 3000 Jugendlichen aus Bünden der Jugendbewegung, die auf ihre Art, abseits der großen patriotischen Feiern, des 100. Jahrestages der Völkerschlacht von Leipzig gedachten. Die Mehrheit der Teilnehmer zwischen 17 und 22 Jahren kam aus den Wandervogelbünden. Die Masse der Mitglieder, die jungen Schüler, blieben zu Hause. Die Organisatoren und überwiegend älteren Redner stammten aus verwandten Bünden und Kreisen: Knud Ahlborn und Christian Schneehagen vom Bund Deutscher Wanderer, Ferdinand Avenarius, Herausgeber des »Kunstwart«, Gustav Wyneken, Leiter der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, und Pfarrer Traub, der letzte große Sprecher. Unter den älteren Teilnehmern waren der Verleger Eugen Diederichs und Hermann Popert, Herausgeber der lebensreformerischen Zeitschrift »Vortrupp«. Mitreißende Reden, fesselnde Zielsetzungen und ermunternde Begegnungen aus dem ganzen deutschen Kulturraum in Europa bestimmten den Charakter dieser erhebenden Tage. Etliche wesentliche Erklärungen alter Wandervögel – nicht nur zu den Zielsetzungen und Auffassungen zum Meißnertag von 1913 – dürften am heutigen hohen Gedenktag interessieren. Rudolf Sievers, Schriftwart, schrieb im Oktoberheft des »Wandervogel« u. a.: »Der Wandervogel ist eine Stätte für alle, die arbeiten wollen; arbeiten an der immer innigeren Verschmelzung aller deutschen Stämme zu einem großen Volk, arbeiten am Aufbewahren der Güter unseres Volkes, arbeiten gegen die schädlichen Einflüsse, die unleugbar gerade unsere Zeit auf Alt und Jung ausübt, und arbeiten für ein unbekanntes aber leuchtendes Ziel, dem wir zusammen mit vielen kleinen und großen Verbänden nachstreben, einem Ziel, vor dem die Worte stehen: Reinheit, Wahrheit, Liebe.« Hans Breuer, der aus der Wiege des Wandervogels in Berlin-Steglitz stammt, schrieb zum Meißnertag in einem aufrüttelnden Aufsatz in der »Herbstschau 1913« u. a.: »Viele von uns waren irregegangen, hatten wieder angefangen zu ackern, zu misten und zu melken. Sie flohen zurück zur Natur statt vorwärts zu dringen zur Weltüberwindung. – Mehr Kant! Mehr Evangelium der Arbeit! Das flutscht besser. Rechte Wandervögel bleiben Wandervögel ihr Leben lang, aber nicht Tippler mit dem Stenz in Bleiben und Winden, sondern Wanderer des

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Berufs und der Arbeit. Was früher Erfassung der Heimat, historisches Werden war, heißt jetzt Gründlichkeit und Vertiefung der Arbeit, Idealismus des Berufs.« Als einer der wenigen noch lebenden Teilnehmer jenes ersten Meißnerfestes der deutschen Jugendbewegung, als eines ihrer damals noch jungen Glieder, der ihre Forderungen und Absichten in einem langen erfolgreichen Arbeitsleben wahrzumachen versucht hat, danke ich Euch, daß Ihr Euch bewußt in der Nachfolge von damals wißt. Und ich möchte Euch für Euer Streben noch etwas sagen: Zwei alte Wandervögel der Jahre vor dem ersten Weltkrieg trafen sich im Frühjahr 1943 – dem Höhepunkt des zweiten Weltkrieges – als Hauptleute beim deutschen Militärbefehlshaber in Frankreich. Es kam zu regelmäßigen Aussprachen in einem abgeschlossenen, einsamen Park in Paris über eine zeitgerechte fällige europäische Neuordnung. Das Ergebnis war Ernst Jüngers Schrift »Der Friede«. Das war politisches Dynamit während der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Jugend von heute darf stolz auf diese zukunftsträchtige, leuchtende Tat eines alten Wandervogels sein. Aus dieser Schrift zitiere ich: »Wenn jemals, so ist heute die Stunde der Vereinigung gekommen, die Stunde, in der Europa in der Vermählung seiner Völker sich Gründung, Hoheit und Verfassung gibt. Der Krieg wird gegeneinander entschieden, der Frieden will miteinander gewonnen sein. Freiheit hat zu walten dort, wo die Menschen verschieden sind: in Geschichte, Rassen, Sprache, Sitten, Gebräuchen, Gesetzen, Bildung, Kunst und Religion. Europa kann Vaterland werden. Doch bleiben viele Mutterländer.«

Der große Franzose und Europäer Jean Monnet entwickelte dann 1943 Gedanken zur notwendigen europäischen Einheit und Zukunft. Der Lothringer Robert Schuman, der 1940 durch die Nationalsozialisten eingesperrt und bald danach durch einen deutschen Offizier und alten Wandervogel befreit wunde, schuf 1950 die ersten politischen Grundlagen zur europäischen Einigung und Einheit. Was bleibt für die Enkel? Das Wesentliche: Die nachhaltige, begeisternde Mitarbeit zur Schaffung der europäischen Union mit einheitlicher Außen-, Wehr- und Wirtschaftspolitik unter Wahrung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in sozialer Gerechtigkeit. Das Meißnerfeuer 1913 galt dem Deutschtum in Europa. Die Enkel – die heutige Jugend – sind aufgerufen, Europa zu erwandern und europäische Jugendgemeinschaften in allen Ländern anzuregen im Dienste dieser europäischen Einheit zur Festigung des Friedens sowie des weiteren kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen Aufstiegs und der Erhaltung der Natur. In diesem Sinne möge sich die Jugend aller europäischen Länder alljährlich um große, mitreißende Europafeuer versammeln. Als Meißnerfahrer von 1913 grüße ich die heutige Jugend. Möge Euer Meißnererlebnis für Euch so nachhaltig werden wie das unsrige für meine Ge-

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neration. Uns Deutschen gebührt das mitreißende Beispiel überzeugender Hingabe und Opferbereitschaft.

14. Jürgen Reulecke: Generationen der Jugendbewegung. Rede auf der Meißnerfeier am 15. 10. 1988 (Auszug), in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 14 – 26. (…) Angesichts des großen Meißnerlagers hier müßte eigentlich meine Generation kraß erstaunt sein – darüber nämlich, daß es Euch heute 1988 überhaupt noch gibt: jugendbewegte Gruppen mit Kohten und Kluft, mit Jujas und Jurten, mit Tschaitöpfen, Gitarren und Balalaiken und mit Liedern, die wir zum größten Teil noch mitsingen können. Ich gehöre zu jener Generation, die einmal die skeptische genannt worden ist, und bin in der restaurativen Adenauer-Ära in bündischen Gruppen aufgewachsen. Wir haben vor 25 Jahren – wie Ihr jetzt – ebenfalls eine Meißner-Gedenkfeier mitgemacht und sind dabei intensiv von den Älteren als Erben ihrer Jugendbewegung beschworen worden. Wenig später gerieten dann manche von uns – von den Ostermarscherfahrungen und vom Aufmüpfigkeitsbazillus der Singefestivals auf Burg Waldeck infiziert – in die 68er Studentenbewegung hinein, aktiv oder eher passiv, begeistert oder auch linke Unterwanderungsversuche abwehrend. Vielen war es anschließend – zum Teil bis heute – sogar peinlich, einmal in einer der angeblich so esoterischen, elitären und unpolitischen bündischen Gruppen gewesen zu sein, deren Singen – wie es damals hieß – von der Revolution ablenke. Die Jugendbewegung – das wurde uns damals von manchem Kritiker gesagt – sei ja eigentlich bereits tot; und nach 1970 erschien sie zunächst noch töter als je zuvor zu sein. Was seid Ihr denn nun – könnten wir Euch ein Vierteljahrhundert nach dem Fünfzigjahrjubiläum des Meißnertreffens verblüfft fragen: (…) Die Antwort müßt Ihr Euch wohl selbst geben! Denn das unterscheidet uns Skeptiker deutlich von früheren Generationen: Wir reklamieren Euch nicht platt als unsere Erben; wir wollen Euch nicht simpel ein bestimmtes Staffelholz in die Hand drücken und mit dem Zuruf »nun lauft mal schön« auf einen abgezirkelten Weg schicken. Allenfalls hoffen wir, daß Ihr Euch aus dem großen Bündel an unterschiedlichen Hölzern, die wir und die noch älteren Generationen mit sich schleppen, die besten und sinnvollsten selbstbewußt auswählt, um damit Euren eigenen Weg zu laufen. (…) Große Worte statt bohrender Fragen gingen den vorhergehenden Generationen noch sehr viel leichter und unkomplizierter über die Lippen als uns; noch

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auf dem Meißnerfest 1963 konnte man manche pathetischen Aufrufe hören, auch wenn uns Helmut Gollwitzer in damals faszinierender Weise einen Spiegel vorgehalten und zur Selbstkritik ermuntert hat. (…) Nun hat uns also der blinde Zufall eines runden Kalendertermins – 75 Jahre Hoher Meißner – hier zusammentreffen lassen – uns, d. h. Mitglieder aus vier Generationen, der Jugendbewegung der Weimarer Republik, des jugendbewegten Widerstands im Dritten Reich, aber auch der Hitlerjugend, der Nachkriegsjugendbewegung und der heutigen bündischen Jugend. Hinzu kommt noch einer aus der legendären allerersten Generation, einer, der 1913 selbst dabei war : Alfred Toepfer, unser großer Freund und Gönner. Jubiläen wie entsprechende große Reden kommen und gehen nach dem Motto: »alle Jahre wieder« (…) Warum treffen wir uns also? (…) Wer selbstkritisch und mit innerer Wahrhaftigkeit, d. h. ohne rosarote Brille, nach Sinn fragt, muß erst einmal einige Schritte zurückgehen und Atem holen, um überhaupt mit solidem Schwung nach vorne springen zu können. Das müßt Ihr allerdings schon selbst tun! Laßt Euch nicht einlullen durch wohlfeile Geschichtsdeutungen, die die bundesrepublikanische Gesellschaft bereithält, und auch nicht durch angebliche Generationenverträge! Jede Generation muß letztlich Geschichte neu schreiben und sich neu der Geschichte stellen, das gilt auch und gerade für die Jugendbewegung und Euch, die Ihr Euch auf eine entsprechende Tradition eingelassen habt. (…) Wir haben soeben das in seiner romantischen Aussage anrührende Wandervogellied »Wir wollen zu Land ausfahren« gesungen. In seiner zweiten Strophe heißt es: »Und glüht unser Feuer an gastlicher Statt, so sind wir zu Haus’ und schmausen uns satt, und die Flammen leuchten darein.«

Mit anderen Worten: Dort, wo wir eine gastliche Statt, d. h. wo wir menschliche Nähe, humane Offenheit und offenes Gespräch finden, sind wir also nicht nur kurzfristig geborgen vor Wind und Wetter, sondern da ist unser Zuhause, da ist unsere eigentliche Heimat, die überall, wo gastliche Menschen leben, sein kann und von wo aus wir auf unserer Fahrt bereichert weiterziehen können, um eine neue gastliche Statt zu finden und auch selbst zu schaffen. Das ist keine Heimatduselei, die von der ideologischen Überhöhung eines bestimmten Ortes oder Raumes oder einer Nation lebt, sondern der Hintergrund für eine menschliche, d. h. einfühlsame Form des humanen Miteinanderumgehens und Weiterschreitens. Jedenfalls liegt Kutzlebs Liedtext im Rahmen jener frühen jugendbewegten Selbstdeutung, die sich auch in Hermann Hesses berühmtem Stufen-Gedicht aus dem »Glasperlenspiel« findet:

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»Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf ’ um Stufe heben, weiten …« (…)

Wir sind jetzt hier zwar keine einzelne Gruppe oder kleine Horte, sondern ein großer Haufen von rund 3000 jüngeren Bündischen und einigen Dutzend sogenannter Oldies, aber dennoch kein Einheitsbrei mit äußerlicher oder gar geistiger Uniform, sondern eine muntere Addition von vielen sehr unterschiedlichen Kleingruppen mit jeweils individuellem Gesicht wie sich in den letzten Tagen hier im Lager ja eindrucksvoll gezeigt hat! Vor diesem Forum traue ich mich, jetzt einen Gedanken auszuspinnen, der mir als Angehörigem der mittleren Generation und als einem von der Jugendbewegung infizierten Zeitgenossen, der zufällig zugleich auch Historiker ist, beim Blick auf die Geschichte der Jugendbewegung und unsere heutige Situation bedenkenswert erscheint. Nicht zuletzt die gemeinsame Erklärung der Bünde zu diesem Treffen hat mich dazu provoziert! »Mit Betroffenheit«, heißt es da – und es ist natürlich die negative Betroffenheit gemeint – sehe man die moderne Zivilisation auf einem Weg, der letztlich zu einem Abgrund hinführe, und es folgt dann die geradezu verängstigende Aufzählung einzelner Hauptgefährdungen, an denen ja nun wirklich kein Zweifel besteht. Wie kann man aber angesichts solcher Stimmungslage, so frage ich mich, überhaupt noch davon sprechen, wie ich es mit Rückgriff auf Hermann Hesse getan habe, wir sollten heiter Raum um Raum durchschreiten? (…) Mit dem befreienden Lachen und dem entlarvenden Witz, mit Selbstironie und gelassener Heiterkeit haben sich die Deutschen immer schon schwergetan: Die Zahl der gelungenen Komödien kann man fast an einer Hand abzählen, die Zahl der Tragödien ist dagegen uferlos. Die Freideutschen haben sich zwar 1913 massiv vom Pathos des – so Knud Ahlborn – bierernsten Reserveoffizier- und Oberlehrerdeutschland, das sich in Leipzig am Völkerschlachtdenkmal versammelte, absetzen wollen – das war eine bemerkenswerte Tat, und deshalb feiern wir sie heute –, aber auch alle der damals hier am Meißner gehaltenen Reden trieften letztlich von tiefem Ernst oder weihevoller Würde. Nicht zufällig führte man nicht etwa ein bissiges Kabarett auf, in dem man sich über die wilhelminische Plüschgesellschaft lustig machte, sondern Goethes Seelendrama »Iphigenie«. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich behaupte natürlich nicht, in den jugendbewegten Gruppen von den Steglitzer Wandervögeln bis heute sei nicht gelacht worden – das wäre völliger Blödsinn –, aber die wichtigsten Selbstaussagen der Jugendbewegung über sich und ihre Ziele strahlten immer ein umfassendes großes Wollen, eine gewaltige ernste Entschiedenheit aus, die oft in krassem Gegensatz zu ihren konkreten Handlungs-

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möglichkeiten und ihrem gesellschaftspolitischen Durchblick stand. Das führte zu Selbstüberschätzung, die aus dem Grunde bis heute ein schweres Handicap ist, weil Kritiker und Gegner die Jugendbewegung immer an den von ihr in großer Zahl produzierten, subjektiv ja ganz ernst und ehrlich gemeinten Sinnblasen und Weltverbesserungsluftballons gemessen haben. Manche wirkliche Leistungen und wichtige Impulse der Jugendbewegung fallen dabei unter den Tisch. Da hätten etwas mehr Selbstironie, ein Schuß Distanz zu sich selbst, Augenmaß und das, was wir heute die Kunst der »Selbstverarschung« nennen würden, heilsam wirken können. Das soll nun auch wiederum nicht heißen, daß die jeweilige Lage eigentlich nicht ernst gewesen sei – sie war im 20. Jahrhundert eigentlich immer ernst. (…) Die Gefahren sind die eine Seite. Über sie muß man in aller Schärfe reden, man muß sich informieren, man muß Bescheid wissen und sich klarmachen, daß es immer konkrete Interessen und Menschen sind, die die entsprechenden Schalthebel bedienen, und daß wir es an einigen Punkten sogar selbst sind, die Gefährdungen produzieren. Aber mit jenen diffusen, von Interessengruppen erzeugten und massenmedial geschürten Ängsten im Genick kann man auf Dauer nur seelisch und geistig verkrüppeln. Angst macht blind, sie lähmt, sie macht abhängig und läßt schließlich die Sehnsucht nach dem starken Mann oder der großen Heilslehre entstehen, denen man sich mal wieder an den Hals werfen kann. (…) Wenn ich das alles so sage, dann hat das mit traditioneller Zivilisationskritik nichts zu tun, sondern läuft auf den Versuch hinaus, eine Grenze zu fixieren, an der m. E. die Existenz der Marionette beginnt. Verspottet doch einfach die, die Euch ständig so triste kommen und ununterbrochen Ängste einjagen wollen oder Euch vorgefertigtes Glück unterjubeln! Macht sie lächerlich; übt durch das Lachen die »Kunst der Vernichtung von Angst« (Eco)26, die Euch abhängig machen soll! Erst dann wird der Blick scharf für das, was wirklich ist und was man realistisch tun kann. Erst dann kann man sich wirkungsvoll empören und sinnvolle Handlungsstrategien entwickeln. Das heroische Untergehen und SichOpfern ist der jungen Generation in diesem Jahrhundert schon mehrfach gepredigt worden – jetzt geht es um trickreiches, widerborstiges, phantasievolles Handeln und Zivilcourage, (…)

26 Umberto Eco in: Der Name der Rose, italienisch 1980, deutsche Übersetzung 1982.

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15. Claus Eurich: Technik, Zerstörung und Gestaltung unserer Zukunft. Rede auf der Meißnerfeier am 15. 10. 1968 (Auszug), in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 27 – 35. »Wir sind die erste Generation, die sich keinen Fehler mehr leisten darf.« Olof Palme sagte dies kurz vor seinem Tode. Er spielte auf die atomare, chemische, biologische und konventionelle Hochrüstung an. Der atomare Rüstungswahnsinn ist jedoch nur eine Facette eines Problems – und Krisenkonvergenz und gleichzeitig Problem – und Kriseneskalation, die in der Geschichte ohne Vorbild ist. Atomenergie, ob »friedlich« oder militärisch genutzt, bedroht unser aller Leben; die moderne Chemie vergiftet Mensch und Natur; die Gentechnologie greift in den Prozeß der Schöpfung und Evolution ein; die Informations- und Computertechnologien gefährden die Kommunikation zwischen den Menschen und führen zu lückenloser Verdatung, Kontrolle und Überwachung. Das Neue an dieser Entwicklung ist, daß die einzelnen Bedrohungen und die ihnen zugrunde liegenden Technologien zusammenwachsen zur Megamaschine, verschmelzen zu einer Superkrise als Überlebenskrise. Diese Krisen der Gegenwart sind Krisen des Industrialismus. Auf sie bezogen, findet Politik und Politikfähigkeit im traditionellen Sinne nicht mehr statt. Mit dem eindimensionalen Machbarkeitsverständnis des 19. Jahrhunderts, daß durch Technik Verursachtes auch durch Technik zu steuern und zu kontrollieren sei, und mit der Problemlösungsmentalität des mittelalterlichen Handwerks läßt sich keine der anstehenden Bedrohungen verstehen, geschweige denn bekämpfen. In dieser Situation leben die Menschen nebeneinander, wirtschaften nebeneinander, zerstören nebeneinander ganz so, als besitze jeder sein eigenes Universum, das, nachdem es abgewirtschaftet, beliebig erneuerbar ist. Soll unsere Zukunft als menschenwürdige Zukunft gestaltbar sein, müssen wir unser Wertsystem und unser Weltbild grundlegend ändern. Wir benötigen eine neue Ethik als Basistheorie menschlicher Lebensführung. Verantwortungsethik zielt als Leitethik immer auf die Gesamtverantwortung des Menschen für das Gesamtsystem. Sie ist Bewahr-Ethik für die folgenden Generationen. Verantwortungsethik ist zu leicht – Präventivethik. Es geht nicht um Schadenminderung und Reparatur, sondern bereits um Vorbeugung, um Vor-Sicht. (…) Mit der Zerstörung der Natur und der Sozialumwelt stehen auch die Identität und der Verwirklichungsraum der Jugendbewegung auf dem Spiel. Wir sollten schließlich einsehen, daß die Zerstörungen der Gegenwart tief in unserer Wirtschaftsweise und in unserem Alltagskonsum verwurzelt sind. Wenn wir das

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eingesehen haben, wird uns auch klar, daß Zukunft nicht die Frage der einen oder anderen Partei ist. Wir haben nicht mehr die Zeit, auf die Parteien und Großorganisationen zu warten. Wir wollen leben, in einer gesunden Umwelt, und deshalb müssen wir beginnen, die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Das erfordert zunächst eine neue Ethik. Eine Ethik als Grundbezug für unsere Lebensführung. (…) Wenn wir es allerdings ernst meinen und ernst nehmen, wenn wir anfangen, das, was wir wollen, auch zu leben, dann werden wir sehen, daß wir nicht ohnmächtig sind und der Rückzug vor den anstehenden Problemen, das Ablösen in noch vorhandene Nischen der Idylle der falsche Weg ist. Denn die Bagger, die Tiefflieger, der saure Regen und der radioaktive Niederschlag holen uns auch dort bald ein. Wir brauchen einen neuen Aufbruch. (…) Es kommt also auf jeden einzelnen an. Alleine oder in einer Gruppe, in einem Bund von gleichgesinnten Menschen. Die vielfältigen Formen in der Jugendbewegung, die Jungen Bünde, wenn sie Generationen umspannende Sozialformen annehmen, sind prädestiniert für diesen Zukunftskampf. Die Zeit der Jugendbewegung ist also nicht vorbei. Nur die Aufgaben sind andere. Gezwungenermaßen. Und das Selbstverständnis bedarf hier und dort einer Korrektur. (…) Die Zeit wird knapp. Fangen wir heute an. Nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und mit innerer Wahrhaftigkeit.

16. Rudolf Br¦e: Rede am Gedenkstein auf dem Hohen Meißner vor Mitgliedern des Freideutschen Kreises und Gästen am 16. 10. 1988, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 36. Liebe Freunde, warum wir zu dieser Stunde an diesem Ort stehen, das weiß ein jeder von uns. Laßt uns den jüngeren Freunden dafür danken, daß auch sie mit uns zusammen diesen Ort ehren! Vor 75 Jahren hat hier eine kleine Gruppe froher junger Generation auf ihre Weise ein Fest gefeiert – im Gedenken an die 100. Wiederkehr eines Ereignisses, das auch ihr etwas bedeutet hatte. Die Feiernden haben damals kaum gewußt, wie nahe dem Abgrund sie tanzten, in dem viele von ihnen dann versunken sind. Die Werte, denen sie sich damals freiwillig geopfert hatten, sind fragwürdig geworden. Sie klingen uns anders, als sie ihnen damals geklungen haben. Und wir Alten, noch einmal Davongekommenen? Sind es nicht noch die

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gleichen Vorstellungen gewesen, die auch uns verführbar gemacht haben? Wofür eigentlich hat unsere Generation schier Übermenschliches zu leisten versucht? Und wieviel an Unmenschlichem ist dabei in unserem Namen verübt worden? Auch wir haben einen Sturz getan – einen noch weit tieferen! Ihm vorzubeugen oder ihn aufzuhalten, haben wir zur rechten Zeit weder die Einsicht noch die Kraft bewiesen – sowenig wie die große Mehrzahl unserer ganzen Generation. Laßt uns der Freunde denken, die dahingegangen sind. Der Schmerz um sie ist uns allen nah und lebendig. Dennoch kann er nicht mehr sein als ein Sinnbild für den Schmerz um die Abermillionen von Menschen, die in dem Abgrund versunken sind, dessen Aufreißen wir nicht haben entgegentreten können. Den nach uns Kommenden müssen wir zurufen: Seid wachsam! Laßt Euch nicht in Dienst nehmen von falschen Götzen, die hohe Werte im Munde führen. Seid wachsam und bleibt eingedenk dessen, wohin unsere Generation geraten war.

17. Arno Klönne: Erinnerung an Zeiten der Unruhe. Erfahrungen und Gedanken im Rahmen der Zeitzeugen-Berichte des Zentrums »Hecken-Uni«, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 99 – 102. Erlebte Geschichte fügt sich oft nicht in die Deutungen und Datierungen ein, mit denen im nachhinein versucht wird, die Vergangenheit verständlich und überschaubar zu machen. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung sei, so sagen uns zumeist die Historiker, im Jahre 1933 durch staatlichen Zwang abgebrochen oder unterbrochen worden; nach 1945 seien dann die Jugendbünde wiederbegründet worden – wobei strittig sein könne, ob es sich bei dieser Rekonstruktion noch um eine wirkliche Bewegung gehandelt habe. Autobiographisch ergibt sich für mich ein anderes Bild. Als ich (Jahrgang 1931) in den Kriegsjahren bündisch-katholisches Jugendmilieu kennenlernte, war dort trotz der vom Regime erzwungenen Heimlichkeit nichts davon zu spüren, daß Lebensgefühl und Lebenspraxis der Jugendbewegung »untergegangen« wären. Es war auch, trotz aller Repressalien, nicht sonderlich schwierig, sich mit den literarischen Äußerungen des Jungenschaftsstils vertraut zu machen. Liederbücher aus dem Günther-Wolff-Verlag, Hefte der katholischen Jungenzeitschrift »Die Wacht« (aus ihrer jungenschaftlichen Phase), Bücher wie »Die Regentrommel« oder »Speerflug« gingen in diesem Milieu von Hand zu Hand, und sie waren weitaus attraktiver als das nationalsozialistische Jugend-

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schrifttum. Mit politischem Widerstand hatte dies in meinem oder in unserem Falle nichts zu tun (erst nach 1945 wurde mir klar, daß zum Beispiel die »Weiße Rose« jugendbündische Herkünfte hatte). Das Kennenlernen des jungenschaftlichen Milieus war für mich eine »Ortsbestimmung«, die gewissermaßen außerhalb der politischen Geschichte lag, die so etwas wie »Entrücken« bedeutete. Besonders eindrucksvoll war für mich damals der (schon in der NS-Zeit erschienene, dann aber öffentlich nicht mehr zugelassene) Sammelband »Das helle Segel«, herausgegeben von Georg Thurmair und Josef Rick, mit einer immer noch lesenswerten langen Erzählung von Walter Bauer. Politik kam darin nicht vor, was eben auch heißt: der Nationalsozialismus kam nicht vor, und insofern lag ein solches Buch quer zur Zeit. Immerhin gab es Erfahrungen, die staatliche Macht als »fremde Herrschaft« erkennen ließen, die in ihrem Zugriff nicht zu akzeptieren war, weil sie ihrerseits das Recht des jugendbündischen Lebens nicht duldete; für mich war eine solche Erfahrung, daß ein etwas älterer, aber noch »minderjähriger« Führer einer Gruppe verhaftet und anschließend vorzeitig »zur Bewährung« zum Militär eingezogen wurde, wo er zu Tode kam. Das Ende Hitler-Deutschlands im Jahre 1945 war, von diesem Jugendmilieu aus betrachtet, die Freisetzung einer Lebenspraxis, die vorher auf Heimlichkeit angewiesen war ; aber es war nicht das Datum, mit dem Jugendbewegung überhaupt erst wieder hätte zustande kommen können. Bei den Fahrten und Lagern der ersten Jahre nach 1945, die ich in Erinnerung habe, waren die Lieder, die wir sangen, und die Geschichten, die wir lasen oder erzählten, keine anderen als die aus den Jahren vor 1945. Der historische »Bruch« oder das historisch »Neue« lag nicht im unmittelbaren Terrain der jugendbündischen Kultur. Das Neue, außerordentlich große Hoffnungen erweckend, ergab sich an anderen Stellen und verband sich nun allerdings mit unserem jugendbündischen Leben: Der Untergang des Dritten Reiches schien eine Offenheit, einen Zugewinn an Freiheiten mit sich zu bringen, die – so dachten wir – den aus der Jugendbewegung überkommenen Verhaltensweisen unbegrenzte Chancen in der Gesellschaft eröffnen müßten; die Gegenkultur, so unsere Erwartung, werde nun die offizielle Kultur mehr und mehr bestimmen. Es gab manche Anzeichen dafür, daß dies eine realistische Hoffnung sein könnte. Obrigkeitsstaatliche und gesellschaftlich-autoritäre, jugendbündischen Freiheiten feindliche Einstellungen waren durch ihre Verbindung zum Nationalsozialismus in Mißkredit geraten; es schien so, als würden sie sich nicht mehr regenerieren können. Kleinbürgerliche oder großbürgerliche Konventionen und Beschränktheiten schienen zusammengebrochen zu sein. Der Kasernenhofgeist schien mit der Niederlage des deutschen Militärs dahingeschwunden zu sein. Besitzdenken schien angesichts der materiellen Not keine Zukunft mehr zu haben. Die Öffnung zur Welt hin

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schien kulturelle Engstirnigkeit und Deutschtümelei wie auch bildungsbürgerliche Konventionen beiseite geräumt zu haben. In meiner Erinnerung sind die Jahre nach 1945 randvoll von Hoffnungen, die wir aus der Gefühlswelt einer »bewegten« Jugendkultur gewannen, wie sie aus vielerlei Ansätzen zwischen 1930 und 1945 sich herausgebildet hatte. Die »offene« historische Situation der Nachkriegszeit schien dieser Kultur günstig, und auch in ihren »romantischen« Zügen entsprach sie durchaus den Bedürfnissen vieler junger Menschen in Trümmerzeiten. Nur auf den ersten Blick hin erscheint es als seltsam, daß Jugendliche, die Zerstörung und Not als Alltag um sich hatten, in großen Scharen auf Fahrt oder ins Zeltlager gingen – auch wenn ihnen pädagogische Theoretiker dies auszureden versuchten. Die »Re-Education« von Angehörigen der Hitler-Jugend-Generation vollzog sich übrigens in Lagerfeuergesprächen oft wirksamer als in Schulstunden oder Jugendparlamenten. Wir lasen damals eine Zeitschrift, die längst vergessen ist, in der sich Berichte über bündisches Jugendleben und Diskussionen über den »gesellschaftlichen Auftrag der Jugendbewegung« mischten und über die einzelnen Gruppen hinaus öffentlich darstellten: »Das junge Wort«, in Stuttgart erscheinend. Kleinere jungenschaftliche Blätter wie »feuer« und »unser schiff« hatten ein Niveau, das dem der legendären bündischen Zeitschriften vor 1933 nicht nachstand, und es war kein jugendbewegtes Epigonentum, das sich in den Nachkriegsblättem regte. In gewisser Weise also war die westdeutsche Nachkriegszeit in meiner Erfahrung eine »Stunde der Jugendbewegung« – nicht im Sinne einer »Wiederbelebung«, sondern vielmehr als historische Situation, in der das jugendbündische Milieu der dreißiger Jahre, vom Druck des Dritten Reiches befreit, öffentlich werden und sich selbst weiter öffnen konnte. Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre aber brach diese jugendkulturelle Entwicklungslinie ab; und wenn man ein Datum für das Ende der »klassischen« deutschen Jugendbewegung setzen will, so ist es meines Erachtens nach hier anzusiedeln. Dieser Eindruck ist subjektiv, er schließt nicht aus, daß sich in anderen Lebensläufen andere Wahrnehmungen ergeben haben. Gerade die Jugendbewegung hat nicht »die« Geschichte, sondern sie hat viele Geschichten, aber vorsichtig läßt sich vielleicht doch einiges aus den Erfahrungen verallgemeinern, die ich im folgenden kurz skizziere: Sobald die westdeutsche Gesellschaft sich von dem Schock des Jahres 1945 einigermaßen erholt hatte, zeigte sich eine immer stärker werdende Tendenz, die Zeit zwischen etwa 1930 und dem Ende des zweiten Weltkrieges aus dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen. Dies hatte sicherlich einen Grund in dem Bestreben, die »Aufarbeitung« des Nationalsozialismus tunlichst zu umgehen, aber es wurden damit auch andere, gegenläufige historische Erfahrungen beiseite geräumt – und so auch die Erinnerung an jene jugendbündische Kultur, wie

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sie in den dreißiger und vierziger Jahren sich entwickelt hatte. In Politik und Gesellschaft bürgerten sich Ideen und Formen ein, die so aussahen, als hätte es die Jahre zwischen der Krise der Weimarer Republik und 1948 gar nicht gegeben. Das gilt für die Parteien wie für die Jugenderziehung, und es gilt auch für einen Großteil der »bündischen Szene« in ihrem Wandel seit Anfang der fünfziger Jahre. Nun entstanden Ausformungen jugendbewegt-traditionellen Gruppenstils, an deren Wiederbelebung in der bündischen Illegalität und auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit wohl kaum jemand gedacht hatte. Insofern ist der Begriff der »Restauration« für die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik durchaus zutreffend, und restauriert wurden zunehmend auch Bünde, denen man von den Erfahrungen der Jugendbewegung 1930 bis 1948 nichts mehr anmerkte. Daß bei alledem auch das »Wirtschaftswunder«, das die »unsicheren und unruhigen Jahre« vergessen ließ, mitwirkte, versteht sich. Die Jungenschaftsgruppe, die ich bis 1956 geführt habe und aus der dann Initiativen wie die Wiederbegründung der Zeitschriften »pläne« und »eisbrecher« oder die Herausgabe des Kalenders »Signale« entstanden, berief sich bewußt auf die jugendbündische Gegenkultur aus der Zeit des Dritten Reiches; aber damit befanden wir uns schon bald am Rande der bündischen Szene. Dies hing keineswegs nur damit zusammen, daß wir politisch links standen; mehr noch wurde wirksam, daß wir uns an einem Bild von Jugendbewegung orientierten, das nicht mehr dem Zeitgeist entsprach, das auch dem Großteil der bündischen Gruppen fremd geworden war. Als Anfang der fünfziger Jahre die erste Protestbewegung gegen die Aufrüstung aktiv wurde, waren daran noch viele bündische Gruppen beteiligt; als wir Anfang der sechziger Jahre die Ostermärsche in Gang setzten, waren nur noch wenige Jungenschaftskreise dort engagiert. Als ich 1957 mit dem Buch »Gegen den Strom«27 an die jugendbündische Illegalität im Dritten Reich erinnerte, fand dies nur bei einer Minderheit der bündischen Jugend Interesse; es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis dieses Thema wiederentdeckt wurde. Ganz vergessen waren die jugendbündischen Erfahrungen aus der Zeit zwischen 1930 und 1948 nie; aber die Erinnerung daran war über lange Zeit hin in den bündischen Gruppen nur randständig tradiert. Das hatte seine erklärbaren Gründe: Die scheinbar »immerwährende Prosperität« brachte Sicherheitsgefühle mit sich, auch in den Bünden, die sich durch Imaginationen aus unsicheren Zeiten nicht stören lassen mochten. Heute kann es vernünftigerweise nicht darum gehen, vergangene Ideen und Formen der Jugendbewegung wieder herbeizuwünschen oder gar wieder in Szene zu setzen. Die jugendbündische Gegenkultur der dreißiger und vierziger 27 Arno Klönne: Gegen den Strom: Bericht über den Jugendwiderstand im Dritten Reich, Hannover 1958.

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Jahre – nach meinem Dafürhalten die letzte Ausformung der »klassischen« deutschen Jugendbewegung – war Ausdruck einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Krisenerfahrung. Diese Gegenkultur enthielt höchst anregende, produktive Momente, aber auch Widersprüche und fragwürdige Seiten. Sich erinnern heißt nicht glorifizieren. Aber in Zeiten einer wieder zutage tretenden Krisenhaftigkeit der Gesellschaft ist es, wenn man sich für die Geschichte von Jugendbewegungen interessiert, sinnvoll, sich die Erfahrungen gerade dieser jugendbündischen Gegenkultur zu vergegenwärtigen. Geschichte der Jugendbewegung – dazu gehört der gewissermaßen noch naive Aufbruch der Wandervogelhorden; das kulturreformerische, schon bald in den Streit der Ideen geratende Freideutschtum; die Verschmelzung mit der Pfadfinderei in der »Bündischen Jugend«; der erneute Aufbruch der Jungenschaftsbewegung Ende der zwanziger Jahre; und eben auch die jugendbündische Gegenkultur der dreißiger und vierziger Jahre, die sich gegen den totalitären Zugriff des Staates behaupten konnte, aber in Vergessenheit geriet, als unter den Bedingungen des »Wirtschaftswunders« die »Zeiten der Unruhe« (mitsamt dem Nationalsozialismus) verdrängt wurden.

18. Julius H. Schoeps: Eine Gemeinschaft zur Selbsterziehung. Die politische Problematik der Jugendbewegung, in: Die Zeit vom 14. 10. 1988. Vor 75 Jahren, an einem kalten und regnerischen Oktoberabend des Jahres 1913, versammelten sich auf dem Hohen Meißner bei Kassel Gruppen von Jungen und Mädchen, darunter Studenten aus Göttingen, Jena, Marburg und anderen Universitätsstädten. Sie waren dort zusammengekommen, nicht nur weil sie gemeinsam feiern wollten, sondern weil sie meinten, es sei an der Zeit, Zeichen für ein neues Lebensgefühl und für eine andere Lebenseinstellung zu setzen. Allen die dort am Lagerfeuer saßen, die dort sangen, tanzten und diskutierten, war klar, daß es so wie bisher nicht mehr weitergehen könne, daß etwas geschehen müsse, denn, so formulierte unter dem Beifall der Anwesenden einer der Redner : »Es brennt im deutschen Haus«. Das in Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig spontan zustande gekommene Treffen war ein von der Jugend gestaltetes Fest ohne Unterstützung der Erwachsenenwelt, ja in gewisser Weise sogar gegen sie gerichtet. Der Protest gegen den öden, leer gewordenen Patriotismus des biertrinkenden und tabakqualmenden Wilhelminischen Bürgertums, der Wandervögel, Angehörige der Freideutschen Jugend, aber auch alle Arten von Lebensreformern auf dem Hohen Meißner zusammengeführt hatte, mündete in dem vom Geist des Neu-

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kantianismus bestimmten Aufruf: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein«. Diese Autonomieformel hat zu mancherlei tiefsinnigen Betrachtungen Anlaß gegeben. Wo Jugendbewegte zusammenkommen, neigen sie dazu, diese Formel zu einer Bedeutung sondergleichen emporzustilisieren, dabei übersehend, daß dem Versprechen keine Taten gefolgt sind. Wirkung hat die Formel allenfalls im pädagogischen Bereich gehabt, wo die Annahme eines eigenverantwortlichen Erziehungsanspruches, wie der Bochumer Pädagoge Joachim H. Knoll in einem lesenswerten Essay bemerkt, pädagogisches Denken stimuliert und das Erziehungsverständnis in neue Bahnen gelenkt hat. Was eigentlich ist die Jugendbewegung gewesen? Ist sie tatsächlich nur aus einem Generationenkonflikt erwachsen, wie er überall in der Welt vorkommen kann? Von Jugendbewegten ist oft zu hören, daß dabeigewesen sein muß, wer wirklich etwas Zutreffendes über die Jugendbewegung aussagen wolle. Joachim H. Knoll28 (der dabei gewesen ist) meint, das wäre eine »schiefe Historiographie«, räumt aber gleichzeitig ein, daß die Nähe, die Erfahrungen der Dabeigewesenen, zusätzliche Eindrücke vermitteln, die über die geforderte historiographische Distanz hinausgehen. Das ist sicherlich richtig, zumal es bei der Jugendbewegung, von den Anfängen des Wandervogels, über die Freideutschen bis hin zur Bündischen Jugend mehr um die Beschreibung einer Haltung und eines Lebensgefühls als um objektivierbare historische Sachverhalte geht. Es ist behauptet worden, diese Haltung und dieses Lebensgefühl seien zeitlos. In der deutschen Geistesgeschichte würden sie sich immer dann einfinden, »wenn spiritualistische Bewegungen ihre Durchbruchstunde haben« (HansJoachim Schoeps).29 Auch die Entstehung der Jugendbewegung ist zweifellos von den Zuständen einer besonderen Zeitlage begünstigt worden: denen des Spätbürgertums der Wilhelminischen Epoche, gegen dessen hohl gewordenen und verlogen wirkende Fassaden sich der Protest junger Menschen richten konnte. Der Normendruck dieser festgefügten Gesellschaftsordnung, die Autoritäten, die nicht davor zurückscheuten, das, was sie für richtig hielten, mit handfesten Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, hat viele junge Menschen abgestoßen und fast zwangsläufig in eine oppositionelle Haltung getrieben. Das Aufbruchbegehren der Jugendbewegung hat nach Ansicht Knolls in einem engen Zusammenhang mit dem Aufkommen neokonservativer Strö28 Vgl. Joachim H. Knoll, Julius H. Schoeps (Hg.): Die zwiespältige Generation. Jugend zwischen Anpassung und Protest, Sachsenheim 1985. 29 Der Vater von Julius H. Schoeps. Siehe die Beiträge von Hans-Joachim Schoeps in den Kapiteln 4 und 6 in diesem Band.

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mungen gestanden, die vom Zivilisationspessimismus der Jahrhundertwende gekennzeichnet waren. Langbehn, Lagarde, Nietzsche und Klages haben einen viel stärkeren Einfluß auf die Jugendbewegung ausgeübt, als deren Chronisten heute wahrhaben wollen. Ludwig Klages zum Beispiel, dessen Kritik an Moral und Gewissen, dessen Angriffe gegen den Geist, den »Widersacher der Seele«, mitgeholfen haben, dem Dritten Reich den geistigen Nährboden zu bereiten, ist von weiten Kreisen der Jugendbewegung als eine Art Prophet gefeiert worden. Es waren nur wenige, die seine den auf dem Hohen Meißner Versammelten übermittelte Grußadresse, insbesondere seine wilden Verwünschungen gegen die Ideen des Fortschritts und der Vernunft, als peinlich empfanden. Was bis heute Jugendbewegte in Verlegenheit bringt, ist die Erwähnung des Namens Hans Blüher, der in seiner 1912 erstmalig erschienenen WandervogelGeschichte die damals für erboste Schlagzeilen sorgenden Behauptungen aufgestellt hatte, die Jugendbewegung und ihre Gesellungsformen seien nicht erklärbar, wenn sie nicht als ein erotisches Phänomen gedeutet würden. Blüher, ein Querdenker, wie Knoll zu Recht bemerkt, hat durch seine Thesen manches Mißverständnis ausgelöst, was durchaus verständlich ist, wenn man bedenkt, daß er im Wandervogel einen wirklichen Jugend- und Männerbund gesehen hat, in dem ältere Männer mit einer von Blüher nicht bestrittenen homoerotischen Grundeinstellung als Führer am Werke sind, um erzieherisch (orientiert an Platons Symposiongesprächen und am griechischen eros paidikos) auf Knaben und Jünglinge einzuwirken. Das Lebensgefühl der Jugendbewegung wird besonders deutlich, wenn man sich die Texte der Lieder ansieht, die auf Fahrt, am Feuer oder bei Heimabenden gesungen wurden. Knoll hat die Liederbücher durchmustert, die aus dem Umkreis des Nerother Wandervogels stammen. Da steht verklärte Sentimentalität neben rauher Landsknecht-Idealisierung, da wird hymnisch die einheimische Landschaft besungen und die grenzenlose Freiheit in der Ägäis oder auf den Straßen Lapplands gesucht. Auffallend ist aber vor allem die Verherrlichung alles Soldatischen, des Paramilitärischen, was sich in den Liederüberschriften wie »Müde zieht das tapfre Heer«, »Soldat, du bist mein Kamerad« oder »Dunkel donnert die Trommel« spiegelt. Es gibt zwar die Lieder, die an den Widerstandsgeist des süddeutschen Republikanismus im 19. Jahrhundert anknüpfen, bevorzugt werden jedoch jene Lieder, die Bewährung im Kampf fordern, die von der Ungebundenheit des Vagantentums träumen und jenen Schuß bachantischer Trunkenheit hochleben lassen (»Lustig, lustig ihr lieben Brüder«), die deutlich zu dem letzten Satz der Meißner-Formel kontrastierte, der forderte, daß Veranstaltungen der Jugend nikotin- und alkoholfrei sein sollten. In der einschlägigen Literatur wird in letzter Zeit häufig gefragt, ob nicht auch der deutschen Jugendbewegung eine gewisse Mitverantwortung für das Aufkommen des Nationalsozialismus zuzuschreiben ist. Wer davon ausgeht, daß alle

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romantischen Bewegungen der letzten 150 Jahre Vorläufer des Nationalsozialismus gewesen sind, darf auch ein so interessantes geistesgeschichtliches Phänomen wie die Jugendbewegung nicht ausklammern. Große Teile der bündischen Jugend in den zwanziger Jahren rechneten sich zum völkischen Lager, auch wenn sie nicht die radikalsten Völkischen waren. Sie waren Anhänger von Ordnung, Autorität und Führerprinzip, wenngleich auch in einem zugestandenermaßen anderen Sinne als die Nationalsozialisten. Ohne Schwierigkeiten konnte deshalb das NS-Jungvolk auf bündische Gehalte und Praktiken aufgebaut werden. Die Jungenschaften des Deutschen Jungvolkes waren in den ersten Jahren nach der sogenannten Machtergreifung in ihrer Erscheinung kaum von den Bünden der Jugendbewegung zu unterscheiden: Man sang die gleichen Lieder und prägte den gleichen Stil der Zelte, Fahnen, Zeitschriften, Kalender und Liederbücher. Daß die Hitler-Jugend sich nach dem Vorbild in anderen autoritären Staaten bündischer und scoutistischer Formen bediente, gehörte zur Strategie des NSSystems, Organisationsmodelle jeglicher Herkunft zu übernehmen. Es war deshalb auch keine Schwierigkeit, die bündische Jugend nach 1933 gleichzuschalten beziehungsweise sie mit Hilfe pseudobündischer Organisation und Massenaufgebot zu überrollen. Von jedweder Mitverantwortung am Aufkommen des Nationalsozialismus die Jugendbewegung freizusprechen, wäre jedoch nicht richtig. Parteipolitische Abstinenz oder Programmlosigkeit kann auch zum Vorwurf werden. Joachim H. Knoll bemängelt, daß es die freien Bünde in der Zeit der Weimarer Republik als einen Vorzug angesehen haben, sich als Ganzes von politischen Entscheidungen fernzuhalten. Politische Ungebundenheit und individuelle Entscheidungsfreiheit konnten in den Jahren der wirtschaftlichen Prosperität noch hingenommen werden. Die wirtschaftliche und politische Krise am Ende der Weimarer Republik hätte jedoch eine gründlichere Beschäftigung mit der sozialen und politischen Lage der Zeit, ein Aufgeben der parteipolitischen Abstinenz und Antworten auf die Fragen des konkreten sozialen und nationalen Daseins erfordert. Auch wenn viele Grundvorstellungen der Nationalsozialisten von der Jugendbewegung geteilt wurden, gab es doch wesentliche Unterschiede. Im Gegensatz zum Nationalsozialismus appellierte die Jugendbewegung nicht an Masseninstinkte, sie entwickelte keine eigene Ideologie, denn sie verband mit der Vorstellung eines besseren Deutschland nicht den Gedanken an politische Aktion, sondern an die Heranbildung einer neuen Elite aus den Reihen der jungen Generation. Sie wählte den »Weg nach innen«, während der Nationalsozialismus vor allem nach der unmittelbaren politischen Macht strebte. Im Falle der Jugendbewegung ist deshalb eher von Unterlassungssünden als von begangenen Taten zu sprechen. Politischer Einfluß, der auf den Lauf der Ge-

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schichte hätte einwirken können, ist von den Aktivitäten der Jugendbewegung jedenfalls nicht ausgegangen. »Bei der Jugendbewegung ist nicht mehr herausgekommen als Wangenrot und allgemein Märzhaftes«, bemerkte einmal Ernst Bloch. Ein solches Urteil verkürzt, verschleiert mehr, als daß es dieser Bewegung gerecht wird, die wie keine vorher die Haltung und die Bestrebungen der deutschsprachigen Jugend in einer alle Lebensregungen berührenden Weise ergriffen hat. Nahestehende gelehrte Beobachter der Jugendbewegung wie Eduard Spranger, Carl Heinrich Becker, Theodor Litt, Hermann Nohl oder Ernst Robert Curtius haben hingegen den humanistischen Geist und den pädagogischen Eros der bündischen Jugend gewürdigt, die sich in erster Linie als eine Gemeinschaft zur Selbsterziehung verstand, was bis heute von allen, die mit der Jugendbewegung zu tun hatten, besonders hervorgehoben wird. Ziehen wir heute Bilanz, dann ergibt sich das Fazit, daß sich aus der lebensreformerischen Haltung neue Ausdrucks- und Gemeinschaftsformen entwickelt haben, die eine beispiellose Breitenwirkung insbesondere auf dem pädagogischen Feld hatten. Es entstanden Lebensgemeinschaften und Siedlungen (»Neuwerk«, »Brüderhöfe« und andere). Die Erziehungserfahrungen der Gruppen wurden erfolgreich in die Sozial- und Fürsorgearbeit (»Der Lindenhof«, »Gilde sozialer Arbeit« und andere) getragen. Der Unterschied zur Jugendpflege verblaßte, die Verbände der Jugendpflege wurden mehr und mehr von der Jugendbewegung beeinflußt. Die nicht eigenständig gewachsenen Jugendorganisationen der politischen Parteien, der Kirchen, der Vereine, der Wehrbünde übernahmen die neuen Ausdrucks- und Gemeinschaftsformen. Aus der Kritik am bestehenden Schulsystem erwuchsen Reformen, die sich in Schulversuchen (»Landerziehungsheime« und andere) niederschlugen. Und sogar die Volksbildungsarbeit, die nach dem Ersten Weltkrieg in der Institution der Volksschule erstmalig zu großer Blüte und weiter Verbreitung kam, erfuhr wesentliche Anregungen aus dem Gedanken- und Erlebnisgut der Jugendbewegung. In diesen Tagen ziehen wieder Gruppen von Jungen und Mädchen auf den Hohen Meißner, um des Treffens von 75 Jahren zu gedenken. Ob wie damals das Treffen Signalwirkung haben wird? Sehr wahrscheinlich ist es nicht. Die Zeitumstände sind andere und von einer Aufbruchstimmung in der Jugend ist wenig zu spüren. Aber wer weiß? Die Erklärung der Bünde zum Meißnerlager 1988 klingt jedenfalls zeitgemäß und ist bemüht, den Bogen von der Meißnerformel 1913 zu den Problemen unserer Tage zu schlagen: »Mit Betroffenheit verfolgen wir den Weg, auf dem die heutige Zivilisation voranschreitet. Die unverantwortliche Zerstörung der Natur, die Vereinsamung der Menschen und die Abkehr von Qualitäten des Lebens gefährden die Existenz der Erde und ihrer Geschöpfe. In der Suche nach einem neuen würdigen Weg der menschlichen

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Kultur sehen wir die Aufgabe eines jeden, der der heutigen Zeit gerecht werden will. Ihre gemeinsame Suche wollen die einzelnen Bünde, Gruppen und Persönlichkeiten im Sinne der Meißnerformel von 1913 nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit gestalten«.

19. Arno Klönne: »Sich selbst ihr Leben gestalten«. Die deutsche Jugendbewegung wird 75 Jahre alt, in: Das Parlament vom 14. 10. 1988, S. 72 f. Zu den Besonderheiten der deutschen Ideen- und Sozialgeschichte des ersten Drittels dieses Jahrhunderts gehört zweifellos die Bedeutung, die hier die »klassische« Jugendbewegung gewinnen konnte; als »antibürgerliche Bewegung bürgerlicher Jugend« gedeutet, nahm diese jugendkulturelle Strömung erheblichen Einfluß nicht nur auf die außerschulische (und in gewissem Umfange auch auf die schulische) Pädagogik, sondern ebenso auf den gesellschaftspolitischen Diskurs. Zwar wurden die Lebens- und Gruppenformen dieser Jugendkultur schon in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende in den Wandervogel-Bünden und dann auch in reformstudentischen Vereinigungen entwickelt, aber als symbolischer Gründungsakt der deutschen Jugendbewegung gilt das Treffen der »Freideutschen Jugend« im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner, das als Alternativveranstaltung eines nonkonformen Teils der nachwachsenden Generation zu den offiziellen Feiern des 100. Jahrestags der »Völkerschlacht« von Leipzig gedacht war. Im herbstlichen nordhessischen Bergland trafen sich dort einige Tausende von Wandervögeln, kulturkritischen Studenten und Lebensreformern, zusammengehalten durch die Hoffnung, die »Regeneration« der Gesellschaft werde sich aus dem Bekenntnis zum »jugendlichen Wesen« ergeben. In der Einladung zum Meißnertreffen 1913 hieß es: »Die deutsche Jugend steht an einem geschichtlichen Wendepunkt. Die Jugend, bisher aus dem öffentlichen Leben der Nation ausgeschaltet und angewiesen auf eine passive Rolle des Lernens, auf eine spielerisch-nichtige Geselligkeit und nur ein Anhängsel der älteren Generation, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig von den trägen Gewohnheiten der Alten und von den Geboten einer häßlichen Konvention sich selbst ihr Leben zu gestalten.«

Die am Meißnertreffen beteiligten Bünde und Gruppen einigten sich auf eine Formulierung ihres Selbstverständnisses, die mit ihrem idealistischen Anspruch dann über einige Jahrzehnte hin die »bewegte Jugend« faszinierte: »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit

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innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.« Mit der »Meißnerformel« war eine Grenze gezogen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen oder Konventionen, die von der Jugendgeneration Folgsamkeit ohne Chance eigener Entscheidung verlangten, aber es blieb unklar, wo die Jugendbewegung in den Konflikten der Zeit ihre Position finden könnte. Die später in und zwischen den Jugendbünden auftretenden gesellschaftspolitischen Differenzen waren schon in den Reden der Wortführer beim Meißnertreffen angelegt; der Reformpädagoge Gustav Wyneken sah sich dort veranlaßt, den jungen Leuten zu sagen: »Soll es dahin kommen, daß man euch nur gewisse Worte zuzurufen braucht: Deutschtum, national, – um euren Beifall und Heilruf zu vernehmen? Soll von euch jeder zudringliche Schwätzer den Zoll der Begeisterung eintreiben dürfen, weil er sich die richtige Phrasenuniform angezogen hat? Und wollt ihr, die ihr durch das bunte Bild dieses Festes beweist, wie abhold ihr im Äußeren aller Uniform seid, euch nun eure Seele uniformieren lassen?« Bemerkenswert deutlich waren die ökologischen Warnungen, die sich mit der frühen Jugendbewegung verbanden. In einem Beitrag zur Meißner-Festschrift beschrieb der Philosoph Ludwig Klanges die lebensvernichtenden Folgen eines blinden industriellen Fortschritts in Zukunftsbildern, die sich heute als realistisch erwiesen haben und beschwor freilich einen höchst fragwürdigen Irrationalismus als rettende Lehre. Die öffentliche Meinung im wilhelminischen Deutschland reagierte auf die »Meißner-Jugend« recht kontrovers. Es fehlte nicht an Stimmen, die in den antiautoritären Regungen der Freideutschen schon »zersetzende« Wandlungen der Wertewelt sahen. Tatsächlich war die Mehrheit der Angehörigen der Jugendbewegung nicht gerade revolutionär gesonnen. Die meisten Wandervögel und Freideutschen taten im Ersten Weltkrieg – nicht unbedingt kriegsbegeistert, aber doch ohne Aufbegehren – ihren militärischen Dienst, und die überlebenden wurden später vielfach Lehrer, Pfarrer und Familienväter. Auch die Mädchen aus der Frühzeit der Jugendbewegung fügten sich im Erwachsenenleben zumeist den überkommenen Weiblichkeitsbildern ein – sicherlich mit einem Zugewinn an Selbstbewußtsein. In den Jahren der Weimarer Republik breiteten sich die Lebens- und Gruppenformen der Jugendbewegung im Terrain der Jugendarbeit überall aus. Konfessionelle Jugendverbände, Turnerjugend, Arbeiterjugendorganisationen, berufsständische und gewerkschaftliche Jugendgruppen übernahmen den Jugendstil des Wandervogels, und aus der Kombination von Wandervogelmilieu und Pfadfindertum entwickelte sich als neue Phase der Jugendbewegung die der »Bündischen Jugend«. Politisch wandte sich ein erheblicher Teil der bürgerlichen Jugendbewegung den Ideen der »konservativen Revolution« zu, mit

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manchen Berührungspunkten zum aufkommenden Nationalsozialismus. Die NSDAP nahm den »Jugendmythos« nicht ohne Erfolg propagandistisch für sich in Anspruch. Als nach 1933 die Hitler-Jugend zur Staatsjugendorganisation wurde, knüpfte sie an die Formen der Bündischen Jugend an und gewann gerade dadurch ihre zeitweilige Attraktivität. Allerdings vertrug sich der Herrschaftswille des Dritten Reiches schon bald nicht mehr mit dem Autonomieanspruch, der in der Tradition der Jugendbewegung lag; und so verfolgte und unterdrückte denn auch der nationalsozialistische Staat alle »bündischen Umtriebe« und verkündete das »Ende der Jugendbewegung«. Untergründig aber wirkten deren jugendkulturelle Überlieferungen weiter und gerieten nun in Widerspruch zur totalitär ausgerichteten Staatsjugenderziehung; wo während des Dritten Reiches oppositionelle jugendliche Gruppierungen auftraten, waren sie vielfach von der Erinnerung an die Zeiten einer freien Jugendbewegung geprägt. Die Herkunft der jungen Menschen in der Widerstandsgruppe Weiße Rose bietet ein Beispiel hierfür.

20. Meißnertreffen. 3500 Jugendliche bewohnen Zeltstadt, in: Werra-Rundschau vom 14. 10. 1988. Frankershausen (be). Mit 500 Zelten und 70 Gruppen der bündischen Jugend ist die Zeltstadt bei Berkatal mit 3500 Teilnehmern voll besetzt. Während einer Pressekonferenz und einem anschließenden Rundgang wurden die Teilnehmer von Lagervogt Thomas Grothkopp und Lutz Martiny über Aufgaben und Ziele informiert. Im Mittelpunkt stehen Umwelt- und Friedenssicherung. Die Stimmung im Lager ist prächtig. Heute werden die Bundestagsabgeordneten Perschau (CDU) und Conradi (SPD) sowie Antje VolImer (Grüne) das Lager besuchen. Morgen findet als Höhepunkt des Meißnerlagers um 15 Uhr die Festveranstaltung statt, bei der auch Dr. h.c. Alfred Toepfer (Hamburg) sprechen wird. Der 94jährige ist noch einer der lebenden Zeitzeugen vom 12. Oktober 1913. Zu der 75-Jahr-Feier werden morgen noch zahlreiche Teilnehmer aus ganz Deutschland erwartet. Auf der Burg Ludwigstein wird morgen auch ein Gedenkstein an die »Meißnertage ’88« enthüllt. Am Sonntag um 9 Uhr ist Kranzniederlegung am Gedenkstein auf dem Meißner und um 11 Uhr findet im Lager eine Abschlußfeier statt.

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21. Karl-Hermann Huhn: Ein neuer Aufbruch? Meißnertag ’88, in: HNA [Hessische/Niedersächsische Allgemeine] vom 16. 10. 1988. Bündische Jugendbewegung heute – statt wortreicher Rückschau und Schwärmen in lagerromantischen Erinnerungen zeigten zur 75. Wiederkehr des Meißner-Tages von 1913, gestern in einer Feierstunde am Fuß des »Königs der hessischen Bergen« rund 4500 Jugendliche und Junggebliebene, wie in über 70 jungen Bünden und Gruppierungen die Ideen, die zu Anfang dieses Jahrhunderts einen großen Teil der jungen Generation bewegten, heute gesehen und bewertet werden, was junge Menschen in Deutschland damit im Zeitalter des Weltraumflugs und der Atombombe, des Sauren Regens und der Armut in der Dritten Welt anfangen. Die Feierstunde am Sonnabend führte alle zusammen. Hier spannte sich in Reden und Musikbeiträgen der Bogen vom Meißner-Anfang an der Jahrhundertwende zum Heute. In einem Grußwort rief Dr. hc. Alfred Toepfer (Hamburg), Meißner-Fahrer von 1913, dessen Leben entscheidend von diesem Erleben geprägt wurde, die Versammlung auf, im Geiste Ernst Jüngers an einem gemeinsamen europäischen Vaterland mit vielen Mutterländern mitzubauen. »Wir wollen Euch nicht simpel ein bestimmtes Staffelholz in die Hand drücken und Euch auf einen abgezirkelten Weg schicken«, erklärte anschließend Prof. Dr. Jürgen Reulecke. Der Historiker, vor 25 Jahren beim Meißnertag 1963 mit einer Horte dabei, forderte die junge Generation von heute auf: »Laßt Euch nicht einlullen durch wohlfeile Geschichtsdeutungen, die die bundesrepublikanische Gesellschaft bereithält, auch nicht durch angebliche Generationenverträge!« Reulecke erinnerte an das Scheitern vieler hochgespannter Hoffnungen der ersten bündischen Generation im Ersten Weltkrieg und danach und betonte zum neuerlichen Aufbruch nach 1945 und dem Aufbegehren der 68er Generation, die »einst so optimistisch glaubte, Jugend könne Geschichte machen: Im Hauruckverfahren löst man keine Probleme – viel realistischer ist das Bohren in dicken Brettern mit Beharrlichkeit und Augenmaß.« »Kleine autonome Jugendgruppen, wie sie die Jugendbewegung erfunden hat«, Gruppen, die »so weit wie möglich auf Staatsknete und jugendwohlfahrtliche Betreuung pfeifen, die sich ihre Kommunikationspartner quer durch die Generationen gezielt und kritisch selbst aussuchen,« könnten heute nach Ansicht des Wissenschaftlers »einerseits ein Raum heiterer humaner Gelassenheit« und offenen, beglückenden Gemeinschaftserlebens werden, zum anderen »ein Widerstandsnest gegen die gravierenden Zumutungen aller Art und auch so

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etwas wie ein Trainingslager für solidarisch genossenschaftliches Denken und Handeln sein.« Etwas mehr Selbstironie, »ein Schuß Distanz zu sich selbst« empfahl Prof. Reulecke dabei seinen Zuhörern und warnte sie vor den Angstmachern unserer Tage. Alle halbe Jahre erscheine ein neuer Hit auf dem massenmedialen Markt der Ängste: Mittel-, Kurz- und Langstreckenraketen, Sandoz-Chemie und hormonverseuchten Kälbern, Nord-Süd-Gefälle und Rentenberg im Jahr 2000, Aids und Arbeitslosigkeit. All dies, so Reulecke, sei die eine Seite, über sie müsse man »in aller Schärfe reden und sich klar machen, daß es immer konkrete Interessen und Menschen sind, die die entsprechenden Schalthebel bedienen, daß wir es an einigen Punkten sogar selbst sind, die Gefährdungen produzieren.« Gleichzeitig aber müsse man erkennen, daß mit solchen diffusen, von Interessengruppen erzeugten und geschürten Ängsten mehr bewirkt werde. Der Redner warnend: »Angst macht blind, sie lähmt, sie macht abhängig und läßt schließlich die Sehnsucht nach dem starken Mann oder der großen Heilslehre entstehen, denen man sich mal wieder an den Hals werfen kann.« Dagegen müsse man »trickreiches widerborstiges, phantasievolles Handeln« setzen, Zivilcourage zeigen. Bereits am Freitagabend hatten in Witzenhausen Mitglieder und Freunde des Nerother Wandervogels, der dem Meißnertag fernblieb, ein »zweckfreies Gedenken im Sinne der ursprünglichen Wandervögelbünde« veranstaltet. Dabei erklärte Bundesjugendführer Fritz-Martin Schulz, die reinen Jugendpflegeverbände, so wie sie sich heute präsentierten, würden sich als Erben einer Bewegung sehen, die sie gar nicht begriffen. Gesellschaftliches Engagement sei der falsche Weg. Schulz: »Wir dürfen uns nicht darin verlieren, die Welt zu kritisieren, wir müssen das Leben ausschöpfen und leben«.

22. Corona Hepp: Trickreich und widerborstig sein. Zum 75. Jubiläum des Freideutschen Jugendtages: der Hohe Meißner 1988 mit und ohne Nebel, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. 10. 1988. Mit Ohnmachtsanfällen und spitzen Schreien der Ekstase – wie auf Rockfestivals üblich – hatte wirklich niemand gerechnet. Daß es aber so lässig-nüchtern, ja beinahe parlando zugehen würde beim Jubiläumsfest der bündischen Jugend am Meißner war doch bemerkenswert. Keine Anzeichen rauschhafter Begeisterung wie damals, im Jahr 1913, keine Feuerreden, keine Bekenntnisseligkeit an diesem Nachmittag auf der graugrünen Wiese. Weil Stromausfall die Mikrophone lahmlegt, und den Programmbeginn verzögert hat, singt das Fest sich einfach

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selber ein. Singen können sie ja alle. Aber auch die Sprechchöre und Lieder, zum Ausklang ein Naturschutz-Kanon von rhythmisch-melodischer Sprödigkeit, heizen nicht auf. Manche der rund 4000 Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, vor allem manche Veteranen der Jugendbewegung mögen enttäuscht gewesen sein, daß sie kein bißchen umnebelt wurden vom vielbeschworenen Wir-Gefühl. Neblig war nur das Wetter. Die drei Festredner sollten und wollten keine großen Worte machen, zeigten sich aber doch jeweils als Repräsentanten ihrer Generation. Der 94jährige Fabrikant und Mäzen Alfred Toepfer – einer, der schon 1913 auf dem Hohen Meißner dabei war – wünschte sich von der Jugend »Hingabe und Opferbereitschaft« für die Festigung des Friedens, die Erhaltung der Natur und die europäische Einheit. Er wünschte allen jungen Europäern, sich zu sammeln ums »mitreißende Europafeuer«. Düstere Prognosen äußerte dagegen der mit 38 Jahren jüngste Redner, der Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich. Im öko-alternativen Aufwind attackierte er die machterhaltenden Mechanismen der Industriegesellschaft und die Handlungsunfähigkeit etablierter Politik. Max Webers Verantwortungsethik blähte er mächtig auf zur aktuellen Forderung nach »präventiver Verantwortungsethik gegen Großorganisationen«. Junge Bünde, meinte er, könnten hier vorbildlich tätig werden. Pfadfinder zum Handeln aufzurufen, und sei es zum Handeln durch Konsumverzicht, ist alter Brauch. Dagegen hatte auch Jürgen Reulecke, Historiker und Redner der mittleren, der sogenannten skeptischen Generation, nichts einzuwenden. Vehement jedoch warnte er davor, dies mit dem Leitmotiv der Katastrophenabwehr zu tun. Begründete Sorgen wahrzunehmen, aber auch zu sehen, »daß alle halbe Jahre ein neuer Hit auf dem Markt der Ängste daherkommt«, schlug Reulecke den Jugendlichen vor und machte deutlich, wie man mit der Angst Menschen auch »domestizieren und disziplinieren kann«. So verstanden, war sein Plädoyer für »Heiterkeit, Selbstironie, entlarvenden Witz und befreiendes Lachen« hier an die richtige Adresse gerichtet. Man hat, wie der heftige Beifall zeigte, in Sachen Spott wohl noch einigen Nachholbedarf. »Die wichtigsten Selbstaussagen der Jugendbewegung über sich und ihre Ziele«, so Reulecke, »strahlten immer ein umfassendes großes Wollen, eine gewaltige ernste Entschiedenheit aus, die oft in krassem Gegensatz zu ihren konkreten Handlungsmöglichkeiten und ihrem gesellschaftspolitischen Durchblick stand.« Da stellt sich nun umgekehrt die Frage, welchen Durchblick sie uns bietet den Zaungästen 1988. Auf dem Bahnhof Eschwege im Nordhessischen unterscheiden sich die Ankömmlinge kaum von den hunderttausend jungen Trampern und Rucksacktouristen, die überall in der Welt unterwegs sind. Hochgetürmtes Gepäck am Rücken, Gitarre über der Schulter, Jeans am Leibe, Tennisschuhe, überwiegend aber Stiefel an den Füßen. Nur ihre Halstücher, Kordeln und Är-

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melabzeichen machen sie kenntlich als Bündische, als farbentragende Urenkel einer Jugend, die sich um die Jahrhundertwende aus den studentischen Kneipen und Paukböden zurückzog und die auszog ins einfache Leben. Sie nannten sich Wandervögel, waren damals eine Minderheit und sind es immer geblieben. Der Berg Meißner, 1913 in Deutschland zentral gelegen, heute unmittelbar an der deutsch-deutschen Grenze, wurde schon vor 75 Jahren ungern den Wandervögeln überlassen, weil sie angeblich die Hirsche vergraulten und nervöse Erschöpfungszustände bei den Forstbeamten auslösten. Jetzt herrscht absoluter Naturschutz dort oben, und das Meißner-Lager wird am Fuß des Berges aufgeschlagen. Jeder Campingplatz in Spanien oder Jugoslawien wirkt weniger exotisch als diese Zeitstadt. 500 schwarze Jurten und Koten [sic!], teils hintereinandergestaffelt teils zu geräumigen Kuppelbauten gruppiert, suggerieren Mongolei oder mindestens kurdisches Nomadenvolk. Matten oder auch daheim ausrangierte Perser belegen den Boden im Zelt. Holzfeuer flackert in der Mitte, und der Rauch zieht senkrecht ab durch die obere Zeltöffnung. Nachts bei Feuer und Fackelschein inhalieren zweieinhalbtausend Teenager und Twens – darunter ein Drittel weibliche – Romantik pur. Vorgefertigt ist die Romantik allerdings nicht, im Gegenteil: Der gastgebende Bezirk Werra-Meißner erlebt ein Fest des Do-it-yourself. Weit und breit keine Würstel- oder Frittenbude, kein Getränke- oder gar Zigarettenkiosk. Die Lagerteilnehmer versorgen sich selbst, kochen Tee, Erbsensuppe oder Buchweizengrütze in ihren großen zerbeulten Töpfen, jede Gruppe für sich. Das Sanitärproblem löst eine lange Budenzeile von Chemieklos, für deren Entsorgung pro Person die Hälfte der zwölf Mark Teilnehmergebühr zu zahlen ist. Jener Zehnjährige, den ich demonstrativ an den Wegrand pinkeln sehe, belebt als einzelner das allgemeine Bild disziplinierter Rücksichtnahme. Wo kein Papierschnipsel, keine Kippe oder Cola-Dose auf riesigem Rasen liegt, wittern Ausländer gern den »häßlichen Deutschen« oder, wie Erica Jong in einem ihrer Bücher, den schieren Faschismus. Da ich keinerlei Drill bemerkt habe, sondern eher Bizarrerie und Freundlichkeit, würde ich diesen Rasen jedem Fußballplatz der Welt vorziehen. Tagsüber ist das Do-it-yourself nahezu unerschöpflich. Man zeigt vor, was man geübt hat, sei es auch noch so antiquiert oder unbeholfen. Kunst – so heißt es in der Jugendbewegung – kommt nicht von Können. Das Schmieden, Kesselflicken, Scherenschleifen, Schafscheren, Spinnen und Weben, das Märchenerzählen, Maskenbauen und Schattenspiel werden praktiziert. Hier stampft ein Grüppchen Kosakentänze auf die Bretter, dort probt eine Schar den Ringelreihen, choreographiert vom wild fuchtelnden bündischen Senior. Blockflötende Mädchen ziehen des Wegs, in der Jurte »Frisch Fromm Fröhlich Frau« wird Vollwertbrei gekocht, aber auch »Wenn Du geredet hättest, Desdemona« aufgeführt. Junge Männer sitzen im Kreis und versuchen, »das Wesen einer Birke

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und einer Eiche zu erspüren« (auch Rudolf Steiner hat ja die Jugendbewegung stark beeinflußt). Andere mögen’s artistisch und jonglieren mit Bällen oder Keulen. Überall hackt jemand Holz, und immerzu singt wer. »Singen und ein Feuerchen machen«, so meinen die 60jährigen Zwillinge Hein und Oss, deren Abendkonzert wegen der Zuhörermenge fast jurtensprengend wirkt, »das bietet noch Freiräume für nichtprogrammierte Menschen. Sogenannte Staatsknete sollte man aber meiden!« Das sieht Gerhard Moczynski vom Bonner Familienministerium an seiner Schaltstelle für alle Finanzflüsse aus dem Bundesjugendplan (Sportjugend ausgenommen) ganz anders. Dem »Ring junger Bünde« und dem für das Meißner-Treffen gegründeten Trägerverein hat er die beantragten Zuschüsse gern gewährt und sieht diese, wie er sagt, auch aus jugendpflegerischer Sicht gut angelegt. Wer im Lager die eine oder andere Mark privat umsetzen will, geht ins Jurten-Caf¦, das die österreichischen Wandervögel betreiben. Dort leibt und lebt nicht nur Wien, weil der »Ober« sich Frackschöße angeheftet hat, es hockt und räsoniert da auch einer, der Qualtingers »Herr Karl« sein könnte. Er verstummt erst, als eine Horde 16jähriger Coburger hereinstürmt mit dem Sang »Sie haben Tod und Verderben gespien«. Deutsch-österreichisches Wechselbad! Doch ehe mich fröstelt, fragt einer der Jungen, ob das Lied – wer weiß aus welchem Feldzug – doch hoffentlich nicht zu blutrünstig war. »Einmal Wandervogel – immer Wandervogel«, heißt es im Steckbrief der Meißner-Fahrer aus Österreich. Ihren »popkulturwolfdurchgedrehten« Altersgefährten werfen sie »Sinnsuche nach der Checkliste« und Wegwerfmentalität vor. Den Bündischen wiederum trägt das Festhalten an überalterten Mustern den Gegenvorwurf ein, »im Ghetto der Geschichte« steckengeblieben zu sein. »Sie scheinen in ihrer Nische zu hocken und sich insgeheim zu wundern, daß die große Welt nicht zu ihnen kommt. Oder sie tun so, als hätten sie mit dieser nichts zu tun« (Michael Fritz in der Festschrift). Jugendbewegung und Politik – das ist ein altes und seit den Apo-Ereignissen vor 20 Jahren, die zu Streit und Spaltung vor allem bei den Pfadfinderbünden wie insgesamt zur großen Abwanderungswelle geführt haben, ein traumatisches Thema. Sollen die Bundesführer, fragt man sich nun, im Namen ihrer Sippen, Stämme und Horden zu aktuellen Problemen Stellung nehmen, eine Art politisches Mandat ausüben? Die Frage, bedenkenreich hin- und hergewendet, wird schließlich doch wieder ins Innenverhältnis zurückgebogen zur liebvertrauten Frage nach dem Führerprinzip. Das lindert Berührungsängste. Die beiden Gäste auf dem Podium, der SPD-Abgeordnete Peter Conradi und der Hamburger CDU-Fraktionsvorsitzende Hartmut Perschau, verströmen abwechselnd Frischmut aus der politischen Arena und Nestwärme aus ihrer eigenen jugendbewegten Vergangenheit. »Nein, nein«, beschwichtigt Conradi, »Gesellschaft und Parteien haben an die Bünde keine spezifischen Erwartun-

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gen.« Es genügt, daß die Kleingruppe sich für Probleme der Umwelt, der Familien und Sozialstruktur und der Vielfalt kulturellen Lebens offen hält. Perschau äußert Skepsis gegen jedweden Missionsanspruch. »Der legt immer den Verdacht nahe, daß man mit sich selbst nicht ins reine kommt.« Bünde seien für die einzelnen da, Pluralismus sei erwünscht. Wer einigermaßen hellhörig ist, vernimmt das Echo uralter Beschwörungsformeln von und vor 1913: Nur kein Programm, kein vorschnelles Festlegen! Erst einmal rein bleiben und reif werden! Dann später, erwachsen und gefestigt, wird man Stellung beziehen, wenn’s sein muß auch parteipolitisch. Väterlich, so scheint mir, dröhnt die Stimme des berühmten Kunstpädagogen und Kunstwart-Herausgebers Ferdinand Avenarius vom ersten Meißner-Fest herüber zum jetzigen. Er mahnte damals, »nicht großmäulig ernten zu wollen, wo erst gesät werden muß«, keinem Jugendkult anheimzufallen, aber doch »einen munteren Sauerteig ins deutsche Volk zu setzen«. Es ist wahr, die bürgerliche Jugendbewegung hatte 1913 auf ihrem heiligen Berg alle Hände voll zu, tun, die programmatischen Umarmungsversuche abzuwehren, die besonders von den erwachsenen Lebensreform- und Abstinenzbündlern ausgingen. Männer wie Avenarius, der Verleger Eugen Diederichs, der Pädagoge Kerschensteiner, die Philosophen Paul Natorp und Ludwig Klages, der Soziologe Alfred Weber und vor allem der Reformpädagoge Gustav Wyneken standen – schreibend oder redend – den Jungen bei in ihrem Wunsch, sie selbst zu sein. Zwei Weltkriege und zwölf Jahre Hitler-Diktatur haben seltsamerweise das Autoritätenproblem nicht verschlungen. Als habe es in einer Warteschleife der Sozialgeschichte nur überwintert, kam es beim 50jährigen Meißner-Jubiläum, wo der Theologe Helmut Gollwitzer die Festrede hielt, wieder zum Vorschein und erregte Ärgernis. Gollwitzer ermutigte 1963 die Nachkriegsjugend, sich nicht für Kirchen, Parteien, Regierungs- oder Verbandsinteressen, nicht einmal jugendpflegerische, einspannen zu lassen. »Selbsterziehung und Selbstverwirklichung« hießen nun die Parolen. Die im Gegensatz zur MeißnerFormel von 1913 sehr wortreiche Grundsatzerklärung sagte es so: »Die bündische Gemeinschaft vermittelt humane Werte und Haltungen zweckfrei.« Die Meißner-Formel von 1988 klingt anders. Sie postuliert die »Suche nach einem neuen würdigen Weg« aus den Gefährdungen durch »die unverantwortliche Zerstörung der Natur, die Vereinsamung der Menschen und die Abkehr von den Qualitäten des Lebens«. In wörtlicher Treue zur Jugend von 1913, die nur »ihr Leben gestalten« wollte »nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit«, gilt dieser Formeldreiklang jetzt dem Abwendenwollen fast allen Elends, das es gibt. An einem Bach beim Lager haben die Jüngsten hier gelernt, wie man mit dem Casher Kleinlebewesen fängt, mit der Lupe sortiert und nach einem Bestimmungsbogen die Verschmutzung des Wassers abschätzen kann. Das beschei-

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dene Experiment stimmt, eben auch, weil es Spaß macht, besser als die beste Meißner-Formel mit der Haltung überein, die Jürgen Reulecke so dringlich empfohlen hat: »Jetzt geht es um trickreiches, widerborstiges, phantasievolles Handeln und um Zivilcourage, eben um das, was Umberto Eco die Zersetzung der Ernsthaftigkeit des Gegners durch das Lachen und die Satire nennt.«

23. Kay Funke-Kaiser : Wann wir schreiten Seit an Seit – 75 Jahre deutsche Jugendbewegung. Radiomanuskript der Sendung vom 4. 12. 1988, 11:05 – 12:00; NDR, Redaktion Forum 3 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 123. (…) Auf dem Hohen Meißner, 1988. Über einem schwarzen Zelt flattert eine lila Fahne im Wind, die Fahne der Frauen-Jurte, auf der steht: »Frisch. Fromm, Fröhlich, Frau.« Vor dem Eingang singt eine Gruppe von Mädchen ein altes französisches Trinklied, was aber aus ihren Kehlen überhaupt nicht danach klingt. Aber Mädchen, die sich wie Jungen gebärden, sind in einem Lager der Wandervögel noch immer eine bedrohliche Herausforderung, berichtet Helga: [O-Ton 22] »Was uns am meisten erschreckt hat, wir haben vorgestern Abend einen Hexentanz gemacht, (…) wir hatten dann für heute morgen auch einen Elfentanz, um uns selber auch ein bißchen durch den Kakao zu ziehen und auch diese Emanzenfrage, die hier ja ständig im Raum steht, ein bißchen ad absurdum zu führen, und haben also um 24 Uhr diesen Hexentanz angefangen, und sahen uns draußen richtig einer Front entgegen, und ein Mädchen von uns ist isoliert worden, ist von acht Männern gepackt worden und sollte in den Tümpel dort hinten geschmissen werden, und wenn nicht andere dazugekommen wären, dann wäre das auch passiert.« [Sprecher 1] Im Zelt dampft ein Kessel mit Kaffee über dem Feuer. Im Rauch hängen rote Lippen aus Plastik. Mädchen gehen aus denselben Gründen wie Jungen in ein solches Lager, erzählen Helga, Anna und Martina: [O-Ton 23] »Ich denke, es sind genau die gleich Gründe, die Jungens auch bewegen in diese Bünde zu gehen, nämlich eben was zu machen, was man sonst nicht machen kann, und bei Mädchen sogar noch stärker, weil das noch wesentlich weiter von der Konvention entfernt ist, Jungens klettern eben auf Bäume und hauen solche

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um, und Mädchen machen das normalerweise nicht, und hier können sie es wirklich machen. Für mich war das unwahrscheinlich toll, so verschlammt rumzulaufen, in unserer Kote und unser Essen und die Kultur, dass war nur Gammel, nur Gammel, ich weiß, wir haben unwahrscheinlich gern Sauflieder gesungen, und (…) diese traditionellen Männersauflieder. dann geht’s ja immer : und ein Mägdelein, dann war das bei uns der junge Mann, da haben wir uns richtig hochgepuscht damit auch, und ich glaub, daß es für uns in einer gewissen Zeit schon wichtig war, einfach auch mal frech, wild, nicht mädchenhaft zu sein. Und es zeigt sich auch immer mehr, daß auch immer mehr Bedarf ist, also bei uns in den Gruppen, die Jungens haben Schwierigkeiten neue Jungens zu finden, und die Mädchengruppen laufen über, weil jetzt eben die Mädchen irgendwie dran sind und auch viele Eltern das also unterstützen, auch viele Mütter, die jetzt ein anderes Denken haben.« [Sprecher 1] Schwerer als die Mädchen haben es jedoch noch die Pärchen im Lager. Junge und Mädchen Arm in Arm, das ist äußerst selten. Ein Schild mit der Frage »Kondome – was haben wir damit zu tun?« wirkt fehl am Platze. Vielfach wandern die Gruppen noch nach Mädchen und Jungen getrennt. Martina: [0-Ton 24] Was wir jetzt auf dem Lager, im Gruppenleben nicht so gerne haben wollen, ist so, eine Freundschaft kann ja auch eine Gruppe kaputt machen, (…) und das kann schon störend wirken, wenn überall die Liebespärchen rumstehen, das ist eigentlich was, was wir nicht so gern wollen. (…) [Sprecher 1] Im diesjährigen Lager auf dem Hohen Meißner sind mehr Jugendliche als jemals zuvor zusammengekommen, über 4.000 Jugendliche – das sind fast doppelt soviele wie vor 75 Jahren. Was die rund 70 Gruppen verbindet: ihre Begeisterung für das Wandern in zünftiger Kluft, mit Rucksack und Zelt, abseits der üblichen Wege. Die Jungen und Mädchen sind selber darüber erstaunt, wie viele sie noch sind. Marlies, eine Pfadfinderin, erklärt, warum sie gekommen ist: [O-Ton 73] »Ein weiterer Grund ist, glaube ich auch, die Tradition weiterzuführen. 1913 wurde die Meißner-Formel aufgestellt, und ich denke, daß man die immer noch vertreten kann, vielleicht nicht ganz so kraß, wie sie formuliert wurde, wir haben sie ja auch umformuliert, (…) eigene Gedanken gemacht, wie man sie auch auf die heutige Zeit anwenden kann, (…) na, ein Beispiel, es stand also, daß die

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Jugend alkohol- und nikotinfrei leben will, und wir haben also bemerkt, daß es sicher sehr extrem formuliert ist, und daß es vielleicht leichter ist, wenn man lernt, mit diesen Dingen umzugehen, mit Alkohol, mit Zigaretten, daß man es nicht ganz ablehnen sollte, weil es eben Menschen gibt, die das nicht können, sondern daß man eher lernt damit umzugehen.« [Sprecher 1] Die verschiedenen Bünde haben eine neue, aktuellere Meißner-Formel formuliert. Marlies: [O-Ton 34] Hier steht, in der Suche nach einem neuen würdigen Weg der menschlichen Kultur sehen wir die Aufgabe eines jeden, der der heutigen Zeit gerecht werden will, (…) es wurde hier einfach noch einmal formuliert, daß wir uns dazu bereit erklären, diesen Weg zu gehen, weil eben zu erkennen ist, wie es hier steht, der Mensch immer mehr vereinsamt, daß die Natur immer mehr zerstört wird und kaputt geht und daß Moral und Ethik, daß der Mensch sich immer mehr von diesen Begriffen abkehrt und dadurch die Existenz der Erde und ihrer Geschöpfe gefährdet. [Sprecher 1] Weiter betonen die heutigen Jugendlichen, ebenso wie die Wandervögel vom Anfang des Jahrhunderts: [Zitator] »Unser Ansatz der Selbstfindung, der Erlebnisorientierung, der Gruppenerfahrung und Erziehung zur Gemeinschaft geschieht ohne Abhängigkeit von Erwachsenenorganisationen. So bleiben geistige und parteipolitische Unabhängigkeit gewährleistet.« (…)

24. Martin Koch: Bericht vom Meißner-Treffen 1988 (Auszug), in: Die Sternschnuppe. Pfadfinderbund »Großer Jäger«. Für seine Jungen, Mädchen und Freunde, 1988, ohne Seitenangabe. Als ich zum ersten Mal dem magischen Ausdruck »Meißner ’88« begegnete, schrieben wir das Jahr 1985. Von Anfang an stellte sich mir dieses Phänomen als eines von riesigem Ausmaße dar. Es war die Rede von Vorbereitungen, die schon damals dringend notwendig sein sollten, vom Bundespräsidenten, der vielleicht

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Schirmherr sein sollte, von einer gemeinsamen Formel, von der Wirkung auf die Öffentlichkeit und von vielem anderen mehr. Je mehr ich von der Geschichte des Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner von 1913 erfuhr, desto wichtiger erschien auch mir dieses Ereignis zu sein. »Hier wird sich die bündische Jugend einmal in voller Wucht zeigen können«, dachte ich, »hier werden wir spüren, daß wir nicht allein da stehen, hier wird sich eine Kraft entfalten, die weiß, wie sie leben will, und die sich dieses Leben nicht kaputtmachen lassen will.« (…) Bis ich dann schließlich in der Nacht zum Donnerstag verspätet auf dem großen Zeltplatz ankam. Als erstes traf ich einen Bündischen, dessen Namen und Herkunft ich vergessen habe, der mich aber gleich in ein so gutes Gespräch verwickelte, daß ich froh war, da zu sein, und froh, dort so gute Gedanken zu hören. Es war kalt, dunkel und neblig, ich versuchte, unsere Jurte zu finden und irrte durch das Lager, das mir riesengroß zu sein schien. Aus dem Nebel tauchten immer neue Zelte auf, in denen Feuer wärmten. Ich blieb immer wieder stehen und lauschte Liedern und Gesprächen. Es war spannend. Ich spürte, da war etwas von dem, was wir immer suchen. Unsere Jurte fand ich nicht mehr, und so legte ich mich in irgendeine andere und lauschte auf das, was von allen Seiten in meine Ohren und mein Bewußtsein strömte. Der nächste Morgen war einer von denen, von denen man sagt, daß sie einen wieder auf die Welt zurückholen. Alles, was einen noch in der Nacht träumen ließ, steht nun nackt und selbstverständlich da, als wolle es einem sagen, daß man sich in der Nacht nur in der Welt getäuscht habe. Die Welt erscheint einem dann wie eine große Aldi-Milchtüte, und das tat sie auch hier, trotz all der Jurten, Pelzmützen und selbstgeschnitzten Löffel. Da half auch kein Zähneputzen. Nun, ich könnte so über das ganze Lager fortfahren, aber das schiene mir doch den Rahmen zu sprengen. Wichtig ist nur, daß ich über das ganze Lager hin zwischen diesen beiden Stimmungen schwankte. Ich nahm an Veranstaltungen teil, die mich aufrütteln konnten, so zum Beispiel ein selbst erlebter Bericht über bündischen Widerstand in der Nazizeit oder auch einfach tolle Runden am Feuer. Andererseits mußte ich aber feststellen, daß ich mit einem großen Teil der Leute, die ich dort sah, überhaupt nichts anfangen kann und sie mich auch nicht besonders interessieren. Auch ist mir einiges begegnet, was ich strikt ablehne. Die Bündische Jugend, eine große Gemeinschaft? Nein, für mich nicht, ich kann mich nicht mit allem identifizieren und auch nicht mit allen an einem Strang ziehen. So viele Hände hab ich ja auch gar nicht. Ähnliches in der Feierstunde: Gelangweilte Stimmung, isoliert sein, wenig Einklang, wenn auch zum Teil gute Reden. Das Gefühl, daß von hier die Welt bewegt werde, war kaum zu spüren. Die Bündische Jugend, eine geballte Kraft? Nein, auch das nicht, aus meiner Sicht. (…)

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25. Hauke: , … in innerer Wahrhaftigkeit …, (Auszug), in: Die Sternschnuppe. Pfadfinderbund »Großer Jäger«. Für seine Jungen, Mädchen und Freunde, 1988, ohne Seitenangabe. (…) Innere Wahrhaftigkeit könnte sich doch im praktischen Leben der Gruppe widerspiegeln, in der Haltung der Gruppenmitglieder. Haltung nicht als etwas Äußeres (obwohl auch das dazugehörte), Haltung nicht im Sinne von Fassung, Beherrschtsein (obwohl auch das dazugehörte), sondern Haltung als Übereinstimmung von Bekenntnis und Tat! Ideale haben wir alle, nach dem Meißner möglicherweise in sinnvoller Ernährung oder in Ökologie. Doch wie sehen unsere Taten aus? Wie wird denn für die nächste Stammesfahrt eingekauft? Zur inneren Wahrhaftigkeit gehört es, unser Gewissen zu schärfen, damit die Kluft zwischen praktischem Leben und unserem Bekenntnis klein gehalten wird. Können wir noch in den Spiegel gucken? Den leichten Weg des geringeren Widerstandes gehen und fahren wir einerseits – hohe Werte belegen wir andererseits. Und ein schlechter Kompromiß ist der reale Alltag. Tolle Haltung. Laßt doch die Unaufrichtigkeit in der verbogenen, verlogenen und korrupten Welt der Erwachsenen. Müssen wir uns schon mit einer derartigen Lebenslücke [sic!] beflecken? Wir sind wohl schon krankgewordene Menschen in einer kranken Zeit. (…) Zu etwas mehr innerer Wahrhaftigkeit möchte ich auch bei folgendem (…) Punkt aufrufen. Sind wir uns im Klaren, wie groß unsere Freiheit möglicherweise sein kann? Wir dürfen nur nicht verlernen, etwas damit anzufangen. Freiheit von äußerer Autorität, Freiheit zur Absage an die Ansprüche aller von außen sich aufdrängenden Mächte. Freiheit zu eigener Gestaltung des Lebens, ausschließlich vor dem persönlichen Gewissen! Die Gruppe haben wir uns selbst gewählt – und dann? Nutzen wir die Freiheit, weiter selbst auszuwählen. Wir haben die Freiheit, doch wir wissen vielleicht zu wenig damit anzufangen. Zu unseren zu bewahrenden Werten seien spätestens seit dem Meißner auch die Themen und Ziele »Leben«, »Ernährung«, »Ökologie« und »Natur« erwähnt, auf denen wir frischen Fuß fassen könnten. Oder soll es uns ergehen wie vielen unserer außerbündischen Klassenkameraden und Freunde, die mit dem Übermaß an gewährter Freiheit nicht allein fertig werden; Folge: Isoliertsein, Einsamsein, Verödung, Alkoholmißbrauch, Drogen? Nein. Wir haben doch wohl die Freiheit zum Erleben auf Fahrt – nutzen wir sie, gerade in einem Zeitalter, in dem die Technik die Natur des spontanen Gefühls zurückdrängt, auch aus? Die Effizienzsteigerung, die wir in Wissenschaft und Technik, in Staat und Wirtschaft zuwege gebracht haben, hat also Nebenfolgen. Achtung! Wir sind ja bisweilen schon so weit, daß wir lieber das Atom befreien als uns selbst.

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Mein Plädoyer für die Bewahrung unserer inneren Freiheit baut darauf, daß ich schon Parallelen sehe zur wilhelminischen Epoche der 1913er. Nur hinter dieser hohl gewordenen und verlogen wirkenden Fassade mit blindem Hurrapatriotismus unter Wirkung von Tabaksqualm und Bierdunst, Frauenverachtung und dem Grölen abgedroschener Lieder konnte ja der Wunsch nach innerer Wahrhaftigkeit erwachsen. Und heute gehen wir genauso auf die ständigen Feten, reden viel, sagen aber nichts aus, erfreuen uns scheinbar nur noch am Konsum der Genußmittel. Feten um ihrer selbst willen. Mal ehrlich: Die wirklich guten, wahrhaftigen Gespräche führen wir doch ganz bescheiden bei einer Kerze, möglicherweise in einer Kohte oder Jurte in karger Natur! Heute sind es eben Mode, Werbung, Medien und Konsumzwang, die unsere Freiheit Stück für Stück einengen. Natürlich ist es leichter, sich Hamburger und Ketchup zu holen, sich auf die Denkart 0 und 1 des Home-Computers zurückzuziehen, nach Feierabend das Fernsehen anzuschalten und sich im Urlaub den Geschicken eines Animateurs anzuvertrauen. Dem könnten wir ebenfalls mit einer etwas stärkeren inneren Wahrhaftigkeit leicht begegnen. (…)

26. Sabine Lietz-Ligat: Zu den Qualitäten des Lebens zurückkehren. Rund 3000 Jungen und Mädchen, Männer und Frauen auf dem Meißner versammelt, in: Frankfurter Rundschau vom 14. 10. 1988. Frankershausen. Schauplatz: Ein schön gelegener Hang am Fuße des nordhessischen Meißner, umgeben von herbstlich gefärbtem Laubwald. Von weitem sichtbar sind unzählige Fahnen auf schwarzen, teilweise monumentalen Zelten, die durch ihre Form mitunter etwas mongolisch anmuten. Aus vielen der rund 100 Zelte, die oben eine Öffnung haben und Jurten heißen, dringt Rauch von Feuerstellen. Vor, in und zwischen den Zelten sitzen Jugendliche, singen, spielen Klampfe, kochen, schnitzen, töpfern, diskutieren. Was für Außenstehende auf den ersten Blick an ein militärisches Feldlager erinnert, ist ein buntes, fröhliches und auch nachdenkliches Treffen von etwa 2000 bis 3000 Jungen und Mädchen, Frauen und Männern: Es ist das Treffen der sogenannten bündischen Jugend aus über 70 verschiedenen Bünden und Gruppierungen – vom Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP), der Deutschen Freischar oder Christlichen Jungenschaft über die Deutsche Waldjugend und dem Bund der Wildgänse bis hin zu den Wandervögeln oder der fkkjugend. Sie sind alle aus der gesamten Bundesrepublik nach Frankershausen im Werra-Meißner-Kreis, einem Ortsteil der Gemeinde Berkatal, gekommen, um

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bis zum kommenden Sonntag in dem riesigen Zeltlager Erfahrungen auszutauschen, Neues auch an praktischer und ökologischer Arbeit – zu lernen, in der Natur zu sein, »aktuelle Fragen der Jugend und der Gesellschaft« zu diskutieren oder sich einfach zu vergnügen. Den Anlaß für das Lager, das über mehrere Jahre hinweg geplant und vorbereitet wurde, gab das 75. Jubiläum des legendären »Ersten Freideutschen Jugendtages« anno 1913 auf dem Meißner, ganz in der Nähe des heutigen Lagerplatzes. An jenes Meißnertreffen soll auf einer zentralen Feier am Samstag erinnert werden. Im Mittelpunkt der damaligen Massenveranstaltung, an der sich auch etwa 2500 Freunde jugendbewegter und lebensreformerischer Bünde trafen, stand der Protest gegen die hurra-patriotischen Feiern der wilhelminischen Gesellschaft zur 100. Wiederkehr der Leipziger Völkerschlacht. Die »neue Jugend«, die sich gegen die verstaubten Vorstellungen des Bürgertums wandte, wollte mit einem »Gegenfest« in der freien Natur ihren neuen Lebensstil demonstrieren. Festgehalten wurde das emanzipatorische Selbstverständnis und Bekenntnis in der »Meißnerformel«: »Die Freideutsche Jugend«, so hieß es dort, »will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.« Die Jugendbewegung sollte geeint und das Signal für eine Erneuerung der Gesellschaft aus der Jugend gesetzt werden. Der Erste Weltkrieg und das Verbot im Dritten Reich, in dem auch viele Jugendliche zur Hitlerjugend »wechselten«, hinterließ tiefe Einschnitte in der Entwicklung der Jugendbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Mißtrauen gegenüber der bündischen Jugend groß, und auch die Zeit der Studentenbewegung führte zu starken Mitgliederverlusten bei den Bünden. Seit Ende der 70er Jahre wurde eine Wiederbelebung der Jungen Bünde festgestellt. Für Impulse sorgten dabei Projekte wie ein »Handwerkerhof«, die Jugendburg Ludwigstein oder auch die »bündischen Helfer« bei den Evangelischen Kirchentagen. Das viertägige Meißnerlager sei ein »repräsentativer Querschnitt aller Aktivitäten der Bünde«, umfaßt Lagervogt Thomas Grothkopp das Treffen. In 18 verschiedenen »Zentren« geht es um »sinnvolle Ernährung«, Theater und Chorsingen, »lebendig leben« oder den »Umgang mit der Natur«. Es gibt ein Frauencafe (»frisch, fromm, fröhlich, frau«), eine Fließwasseruntersuchung, eine Baumpflanzaktion, die Jugendlichen – Durchschnittsalter 14 bis 24 Jahre – können nähen lernen, Exkursionen zum Braunkohleabbau machen, Gottesdienste und Seminare besuchen oder mit Zeitzeugen des Meißnertages von 1913 oder 1963 diskutieren.

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»Mit Betroffenheit verfolgen wir den Weg, auf dem die heutige Zivilisation voranschreitet«, heißt es in der gemeinsamen Erklärung aller Bünde zum Meißnerlager. »Die unverantwortliche Zerstörung der Natur, die Vereinsamung der Menschen und die Abkehr von den Qualitäten des Lebens gefährden die Existenz der Erde und ihre Geschöpfe.« Dies erfordere ein Umdenken – und daran mitzuwirken, sieht die heutige Jugendbewegung als eine ihrer Aufgaben an. Zwar soll das Lager weniger dem geschichtlichen Rückblick, sondern eher der »eigenen Standortbestimmung und der Diskussion von Zukunftsperspektiven« dienen, Symbolträchtiges umgibt das Treffen dennoch: Die Jugendlichen treffen sich an »ihrem« Meißner, dem »heiligen Ort« der Jugendbewegung. Dieser Mythos wird sicherlich mitschwingen, wenn es bei der Jubiläumsfeier am Samstag aus Tausenden von Kehlen klingen wird: »Wir wollen zu Land ausfahren über die Fluren weit, aufwärts zu den klaren Gipfeln der Einsamkeit.«

27. Michael Swidersky : Meißner-Treffen der Nerother, in: Die Buschtrommel. Bündischer Anzeiger für Eisbrecher- und Stichwort-Leser, Heft 4, 1988, S. 4 f. Ein eigenes Treffen der Nerother. Das hat Gründe. Beim Festkonzert in der Witzenhäuser Bürgerhalle spricht der Bundesführer sie aus. Er tut das gekonnt und ist der Zustimmung seiner Zuhörer sicher. Er malt die Weltsicht eines konsequenten Jugendführers, der aus der Erfahrung lebt. Verdichten wir die Aussage, so bleibt die energische Absage an den jugendpflegerischen Anklang der meisten Bünde. Es bleibt die Absage an den Einbruch ungeeigneter Mehrheiten in die Bereiche der Verantwortung, gleich ob im staatlichen oder privaten Rahmen. Es bleibt der Satz: Die Meißner-Formel bedarf keiner Interpretation, sie muß gelebt werden! Der Abend macht deutlich, daß dieser Nerother Bund keine Gesellschaft braucht. Er kann allein bestehen und weiß das. Deutlich auch, daß Bundesführer selten geworden sind, zumal solche, die eine Aussage treffen können. Und deutlich schließlich, daß das Meißnerlager durch die Verweigerung der Nerother erheblich verloren hat. Unter den Zuhörern bekannte Gesichter. Buddy von den Tyrkern,30 Wasa,31 Christophorus,32 der Burgvogt des Ludwigstein, Karl Vogt, der Mentor des Treffens von 1963, und andere. Gelegentlich Kluft, BdP, CP, kleinere 30 Hartwig (Buddy) Bodmann, Mitglied des Bundes »Tyrker«. 31 Walter (Wasa) Sauer. 32 Dieter (Christophorus) Brauch.

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Einheiten. Musikalisch ein Erlebnis. Die achtzig Jungen mit ihrem wuchtigen, vitalen Vortrag, ein Gitarren-Solist mit südamerikanischen Stücken, glänzend, selbst die alten Nerother, improvisierend aus dem Publikum auf die Bühne gerufen, demonstrieren singend: So kann Lebensbund sein; Bund gelebt. Ich habe das Treffen von Anfang bis Ende begleitet. Samstagmorgen ein langer Zug der Fünfhundert. Die Polizei sperrt die Bundesstraße, um den Heerwurm von Werleshausen an den Wanderweg gelangen zu lassen, der westlich vom Ludwigstein, in Steinwurfnähe, auf die Höhe des Meißner führt. Das Lager liegt bei Laudenbach. Fünf oder sechs Stunden weit. Beim abendlichen Feuer spricht Volker Rung, heute Sprecher der Alt-Nerother, in den fünfziger Jahren einer der profiliertesten Führer des Bundes. Seine Worte sind knapp. Er dankt im Namen der Alten für den Bund der Gegenwart, den er deutlich besser bewertet als die Vergangenheit der letzten dreißig Jahre. FM sieht das im Gespräch schlichter. Er weist darauf hin, daß es ihm lediglich besser gelinge, eine Stileinheit zu wahren. Im Bürgerhaus des Dorfes wird die Nacht durchgesungen. Pimpfe bleiben im Lager. Alte und Führerschaft unter sich. Als Gäste die »Kreuzfahrer«, die dem Meißnerlager gemeldet waren, aber dann doch das Zusammensein mit den Nerothern vorzogen. Ihre Begründung sollte eingefordert werden. Es wird fröhlich. Vorträge und Wechselgesänge, mangels Bühne besteigen die Solisten den Tisch. Morgens um drei noch selten gehörte Einlagen im klein gewordenen Kreis. Hier lassen sich die besten Studien über den Umgang der führenden Nerother miteinander machen. An zwei Stellen ist Stoff für den aufmerksamen Beobachter. Was anderswo problematisch werden könnte, stört hier nicht die Harmonie. Man spricht aus und versteht. Es sind dem Wesen nach Männer, die hier sitzen. Auch wenn sie erst ihre 16 oder 17 Jahre haben. Sonntagfrüh, dichter Nebel auf der Hausener Hute. Der Bund ist geschlossen gewandert. Aufgestellt im großen Karree, können sich die gegenüberstehenden Flügel kaum erkennen. In der Mitte der Feldkaplan, ein junger evangelischer Theologe, der seinen Feldgottesdienst für alle Konfessionen ausrichtet. Er stellt ein Wort von Hermann Hesse in den Mittelpunkt: »Gegen die Infamitäten des Lebens sind die besten Waffen: Tapferkeit, Eigensinn und Geduld.« Die Predigt ist kräftig und eindeutig. Dank für die Schöpfung! Absage an alle, die menschliche Schwächen beklagen, statt ihnen mit Demut, Glaube und Kraft zu begegnen. Auch in dieser Absage bleibt sich der Bund in seiner Darstellung treu. Auf dem Heimweg, Sonntagnachmittag, stelle ich das Autoradio ein. HR 3 bringt einige Sendeminuten zum Meißner-Treffen der Bünde. Es spricht Tom33

33 Thomas Grothkopp.

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für das Lager, es spricht FM34 für seinen Bund. Der Unterschied sagt alles. Hinzuzufügen ist nichts.

28. Heinz Gruber : Ein »Freideutscher« geht durchs Lager (Auszug), in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, 30. Jg. 1989, Heft 1, S. 198. (…) Obwohl Tausende von Mädchen und Jungen im Lager sind, gibt es keine Masseneindrücke, sondern ein organisch gegliedertes, ständig bewegtes Erscheinungsbild: Für einen alten Jungenschaftler besonders auffallend: die große Zahl der so selbstverständlich und selbstbewußt auftretenden Mädchen. Ein Drittel aller Lagerteilnehmer soll es sein. Gleich am Eingang der Lagerstraße treffe ich auf einen aus vielen Bünden bunt zusammengewürfelten Singekreis. Ein Lied, das bei der kommenden Festveranstaltung gesungen werden soll, wird geprobt. In einem schönen, mehrstimmigen Satz erklingt das alte Arbeiter-Kampflied: »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ …«. Wie selbstverständlich öffnet sich der Singekreis, um mich einzubeziehen und mitsingen zu lassen. Ich muß gestehen, daß mir dabei ganz warm ums Herz wird. Und ähnlich freundliche Gesten wiederholen sich, wo ich auch hinkomme, im ganzen Lager. Keine Abwehr oder gar Mißtrauen gegen die zahlreich erschienenen »Ehemaligen«. Wir Alten konnten durchaus das Gefühl haben, ganz dazuzugehören! Dies und die überwältigende Freundlichkeit, die über dem ganzen Lager wehte, waren der stärkste Eindruck für mich. – Wir haben damals vor 1933 den Alten gegenüber oft überheblich und abweisend reagiert. In einem Tusk-Lied hieß es: »Hau ab, du alter Sack, wir brauchen dich ganz sicher nicht – auch ohne dich geht’s fürchterlich.« Nichts davon hier im Meißnerlager 1988! Als wir Alten am Abend im Naturfreundehaus auf dem Hohen Meißner »Manöverkritik« abhalten, ist die Hochachtung vor der großartigen Leistung in der Durchführung des Lagers und vor dem guten Geist der Teilnehmer absolut einhellig. – Doch, nein, eine kritische Stimme darf nicht unerwähnt bleiben. Sie bemängelte, daß viele Buben mit herabhängenden Strümpfen herumgelaufen seien. »Zu unserer Zeit …!« – na, und so weiter. Da auch unsere Strümpfe zu »unserer Zeit« mangels festen Gummis oft zu rutschen pflegten, wurde die Kritik ohne weitere Abstimmung abgeschmettert. Die jungen Bünde werden das zu würdigen wissen! 34 Fritz-Martin Schulz.

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Ceterum censeo: Trotz allem, die Jugendbewegung lebt, und die MeißnerGeneration 1988 ist nicht ihr schlechtester Teil!

29. Günter Knitschky : Morgenbesinnung des Freideutschen Kreises am MeißnerGedenkstein, in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, Jg. 30, Heft 1, 1989, S. 203. Sonntagmorgen. Naturfreundehaus auf dem Meißner. Dunkel und grau hängen Wolken über dem Berg. Die Hausener Hute, Platz des großen Lagers der Jungen Bünde vor 25 Jahren, zum Meißnertag 1963, ist nicht einmal zu ahnen. Gras und Sträucher sind naß, die Kronen der Bäume verschwinden wieder in den Nebelschleiern. Etwa dreißig Frauen und Männer des Freideutschen Kreises, zumeist Angehörige der Bünde zwischen den beiden Weltkriegen, haben sich im Halbkreis um den Meißnerstein versammelt, errichtet zum Gedenken an den ersten Freideutschen Jugendtag im Oktober 1913. Das alte Eichendorff-Lied klingt auf: »Nach Süden nun sich lenken die Vöglein allzumal …« – und gedämpft durch den Nebel: »Nun weht schon durch die Wälder der kalte Boreas …« Rudi Br¦e spricht zum Schicksal seiner Generation, von der einige Freunde dort versammelt stehen – jenes Opfer für vorgetäuschte Ziele und Versagen vor den wahren Herausforderungen; seine Mahnung an die Jungen: wachsam zu sein. Für die Jungen Bünde legt eine Abordnung der Deutschen Freischar einen kleinen Eichenkranz, buschig und grün, am Gedenkstein nieder. Stille – nur Wolkenfetzen ziehen zwischen den Bäumen hindurch. Dann das Schlußlied: »Nehmt Abschied Brüder, ungewiß ist alle Wiederkehr, die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer. Wir ruhen all in Gottes Hand, lebt wohl, auf Wiedersehn …«. Viel Traurigkeit war in diesem Gesang, aber auch viel Dankbarkeit und Tapferkeit.

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30. Peter Lampasiak: Kultur-Initiative, in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der Bündischen Jugend, Heft 1, 1989, S. 205. Allen, die Meißner ’88 vorbereitet haben, war klar, daß dieses Treffen nicht nur einen Jubiläums- oder Erinnerungscharakter haben durfte, sondern daß mindestens ebensosehr eine geistige Standortbestimmung der Bünde in der augenblicklichen Zeitsituation nötig sei mit daraus folgenden Zukunftsperspektiven. Viel stärker, als es 1913 möglich war, ist nach allem, was inzwischen geschah (zwei Weltkriege, Hitler-Regime, Stalin-Ära, Atombombe, Rüstungswettlauf, Gefährdung der Einzelperson durch Konsumübermaß und Medienflut …), deutlich, wo die Gefahren liegen, die der Menschheit drohen. Das kam auf dem Lager in den Einzelvorträgen und durch die Aktivitäten der Zentren klar heraus. Andererseits zeigte sich auch überall im Lager, welche positive schöpferische Substanz in den einzelnen Menschen lebendig ist. Es ist also die Frage, wie die Kluft überbrückt werden kann, die zwischen den katastrophalen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnissen einerseits und der schöpferischen Verwandlungskraft der Einzelpersönlichkeit andererseits besteht. Das »Ich kann ja doch nichts machen, der einzelne ist machtlos!« muß weg! Es muß eine Plattform, eine Basis geschaffen werden, auf der der einzelne seine schöpferischen Fähigkeiten im Zusammenwirken mit anderen Gleichgesinnten und Gleichgewillten zur Entfaltung und zur Wirkung bringen kann. Welche Potenz steckt in den Menschen, die sich auf dem Meißnerlager versammelt haben, in den Gruppierungen, Bünden, und wie kann sie zusammengefaßt werden, damit sie nicht verpufft? Kurz: Wie kann Meißner ’88 als Zukunftsimpuls weiterwirken? Durch Gerhard Neudorf kam schon in der Meißnervorbereitung der Gedanke auf, eine Kulturinitiative der interessierten Bünde zu begründen. In dem Zentrum »Lebendig leben« schritten wir dann am Freitagnachmittag zur Tat: Die Jurtenrunde beschloß, sich an einzelne aus den Bünden zu wenden, die entweder schon auf irgendeinem Gebiet über ihre eigene Gruppenarbeit hinaus in die allgemeine Öffentlichkeit hineinwirken oder die bei solchen Projekten mithelfen und mittun wollen. Was sich letzten Endes daraus entwickeln wird, hängt von der Intensität und Aktivität derjenigen ab, die diese Initiative tragen wollen.

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31. Roland [Eckert]: Was bleibt? (Auszug), in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der Bündischen Jugend, Heft 3, 1988, S. 134 f. Was bleibt? lm Abstand von 75 Jahren können wir erkennen: Die deutsche Jugendbewegung steht in dem Zusammenhang der sozialen Bewegungen, die die Herausbildung der modernen Welt begleiten. In ihnen antworten Menschen auf gesellschaftlichen Wandel und versuchen, ihn selbst zu gestalten. Dies können wir gegenwärtig in Frauen- und Friedensbewegung, in Ökologie- und Alternativbewegung wieder erfahren. Soziale Bewegungen ziehen junge Menschen im besonderen Maße an. In ihnen finden sie Gemeinschaften, die als erste in ihrem Leben selbst gestaltet sind. An die Stelle der Verwandtschaft tritt hier die Wahlverwandtschaft. Hier ergeben sich Handlungschancen, die unter der Herrschaft der »Alten« in Verein und Partei nicht bestehen. Hier öffnen sich Horizonte, die dem Leben einen Sinn über Familie und Beruf hinaus verleihen. Hier können sie erstmals eine Zuständigkeit für die Gesellschaft übernehmen, für die Welt der Zukunft oder gar – wie sie es ihnen manchmal scheint – für die Zukunft der Welt. Bewegungen ermöglichen so außeralltägliche, »begeisternde« Erfahrungen. Eben darin liegen die Chancen, aber auch die Gefahren der Bewegungen: Auf den Identitätsbruch einer »verspäteten Nation«, auf nationale Demütigung und Wirtschaftskrise haben die Deutschen mit einer völkischen Bewegung geantwortet, in der schließlich alle Schranken des Gewissens außer Kraft gesetzt werden konnten. Was hat die Jugendbewegung heute noch zu bedeuten? In der geschichtlichen Abfolge sozialer Bewegungen war ihr Beitrag das Prinzip der Selbsterziehung. Früher nannte man dies wohl »Selbstzucht« und brachte damit das Element der Askese als eines Mittels der Steigerung von Erfahrung und Leistung zum Ausdruck. Jungen und Mädchen haben ihre Bildung nicht dem Elternhaus und der Schule oder gar der Mode überlassen, sondern aktiv selbst betrieben. Sie haben Bund und Gruppe als Lebensformen entwickelt; ein Bauprinzip, das im Gegensatz zur Konstruktion der Schulklasse steht: Schule zerteilt die Jugend in Jahrgangsklassen, so daß altersübergreifende Gemeinschaften und Erfahrungen unwahrscheinlich werden. Wenn demgegenüber in den Jugendgruppen die Dreizehnjährigen etwas mit den Siebzehnjährigen und diese etwas mit den Fünfundzwanzigjährigen und diese wiederum schließlich etwas mit den ,,Alten« zu tun haben, wird Lebenslauf zur Gegenwart. Wichtiger vielleicht als dieses Bauprinzip ist, daß Selbsterziehung Erfahrungen zulassen kann, die in der Schule immer weniger Platz haben. Nachdem

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Schule über Lebenschancen entscheidet (und darin liegt ja gerade ihr Beitrag zur Gleichheit der Chancen), verdampft im Klassenzimmer zunehmend das, was man einmal Bildung nannte. Aller Reformpädagogik zum Trotz schieben Leistungskontrollen sich in den Vordergrund und schnurrt der Unterricht auf Prüfungsvorbereitung zusammen. Tun und Lassen des Lehrers müssen nicht unbedingt sinnvoll, auf jeden Fall aber justiziabel, d. h. gerichtsfest, sein. Um ihre Gerechtigkeit zu beweisen, grenzt Schule der Tendenz nach aus, was nicht meßbar und auf Prüfungen hin instrumentalisierbar ist. Sinnliche Erfahrungen, Gefühle, Phantasien und Spiele werden in das Schattenreich der Tagträume abgedrängt und bleiben darum ungeformt und unbegriffen. Die instrumentelle Vernunft, die unsere Gesellschaft organisatorisch zusammenhält, hat so nicht nur Bäche und Flüsse kanalisiert und Küsten begradigt, bedroht nicht nur unsere äußere Natur, also Insekten, Vögel, Fledermäuse und Unkräuter, sondern eben diese instrumentelle Vernunft zensiert auch unsere innere Natur, also Sehnsüchte, Phantasien, Vorerfahrungen und Leitbilder. Hiergegen kann das Prinzip der Selbsterziehung in einem umfassenderen Sinne Bildung möglich machen. Die uralten Räume gesteigerter Selbsterfahrung: Einsamkeit und Wildnis, Anspannung (bis über die vermeintlichen Grenzen hinaus) und Entspannung, Musik und Stille, Brüderlichkeit und Liebe: Sie alle können hier nicht nur wirken, sondern in erster eigener Schöpfung der Jungen und Mädchen Ausdruck, Gestalt und Symbol finden. Selbsterziehung als Prinzip ist heute bedroht. Nicht so sehr durch Eltern, Lehrer und Vorgesetzte, die der Jugend den eigenen Raum verwehren würden. (…) Selbsterziehung ist (…) nicht von den Erwachsenen bedroht, denen sie einmal abgetrotzt wurde. Sie muß sich behaupten gegenüber unzähligen Angeboten, die im Markt der Freizeit bereitstehen. Nicht nur »Materielles«, auch Weltanschauungen und Glaubenslehren stehen dort bereit. Der eigene Weg muß nicht mehr erkämpft, er muß vielmehr ausgewählt, erprobt und beschritten werden. (…) Weil sich Jungen und Mädchen heute schon früh spezialisieren, sind sie oft nicht mehr in einer Gruppe zusammenzuhalten. So steht jede Gruppe vor der Frage, was sie an vielfältigen Möglichkeiten aufnehmen kann, ohne sich aufzulösen. Bünde bieten nicht mehr die Alternative zu Elternhaus und Schule, sondern müssen sich selbst auf einem Marktplatz behaupten, der sich Jahr um Jahr erweitert. In der entstehenden Weltkultur werden sich manche Organisationsformen verändern. Wenn es uns aber gelingen sollte, Natur und Menschheit zu erhalten, dann ist Gelassenheit angebracht. Gerade am Aufblühen der neuen alternativen Bewegungen können wir lernen: Auch die vielfältig wählbaren und abwählbaren Möglichkeiten der Konsumgesellschaft verlieren irgendwann ihren Glitzerglanz.

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Dann tritt Altes, ganz Altes in neuer Jugend hervor : Lebensformen, in denen die Spannung zwischen Geist und Körper, Politik und Person, Zivilisation und Natur, Rationalität und Spiritualität ausgehalten und in gemeinsamer Gestaltung aufgehoben wird. Und hier wird auch Selbsterziehung von Bedeutung sein; hier werden sich Jüngere und Ältere, Lernende und Wissende immer wieder begegnen. Roland

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Selbsthistorisierung und Ausblick – Das Hundertjahrjubiläum des Meißnerfestes im Oktober 2013

Wie schon 1988 begannen die Vorbereitungen für das nächste Meißnerfest, diesmal aus Anlass des Hundertjahrjubiläums des ersten Freideutschen Jugendtages von 1913 bereits rund fünf Jahre vor dem großen Ereignis, das sich allerdings erinnerungskulturell in mehrfacher Hinsicht von den Meißnertreffen der Jahrzehnte zuvor unterscheiden sollte.1 Für die Mehrzahl der Hauptakteure und erst recht der Teilnehmer der Festwoche vom 1. bis 6. Oktober 2013 waren die vorangegangenen Jubiläen 1963 und 1988 bereits Geschichte – die Planungen für 2013 fanden erstmals ohne Angehörige jener »Meißner-Generation von 1913« statt, die bis in die 1960er Jahre hinein noch deutliche Akzente gesetzt hatten und sogar 1988 noch eine – wenn auch bereits randständige – Rolle gespielt hatten. Auch die Festgestalter der Fünfzigjahr-Feier des Jahres 1963 gehörten mehrheitlich jetzt zu den »Alten«, deren aktiv jugendbewegte Zeit bereits in »weiterer Ferne« lag bzw. der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts angehörte.2 Deutlich weniger eindringlich als bei den vorangegangenen Jubiläen formulierten Angehörige älterer jugendbewegter Erlebnisgenerationen »Botschaften« an die nachgeborenen Jüngeren. Die Initiative lag – abgesehen von einigen »prominenten« Teilnehmern des Meißnerfestes von 1988 – vor allem bei diesen Jüngeren, darunter insbesondere bei Mitgliedern von Gruppen (darunter einer Reihe von Pfadfinderbünden), die bislang noch kaum »Meißnerjubiläumserfahrungen« gesammelt hatten. Die Neuordnung Europas nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die 1 Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit »100 Jahre Hoher Meißner« vgl. Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2014; s. auch G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugend zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26. 09. 2013 bis 19. 01. 2014, Nürnberg 2013. 2 Wie gering etwa die Zahl der Meißnerlager-Teilnehmer des Jahres 1963 beim Festakt am 4. Oktober 2013 war, zeigte sich, als diese aufgefordert wurden, sich auf dem Festplatz zu erheben.

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deutsch-deutsche Vereinigung, die Auswirkungen des sog. Bologna-Prozesses, Einflüsse der »digitalen Welt« auf Kommunikationsprozesse sowie nicht zuletzt Fragen der »Nachhaltigkeit« im Umgang mit den Ressourcen der Natur stellten 2013 historische und generationelle Zeithorizonte dar, die in Stellungnahmen und Reden, im Programmatischen und im spielerischen Angebot für die Festteilnehmer ihren Niederschlag fanden. Es überrascht daher nicht, dass die Namen Knud Ahlborn (1888 – 1977) und Gustav Wyneken (1875 – 1964) kaum noch genannt wurden, Hans Paasche (1881 – 1920) dagegen einen herausragenden Platz im erinnerungswürdigen Meißner-»Olymp« des Jahres 2013 einnahm. Darüber hinaus wurde – auf jugendbewegte »Gründerväter« bezogen – Enno Narten (1889 – 1973) besondere Aufmerksamkeit zuteil: Mit dem Plan, dem in den Meißner-Jubiläumskontext eingebundenen Neubau, dem »dritten Ring« auf dem Ludwigsteiner Burggelände, den Namen »Enno-Narten-Bau« zu geben, wurden der Hohe Meißner und die Burg Ludwigstein als zwei zentrale Erinnerungsorte und Aktionsfelder der Jugendbewegungsgeschichte im Vorfeld der Jubiläumsfeierlichkeiten von 2013 eng miteinander verzahnt.3 Die Meißnerformel von 1913 war – wie nicht anders zu erwarten – wiederholt Gegenstand der Vorbereitungstreffen für 2013 und fand auch in den bündischen Zeitschriften Beachtung.4 Die Formulierung einer Meißnererklärung war zwar, wie in den Quellenauszügen nachzulesen ist, das Ergebnis eines längeren »Prozesses«; an deren Formulierung entzündeten sich jedoch keine wirklichen Grundsatzdebatten mehr. Wie zentral die bereits in den vorausgegangenen Jahrzehnten immer wieder neu- und umgedeutete Meißnerformel auch 2013 war, lässt sich nicht nur daran verdeutlichen, dass sie während des Festaktes zweimal – zu Beginn und gegen Ende – verlesen wurde. Darüber hinaus war sie eingebettet zum Beispiel auch in ein zeremonielles Spiel, mit dem der »Verbundenheit mit den Idealen der Meißnerformel aus dem Jahre 1913« Ausdruck verliehen werden sollte, wurde also gleichsam als Klammer der Jugendbewegungsgeschichte von 1913 bis 2013 verstanden. Die Feierlichkeiten erreichten mit dieser Form symbolisch aufgeladenen gemeinschaftlichen Handelns zweifellos einen Inszenierungshöhepunkt, der an Bekanntes anknüpfte, aber auch innovativ wirkte. In der Ablaufbeschreibung heißt es dazu wörtlich: »Der 3 Der Grundsteinlegung auf Burg Ludwigstein am 10. Januar 2010 folgten das Richtfest am 22. Oktober 2010 und die Einweihung am 12. September 2012 (zur Einweihung vgl. AdJb A 211 Nr. 156). Ein weiteres Beispiel: Die Jugendbildungsstätte veranstaltete vom 28.9. bis zum 13. 10. 2013 in Zusammenarbeit mit der Stiftung und dem Archiv der deutschen Jugendbewegung »Meißnerwochen« mit einem umfangreichen Programm, zu deren Höhepunkten dann die »Meißnernacht« am 12. 10. 2013 gehörte. 4 Als Grundlage für eine ausführliche Beschäftigung mit der Meißnerformel diente beispielsweise die in der »Zeitung« 1 (2009) abgedruckte, schon während des Vorbereitungstreffens vorliegende, von Dieter Geißler zusammengestellte Textauswahl »Hoher Meißner 1913, 1963 und 1988 – einige Quellentexte in Auszügen«.

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Festakt selbst ist in zwei Abschnitte unterteilt. Zunächst hören wir vier Wortbeiträge von der Bühne aus; zwischen den einzelnen Reden singen wir gemeinsame Lieder. Parallel dazu entsteht Schritt für Schritt ein Jahreskreis: Wir möchten jedem der vergangenen einhundert Jahre Rechnung tragen. Die Jahre ab 1913 werden aufgerufen; mit jedem Aufruf stellt sich ein Fackelträger als Repräsentant des genannten Jahres in einen Kreis, der zum Ende des ersten Teils unseres Festaktes die Festversammlung als Lichtkreis umschließen wird. Alle teilnehmenden Bünde haben dann die Möglichkeit, ihr Banner zur Jahresfackel zu stellen, die ihr Gründungsjahr darstellt. (…) Gegen Ende des ersten Teils wird aus dem Kreis der Anwesenden heraus allmählich mit der Vorbereitung eines großen Feuerstoßes begonnen, der Schauplatz des zweiten Teils der Feierstunde sein wird. Schließlich begeben sich die Fackelträger zum Feuerstoß, und auch die übrige Festversammlung ist gebeten, dazuzukommen. Wie auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag von 1913 stimmen wir gemeinsam die ›Ode an die Freude‹ an, während die Fackelträger den Feuerstoß entzünden.« Aus diesem gemeinschaftsstiftenden symbolischen Handeln schließen zu wollen, die Vorbereitungen hätten weitgehend ohne Kontroversen und Konflikte ihren Gang genommen, wäre jedoch verfehlt. Bereits 2009 hatten sich Tendenzen abgezeichnet, völkische Traditionslinien in der jugendbündischen Szene kritisch »unter die Lupe« zu nehmen und wie auch immer im Einzelnen zu bestimmenden politisch »rechts« anzusiedelnden Bünden eine »Absage« zu erteilen. Unter Verdacht gerieten nicht zuletzt mit der Publikation »Wer trägt die schwarze Fahne dort …« Bünde wie der Sturmvogel, die Fahrenden Gesellen, der Deutsche Mädelwanderbund, die Artamanen und die Deutsche Gildenschaft.5 Im März 2010 widmete sich z. B. eine Veranstaltung auf Burg Waldeck im Hunsrück unter dem Titel »Demokratisch – rechts – bündisch« ideologischpolitischen Positionierungen und Abgrenzungen.6 Die Frage, welche Bünde möglicherweise von der Teilnahme am Meißnerlager 2013 ausgeschlossen werden sollten, nahm in der Folgezeit in den Vorbereitungsüberlegungen und -planungen zunehmend einen breiten Raum ein und entzündete sich beispielsweise im November 2010 konkret an einem Vorstoß von Seiten des Ringes junger Bünde (RjB),7 dem »Freibund« die Mitarbeit in der 5 Maik Baumgärtner, Jesko Wrede: »Wer trägt die schwarze Fahne dort …«. Völkische und neurechte Gruppen im Fahrwasser der Bündischen Jugend heute, Braunschweig 2009. Vgl. Andrea Röpke, Andreas Speit: Deutscher Jugendbund Sturmvogel. Rechte Brutpflege, in: taz vom 7. 1. 2010. 6 Zum dortigen Beitrag Roland Eckerts siehe ders.: Kulturelle Homogenität und aggressive Intoleranz. Eine Kritik der Neuen Rechten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament«, Nr. 44 vom 1. November 2010, S. 26 – 33. 7 Siehe zu den Gründungszusammenhängen das Kapitel »1963 – 50 Jahre Meißner : Meistererzählungen – mit Blick auf die Jugend der 60er Jahre« im vorliegenden Band.

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Jugendbildungsstätte auf Burg Ludwigstein zu untersagen. Damit war die Frage der Meißnerteilnahme 2013 jedoch noch nicht entschieden, und in einer Erklärung des Ringes junger Bünde Hessen e.V. vom 14. 11. 2010 hieß es noch: »Der Ring junger Bünde Hessen befürwortet ein offenes Meissnerlager für alle Bünde, die sich der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlen. Unter dieser Voraussetzung werden die Bünde des RjB Hessen an dem gemeinsamen Lager teilnehmen. Konservative und fortschrittliche Strömungen der heutigen Jugendbünde dienen dem Allgemeinwohl nur gemeinsam. … Wie es sich eindrucksvoll bei der Errichtung des Enno-Narten-Baus auf Burg Ludwigstein zeigt, ist das Miteinander der Bünde möglich. Daher unterstützen wir ein offenes Lager!«8 Wenige Tage später protestierte Gerhard Neudorf (1939 – 2014), Wandervogel und u. a. Initiator der »Kulturinitiative lebendig leben«, mit folgenden Worten unter Berufung auf das Konzept der »offenen Burg« und auf die Meißnerformel gegen die »Ausgrenzung des Freibundes«: Er wolle, so Neudorf, »als einer der Mitbegründer des RjB mit Dr. Karl Vogt in den 60er Jahren« seine »entschiedene Ablehnung der undemokratischen Politisierung der Arbeit des RjB in den Jahren 2009 und 2010« mitteilen.9 Die Dynamik der Polarisierung um die Frage nach einer »offenen Burg« und einem »offenen Meißnerlager« im Einzelnen schildern zu wollen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Es kam, wie hier nur angedeutet werden kann, am 28. Februar 2010 schließlich in Hofgeismar zu einem mehrheitlichen Beschluss auf einer Versammlung von Bundesführerinnen und Bundesführern der an den Jubiläumsplanungen beteiligten Gruppen, den Freibund, die Fahrenden Gesellen, den Deutschen Mädelwanderbund, den Sturmvogel und die Deutsche Gildenschaft von den Vorbereitungen und der Teilnahme am Meißnerlager 2013 auszuschließen. Auf derselben Veranstaltung in Hofgeismar hatten die anwesenden Bünde zuvor bereits darüber, ob »›die Falken Hannover‹ als eine politische Jugendgruppe teilnehmen« dürften, mehrheitlich ebenfalls mit »nein« abgestimmt; »generell« – so eine Formulierung im Protokoll – gelte »Zurückhaltung bei Anfragen politischer Organisationen.« Parallel zu den weiteren Meißnerplanungen kam es dann zu Vorbereitungen der Falken und ihnen befreundeter Gruppen für ein Erinnerungsfest an den ersten Arbeiterjugendtag in Weimar 8 Zur vergleichsweise marginalen Diskussion um die Gefährtenschaft e.V., die Fahrenden Gesellen und die Deutsche Jugend des Ostens im Zusammenhang mit dem Meißnerfest 1963 vgl. Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, Berlin, Boston 2014, Einleitung S. 4 (hier der Hinweis auf einen Artikel im Tagesspiegel vom 15. 10. 1963). 9 Gerhard Neudorf in einem Brief an die Bundesführerinnen und Bundesführer des RjB am 17. 11. 2010.

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von 1920, das für den 30. August/1. September 2013 in Weimar geplant wurde. »Beide Traditionslinien« der Jugendbewegung zusammenzuführen, gelang also nicht, was sich bereits während der Vorbereitungstreffen abgezeichnet hatte.10 Wenngleich in der »Weimarer Erklärung« vom September 2013 Bezug auf die Meißnerformel genommen wurde, zeigen die zentralen Aussagen dieses programmatischen Textes dennoch die deutlichen Unterschiede im Selbstverständnis bzw. in der Antwort auf die Grundsatzfrage: »gesellschaftlich-politisches Engagement oder parteipolitische Enthaltsamkeit?« Bezogen auf die Arbeiterjugend handelte es sich in erster Linie um wohl kaum aufzuhebende Differenzen zwischen Herkünften und Selbstsichten von historisch in unterschiedlichen sozialen und politischen Milieus beheimateten »Jugend-Bewegungen«, die im Vorfeld der Hundertjahrfeierlichkeiten von einigen Beteiligten vielleicht sogar als »Königskinder, die nicht zusammen kommen konnten«, angesehen wurden. Komplizierter dagegen gestaltete sich jedoch die angemessene Einschätzung gegenwärtiger bündischer Szenen und Gruppierungen mit ihren geschichtlichen Bezügen und ihrer ideologischen Nähe zum »völkischen Flügel der Bündischen Jugend.«11 Die in diesem Zusammenhang teilweise heftig und polemisch geführten Debatten hinterließen nicht nur im Vorfeld, sondern auch im Nachgang des Meißnerfestes 2013 sowohl auf der Burg Ludwigstein als auch im »wissenschaftlichen Feld« erhebliche Spuren, die auch noch 2014, während der Vorarbeiten zu der hier vorgelegten Dokumentation, Wirkung zeigten.12 In späteren kritischen Analysen des Gesamtphänomens »Meißner 2013« werden diese »Irritationen« wohl einen nicht unerheblichen Platz einnehmen.13 10 Kay Schweigmann-Greve: Der Hohe Meißner und die Falken, in: Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugend 2, 2012, S. 34 – 43, hier S. 40. 11 Vgl. Stefan Breuer: Der völkische Flügel der Bündischen Jugend, in: Botsch, Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik (s. Anm. 8), S. 110 – 133. 12 Kurzzeitig fror das Hessische Sozialministerium Ende Oktober 2013 die finanzielle Unterstützung der Jugendbildungsstätte auf Burg Ludwigstein ein, um Rechtsextremismus-Vorwürfe zu klären, die unter der Überschrift »Eklat um rechte Umtriebe auf Burg Ludwigstein« von Jesko Wrede in der online-Ausgabe der Wochenzeitung »Die Zeit« erhoben worden waren. Die Aussetzung der Zuwendungen wurde nach Prüfung der Sachlage zwar aufgehoben, die Stiftung Jugendburg Ludwigstein, das Kuratorium der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein, die Burgbetriebsleitung und die Leitung der Jugendbildungsstätte beschlossen jedoch im Nachgang der Ereignisse, dass auf der Burg »für ein Jahr keine Veranstaltungen von Pfadfinder-, Wandervogel-, Jungenschafts- und anderen jugendbewegten Gruppen« mehr stattfinden sollten, um Fragen der »offenen Burg« aufarbeiten zu können. Siehe auch: http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2013/10/23/eklat-um-rechte-umtriebe-auf-burg-lud wigstein_14239, sowie »Brief an die Bünde«: http://burgludwigstein.de/Fuer-die-Buende. 202.0.html, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. 13 In der Ankündigung zur Archivtagung auf Burg Ludwigstein am 24. und 25. Oktober 2014 heißt es: »Die Archivtagung 2014 bereitet … ein Stück Boden für eine gründlichere Auseinandersetzung mit der Frage nach der Historisierung und Selbsthistorisierung der Ju-

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Ob die Auseinandersetzung mit »dunklen Seiten« der Jugendbewegung, zu denen 2013 auch die Frage nach pädophilen Tendenzen in Jugendbünden (in Vergangenheit und Gegenwart) gehörte,14 insgesamt gesehen als »die« zentrale Thematik des Meißnerlagers erscheinen wird, sei allerdings dahingestellt. Wie Arno Klönne rückblickend treffend geschrieben hat, traf weder der taz-Redakteur mit seiner Behauptung, mit pädophilen Praktiken in der Jugendbewegung stehe eine Tradition »auf der Anklagebank«,15 den zentralen Kern der Fragen, die sich Außenstehende und Insider 2014 gestellt haben dürften und im Nachhinein stellen, noch jener Spiegel-Journalist, der unter der Überschrift »Rassenwahn am Lagerfeuer« nationalistisch-völkische Weltbilder im »Meißner-Milieu« thematisiert hat.16 In der Presseöffentlichkeit fand der »Meißner 2013« zwar nicht mehr die Resonanz wie in der Berichterstattung zum »Meißner 1963« und auch noch zum »Meißner 1988«, doch blieb das Hundertjahrjubiläum, wie oben bereits angesprochen wurde, keineswegs unbeachtet. Überregionale Tages- und Wochenzeitungen wie die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« oder »Die Zeit« berichteten, und auch nationalistische Medien wie »Die Junge Freiheit«, die »Deutsche Stimme« oder die »National-Zeitung« machten durchaus ausführlich auf »100 Jahre Meißner« aufmerksam.17 Vor dem Hintergrund einer breiten öffentlichen Resonanz auf die Frage nach der historischen Bedeutung des Jahres 1913 im Zusammenhang mit diversen

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gendbewegung in den Nachkriegsjahrzehnten, nach ihrem Bild des Nationalsozialismus und dem Bild der Rolle der Jugendbewegung, ihrer Bünde und individueller Angehöriger, vor und nach 1933 sowie nach dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach 1945. vor. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung und sein Wissenschaftlicher Beirat werden sich dieser Thematik in einer weiteren Jahrestagung, voraussichtlich 2016, widmen.« Im Frühjahr 2010 konstituierte sich in diesem Zusammenhang auf Burg Ludwigstein ein Arbeitskreis »Schatten der Jugendbewegung«. Während des Meißnerlagers wurden Fragen in aktuellen diesbezüglichen Zusammenhängen unter dem Stichwort »Tabubruch« thematisiert. Christian Füller : Päderasten in der Jugendbewegung. Wandern und vögeln. Bei den Wandervögeln soll ein leitendes Mitglied Jugendliche missbraucht haben. Sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene ist Teil ihrer über 100-jährigen Geschichte, in: taz vom 11. 6. 2013. Gunther Latsch: Nikotin- und alkoholfrei versammelten sich 1913 junge Leute zum »Ersten Freideutschen Jugendtag«. Rassenwahn am Lagerfeuer, in: Spiegel-Geschichte 3, 2013, S. 65. Einige Ausschnitte finden sich in dem hier vorgelegten Band; aus dem rechten Spektrum sei u. a. verwiesen auf Karlheinz Weissmann: Eine freie deutsche Jugend. 100 Jahre Hoher Meißner : »Aus eigener Bestimmung«, in: Junge Freiheit vom 11. Oktober 2013; Jürgen Gansel: Jung, deutsch und frei. Vor hundert Jahren gründete sich auf dem Hohen Meißner die »Freideutsche Jugend«, in: Deutsche Stimme, November 2013; von den vielen Beiträgen von Manfred Müller in der National-Zeitung seien angeführt: Preußisch, österreichisch, gesamtdeutsch. Wandervogel: Der alternative Jugendaufbruch war national ohne BierbankPatriotismus, in: National Zeitung vom 17. 5. 2013 oder : Nicht ganz wie vor 100 Jahren. Bündisches Meißner-Lager bei medialer Verzeichnung und in Regenfluten, in: NationalZeitung vom 11. Oktober 2013.

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lebensreformerischen Strömungen seit der Jahrhundertwende wurde mit Blick auf aktuelle Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen der »Meißner 2013« nicht zuletzt auch als »ökologischer Erinnerungsort« gedeutet.18 In Publikationen aus dem Jahre 2013 ging es um die Frage nach Kollektivsehnsüchten im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts.19 Der Westdeutsche Rundfunk widmete eine Folge der Sendereihe »ZeitZeichen« der Erinnerung an den Freideutschen Jugendtag 1913,20 und ein Dokumentarfilm mit Szenen aus dem Meißnerlager 2013, historischen Hintergrundinformationen und Einblicken in jugendkulturelle Szenen der Gegenwart vermittelte einem breiteren Publikum Facetten »bewegter Jugend« im 20. Jahrhundert.21 Während in Festschriften bekanntlich dokumentiert wird, was die Herausgeber und zur Mitwirkung eingeladenen Autoren für erinnerungswürdig halten, nicht zuletzt Reden22 und »Highlights« symbolischen Handelns, kreisten die Berichte vor allem jüngerer Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Meißnerlagers, das 2013 wie bereits 1988 nahe Frankershausen stattfand, ausführlich in Internet-Blog-Beiträgen um Eindrücke jenseits großer Worte und ideologischer Fragen. Sie lassen die bunte Vielfalt von Aktivitäten deutlich werden, mit denen sich rund 70 Gruppierungen23 unter einem Logo präsentierten, das mit dem Greif für die Wandervögel, der Lilie für die Pfadfinder und dem Falken über drei Wellen für jungenschaftliche Zusammenschlüsse auf die Hauptlinien und -traditionen der dort vertretenen Bünde verwies. 18 Christoffer Leber : Erinnerungsort »Das Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner«: http://www.umweltunderinnerung.de/index.php/kapitelseiten/lebensweisen/63-das-jugen dtreffen-auf-dem-hohen-meissner ; content/article/131-liste-der-bislang-verfuegbaren-erinnerungsorte/97-liste-der-bislang-verfuegbaren-erinnerungsorte, zuletzt aufgerufen am 13. 9. 2014. Vgl. auch Joachim Radkau unter Anspielung auf Hans Paasche in einem Essay zum Thema: Alternative Moderne: Ins Freie, ins Licht; in: Zeit/Geschichte 2, 2013, S. 16 – 21, auch unter : http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2013/02/reformbewegung-alternative-mo derne, zuletzt aufgerufen am 14. 9. 2014. 19 Florian Illies: Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2012, S. 239 – 241; ders.: »Es ist seitdem nicht mehr viel dazugekommen.« Ein Gespräch mit Florian Illies über Kunst und Gesellschaft 1913, in: Der Freitag. Das Meinungsmedium vom 28. 6. 2013, S. 8 – 20, darin Illies: »Zweifellos gibt es, das sieht man z. B. am Hohen Meißner, tatsächlich Kollektivsehnsüchte.« Siehe ferner : Franz Walter : Die Jugendbewegung auf dem Berg, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2, 2013, S. 35 – 48. 20 WDR3 ZeitZeichen, 12. Oktober 2013. 21 Phoenix: Bewegte Jugend – 100 Jahre freideutscher Jugendtag Fr. 18.10.13, 12.00 – 13.15 Uhr, auch unter : http://www.youtube.com/watch?v=C6byG-IJGO8, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. 22 Redner waren Franca Federer (franca, Waldjugend), Thomas Grothkopp (Tom, BDP, geb. 1954), Hans-Peter von Kirchbach (CP, heute VCP, geb. 1941) und Sebastian Arp (Freie Pfadfinderschaft Nordland, geb. 1993); Erdmann Linde (geb. 1943), »Meißnerfahrer« des Jahres 1963, hatte aus gesundheitlichen Gründen absagen müssen. 23 http://meissner-2013.de/sites/default/files/Medien/Pressemappe-Mei%C3 %9Fner-2013. pdf, zuletzt aufgerufen am 14. 9. 2014.

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In einer ausführlichen Fernsehdokumentation wurden atmosphärische Facetten des Lagerlebens und des Mit- und Nebeneinanders der Generationen dokumentiert. Unschwer lässt sich an dem etwa 80-minütigen Film ersehen, dass Pfadfinder unterschiedlicher Bundeszugehörigkeit eindeutig das Lagerbild dominierten (wenngleich z. B. der Zugvogel und die Freischar ebenfalls für wichtige inhaltliche Impulse verantwortlich waren) und dass Mädchen bzw. junge Frauen als Akteurinnen einen weitaus größeren Anteil an der »Festregie« besaßen als bei den vorangegangenen Meißnerereignissen.24 Dieses visuelle Dokument erweist sich als besonders geeignetes Material, an dem jüngere Außenstehende ebenso wie Angehörige der »in die Jahre gekommenen« Erlebnisgenerationen ihre Nähe bzw. Distanz gegenüber jugendbewegter »Restgeschichte« im beginnenden 21. Jahrhundert diskutieren könnten, beispielsweise auch im Zusammenhang mit der folgenden nachdenklichen Überlegung Roland Eckerts (geb. 1937). Das Besondere des Meißnerlagers 2013 könne, so Eckert, als ein deutlicher Kontrast des dort im Mittelpunkt stehenden Gemeinschaftslebens zu gegenwärtig verbreiteten Konsum-, Kommunikations- und Freizeitangeboten für Jugendliche gesehen werden.25 Dass man ohne Handy, Computer, iPad und »die ständige Verfügung der Supermarktwaren ganz gut und glücklich existieren« könne, stelle eine überraschende asketische »Selbsterprobung« dar und zwar im Sinne einer »liminalen« Erfahrung einer »Grenzüberschreitung«,26 für die Feste bekanntlich besondere Gelegenheiten bieten: Sie dienen bekanntlich dazu, den Routinen des Alltagslebens zu entkommen und spielerisch die Grenzen des Gewohnten zu überschreiten.27 Dies dürfte eine Fest-»Wahrnehmung« sein, die Meißner-Teilnehmerinnen und -teilnehmer 1913 ebenso wie 2013 gehabt haben könnten28 und die sich – vor hundert Jahren und auch gegenwärtig – auf »flüchtig« Atmosphärisches bezieht und sich wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt zu einer persönlichen »Er-fahrung« verdichtet, die dann in Erinnerungsdiskurse eingeht. In der von der Bundesführerversammlung zur Vorbereitung des Meißnerlagers 2013 im Oktober 2011 verabschiedeten Meiß24 Juliane Palm (kani, Wandervogel Uelzen) als Lagervögtin ist hier beispielsweise zu nennen oder Franca Federer (franca) als Rednerin. 25 Siehe zum Stichwort »Askese« auch Roland Eckerts Beitrag zum Meißner 1988 in diesem Band. 26 Roland Eckert: Gemeinschaft, Kreativität und Zukunftshoffnungen. Der gesellschaftliche Ort der Jugendbewegung im 20. Jahrhundert, in: Barbara Stambolis, Rolf Koerber (Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5, 2008, Schwalbach, Ts. 2009, S. 25 – 40. 27 Vgl. Norbert Elias: Alltag als Bezugspunkt soziologischer Theorie. Zum Begriff des Alltags, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 20, 1978, S. 22 – 29. 28 Vgl. Franz Walter : Vor hundert Jahren. Tanzen sieben Zwerge, bummsfallera, in: FAZ vom 9.6.013; auch unter : http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/vor-100-jahren-tan zen-sieben-zwerge-bummsfallera-12215422.html, zuletzt aufgerufen am 14. 9. 2014.

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nererklärung klingt ein solches »Selbsterprobungsangebot« in dem Satz an, »über die Geschichte von einhundert Jahren hinweg« gehöre auch im 21. Jahrhundert »die Einforderung des Rechts auf Jugendromantik, die Kritik an einer allein rationalen Bestimmung menschlichen Lebens … zu den Wesensmerkmalen der jungen Bünde.«29

29 Siehe: http://meissner-2013.de/sites/default/files/Medien/Pressemappe-Mei%C3 %9Fner2013.pdf, zuletzt aufgerufen am 14. 9. 2014.

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Abbildungen

Grundsteinlegung auf Burg Ludwigstein am 10. Januar 2010: Der Enno-Narten-Bau soll zum 100-jährigen Meißnerjubiläum fertig werden. Fotografin Birgit Richter, Foto AdJb.

Das Richtfest des Enno-Narten-Bau auf Burg Ludwigstein am 22. Oktober 2010. Fotografin Birgit Richter, Foto AdJb.

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Einweihung des Enno-Narten-Baus am 12. September 2012 auf Burg Ludwigstein. Fotografin Birgit Richter, Foto AdJb.

Tag der Anreise zum Meißnerlager 2013. Fotografin Patricia Schichl, Foto Meißner e.V.

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Fahnen der teilnehmenden Bünde 2013. Fotograf Daniel von Velde, Foto Meißner e.V.

Meißner 2013, »zweiter Tag, Eröffnungsrunde Ostforum«. Fotografin Patricia Schichl, Foto Meißner e.V.

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Meißner 2013, Blick auf die Meißnerformel. Fotografin Patricia Schichl, Foto Meißner e.V.

Grafische Gestaltung »Jede Formel muss erst mal bewiesen werden« und Meißnerlogo 2013, Meißner e.V.

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Lagerszene Meißner 2013, Fotograf Janusz Beck, Foto Meißner e.V.

Blick auf die Rednertribüne, in der Mitte Thomas Grothkopp. Fotograf Wolfgang Heisel, Foto Meißner e.V.

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Der Festplatz. Fotograf Daniel Schröder, Foto Meißner e.V.

»Morgenrunde« im Meißnerlager 2013. Fotografin Patricia Schichl, Foto Meißner e.V.

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Am Tag der Abreise. Fotografin Patricia Schichl, Foto Meißner e.V.

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1. Protokoll des Vorbereitungstreffens zum Jubiläum Hoher Meißner 2013 auf Schloss Martinfeld im Eichsfeld vom 13. bis 15. Februar 2009 (Auszug), (http:// meissner-2013.de/sites/default/files/Medien/dokumentation-protokoll%20 martinfeld.pdf), zuletzt aufgerufen am 2. 9. 2014. I Protokoll des Initiativtreffens zum Jubiläum Hoher Meißner 2013 auf Schloss Martinfeld (…) 2. Bisherige Entwicklung Aufgrund des anstehenden Jubiläums machten sich u. a. die Bünde des RJB Gedanken zur Angehensweise der Vorbereitungen. Bereits 2008 fanden zwei Treffen statt, die sich mit dem Jubiläum beschäftigten. Im Februar war es Thema der »Balduinsteiner Gespräche«, zu denen zwar bereits Gäste weiterer Bünde kamen, die jedoch weitgehend im internen Kreis der RJB-Bünde stattfanden. Im Juli fand daraufhin das erste offene Treffen, ebenfalls auf Burg Balduinstein, statt. Dadarish30 verfasste im Namen des RJB einen Aufruf, so dass sich bereits einige weitere Bünde zusammen fanden. bolko31 sammelt seither die Adressen aller Interessierten und versendet sie in regelmäßigen Abständen. Im Anschluss an diese beiden ersten Treffen, war Martinfeld nun die erste große überbündische Begegnung. Von nun an soll die initiierende Rolle des RJB durch übergreifende gemeinsame Strukturen abgelöst werden. Die ersten Treffen befassten sich inhaltlich mit folgenden Schwerpunkten: Im Januar galt es, sich mit der Geschichte des Freideutschen Jugendtages 1913 und der nachfolgenden Treffen auf dem Hohen Meißner auseinanderzusetzen. Jürgen Reulecke trug einen vielfältigen Vortrag zu den vergangenen Meißnertreffen und der dahinter steckenden Situation vor. Zudem kommentierte er eine Sammlung filmischer Dokumentationen vergangener Meißnertreffen und weiterer Aufzeichnungen der Jugendbewegung. Hintergrundinformationen zu den Meißnertreffen 1963 und 1988 bieten auch die angefertigten Chroniken, die auch in der Jugendbildungsstätte der Burg Ludwigstein zu finden sind. Das zweite Treffen im Juli knüpfte an das erste im Januar an. In einer etwas erweiterten Runde wurden wieder Filmausschnitte gesehen. Im Anschluss wurden erste Aspekte gesammelt, die bei den Vorbereitungen beachtet werden sollten. Da einige der Anwesenden 1988 bereits dabei waren und mehr oder weniger große Aufgaben übernahmen, konnte Wissen der damaligen Organisation gesammelt werden. Hinzu kamen weitere Ideensammlungen, inwieweit sich das Lager anders darstellen könnte, warum es stattfinden sollte und ob es überhaupt ein 30 dadarisch = Dieter Geißler (Deutsche Freischar). 31 bolko = Walter Pfeiffer (Deutscher Pfadfinderbund (DPB)).

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Lager sein sollte. Entscheidungen wurden keine getroffen – die Runde war definitiv zu klein. Aufgaben des Wochenendes zeigten sich in weiteren Ausschreibungen zur Einbindung weiterer Bünde und der Festlegung eines weiteren, aber größeren Treffens, in Martinfeld. 3. Vorbereitung und Einladung zu Martinfeld Die Veranstaltung des Treffens in Martinfeld entstand im Kreise der RJB-Bünde. Innerhalb der Bundesführerversammlung des RJB im Herbst boten wir (bölkes32 – Zugvogel und franca33 – Waldjugend) als Gäste dieser Sitzung uns an, die Organisation und Moderation für das bevorstehende Wochenende zu übernehmen. Der DPB stellte als Gastgeber, wie bereits erwähnt, Schloss Martinfeld zu Verfügung. bolko (DPB) übernahm weiterhin die Koordination der Adressen, die Anmeldungen und den Versand von Informationen. Anfang Januar gingen die Einladungen heraus. Um effektiver arbeiten zu können, wurde das Wochenende um den Freitag verlängert. Kerngedanke der Durchführung des Wochenendes sollte die Einbindung aller Teilnehmer sein. So wurde ein Rahmen gestellt, die Moderation übernommen, jedoch Diskussionsthemen höchstens angestoßen, nicht jedoch vorgegeben. Die Bundesführerversammlung wurde auf Sonntagmorgen gelegt, um die Ergebnisse der Arbeitsgruppen mit einbeziehen zu können. Zur Vereinfachung des Ablaufs wurde jedem Bund eine Stimme zugewiesen. Genaueres sollte in der Sitzung beschlossen werden. II Protokoll der Arbeitstagung zum Jubiläum Hoher Meißner 2013 auf Schloss Martinfeld (…) 2. Ergebnisse der Arbeitsgruppen (…) Auf welche Wurzeln (1913) können wir uns reinen Herzens beziehen? (…) Zusammenfassung von dadarish34 : Unter Berücksichtigung unserer Gruppendiskussion, aber auch des Meinungsaustauschs im Plenum (im HO-Laden) können wir als Ergebnis sicher das Folgende festhalten: Wie die allgemein zugänglichen Dokumente zeigen, steht das Meißnerfest 1913 in der Tradition der europäischen Aufklärung und damit im Zusammenhang mit einer umfassenden Freiheits- und Emanzipationsbewegung in Europa seit dem 17. Jh. Es ging in der Aufklärung um die Feststellung, Fundierung und Gewinnung der Autonomie und des unveräußerlichen Eigenund Gleichheitsrechts (Naturrecht) des Individuums. Die europäische Aufklä-

32 bölkes = Lars Beyer (Zugvogel. Deutscher Fahrtenbund e.V.). 33 franca = Franca Federer (Deutsche Waldjugend). 34 darisch = Dieter Geißler (Freischar).

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rung wurde so u. a. über die Französische Revolution auch Grundlage der Demokratiebewegung. Die Meißner-Formel verdeutlicht in prägnanter Weise das Streben der Meißnerfahrer von 1913 nach Autonomie und Emanzipation als einem idealistisch gestimmten Programm. Insofern war der Meißner 1913 als »Erster Freideutscher Jugendtag« eine öffentliche (Gegen-)Demonstration für die Durchsetzung der aus der Aufklärung abgeleiteten Freiheitsrechte der Jugend. Allerdings wurden die Ansprachen vor Ort durchweg von Erwachsenen gehalten, die sich hier als Sachwalter der Jugend sahen. Wie die verfügbaren Dokumente ausweisen, wurde der Aufruf zum Meißner 1913 überwiegend von lebens- und schulreformerischen Vereinigungen unterzeichnet und sie bestimmten auch die Teilnehmerschaft und das Programm. Die Redner auf dem Meißner stammten ebenfalls überwiegend aus den Reformbewegungen, was sich nachhaltig auswirkte. Gruppierungen, die wir heute dem Wandervogel bzw. der Jugendbewegung zurechnen können, waren in der Minderzahl. Allerdings gibt es Aussagen, dass sie letztlich die Mehrheit der TeilnehmerInnen gestellt hätten. Damit hat sich damals zumindest ein größerer Teil der noch jungen Jugendbewegung unmittelbar mit den Forderungen und Zielen des Meißnerfestes von 1913 identifiziert. Wenn wir 2013 den 100. Jahrestag dieses Ereignisses feiern, dann können wir dies nur mit klarem Bezug auf die oben skizzierten Hintergründe und die 1913 für die Jugend formulierten Forderungen und Ziele tun. Insofern ist 1913 für uns ein jugend- und gesellschaftspolitisches »Leuchtfeuer«, eine »Richtmarke«. Dies sollten wir angemessen würdigen und feiern und uns dann selbst programmatisch vorwiegend um die Gegenwart und die Zukunft kümmern – also danach fragen, wie es mit den Freiheitsrechten der Jugend in Gegenwart und Zukunft bestellt ist? Es muss dabei aber die gegebene historische Situation berücksichtigt werden: Wir leben inzwischen in einem wieder vereinigten Deutschland, in einem sich einigenden Europa, in einer globalisierten Welt, mit allen positiven und negativen Entwicklungen, die wir heute schon feststellen können. Welche Forderungen im Hinblick auf die Freiheitsrechte der Jugend ergeben sich daraus? Was wir nicht tun sollten – jedenfalls nicht im Zentrum des gemeinsamen Programms – ist den Versuch zu unternehmen, eine gesamthistorische Würdigung der Jugendbewegung zu wagen. Das wäre auch ahistorisch, denn nicht alle Bünde und Entwicklungen in dieser Szene sind mit dem Meißner 1913 in Verbindung zu bringen. Nicht jeder Bund, der in diesen 100 Jahren bestanden hat bzw. bestanden haben wird, konnte und kann mit Berechtigung den Meißner 1913 auch für seine Geschichte und sein Wirken reklamieren. – Die Meißnerformel ist schnell daher gesagt, wie sieht es aber tatsächlich aus? Natürlich können in einzelnen Foren oder Arbeitsgruppen die verschiedenen Aspekte der

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Jugendbewegung behandelt werden. Wir sollten aber darauf achten, dass wir uns in der Hauptsache auf das eigentliche Thema konzentrieren. Das sollte sich in den öffentlichen Ansprachen und in der gesamten Programmatik für den Meißner 2013 widerspiegeln. (…) III Protokoll der Bundesführerversammlung vom 15. Februar 2009 (…) Vereinsgründung Der »Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 2013« soll hier auf Schloss Martinfeld im Anschluss an die Versammlung gegründet werden. Der Verein soll aus mindestens sieben Personen bestehen (nach Vereinsrecht). Hauptaufgaben werden das Sammeln von Spenden, die Umsetzung von Beschlüssen der Bundesführerversammlung und der Auftritt als Rechtsträger sein. Der Verein ist der Bundesführerversammlung verantwortlich. Sein Zweck ist satzungsgemäß »die organisatorische, technische und finanzielle Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung des Treffens am Hohen Meißner 2013 anlässlich der 100. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages von 1913. Dies geschieht insbesondere dadurch, dass der Verein die ihm zur Verfügung gestellten Finanz- und Sachmittel treuhänderisch zur Bestreitung der Ausgaben, die für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung des Treffens notwendig sind, verwaltet und verwendet. Dieser Zweck dient ausschließlich der Förderung und Unterstützung der freien Jugendpflege.« (…) Mitglieder des Vereins sind: Walter Pfeiffer (bolko, 1. Vorsitzender), Siegfried Bruder (wanja, 2. Vorsitzender), Hans Grigull (jack, Kassenführer), Andreas Scholvien, Georg Kobiela, Karin Peter (hexe), Jörg Weike (pack) und Katharina Labrenz (kathi). (…)

2. Protokoll der 2. Bundesführerversammlung zur Vorbereitung des 100-jährigen Meißnerjubiläums am 28. 02. 2010 in Hofgeismar (Auszug). 1. Stimmrecht Anzahl der Stimmberechtigten: 35 (je Bund 1 Stimme, wie in Martinfeld angeregt) 2. Annahme des Protokolls von Martinfeld Das zuvor verschickte Protokoll wird angenommen.

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3. Informationen des Vorbereitungskreises für Hofgeismar – Anfragen im Vorfeld des Treffens in Hofgeismar wurden einzeln beantwortet und ggf. an die regionalen Foren verwiesen (z. B. bei Anfragen von Einzelpersonen). – Aus Platzgründen konnten nur zwei Vertreter je Bund eingeladen werden. Initiativen, Hofprojekte und weitere Bundesmitglieder konnten über die Warteliste nachrücken.

4. Teilnahme weiterer Interessenten – Abstimmung über die Frage, ob »die Falken Hannover« als eine politische Jugendgruppe teilnehmen dürfen (Falken): ja: 1, nein: 20, Anhörung: 9, Enthaltung: 5 – Die Teilnahme der in Martinfeld erwähnten israelischen Wandervogelgruppe wurde über den Kontakt zu den Falken vorgeschlagen. Ihre Teilnahme kann zu diesem Zeitpunkt nicht weiter besprochen werden. – Generell gilt Zurückhaltung bei Anfragen politischer Organisationen.

5. Einladungsmodalitäten für das nächste Treffen – Initiativen werden mit beratender Stimme zur Bundesführerversammlung eingeladen. Dies gilt auch für die Jugendburg Ludwigstein, die insgesamt mit einer beratenden Stimme eingeladen wird. – Weitere Anfragen Interessierter beantwortet der Koordinationskreis. – Überschüsse des Vorbereitungstreffens werden dem Verein gespendet.

6. Koordination Ein Koordinationskreis soll zwischen den Bundesführerversammlungen Entscheidungen des Vereins und der Vorbereitungen treffen können. Ein zuständiger Koordinator wird gewählt und sucht sich entsprechende Unterstützung. Vorgeschlagen werden veilchen35 (DPB) und franca36 (DWJ). veilchen stellt sich nicht zur Wahl, sagt aber seine Unterstützung zu. franca wird mit 35 Stimmen einstimmig gewählt. 7. Weitere Treffen – Einladung durch Burg Ludwigstein 25.–27. 02. 2011 (…) 35 veilchen = Markus Kleinert. 36 franca = Franca Federer.

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– Es wird diskutiert, ob für das nächste Treffen lieber ein kleineres Gebäude genutzt werden sollte, da der Austausch so intensiver ist. Die familiären Raumverhältnisse der letzten Treffen sowie die Beschränkung der Anwesenden auf den Kreis der Meißnerinteressierten haben sich bewährt. – Abstimmung zur Annahme der Einladung: dagegen: 1, Enthaltung: 0, dafür : 34 – Ergänzend wird über ein zweites Treffen im Jahr 2011 diskutiert. Dieses könnte wieder in kleinerer Runde stattfinden. – Abstimmung zu einem Optionstermin für 2. Treffen 2011: dafür : 33, Enthaltung: 2 – Ort für ein zweites Treffen 2011: Wandervogelhof Reinstorf (bei Bedarf wird ein neuer Ort gesucht): dafür : 35

8. Teilnahme der diskutierten Bünde am Meißnerlager 2013 Die Abstimmung bezieht sich inhaltlich auf Diskussionen vom Vortag. Abstimmungsmodalitäten: – Nach mehreren nicht eindeutigen Abstimmungsdurchgängen wird zugunsten einer – geheimen Wahl entschieden: Abstimmung offen: 15, geheim: 20 – Die Abstimmung wird damit nach einfacher Mehrheit geheim durchgeführt.

Ergebnisse der Abstimmung »Die Teilnahme wird befürwortet«: Freibund: dafür : 0, dagegen: 29, Anhörung, falls Interesse bekundet wird: 6 Sturmvogel: dafür : 0, dagegen: 32, Anhörung, falls Interesse bekundet wird: 3 Fahrende Gesellen/ DMWB: dafür : 11, dagegen: 20, Enthaltungen: 4 Deutsche Gildenschaft: dafür : 9, dagegen: 21, Enthaltungen: 5 – Zum gegenwärtigen Zeitpunkt schließen die anwesenden Bundesführer Freibund, Sturmvogel, Fahrende Gesellen/ DMWB und Deutsche Gildenschaft von den weiteren Vorbereitungen und der Teilnahme des Jubiläumslagers zum Hohen Meißner 2013 aus.

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– Die Ergebnisse sollen als Handlungsaufforderungen gesehen werden, die ein Umdenken in den betroffenen Bünden bewirken sollen. Den anwesenden Bünden wird angeboten, sich nach internen Klärungsprozessen erneut vorzustellen.

(…) Protokoll: bokow37 (Hansische Fahrtenschaft) franca38 (Deutsche Waldjugend)

3. Grundsteinlegung des Enno-Narten-Baus am 10. Januar 2010, Rede des Bauhüttenkreises, http://burgludwigstein.de/fileadmin/LudMedia/0660_Burgbau huette/ENB-Grundsteinlegung%20Rede%20und%20Wuensche%20BHK.pdf, zuletzt aufgerufen am 20. 9. 2014. Sehr geehrte Gäste, liebe Freunde und Förderer der Burg Ludwigstein, liebe Fahrtenkameradinnen und Fahrtenkameraden aus den Bünden! Der zehnte Bauhütteneinsatz ist gerade zu Ende gegangen. Wieder haben wir ein Wochenende lang gemeinsam angepackt und an »unserer« Burg gearbeitet. Genauso taten es vor fast 90 Jahren die Wandervögel, die auf Enno Nartens Aufruf hin sich mit Mut und Schaffenskraft an ein manchmal aussichtslos erscheinendes Vorhaben machten: Aus einer verfallenen Ruine schufen sie eine lebendige Jugendburg als Begegnungsstätte der Jugend und als Ehrenmal für ihre gefallenen Kameraden. Heute legen wir den Grundstein bzw. setzen den ersten Ballen des Neubaus, der den Namen von Enno Narten tragen wird. Bei einer Grundsteinlegung wird eine Zeitkapsel versenkt, die späteren Generationen Aufschluss geben soll über die Zeit, in der das Bauwerk entstand. Dies mutet uns heute befremdlich an – aber wer weiß, wie lange uns das neue Gebäude überdauern wird? Neben den Bauplänen, einer Zeitung und weiteren Dokumenten wie z. B. einer Liste der Raumpatengruppen, enthält die Kapsel einige Euromünzen. Wenn man 37 bokow = Daniel Koob. 38 franca = Franca Federer.

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beim letzten größeren Bauvorhaben – dem Wirtschaftstrakt – ebenfalls Münzen eingemauert hat, dann sind diese heute, obwohl uns der Bau noch gar nicht so alt vorkommt, bereits kein gültiges Zahlungsmittel mehr. Und wer weiß schon, wie lange unser jetziges Geld seinen Wert behalten wird? Doch ist es nicht gerade Kennzeichen der Jugendbewegung, Dinge zu schaffen, die sich nicht in reinen Geldwerten messen lassen? Der Name »Enno Narten« soll uns aufrufen zu beweisen, dass die Jugendbewegung noch heute in der Lage ist, auch über Unterschiede der einzelnen Bünde hinweg für ein gemeinsames Ziel zu arbeiten – und hiermit meinen wir auch »arbeiten« im Sinne des Wortes! Die Burg Ludwigstein ist kein Platz für Schwätzer. Hier werden Menschen gebraucht, die mit Hand oder Kopf mitarbeiten und die ihnen gestellten Aufgaben zuverlässig erfüllen. In diesem Sinne werden wir als Bauhüttenkreis die Bauaufgabe in der Planung und in der fachlichen Anleitung auf der Baustelle fest in die Hand nehmen. Wir zählen auf Euch aus den Bünden, auf Eure Mitarbeit und Eure Begeisterungsfähigkeit! Auf Euch kommt es an! Unsere Wünsche für den Enno-Narten-Bau Möge der Bau sicher begonnen sowie ohne schwerwiegende Vorkommnisse glücklich vollendet werden! Möge der Bau nach den Regeln der Handwerkskunst errichtet werden! Mögen alle an diesem Bauwerk Beteiligten sich mit Achtung begegnen und voneinander lernen! Möge das Bauwerk stets vor Schaden, Brand oder Unwetter geschirmt sein! Mögen alle, die sich mit redlichem Wollen an diesem Vorhaben beteiligen, etwas von sich selbst an das Bauwerk geben und mit Freude am gemeinsamen Werk belohnt werden! Möge der Bau unserer Burg Ludwigstein zu ihrem Fortbestand als Burg der Jugendbewegung auch in kommenden Zeiten dienen!

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4. Grundsteinlegung des Enno-Narten-Baus am 10. Januar 2010, Rede Jürgen Reuleckes (Auszug), http://burgludwigstein.de/fileadmin/LudMedia/0660_ Burgbauhuette/ENB-Grundsteinlegung%20Rede%20Reulecke.pdf. Wer einen Grundstein legt, der gleicht in mancher Hinsicht einem Gärtner, der ein Bäumchen pflanzt: Beide hoffen, dass sich aus diesem kleinen Ursprung eines Tages ein ansehnliches Gebilde entwickelt hat, das voller Leben ist, neues Leben hervorbringt und viele Früchte trägt. Doch der Unterschied ist mindestens ebenso auffällig wie die Ähnlichkeit: Während sich der Gärtner nach seiner Pflanzaktion der ruhigen Gewissheit und dem Gottvertrauen hingeben kann, die Goethe im »Faust« auf die Verse gebracht hat: »…weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, dass Blüt’ und Frucht die künft’gen Jahre zieren«, muss der Grundsteinleger schon selbst für das Wachstum seines Setzlings und für die Produktion späterer Früchte sorgen. Ein gemächliches Abwarten bringt da nichts; ein Grundstein wächst eben nicht von allein zu einem lebenerfüllten Gebäude, und läge er auf noch so fruchtbarem Boden. Er bekommt seinen symbolischen Charakter als eine Art Pflanzung nur im übertragenen Sinn und vor allem nur im Zusammenhang mit Ideen, konkreten Planungen, inhaltlichen Konzeptionen und dem unermüdlichen Engagement des Homo Faber. Leider ist es deshalb auch nicht eine – vom lieben Gott vorherbestimmt – ausgewogene Mischung aus Sonne und Regen, natürlicher Wärme und Licht, die aus dem Grundstein etwas Sinnvolles hervor sprießen lässt, sondern es sind das ideelle Wohlwollen und ganz besonders der finanzielle Dünger, die von der öffentlichen Hand und von den Händen vieler Freunde und Gönner geliefert werden. Um beides – um Wohlwollen und um materielle Hilfe – werben wir ganz besonders heute: Sie/Ihr seid nicht zuletzt deshalb zu diesem Ereignis eingeladen worden, um unserem Projekt von vornherein Nestwärme zu geben, damit es gedeihen kann. So, liebe Zuhörer: Was ich jetzt gerade so bildhaft locker Ihnen vorgetragen habe, waren exakt die Worte, mit denen ich vor fast genau 25 Jahren, also vor einem Vierteljahrhundert – drei Jahre vor dem großen Meißner-Fest von 1988 – schon einmal hier auf der Burg eine Grundsteinlegung begrüßt habe.39 Damals war ich – zusammen mit Hans-Achim Schubert und Siegfried Antelmann – Vorstandsmitglied unserer Stiftung. Unser Grundstein von 1985 ist dort oben am Archiveingang als Basis eines Trägerbalkens zu sehen. Nun bin ich zwar kein Zahlenfetischist, aber auffällig ist ja doch wohl Fol39 Jürgen Reulecke: Zwischen gestern und morgen. Überlegungen zur Konzeption der Arbeit auf Burg Ludwigstein, in: Ludwigsteiner Blätter 4, 1985, Heft 149, S. 3 – 7.

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gendes: Vor fast genau 95 Jahren, etwas mehr als ein Jahr nach dem MeißnerEreignis von 1913, nämlich zu Weihnachten 1914, trafen sich beim Vormarsch in Frankreich in Saint Quentin einige »Feldwandervögel«; und der damals 25jährige junge Architekturstudent Enno Narten kam dabei auf die Idee, die Ludwigsteinruine nach dem Krieg, wenn er und seine Freunde den Krieg hoffentlich überlebt haben würden, aufzukaufen und als zentralen Treffpunkt der Jugendbewegung und zugleich als Erinnerungsort für die gefallenen Wandervögel auszubauen. (…) Vor 50 Jahren, um 1960, waren es dann Angehörige unserer jugendbewegten Väter- bzw. Großvätergeneration, also die Kriegskinder des Ersten Weltkriegs, wie zum Beispiel Karl Vogt (geb. 1907), die in der Zeit der Weimarer Republik in der Bündischen Jugend groß geworden waren, aber auch einige Urwandervögel, wie zum Beispiel Alfred Toepfer, der den Wiederaufbau des Archivs entscheidend gefördert hat, die eine neue Initiative zum Ausbau der Burg zu planen begannen. 3 Jahre vor dem Meißner-Treffen von 1963 begannen neue Planungen, die noch kaum von Denkmalschutz-Vorschriften gebremst wurden, einen großen Anbau mit Saal und Schwimmbad sowie mit neuen Archivräumen, den sog. Meißnerbau also, zu errichten. (…) 25 Jahre später (wieder drei Jahre vor dem nächsten großen Meißner-Fest von 1988) war dann meine Altersgruppe, die Söhnegeneration der Bündischen aus der Weimarer Republik, Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, an der Reihe: Vor allem mit Hilfe der sogenannten »Zoenenrandförderung« und einer großen Bausteinaktion 1985 gelang es uns, nacheinander drei Bauetappen hinzubekommen: – die beiden Flügel über dem Archiv mit Schlafräumen und der Jugendbildungsstätte, – den gesamten neuen Küchentrakt und – den Innenausbau und die Renovierung der Innenburg nach Maßstäben des Denkmalschutzes und der Feuersicherheit (soweit das möglich war). Nach unserer Grundsteinlegung von 1985 ist nun wieder ein Vierteljahrhundert vergangen, und in 3 Jahren gibt es wieder ein Meißner-Erinnerungsereignis, diesmal das hundertste! Heute 2010 ist nun die nächste Generation – geboren um 1960/65 – an der Reihe, den Ludwigstein zu erhalten, auszubauen, zu erweitern und zu beleben – und damit auf ihre Weise eine geradezu abenteuerliche Tradition fortzusetzen: Ihr seid die Urenkel der Wandervögel vor dem Ersten Weltkrieg (Enno Narten geb. 1889, 14 Tage älter als Hitler übrigens), die Enkel der Bündischen der Weimarer Zeit, Söhne und Töchter von uns, die wir in der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg bündisch geprägt worden sind, und hoffentlich seid ihr wiederum auch die Eltern einer nächsten Generation, die dann bei einer weiteren Grundsteinlegung in 25 Jahren, also im Jahre 2035 (drei Jahre vor einem Meißner-Erinnerungsfest im Jahre 2038) an diesem unverwechselbaren Geschichtsort ein neues Gebäude errichten wird (…)

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5. Einladung zum Vorbereitungstreffen am 21. Januar 2012, http://www.pfadfin der-treffpunkt.de/include.php?path=forumsthread& threadid=10483, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Europäisches Jugendlager Meißner 2013 100 Jahre Jugend in Bewegung Gefährten der Fahrten, Gesellen des Sturms, der Freiheit, des Glückes, es ist der Brand, der Wandervögeln gleich uns lodert, uns ruhlos treibt von Land zu Land! Hauke Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten Dreck und Mief der Industrialisierung sowie die Enge von grauer Städte Mauern zu einem Aufbruch der Jugend in Europa. Die Jugend setzte ursprüngliches Erleben der Natur, Selbstbestimmung und Wahrhaftigkeit dagegen und zog hinaus in Wald und Feld. Der Wandervogel war geboren. Diese deutsche Jugendbewegung fand ihren ersten großen Höhepunkt im Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913. Seit über 100 Jahren nun wandern in Deutschland und Europa junge Menschen in Gemeinschaften durch die Lande. In der Ursprünglichkeit eines natürlichen Lebens sind sie auf der Suche nach der Blauen Blume, dem Sinnbild für Wahrhaftigkeit und Erkenntnis. Noch heute folgen junge Menschen den Werten und Idealen dieser großen Aufbruchsbewegung der Jugend. Mit all jenen, die den Idealen der Jugendbewegung immer noch verbunden sind, wollen wir gemeinsam auf Fahrt gehen und an den Aufbruch vor 100 Jahren erinnern. Auf historischer Route werden wir, wie die ersten Wandervögel, vom Hanstein über den Ludwigstein zum Meißner wandern und dort unsere Zelte aufschlagen. Aber wir wollen nicht nur erinnern, sondern zeigen, dass die Jugend auch heute noch in Bewegung ist. Wir wollen kein bloßes Gedenken und ein schon heute festgelegtes Rahmenprogramm. Für uns steht das Miteinander der Jugend im Mittelpunkt. Den Meißner 2013 wollen wir deshalb bewusst mit bündisch bewegten Gruppen aus ganz Europa begehen. An der inhaltlichen Gestaltung wollen wir dabei alle interessierten Bünde beteiligen. (…) Die Meißner-Fahrt steht allen offen und wird getragen vom Einsatz der sich daran beteiligenden Bünde. (…)

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Auf ein Wiedersehen am Meißner! Für den RjBH nils40 (1. Sprecher) Ablauf: Mittwoch 02.10. Treffen auf Burg Hanstein: Anreise der Gruppen, Kohtenlager auf dem Burggelände Donnerstag 03.10. Wanderung vom Hanstein zum Ludwigstein und Teilnahme am Markt der Jugendbewegung Freitag 04.10. Vormittag/ Nachmittag: Wanderung zum Meißner Samstag 05.10. Abend: Feuerfeier im Gedenken an den ersten Freideutschen Jugendtag Sonntag 06.10. Vormittag: Abschluss-Kundgebung

6. Kay Schweigmann-Greve: Der Hohe Meißner und die Falken (Auszug), in: Mitteilungen Archiv der Arbeiterjugend 2, 2012, S. 34 – 43.41 Vergleicht man Fotos der frühen proletarischen Jugendbewegung mit Abbildungen der zeitgenössischen Wandervögel, so springen die Ähnlichkeiten ins Auge: antibürgerliches Outfit, ungezwungenes Zusammensein in der Gleichaltrigengruppe, Wanderungen in der Natur gemeinsames Singen und wildes »Abkochen«. Stilisierten sich die Wandervögel als mittelalterliche Scholaren, konnten die Arbeiterjugendlichen an die Erfahrungen wandernder Handwerker und die Migrationsbewegungen der armen Landbevölkerung und der neu entstandenen Industriearbeiterschaft anknüpfen. Es drängt sich bei der Betrachtung der Eindruck auf, dass abgesehen von der sozialen Lage und der jeweiligen Milieueinbindung das Lebensgefühl und seine Ausdrucksformen viel gemeinsam hatten (…). Das selbstbewusste Zusammentreffen von tausenden von Jugendlichen zu selbstorganisierten Veranstaltungen war für die deutsche Gesellschaft insgesamt etwas neues, niemals zuvor hatte Jugend sich als so unter40 nils = Nils Herrmann (CP). 41 Zur Jahrestagung des Archivs der deutschen Arbeiterjugendbewegung am 18./19. 1. 2013 unter dem Oberthema »Arbeiterjugendtage«.

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schieden von der übrigen Gesellschaft empfunden, dass ihr das Abhalten von Jugendtagen in den Sinn gekommen wäre (selbst das studentisch geprägte Wartburgfest 1817, an das viele Freideutsche bei der Planung des Meißnertreffens dachten, war eine Veranstaltung von Demokraten gewesen, die nur nebenbei auch Studenten waren). Die Parallelität von sozialdemokratischen Arbeiterjugendtagen und Großveranstaltungen der Freideutschen, wie dem Meißnertreffen, wurden nicht wahrgenommen. Die gesellschaftlichen Schranken zwischen den Klassen waren so dominierend, dass selbst bei persönlichen Begegnungen die Unterschiede die Gemeinsamkeiten überwogen. (…) Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 hat in den Annalen der Arbeiterjugendbewegung keine Spuren hinterlassen. Wenn man in der Zeitung Arbeiter-Jugend die Ausgaben der Monate September bis November durchblättert, stellt man fest, dass dort das Treffen auf dem Hohen Meißner mit keinem Wort erwähnt wird. (…) Auch die Naturfreundejugend als jungendbewegte Organisation der Arbeiterbewegung scheint von dem Meißnertreffen offiziell ebenfalls keine Notiz genommen zu haben. (…) Auch in den offiziellen Darstellungen der bürgerlichen Jugendbewegung finden sich kaum Bezüge zur Arbeiterjugend, die Meißnerfahrer scheinen selbst gar nicht auf den Gedanken gekommen zu sein, sie dort zu erwarten. Noch die bekannte Dokumentensammlung von Werner Kindt aus den Sechzigerjahren enthält in dem Band über die Wandervogelzeit selbstverständlich Dokumente über den Freideutschen Jugendtag 1913, auch ein kleiner Abschnitt über die Arbeiterjugendbewegung ist enthalten, Berührungen zwischen den beiden sind jedoch aus diesem Band nicht ersichtlich. (…) Das Verhältnis der Arbeiterjugend zum Wandervogel, später zur bündischen Jugend blieb ambivalent, zu sehr stand in ihrer Wahrnehmung das Völkische, Nationale und Antimoderne im Vordergrund. Gleichzeitig blieben viele Gemeinsamkeiten: Gemeinschaftserleben, Fahrt und Lager und (bis in die Sechzigerjahre) die Volkstänze. Einen geradezu überwältigenden Einfluss hatte die Jugendkultur der Wandervögel und Lebensreformer auf den ersten Arbeiterjugendtag 1920 in Weimar. Nicht umsonst wurde dieser als »Wandervogelerlebnis, das Meißnerfest der deutschen Arbeiterjugendbewegung« tituliert. * [Fußnote * So in einem Artikel in Junges Deutschland Nr. 50/51 vom 23. 13. 1920, zitiert nach: Walter Rüdiger, Weimar, ein Rückschritt?, in: Arbeiter-Jugend 13(1921), H. 1, S. 23.] Dennoch blieben die weltanschaulichen Differenzen (…) Zu Beginn der Zwanzigerjahre war die Auseinandersetzung um den »Geist von Weimar« der erste schwere innerorganisatorische Konflikt der neuformierten Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). Es setzte sich eine Position durch, die den jugendbewegten Formen des Zusammenseins ihr Recht einräumte, jedoch betonte, dass politische Bildung und die persönliche Qualifikation von Arbeiterjugendlichen – denen die fortbestehenden Klassenschranken eine höhere Bil-

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dung noch immer verwehrten – gleichermaßen zum Aufgaben- und Tätigkeitsfeld der organisierten Arbeiterjugendbewegung gehörten. Gleichzeitig formulierten Max Westphal und Erich Ollenhauer, die Vorsitzenden der SAJ, dass die Solidarität der Bewegung nicht klassenübergreifend der Jugend im allgemeinen, sondern der Arbeiterbewegung gehörten, innerhalb derer der Jugendbewegung eine besondere Aufgabe zukomme. (…) Fünfzig Jahre später sind die Fronten unverändert: An dem Treffen der bündischen Jugend 1963 nimmt die organisierte Arbeiterjugendbewegung, Gewerkschaftsjugend, Falken, AWO, Naturfreunde nicht teil. Sie stehen der alten deutschen Jugendbewegung ablehnend gegenüber. Die Protokolle der Sitzungen des Bundesvorstandes der Falken verzeichnen nicht einmal eine Beschäftigung mit dem Meißnertreffen. (…) Auch im neuen Jahrhundert nichts Neues? Zunächst ist festzuhalten, dass sich das Umfeld der Jugendarbeit verändert hat: Die alten sozialen Milieus haben sich weitgehend aufgelöst. Die Entscheidung zu den Falken oder zu den Pfandfindern (oder wo es sie überhaupt noch gibt, den Wandervögeln) zu gehen, wird nicht mehr primär durch die eigene gesellschaftliche Lage bestimmt. Entscheidend sind persönliche Freundschaften, Kinderfeste oder zufällige Begegnungen geworden, die einem Zugang zu der einen oder der anderen Gruppe verschaffen. Auch die Falken, als organisatorische Erben der historischen Arbeiterjugendbewegung organisieren kaum Kinder und Jugendliche aus den neuen Präkariat, es fällt ihnen wie allen anderen Jugendverbänden schwer, Menschen mit »Migrationshintergrund« über die Teilnahme an Zeltlagermaßnahmen im Kindesalter hinaus zu binden. Dennoch ist das Bedürfnis der Bündischen nach Abgrenzung ungebrochen: Bereits auf seiner zweiten Sitzung 2010 in Hofgeismar entschied die »Bundesführerversammlung zur Vorbereitung des hundertjährigen Meißnerjubiläums«, dass die Falken als politischer Jugendverband unerwünscht seien. Auch sonst ist die Fähigkeit der bündischen Veranstalter zur Integration gering: Der Ring Junger Bünde in Hessen ist inzwischen aus der Vorbereitung des zentralen bündischen Gedächtniszeltlagers ausgestiegen und weiterhin bestehende Bünde, die 1963 zu den Mitveranstaltern zählten, tauchen dort nun nicht auf. Offensichtlich reichen die Gemeinsamkeiten für eine gemeinsame Veranstaltung selbst der bürgerlichen Jugendbewegung nicht mehr aus. Die nunmehr unter Beteiligung der Falken – voraussichtlich in Weimar – geplante Veranstaltung verbindet in ihrem Aufruf die Meißnertradition als den ersten Ausdruck jugendlicher (und jugendpolitischer) Selbstartikulation mit den historischen Anliegen der Arbeiterjugendbewegung: Selbstbestimmung, Gestaltungsmacht und die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und in Gesellschaft und Staat muss jede Jugend erneut erkämpfen. Sie setzen demokratische Entscheidungsstrukturen und die Partizipation aller am gesellschaftlichen Reichtum – nicht nur seiner kulturellen Ausprägung – voraus.

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Diese alten Erkenntnisse der Jugendbewegung gelten angesichts einer medial durchdrungenen und multikulturellen Lebenswelt, in der Kinder und Jugendliche heute aufwachsen weiter. Es gilt im Bewusstsein der eigenen Tradition hierfür angemessene Formen zu entwickeln. Dem soll der Aufruf zu »Weimar 13« und die geplante Veranstaltung Rechnung tragen: »Wir sind mehr als Eure Fortsetzung! Weimar 2013: Hundert Jahre selbstorganisierte Jugend«.

7. BundesführerInnenversammlung des Ringes junger Bünde, 19. bis 21. November 2010 auf Burg Ludwigstein (Bericht von Dieter Geißler), http://www.rjb.de/index. php?option=com_content& view=article& id=54%3Abundesfuehrerinnen-ver sammlung-des-ringes-junger-buende-2010& Itemid=55, zuletzt aufgerufen am 2. 9. 2014. Am Wochenende des 19. – 21. November trafen sich die BundesführerInnen der RjB-Mitgliedsbünde auf Burg Ludwigstein zu ihrer turnusmäßigen Versammlung. Es fand sich auch in diesem Jahr eine große Runde zusammen. Als Gäste waren wieder der RjB Baden-Württemberg und die Deutsche Waldjugend vertreten. – Neben der BuFü-Versammlung fanden auch wieder die RjB-Werkstätten für die Jüngeren statt. Nach den Berichten aus den Mitgliedsbünden – die FKK-Jugend hat sich inzwischen als »Europäische Naturistenjugend« in mehreren Ländern Westeuropas etabliert – und den üblichen Vereinsangelegenheiten (Kassenbericht etc.) wurde der »Saarländische Pfadfinderbund« als 19. Mitglied einstimmig in den RjB aufgenommen. Im weiteren Verlauf entwickelte die diesjährige BundesführerInnen-Versammlung eine selten erlebte Dramatik. Axi, Alexej von Stachowitsch, erklärte, dass er im Oktober bei guter Gesundheit seinen 92. Geburtstag gefeiert habe, aber dennoch im kommenden Frühjahr als Bundesführer des »Jungenbundes Phoenix« (dessen Gründer er auch ist) zurücktreten und daher künftig nicht mehr im RjB präsent sein werde. – Nach mehr als vier Jahrzehnten ist das auch für den RjB eine Zäsur. Daniel Mohn, Bundesführer der Pfadfinderschaft Luchs, verlas einen Brief, der sowohl an die Presse als auch an seinen Bund gerichtet war. In diesem Text berichtet ein ehemaliges Bundesmitglied über sexuellen Missbrauch, den Horst Schweitzer, der im Januar 2006 verstorbene Gründer und Bundesführer der Luchse, an ihm begangen habe. Daniel erklärte, dass es in seinem Bund erst durch dieses Selbstzeugnis Gewissheit über diesen Sachverhalt gegeben habe. Nach intensiver Diskussion wurde beschlossen, die Frage des konkreten Um-

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ganges mit diesem Fall zum Thema des 14. Balduinsteiner Gesprächs des RjB im kommenden Februar zu machen. Hier soll dann auch, nach bereits zweimaliger Befassung mit dem Thema »Macht und Sexualität« bei den Balduinsteiner Gesprächen 2005 und 2006 (s. Zeitung 1/2006), die zugrundeliegende Problematik noch einmal vor diesem aktuellen Hintergrund behandelt werden. Breiten Raum nahmen Diskussionen um die Jugendbildungsstätte (JuBi) auf dem Ludwigstein ein, für die der RjB als Mehrheitsgesellschafter besondere Verantwortung trägt. Hier kam es zunächst noch einmal zu einem Meinungsaustausch über den Rücktritt von Matti Zimmer (WVDB) als einem der fünf SprecherInnen des RjB. Auf verschiedenen Seiten gab es die Auffassung, er habe den RjB in der Gesellschafterversammlung (GV) der JuBi nicht eindeutig genug vertreten, so dass es dort zu einer erneuten Diskussion über die Beteiligung der JuBi, vertreten durch ihren Leiter Stephan Sommerfeld, an der Erklärung »Offene Burg« gekommen sei (s. hierzu in den Nachrichten zu Zeitung 3/2009). Matti erklärte sein Verhalten mit einer undeutlichen Kommunikation im Sprecherkreis. Dem widersprach Wolfgang Müller (DPB). Bolko (Walter Pfeiffer, DPB), der inzwischen im Auftrag des Sprecherkreises die Interessen des RjB in der GV der JuBi vertritt, berichtete, dass sich diese bei einer Sitzung im August mit Mehrheit die Beschlusslage des RjB zu eigen gemacht habe: Rücktritt von der Erklärung offene Burg, Verweigerung der Teilnahme an Veranstaltungen der JuBi für Freibund und Sturmvogel. Als Reaktion darauf habe Eva Eisenträger, Vorsitzende des Stiftungsvorstandes (SV) der Jugendburg Ludwigstein, mit der Auflösung des Weiterleitungsvertrages für Fördermittel des Landes Hessen an die JuBi gedroht. – Im Jahr 2002 hatte der damalige SV der Ludwigstein die JuBi als defizitäre Kostenstelle geschlossen. Im Jahr darauf war eine gemeinnützige GmbH als Trägerin für die Fortsetzung der JuBi gegründet worden. Mehrheitsgesellschafter ist der RjB, daneben sind die Vereinigung Jugendburg Ludwigstein–VJL und drei Privatpersonen Gesellschafter. Das Land Hessen war bereit, weiterhin Fördermittel zu gewähren, deren Zahlung aus technischen Gründen aber weiterhin über die Stiftung Ludwigstein läuft. – Die Androhung Eva Eisenträgers führte zu erregter Diskussion in der RjB BuFü-Versammlung, da ohne die Fördermittel des Landes (nach Erhöhung aufgrund erfolgreicher Arbeit z. Zt. 80.000 E im Jahr) die JuBi nicht weitergeführt werden kann. Die Vertreter der Freischar erklärten an dieser Stelle, dass sich der RjB in einer starken Position befindet. Die Stiftung ist finanziell nicht in der Lage, die JuBi wieder selbst zu tragen, andererseits bringt die Bildungsstätte Belegung und damit dringend benötigten Umsatz auf die Burg. – Die JuBi erarbeitet inzwischen für sich einen Überschuss von ca. 20.000 E im Jahr. Bolko erklärte, dass wegen dieser o. a. offenen Frage noch an diesem Wochenende eine außerordentliche GVauf der Burg stattfände. Am Ende der BuFü-

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Versammlung, am Sonntag, war zu hören, dass dieser Konflikt zunächst entschärft werden konnte. Eine endgültige Klärung steht noch aus. Anschließend gab es u. a. eine längere Befassung mit dem im Entstehen begriffenen »Enno-Narten-Bau« auf der Burg (s. in den Nachrichten zu Zeitung 3/ 2009 und in diesem Heft). Hierzu erklärte Wolfgang Müller, er habe als Kurator für den RjB im Kuratorium der Stiftung Ludwigstein nicht für den Bau in der jetzigen Form gestimmt. Die Unterlagen seien ihm zu spät und unvollständig zugegangen. Außerdem sei der Kostenvoranschlag von 825.000 E (Fördermittel plus 15 % Eigenanteil der Stiftung) zu niedrig angesetzt. Wolfgang legte dar, dass das Kuratorium hinsichtlich der Gesamtkosten dieses Baues getäuscht worden sei, weil die »Gesamtkosten« ohne die Kosten für den Innenausbau und die betriebstechnischen Anlagen dargestellt worden seien. Er rechne daher mit sehr erheblichen Mehrkosten in Höhe von 250.000 bis 300.000 E, die nicht zu erbringen seien. – Tim Brandes (BduJ), der zweite Kurator für den RjB in der Stiftung Ludwigstein, vertrat hingegen die Auffassung, dass die Mehrkosten durch spätere Einnahmen gedeckt werden könnten. Ohne tieferen Einblick in die wahren Verhältnisse konnte die Versammlung lediglich die beiden Auffassungen zur Kenntnis nehmen. Es wurde von einigen aber darauf verwiesen, dass durch freiwillige Bauhelfer, auch aus den Reihen der RjB-Bünde, erhebliche Eigenleistungen und Kostenersparnisse möglich und auch bereits realisiert seien. Mitten in den Verhandlungen erfolgte ein unerwarteter Auftritt von vier Vertretern des RjB Hessen in perfekter Pfadfinderkluft, der die BuFü-Versammlung teils schockte, teils verwunderte oder auch erheiterte – je nach Empfindungslage. Ohne Rücksicht auf die Tagesordnung und in ebenso aggressiver wie skurriler Form trugen Sebl (Sebastian Laufer) und ein junger Mann, den er als den Vorsitzenden des RjB Hessen bezeichnete, eine Erklärung zum Meißnertag 2013 vor (s. auf der Homepage dieses RjB). Danach verließen sie den Rittersaal. – Die BuFü-Versammlung war nicht motiviert, sich mit diesem Vorfall noch weiter zu befassen. Die Tagesordnung war noch nicht abgearbeitet und es standen auch noch die turnusmäßigen Wahlen an. Im Wahlgang am Samstag wurden turnusmäßig die Kuratoren des RjB für die Stiftung Ludwigstein gewählt. Neben den »alten« Kuratoren kandidierte neu, vom Bundesführer des Weinbacher Wandervogel, Andreas Gürke, völlig überraschend vorgeschlagen, ein bis dahin (weitgehend) unbekannter Weinbacher. – Zu Kuratoren wurden Tim Brandes (BduJ) wieder- und Timo Gerbich (WWV) neu gewählt. Als stellvertretende Kuratoren wurden Bolko (Walter Pfeiffer, DPB) und Andreas Scholvien (drj) wiedergewählt. – Wolfgang Müller erklärte, dass er seine Abwahl als Misstrauensvotum auffasse und daher auch als Sprecher des RjB zurücktrete. Er reiste am Sonntag nach dem Frühstück ab. – Am Sonntag, gegen Ende der Versammlung würdigte Bolko den ungewöhnlichen Einsatz von

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Wolfgang Müller für den RjB und verwies u. a. auf dessen 34-jähriges Engagement im Sprecherkreis und seine ebenfalls sehr langjährige Tätigkeit als Mitglied des Jugendbildungsbeirates und Kurator auf der Burg. Mit 30 MitarbeiterInnen und einem Jahreshaushalt von ca. 1 Mio. E sei die Jugendburg Ludwigstein eine bedeutende Einrichtung, deren Bestand sehr stark an das verantwortliche und kompetente Handeln der StiftungskuratorInnen gebunden sei. Aufgrund des Ausscheidens von Matti Zimmer und Wolfgang Müller aus dem Sprecherkreis waren Nachwahlen notwendig. Diese wurden am Sonntag durchgeführt. Es kandidierten Rolf Wagner (PB Großer Jäger), der bei einer Enthaltung einstimmig gewählt wurde, und Andreas Scholvien, der keine Mehrheit erhielt. Die Versammlung beschloss daraufhin, die nochmalige Nachwahl für die fünfte Sprecherposition zum Termin des 14. Balduinsteiner Gesprächs im Februar 2011 nachzuholen. Die Vertreter der Freischar sprachen unter Verschiedenes die Merkwürdigkeit an, dass Henrik Rachor, der Bundesleiter der Fahrenden Gesellen, schon in der Vergangenheit darauf bestanden hatte, dass der »Deutsche Mädelwanderbund« integraler Bestandteil seines Bundes sei. Dem wiederspreche allerdings die Beobachtung, dass beide Gruppierungen in ihren Internet-Auftritten und auch bei anderen Gelegenheiten als eigenständige, wenn auch zusammenarbeitende Bünde auftreten. Henrik erwiderte, dass die Mädchen des Bundes sich zunehmend selbst organisierten und ihre Formation daher einen eigenen Namen trüge, alle Männer, Frauen, Jungen und Mädchen aber gemeinsam vom Bundesleiter vertreten würden. In Zukunft solle in dieser Hinsicht auch im Internet für mehr Klarheit gesorgt werden. Zum Thema Meißner 2013 erklärte Bolko für den Meißner-Verein, dass es z. Zt. sehr gute Gespräche mit den Lokalverantwortlichen der Gemeinde Berkatal gebe. Es bestehe gute Aussicht, die Veranstaltung wieder auf dem gleichen Platz wie 1988 durchführen zu können, bei Frankershausen am Fuße des Hohen Meißner.

8. Arno Klönne: Kein Grund zum Jubeln. Einhundertjahrfeiern 2013: Das Völkerschlachtdenkmal und der Hohe Meißner (Auszug), in: Neues Deutschland vom 17. 1. 2013. Runde Zahlen in der »Erinnerungsarbeit« – was wäre das Marketing für den Kulturtourismus ohne sie. Da hat das nun begonnene Jahr einiges zu bieten, aus dem nationalen Kulturerbe sozusagen: Im Oktober feiert das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig sein Einhundertjähriges, und dank seiner Monumentalität

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lässt es sich weitaus besser vermarkten als das historische Ereignis, zu dessen Gedenken es errichtet wurde. Zudem hat der Umgang mit dem militärgeschichtlichen Vorgang 1813 im Sächsischen, der größten Schlacht in der Weltgeschichte vor dem Ersten Weltkrieg, seine politischen Schwierigkeiten: Russische, preußische, österreichische und schwedische Truppen waren es, die damals bei Leipzig das Heer Napoleons und seiner Verbündeten besiegten und damit zum endgültigen Rückzug zwangen. Aber sächsische Soldaten wie übrigens auch bayerische kämpften auf der Seite des französischen Kaisers, ihr König hatte es so gewollt. Als entscheidend im »Befreiungskrieg« gilt die »Völkerschlacht«. Freiheit für das Volk jedoch brachte dieser nicht, weder in Preußen-Deutschland und in der Habsburgermonarchie noch im Zarenreich. Und im Westen des deutschen Territoriums wurde damals die »Befreiung von Napoleons Gewaltherrschaft«, von der seitdem so gern gesprochen wird, keineswegs überall als historischer Fortschritt empfunden – »die Preußen kommen« war nicht als Jubelruf gemeint. An die neunzigtausend Tote verbuchen Militärhistoriker für die »Völkerschlacht«. Wie bringt man die Realität eines solchen Gemetzels in Erinnerung? Im lokalen Programm für die »doppelte Jahrhundertfeier« demnächst sind Angebote für Schulklassen vorgesehen unter dem Titel »Auf Napoleons Fersen«, »Jubiläumsmedaillen aus Schlachtschrott« werden angeboten, ein Geschichtsverein will Gefechte soldatisch kostümiert »nachstellen«, »geistliche und politische Würdenträger aus ganz Europa« sollen des historischen Geschehens gedenken, im Geiste der »Versöhnung« selbstverständlich. Davon war 1913 nicht die Rede. Zur Errichtung eines nationalen Wallfahrtsmonuments bei Leipzig hatte schon bald nach der »Völkerschlacht« Ernst Moritz Arndt aufgefordert, »groß und herrlich« sollte es sein, »wie ein Koloss, eine Pyramide, ein Dom zu Köln«. Erst etliche Jahrzehnte später kam die Idee zur Ausführung; inzwischen war die demokratische Bewegung von 1848/49 gescheitert und die nationale Einheit Deutschlands in der Form des Obrigkeitsstaates hergestellt worden, durch »Blut und Eisen«, in der Folge eines Krieges gegen Frankreich. Und so wurde das Denkmal 1913 als riesiges Symbol militärischen Triumphes erbaut, eingeweiht von Wilhelm dem Zwoten als »machtvollem Gebieter«, wie es in der Urkunde heißt. »Markige Reden wurden gehalten, berauschende Lieder gesungen. Jedes Wort war ein Verrat an den Toten von 1813, die Feier eine einzige Apotheose des Chauvinismus«, schreibt Guntram Vesper darüber. Als Alternative zu solchem Hurrapatriotismus verstand sich das Treffen der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner 1913, ebenfalls im Oktober veranstaltet. Zu einem jubiläumswürdigen Datum der deutschen Kulturgeschichte wurde es als symbolischer Beginn der klassischen bürgerlichen Jugendbewegung, die als ihren Lebensentwurf formulierte: »Eigene Bestimmung,

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eigene Verantwortung, innere Wahrhaftigkeit«. Ein gesellschaftliches Programm war das nicht, vielmehr der Anspruch auf eine autonome Jugendkultur. Einige tausend junge Leute aus Wandervogelbünden und dem Korporationswesen abgeneigten studentischen Gruppen trafen sich auf dem Meißner, zu einem bunten Treiben, Reformpädagogen und Lebensreformer boten ihre Ideen an. (…) Nicht einmal ein Jahr nach der Denkmalsweihe in Leipzig und dem Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner begann der Erste Weltkrieg, nahm das »Menschenschlachthaus«, wie Wilhelm Lamszus es vorausschauend beschrieben hatte, seinen Betrieb auf. Viele der jungen Meißnerteilnehmer, der Wandervögel und Freideutschen ließen dort ihr Leben, nicht nur in dem hernach mythologisierten Kampf um Langemarck. Die politische und militärische Prominenz der Jubelfeier in Leipzig 1913 aber amtierte nach dem verlorenen Krieg weiter oder ging in Pension und schrieb Memoiren.

9. Walter Laqueur : Junge Revolutionäre. Die Jugend vor hundert Jahren (Auszug), in: Die Welt vom 20. 4. 2013 . Es war eine erhabene Formel, die sich die Jugend gab, doch »eigene Bestimmung«, »innere Wahrhaftigkeit« und »innere Freiheit« bedeuten verschiedenen Menschen verschiedene Dinge. So war das Treffen am Hohen Meißner nicht nur der Höhepunkt, sondern in vielerlei Beziehung auch das Ende der deutschen Jugendbewegung. Ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg und die Schlacht von Langemarck, die zum Mythos wurde. Die Zeit danach, bis 1933, stand im Zeichen der Bünde, während der Wandervogel eher individualistisch war. Gewiss, man übernahm manche Formen und bestimmte Inhalte (die Fahrten, Lieder und Lagerfeuer), aber die Unterschiede zwischen den beiden Bewegungen waren groß. Die Jugendbünde im Nachkriegsdeutschland nahmen natürlich auch einige der ursprünglichen Traditionen an, doch sie lebten in einer anderen Zeit, und ihre Auflehnung gegen die Welt der Eltern war eine ganz andere als die der Jugend von 1913. (…) (…) die Jugendbewegung wollte ein neues Reich der Jugend schaffen, aber keine neue Weltanschauung. Sie kritisierte die Schule und Familie und war unzufrieden mit den Lebensformen der wilhelminischen Zeit. Auch sprach sie von einer neuen Jugendkultur und wollte ein besseres Leben. Vorschläge für eine neue politische Religion aber gab es nicht. Glaubte sie an die Möglichkeit, einen neuen Menschen zu formen? Ich er-

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innere mich an eine lange Unterhaltung mit einem der Jugendbewegt-Geprägten. Es war in Washington um das Jahr 1975 herum, gegen Ende von Maos Kulturrevolution. Am Rande einer Konferenz saß ich zusammen mit dem Publizisten Klaus Mehnert. Mehnert war Russland-Experte, gerade aus China gekommen, wo er die Jahre des Zweiten Weltkriegs verbracht hatte. Mehnert versuchte mich davon zu überzeugen, dass es Mao Zedong gelungen sei, einen neuen Menschen zu schaffen. Meine Skepsis prallte an ihm ab. Er hatte das Land gesehen, er war überzeugt, dass Maos Mission gelingen würde. Ich staunte ob so viel Glauben an die Dehnbarkeit der menschlichen Natur. Freilich wusste ich, dass es in der Mehnertschen Familie eine Tendenz gab, einem Propheten Glauben zu schenken. Sein Bruder, der im Krieg fiel, war Privatsekretär und Faktotum Stefan Georges gewesen. Gleichzeitig aber glaubte ich, in seiner Haltung etwas Jugendbewegtes zu erkennen, einen gewissen romantischen Zug – positiv und naiv zugleich, der Glaube, in der Jugend die ewige Glückschance der Menschheit zu sehen. Die Jugendbewegung war eine Art Kulturrevolution. Solche Ereignisse hat es seitdem immer wieder gegeben: 1968 etwa im Umfeld der Universitäten, obwohl sich die Jugendbewegten der Vorkriegszeit mit Schrecken von dieser Art von Jugendkultur abgewendet haben. Auch die Grünen in ihrer Frühphase und die »Piraten« gehören wohl irgendwie dazu. Aber im Vergleich zu der ursprünglichen Jugendbewegung scheinen sie doch beschränkter und deutlich weniger interessant. Heute ist wieder die Rede von einer Radikalisierung der Jugend als Folge der hohen und steigenden Jugendarbeitslosigkeit. Doch die Bedingungen und die Zielsetzung sind ganz andere in einer Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Der Wandervogel und die Bünde dachten nicht an ihre persönliche Zukunft, sie war ihnen gleichgültig, oder aber sie nahmen sie als selbstverständlich an. Sie glaubten an ein genügsames, einfaches Leben. Geld spielte keine Rolle. Für die »wilden Gesellen vom Sturmwind durchweht, die Fürsten in Lumpen und Loden« hatte Geld etwas Verächtliches. Außerhalb Deutschlands hat man die hiesige Jugendbewegung nie recht verstanden. (…) Sicher jedenfalls ist: Die Jugendbewegung ist gescheitert. (…) Und doch – wie das lateinische Sprichwort sagt: In großen Dingen mag es genug sein, gewollt zu haben.

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10. Joachim Radkau: Ins Freie, ins Licht! (Auszug), in: Zeit Geschichte Nr. 02/2013, S. 16 – 21. Die Lebensreformer der Jahrhundertwende suchten nach Wegen in eine alternative Zukunft. Die autoritäre Gesellschaft des Kaiserreichs war ihnen ebenso zuwider wie die kapitalistische Moderne. »Ausziehen statt strammstehen« lautete ihr Motto und »Landluft macht frei!« Viele ihrer Ideen griff später die Ökologiebewegung auf, andere hingegen mündeten geradewegs in den völkischen Wahn des »Dritten Reichs« Vegetarier, Antialkoholiker, Naturheiler, Naturschützer, Wandervögel, Reformpädagogen, Propheten der freien Liebe, der Nacktkultur, der Reformkleidung, des Jugendstils, der östlichen Weisheit, der naturnahen Lebensgemeinschaft fern der Städte – die Aufbruchsbewegungen um 1900 bieten ein kunterbuntes Panorama. Wer hier Strukturen entdecken will, ist erst einmal ratlos. »Lebensreform« wurde die vielgestaltige Suche nach einem alternativem, einem besseren Leben bald genannt, die um die Jahrhundertwende ihren ersten Höhepunkt erreichte und in ihren Ausläufern bis in die dreißiger Jahre reichte. Doch auch dieser Begriff macht die Dinge nicht klarer. Was verbindet Pädagogen, die einen menschenfreundlicheren Schulunterricht erproben, mit Nudisten, die im Nacktbaden und in Sonnenbädern Befreiung von den Zwängen der wilhelminischen Gesellschaft erleben? Was haben die Propheten einer neuen Körperhygiene mit einem Philosophen wie Friedrich Nietzsche gemein? Und was hat der Jugendstil mit der Jugendbewegung zu tun, mit Zupfgeigenhansel (sic!) und Wanderlust, mit dem Bedürfnis, »aus grauer Städte Mauern« in die Natur zu entfliehen? Die Lebensreform war so vielfältig und diffus, wie es ihr Name andeutet: Sie reichte von der Propagierung von Odol-Mundwasser und bequemer Kleidung bis zur Errichtung von genossenschaftlichen Siedlungen, von Kampagnen gegen Alkohol und Tabak bis zur Lyrik des George-Kreises. Schärfere Konturen gewinnen all diese unterschiedlichen Bewegungen am ehesten im Spiegel der Satire. Etwa in dem von dem Ex-Kolonialoffizier Hans Paasche fingierten Bericht Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland von 1913, einer Parodie auf die damals beliebten Abenteuererzählungen von Expeditionen »ins innerste Afrika«, die daran erinnert, dass es auch einen afrikanerfreundlichen Rassismus gab. (…) Zu guter Letzt gerät der dunkelhäutige Naturbursche staunend in das Treffen der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner. Da auf einmal trifft er auf einen ganz neuen Typus des Deutschen, von dem er bis dahin nichts geahnt hatte: strahlend vor Jugend und Schönheit, die Mädchen barfuss und in Flatterklei-

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dern, lachend und singend, tanzend und springend, mit reiner Haut und klarem Blick. Sie schwören: »Unser Atem soll nicht stinken, und unser Schluck soll nicht rülpsen, dann werden wir auch immer rein und jung bleiben, und unser ganzes Volk wird klug und stark sein.« Lukanga Mukara ist überwältigt: »Ich sah, als Fremder, die Zukunft eines Menschenvolkes.« Ein Gesang von tausend Stimmen schallt in die sternklare Nacht, auf dem Berg lodert das Feuer, dem Häuptlingssohn kommen die Tränen. Kaum eine Programmschrift jener Zeit hat die Weltsicht damaliger Jugendund Lebensreformbewegungen so schlicht und klar wiedergegeben wie dieser fiktive Bericht mit seiner gespielten Naivität. Er bot eine zugespitzte Diagnose, wie sie viele begeisterte Reformer liebten: Da zerfiel das deutsche Volk in zwei konträre Menschentypen – die Raucher, Säufer und Vielfraße mit ihren deformierten Körpern, ihrem glasigen Blick und ihrem penetranten Bier- und Tabakdunst und auf der anderen Seite die neue schlanke Reformjugend mit ihrer Morgenfrische und ihren leuchtenden Augen. Die wichtigsten Motive der vielen damaligen Reformbewegungen klingen hier an: der Körperkult, das neue Gesundheitsbewusstsein, die Kritik an Großstadtmoderne und wilhelminischer Spießbürgerlichkeit und vor allem der Drang »zurück zur Natur«. Das wohl berühmteste Bekenntnis zu diesem naturnah panerotischen Lebensgefühl stammt von dem Philosophen Ludwig Klages (1872 – 1956), der zur Boheme von Schwabing gehörte und der Liebhaber der Gräfin Franziska zu Reventlow war. In Mensch und Erde, seiner Botschaft an den Freideutschen Jugendtag auf dem nordhessischen Hohen Meißner im Jahr 1913, schildert er eindrucksvoll die Gefährdung der Natur, der animalischen wie der menschlichen. Am Ende mündet der Text in die Vision einer Rettung der Erde durch einen kosmischen Eros, durch die »weltschaffende Webekraft allverbindender Liebe«. Auch der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt (1855 – 1931) erhoffte sich in seiner Grußbotschaft an den Hohen Meißner Erlösung von den Übeln der Gegenwart durch eine Rückkehr zum »natürlichen« Leben. Einst hatte Gurlitt als Lehrer in Berlin-Steglitz die Wandervogelbewegung mitbegründet und in der Folge voll Abscheu den Schuldienst quittiert. Seither führte er einen publizistischen Kampf gegen die Schule. Die Wurzel des Übels liegt für ihn, ähnlich wie für Paasches fiktiven Reisenden aus Afrika, in den heruntergekommenen Leibern der Deutschen: »Die deutsche Bildung mit all ihren Verirrungen wird verständlich, wenn man sie als Produkt eines körperlich vernachlässigten Volkes ansieht. […] Es fehlt uns an Muskel- und Nervenkraft. Unser Blut ist verdickt, unser Kopf benommen, unsere Augen sind trübe. […] Mit Kartoffel- und Bierbäuchen ist eine wahre Kultur unvereinbar. Ich lasse mir auch nicht gern ästhetische und moralische Vorträge von einem Lehrer halten, der grüne Zähne und schmutzige Nägel und ein Gesicht voller Pickel und Mitesser hat.«

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Was aber wurde mit solcher Rhetorik präludiert? Eine linksalternative Kritik an technischer Modernisierung und obrigkeitsstaatlichem Mief ? Oder aber der faschistische und nationalsozialistische Körper- und Gemeinschaftskult? Welchen Platz haben die vielfältigen Bewegungen der Lebensreform in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts? Als kritische Historiker in den ersten Jahrzehnten nach 1945 nach Wurzeln des Nationalsozialismus suchten, neigten sie dazu, auch die so sehr deutsch wirkenden Reformbewegungen der Jahrhundertwende in dieser fatalen Kontinuität unterzubringen. Aber schon 1969 hat der Soziologe Arno Klönne, ein Vermittler zwischen Traditionen der Jugendbewegung und der Neuen Linken, diese einseitige Zuordnung infrage gestellt – und zugleich die Achtundsechziger vor politischer Naivität gewarnt. Im Falle Gurlitts war seine Warnung nur zu berechtigt: Der wurde zum Flottenschwärmer und Verfechter einer neuen völkisch-germanischen Religion; in den brausenden Meereswogen sollten die Deutschen ihren Leib und Geist regenerieren. Paasche dagegen, der ehemalige Kolonialoffizier, war 1913 bereits auf dem Wege zum Pazifisten und Feind des Militarismus; 1920 fiel er rechtsradikalen Fememördern zum Opfer. Eine ambivalente Gestalt ist Ludwig Klages (…). In seiner Botschaft an den Hohen Meißner erteilte er dem Sozialdarwinismus, der im Kampf die Essenz des Lebens erblickte, eine scharfe Abfuhr : »Die Natur kennt keinen ›Kampf ums Dasein‹, sondern nur den aus der Fürsorge für das Leben.« Er verabscheute den Krieg und emigrierte 1914 in die Schweiz. Zugleich aber finden sich in seinen Schriften heftige antijüdische (und zugleich antichristliche) Ausfälle, und unter NS-Intellektuellen hatte er zahlreiche Anhänger (allerdings auch scharfe Gegner). So lassen sich oft nicht einmal einzelne Protagonisten der Lebensreform zweifelsfrei der einen oder anderen Kontinuitätslinie zuordnen. Dass es Strömungen gab, die zum Nationalsozialismus führten, ist nicht zu leugnen. Im Allgemeinen aber waren das Streben nach Völkerverständigung und kleinen, freiheitlichen Gemeinschaften weitaus typischer als Chauvinismus und Protofaschismus. »International« war in dieser Szene ein positiv besetztes Wort – was umso bemerkenswerter ist, als der imperiale Nationalismus sich zu jener Zeit in der westlichen Welt seinem Siedepunkt näherte. Und eine pazifistische Grundhaltung leitete sich für die damaligen Vegetarier schon aus ihrer Ernährungsweise ab: Der Verzicht auf Fleischgenuss mache den Menschen friedlicher – das war schon damals eine gängige, durch Völkerkundler bestärkte Meinung. Bislang haben Historiker viel zu einseitig ihren Ehrgeiz in den möglichst redundanten Nachweis gesetzt, dass alles so kommen musste, wie es gekommen ist. Dadurch entstand eine Tendenz zur Überdeterminierung der Geschichte. Diese wurde durch die Sozial- und Strukturgeschichte seit den siebziger Jahren

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sogar noch verstärkt. Das war eine Geschichtsschreibung, die für sich in Anspruch nahm, politisch engagiert zu sein, letztlich jedoch auf ein fatalistisches Geschichtsbild hinauslief. Eine künftige Geschichtsschreibung hätte daher allen Grund, die Offenheit vieler Situationen wiederzuentdecken. Wodurch aber war die historische Situation gekennzeichnet, in der sich die Lebensreform entfaltete? Worauf reagierten die genannten Bewegungen, von den Vegetariern bis zu den Reformpädagogen, von den Nudisten bis zum Wandervogel? Und welche Ziele verfolgten sie? (…) Woher (…) der Leidensdruck, der sich in Schriften wie denen von Klages und Gurlitt artikulierte? Gab es überhaupt einen? Selbst Walter Laqueur, der Historiker der Jugendbewegung, bekennt nach den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, »die große Krise um 1900« erscheine uns im Nachhinein »irgendwie unwirklich«. Ein Schlüssel zur Lösung des Rätsels liegt in der Nervosität,42 der Neurasthenie, die als Epidemie der Zeit empfunden wurde, und in den Naturheillehren, die um die Jahrhundertwende weit verbreitet waren. (…) auch wenn die Lebensreform Geschichte ist: Ihre große Frage, wie der Mensch unter den Bedingungen der sich beschleunigenden Moderne ein sinnerfülltes, gutes Leben leben kann, ist heute so aktuell wie vor mehr als hundert Jahren.

11. Almut Karig (VCP): Von der Formel zur Erklärung. Vom Meißner 1913 bis zum Jubiläum 2013 (Auszug), http://meissner-2013.de/dokumentation/mei%C3% 9Fnererkla%CC%88rung-2013/von-der-formel-zur-erkl%C3%A4rung.43 Die freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Die Formel unserer Urgroßväter bewegt uns noch heute. In vielen Bünden ist ihr Kern fester Bestandteil des Bundeslebens, viele Jugendbewegte hat sie geprägt und nicht wenigen ist sie ein Wegweiser für ihr Handeln. Keine der 42 Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. 43 Im Impressum dieser zuletzt am 15. 9. 2014 aufgerufenen Webseite heißt es: »Diese Website entstand im Zuge der Vorbereitung auf das Meißnerlager im Oktober 2013 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Ersten Freideutschen Jugendtages zur Bereitstellung von Informationen zum Lager für die Öffentlichkeit und die Teilnehmer. Nach dem Ende des Lagers dokumentiert sie nun das Lager selbst, die Reaktionen in der Presse und die für das Lager entstandenen Strukturen und Netzwerke.«

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nachfolgenden Meißnererklärungen der großen Jubiläums-Lager kam je in ihrer Wirkungsgeschichte an die ursprüngliche Formel heran und doch verspürte noch jede Meißner-Mannschaft den Drang, eine eigene Meißnererklärung zu verfassen. Das mag gerade an ihrem Formelcharakter liegen. Denn eine Formel ist eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Die Meißnerformel von 1913 hat vier Variablen: Die Lebensgestaltung = nach eigener Bestimmung + vor eigener Verantwortung + in innerer Wahrhaftigkeit. Anders ausgedrückt: Das eigene Handeln ergebe sich aus der Bestimmung der drei übrigen Variablen. Doch die Wünsche, die hinter einer Selbstbestimmtheit stehen, können nicht unbeeindruckt von den Möglichkeiten sein, die aus der realen Umwelt entspringen. Ebenso wird das menschliche Verantwortungsbewusstsein geprägt von der Auseinandersetzung mit moralischen und rechtlichen Vorstellungen des eigenen sozialen Umfelds. Selbst eine innere Wahrhaftigkeit kann sich nicht losgelöst von sozialen Einflüssen und Erlebnissen herausbilden. Kurz, die Lebensgestaltung nach der Meißnerformel steht in einer – wenn auch jeweils individuellen – Beziehung zum Umfeld und unterliegt somit sozial-historischen Einflüssen. Wer den historischen Kontext der Meißnerformel von 1913 sowie der Meißnererklärungen von 1963 und 1988 betrachtet, der kann nicht nur deren Einflüsse erkennen. Auch der Drang wird verständlich, in einer veränderten Zeit eine neue, zeitbezogene Erklärung zur Meißnerformel zu abzugeben. (…) Der Meißner 2013 – die Erklärung zum 100-jährigen Jubiläum Der Weg zur Meißnererklärung 2013 war ein lang erarbeiteter Prozess. (…) Schnell wurde klar, dass nicht alle Entwicklungen für die Meißnererklärung relevant sind: So ist die Wiedervereinigung Deutschlands lange genug her, dass es sich für die meisten Meißnerfahrer schon selbstverständlich anfühlt, gemeinsam mit den gar nicht mehr so neuen Bundesländern auf den Meißner zu fahren. Der Anschlag auf das World Trade Center im September 2001, Al Qaida, die Islam-Debatte, Revolutionen in arabischen Ländern und der »bewaffnete Konflikt« in Afghanistan – all das sind sicher »weltbewegende« Geschehnisse. Den Kern der Jugendbewegung betreffen sie indes nicht. Es sind andere Entwicklungen, die die Bünde tatsächlich herausfordern, wie der Wandel von der analogen zur digitalen Welt. (…) Die digitale Welt ist eine schnelllebige, die zu Unverbindlichkeit und Beliebigkeit im Umgang miteinander verführen kann. Dem stellen sich die Meißnerbünde 2013 in ihrer Erklärung entgegen und nutzen die Meißnerformel als Kompass durch diese Welt und als Kompass für ihre eigene, innere Haltung. Doch nicht jede Herausforderung stammt aus der digitalen Welt: So treffen die Veränderungen im Bildungswesen (…) vor allem das gymnasiale G8 und die Bologna-Reform an den Universitäten die Bünde an empfindlicher Stelle. Denn

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sie greift in die Lebensstruktur der jungen Führungsgenerationen ein. Selbstbewusst stellt die Meißnererklärung 2013 den vom humanitären Bildungsbegriff geprägten Beitrag der Bünde zur Bildung dar. Auch das Thema Umweltschutz hat seine Wichtigkeit nicht verloren, ist doch die Fahrt als zentrales Element bündischen Lebens ohne die Begegnung mit der Natur nicht denkbar. Ein weiteres Thema wirkt erschütternd in der Öffentlichkeit: Die nach und nach bekannt werdenden Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und in zu vielen pädagogischen Einrichtungen. Es ist das wohl mutigste Thema, das diese Generation der Meißnerbünde angeht. (…) In der Meißnererklärung bekennen sich die Bünde deshalb zum Respekt vor dem Nächsten und lehnen jede Grenzüberschreitung ab, die Würde und Persönlichkeit eines anderen verletzt. Diese innere Haltung ist mit sexuellem Missbrauch nicht vereinbar. So stellen sich die Bünde in ihrer Meißnererklärung von 2013 den Herausforderungen ihrer Zeit auf der gemeinsamen Grundlage der Meißnerformel, zu der sie sich konsequent bekennen. Wieder ist die Erklärung zu einer Standortbestimmung der Bünde, diesmal im Jahr 2013 geworden.

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12. Meißnererklärung 2013 (vom 24. 3. 2013).

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13. Zum Jugendtag in Weimar (30.8.–1.9.2013): Weimarer Erklärung vom 1. September 2013 (zur Verfügung gestellt von Kay Schweigmann-Greve). »Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.« Freideutsche Jugend, Hoher Meißner 1913 Demokratie, Republik, Menschenrechte, »Goethe für Proletarierkinder« und internationale Solidarität. Arbeiterjugendtag in Weimar 1920 Weimarer Erklärung 2013 Die am Jugendtag von Weimar 2013 beteiligten Jugendorganisationen stellen sich in die Tradition des fortschrittlich demokratischen Flügels der Jugendbewegung in Deutschland mit ihren Forderungen nach – jugendlicher Selbstbestimmung, – materieller und kultureller Partizipation aller am gesellschaftlichen Reichtum – Eintreten für Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Wir sind für – Menschenrechte und Demokratie – Bildung und Arbeit für alle – Respekt und Toleranz – Ökologische Lebensweise.

Wir sind gegen: – Rassismus und Antisemitismus – Militarismus – Patriarchale und antiautoritäre Strukturen Wir orientieren uns an folgenden Prinzipien, die wir auch in der übrigen Gesellschaft verwirklicht sehen wollen: 1. Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden und Anderslebenden! Wir wollen Verständnis und Wertschätzung von Menschen mit anderem kulturellen, konfessionellen, weltanschaulichen und ethnischem Hintergrund

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entwickeln, ohne die universalen, an Menschenrechten und Demokratie orientierten Werte außer Acht zu lassen. Wir wollen Bildungsinstitutionen, die durch vielseitige Förderung solidarische, kritische und selbstbewusste Menschen erziehen und nicht nur an wirtschaftlichen Forderungen orientierte Fähigkeiten vermitteln. Wir wollen Konfliktlösungsstrategien im Bildungswesen und der gesamten Gesellschaft, die allen Beteiligten Respekt garantieren, zu Toleranz führen und damit ein friedliches Zusammenleben in Deutschland und darüber hinaus ermöglichen. Achtung und Erhaltung der Natur mit ihren Pflanzen und Lebewesen und verantwortungsbewusster Umgang mit den natürlichen Ressourcen und eine gesunde Lebensweise. Wir lehnen jede Form von Diskriminierung und Rassismus ab, die sich gegen Menschen richten, die nicht der Fiktion von Normalität entsprechen, sondern sich durch Herkunft, Lebensweise, Gesundheit, Geschlechteridentität und Glauben oder Weltanschauung unterscheiden. Wir lehnen jede Form von Antisemitismus und auch Islamfeindlichkeit ab. Wir sind gegen die Militarisierung der Gesellschaft, Kriegseinsätze und Waffenlieferungen. Wir fordern familienfreundliche Arbeitsplätze, frei von Ungleichbehandlung wegen Herkunft, Geschlechteridentität, sozialer und ökonomischer Lage.

Weimar, 1. September 2013 Sozialistische Jugend Deutschlands Die Falken Bund Deutscher Pfadfinder, Main-Taunus-Kreis und Wilde Rose im BDP Bund der Alevitischen Jugendlichen e.V. Haschomer Hazair Deutschland Kulturinitiative »Lebendig Leben« Bildungsstätte der Jugendburg Ludwigstein

14. Liste der teilnehmenden Bünde am Meißnerlager bei Frankershausen 2013, http://meissner-2013.de/b%C3%BCnde, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Bund Christlicher Gemeinde Pfadfinder Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder Bund deutsch-unitarischer Jugend

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Bund Europäischer Pfadfinder Bund Lori¦n Bund unabhängiger Pfadfinder – Stamm Cassiopeia Christliche Jungenschaft Friedenau christliche jungenschaft wiesbaden Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands Christlicher Pfadfinderbund Saar Deutsche Freischar deutsche reform-jugend Deutsche Waldjugend Deutscher Pfadfinderbund Deutscher Pfadfinderbund Hamburg Deutscher Pfadfinderbund Mosaik Deutscher Pfadfinderverband Evangelische Jungenschaft HORTE Evangelische Jungenschaft Pegasus evangelische jungenschaft tyrker evangelische jungenschaft wedding (bk) Fahrtenbund Weißer Kranich freie fahrtenschaft t†r na n­c Freie Pfadfinderschaft Nordland Freier Wandervogel Herford graue jungenschaft Hansische Fahrtenschaft Heliand-Pfadfinderschaft Jomsburg – Freier Pfadfinderbund Jungenbund Phoenix Laninger Wandervogel Mädchenbund Neue Trucht Wandervogel Pfadfinder- und Pfadfinderinnenbund Nord Pfadfinder- und Pfadfinderinnenbund Nordlicht Pfadfinderbund Antares Pfadfinderbund Boreas Pfadfinderbund Kreuzfahrer Pfadfinderbund Mecklenburg-Vorpommern Pfadfinderbund Nordbaden Pfadfinderbund Weltenbummler Pfadfinderschaft Grauer Reiter Pfadfinderschaft Süddeutschland Piratenschaft Stormarn Taunus-Pfadfinder

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Tomburger Ritterbund Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder Waldjugend Niedersachsen Wandervogel Deutscher Bund Wandervogel Lippe Wandervogel Uelzen Weinbacher Wandervogel Zugvogel – deutscher Fahrtenbund

15. Programm zum Festakt des Meißnerlagers 2013 am 4. Oktober 2013 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 131. (…) Ablauf des Festaktes zur Feier 100 Jahre Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913 Für Freitag, den 4. Oktober 2013 Zeit Geschehen 16.30 Uhr Die Gruppen versammeln sich auf dem Festplatz 17.00 Uhr Beginn des Festaktes Begrüßung durch die Lagervögte, den initiativkreis, durch Vertreter des Meißner-Vereins und des Festakt-Komitees Erster Aufruf des Jahreskreises 1913 Verlesung der historischen Meißnerformel Erstes Lied: »Die Gedanken sind frei« Jahreskreis-Aufrufe 1914 – 1923 Zweites Lied: »Wir wollen zu Land ausfahren« Erste Festrede: Thomas Grothkopp (Tom) (thematisch »Meißnertreffen im gesellschaftlichen Umbruch«) Drittes Lied: »Über meiner Heimat Frühling« Jahreskreis-Aufrufe 1924 – 1929 Jahreskreis-Aufrufe 1929 – 1943 Viertes Lied: »Die Moorsoldaten« Jahreskreis-Aufrufe 1944 – 1963 Zweite Festrede: Hans-Peter von Kirchbach (HP) (thematisch »100 Jahre Jugendbewegung«) Jahreskreis-Aufrufe 1964 – 1980 Fünftes Lied »Frühling dringt in den Norden« Jahreskreis-Aufrufe 1981 – 1989 Dritte Festrede: Franca Federer (thematisch »Stimme aus unseren Bünden«) Jahreskreis-Aufrufe 1990 – 2010 Sechstes Lied: »Feuer und Flamme«

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(Fortsetzung) Zeit

Geschehen Jahreskreis-Aufrufe 2011 – 2013 Vierte Festrede: Sebastian Arps (Erbse) (thematisch »Die kommende Generation«) Zweite Verlesung der historischen Meißnerformel, danach Verlesung der Meißnererklärung der Bünde im Jahre 2013 Der Jahrhundertkreis wird geschlossen Schlußwort der Conf¦renciers Entzünden des Meißnerfeuers Stille Minute des Gedenkens Siebtes Lied: »Freude, schöner Götterfunken« Ende des offiziellen Festaktes

Erläuterung der Vorführung Meißner 2013 100 Jahre Freideutscher Jugendtag Am Freitag, den 4. Oktober, findet als einer der Höhepunkte des Meißnerlagers der große Festakt statt, der alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie unsere Gäste auf der Wiese am Rande des Lagerplatzes zusammenführt. Die Feier soll unsere Verbundenheit mit den Idealen der Meißnerformel aus dem Jahre 1913 deutlich machen und jugendbewegt-bündisches Gruppen- und Bundesleben der heutigen Zeit mit ihr in Beziehung bringen. Als Leitgedanke wollen wir die Elemente Wort, Lied und Feuer in möglichst ausgewogener Form einfließen lassen und zu einer dem Anlass angemessenen Zeremonie verbinden. Der Festakt selbst ist in zwei Abschnitte unterteilt. Zunächst hören wir vier Wortbeiträge von der Bühne aus; zwischen den einzelnen Reden singen wir gemeinsame Lieder. Parallel dazu entsteht Schritt für Schritt ein Jahreskreis: Wir möchten jedem der vergangenen einhundert Jahre Rechnung tragen. Die Jahre ab 1913 werden aufgerufen; mit jedem Aufruf stellt sich ein Fackelträger als Repräsentant des genannten Jahres in einen Kreis, der zum Ende des ersten Teils unseres Festaktes die Festversammlung als Lichtkreis umschließen wird. Alle teilnehmenden Bünde haben dann die Möglichkeit, ihr Banner zur Jahres-Fackel zu stellen, die ihr Gründungsjahr darstellt. Auch unsere Liedauswahl steht im Zusammenhang mit dem jeweiligen Zeitabschnitt, in dem wir sie singen, beispielsweise, wenn sie im entsprechenden Jahr entstanden sind. Gegen Ende des ersten Teils wird aus dem Kreis der Anwesenden heraus allmählich mit der Vorbereitung eines großen Feuerstoßes begonnen, der Schauplatz des zweiten Teils der Feierstunde sein wird. Schließlich begeben sich die Fackelträger zum Feuerstoß und auch die übrige Festversammlung ist gebeten, dazuzukommen. Wie auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag von 1913 stimmen wir gemeinsam die »Ode an die Freude« an,44 44 Der Hinweis darauf, dass Beethovens Ode an die Freude 1913 gesungen wurde, findet sich in

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während die Fackelträger den Feuerstoß entzünden. (…) Das weitere Geschehen rund um das große Feuer soll nun nicht mehr gelenkt werden, sondern aus Liedern bestehen, die die teilnehmenden Gruppen und Bünde für alle anstimmen. So wird unsere Feierstunde allmählich in einen offenen Singeabend übergehen. (…)

16. Festreden (Auszug): a) Rede Thomas Grothkopps, b) Rede Franca Federers, c) Rede Hans-Peter von Kirchbachs, d) Rede Sebastian Arps’, alle unter : http:// meissner-2013.de/dokumentation/das-lager/reden, zuletzt aufgerufen am 19. 9. 2014. a) Aus der Rede von Thomas Grothkopp: Liebe Festgemeinschaft! Es ist schon ungewöhnlich, dass die geschichtsbezogene Festrede nicht von einem Historiker gehalten wird, sondern von einem Zeitzeugen, der vor genau 50 Jahren von den Pfadfindern gekeilt wurde und die halbe Zeitspanne dieses Jubiläums persönlich erlebt hat. Vor 25 Jahren hatte ich an dieser Stelle – so wie jetzt kani45 und gerte46 – in meiner Funktion als Lagervogt das Meißnerlager 88 eröffnet. Mein Wunsch, an diesem großartigen Jubiläumslager teilnehmen zu können, ist in Erfüllung gegangen. Und auch der Wunsch, ganz viele mir lieb gewordene Menschen zu treffen, die sich damals fünf Jahre lang für das Treffen engagiert hatten. Doch nun bin ich neugierig, wie viele von Euch vor 25 Jahren hier versammelt waren und bitte Euch, einmal aufzustehen. Und nun die gleiche Bitte an alle, die 1963 dabei waren. Bezüglich 1913 erübrigt sich diese Übung leider. Könnte man sich in die Vergangenheit zurückversetzen, so würde ich mich am liebsten im Jahr 1913 auf der Hausener Hute am Hohen Meißner einfinden. Denn am spannendsten war für mich immer dieses herausragende Ereignis, wie auch die Jahre des Übergangs vom Kaiserreich in die Republik, die Zeit des Aufbruchs, in denen die erste Jugend- und Reformbewegungen entstanden, die ihren Höhepunkt mit dem Freideutschen Jugendtag 1913 hatte. (…) Der Meißnertag 1963 war zugleich die Geburtsstunde des Ringes junger Bünde als Zusammenschluss und Vertretung unterschiedlicher, unabhängiger Bünde. Insbesondere Karl Vogt hat ihn geprägt, er persönlich wie auch der RjB AdJb A 104, 1. 45 kani = Juliane Palm (Wandervogel Uelzen). 46 gerte = Gerald Blauel (DPB).

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insgesamt übernahmen Mitverantwortung für die Burg Ludwigstein und das dortige, einzigartige und professionell geführte Archiv der Deutschen Jugendbewegung. (…) Im Jahr 1968 kam die Phase der außerparlamentarischen Opposition, die der Studentenproteste, der bislang heftigsten Veränderung in der Nachkriegsgesellschaft. Ein tiefer Riss ging durch die Bünde und Jugendverbände, am heftigsten in den Jungenschaften und im Bund Deutscher Pfadfinder. Denn der BDP stand nicht unter dem Einfluss von Erwachsenenorganisationen, wie es bei den kirchlichen, parteipolitischen und gewerkschaftlichen Jugendorganisationen der Fall war. Seine relativ zentral organisierte Struktur erleichterte es, bis in die Gruppen vor Ort neue pädagogische Dogmen und ideologische Ziele zu treiben. Es war, so sagen Historiker, der größte Einschnitt in die Jugendbewegung Deutschlands, die dadurch unglaublich an Größe und Bedeutung verlor. Ich persönlich erlebte es aus Sicht unserer jungenschaftlich geprägten Landesmark Hamburg des BDP. Nach einer Phase intensiver Auseinandersetzung mit den Forderungen nach offener Jugendarbeit und maximaler individueller Freiheit schon im Kindesalter entschlossen wir uns, als Pfadfinderbund Nord einen eigenen Weg zu gehen. Andere Teile des BDP wählten früher oder später den gleichen Weg. Geblieben ist das tiefe Misstrauen gegenüber zentralistischen Jugendverbänden. Und die Überzeugung, dass das aktive Leben in den Horten und Sippen, in den Jungenschaften und Stämmen absolute Priorität hat! (…) Der in den Bünden immer relativ rasche Generationenwechsel einerseits und stabile traditionelle Elemente andererseits führten zu den ersten überbündischen Treffen: Allenspacher Hof 1977, Hamburger Singewettstreit ab 1978, Achterndiek an der Elbe 1979 und »Bünde in Gemeinschaft« 1981 im Hunsrück sind die herausragenden Ereignisse. Im gleichen Jahr und im engen Zusammenhang entstand das bündische Engagement auf den evangelischen Kirchentagen und trug zu dem neuen bündischen Netzwerk maßgeblich bei. Als Knotenpunkte dieses Netzes entstanden in jener Zeit überbündische Projekte wie die Burg Streitwiesen in Österreich, der Handwerkerhof, Lüdersburg und der Wandervogelhof Reinstorf. Auch die Waldeck, Burg Balduinstein, Falado von Rhodos und der Südmarkverlag, heute Verlag der Jugendbewegung, mit Eisbrecher und Stichwort und einem breiten Angebot bündischer Literatur, gehören dazu. Aus alledem entstand die Keimzelle für Meißner 88 zum 75-jährigen Jubiläum. Mit regionalen Foren und dem Zentrenkonzept gaben wir den beteiligten Gruppen und Bünden die Möglichkeit, sich in überschaubaren Treffen kennenzulernen und vorzubereiten. Das Zentrenkonzept bewirkte in einem Lager von über 3.000 Menschen, dass es keine Massenveranstaltung wurde. Und es war ein hervorragender Rahmen für die Festveranstaltung, zu der sich auf diesem

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Hang schätzungsweise 5.000 Menschen versammelten. Zahlen ganz ähnlich wie in diesem Jahr! Wir hatten damals ganz bewusst Burg Ludwigstein in das Zentrum der Vorbereitungen gestellt und eng kooperiert. Denn die Jugendburg steht nicht nur symbolisch für über 100 Jahre Jugendbewegung. Ihre Zukunft hängt meines Erachtens auch davon ab, dass sie für alle hier versammelten Bünde attraktiv ist! Auch von Inhalt und Aussage ähneln sich beide Meißnertreffen stark: Sie entstanden aus der Mitte der Bünde heraus, getragen von der Generation unter 40 Jahren. Sie übernahmen – allein schon wegen ihrer Medienwirkung – eine große Verantwortung für uns alle, die wir in Tracht und Kluft, mit Kohten und Jurten sichtbar sind. Allein schon deshalb sind wir gefordert zu sagen, wo wir politisch stehen, vor allem, dass wir uns zu politisch extremen Gruppierungen und Dogmen abgrenzen! (…) Die Treffen 1988 und 2013 sind davon gekennzeichnet, dass ihre formulierten Forderungen und Ziele gesellschaftlichen Anspruch haben, ohne zugleich eine gesamtgesellschaftliche Wirkung zu erwarten. Dazu ist die bündische Jugend zahlenmäßig – vergleichen mit weit mehr als 50.000 Bündischen vor der Machtergreifung durch die Nazis im Jahr 1933 – zu gering. Stichwort: 0,99 %. Doch wir sollten auch selbstbewusst sagen, dass wir keine gesellschaftlichen Anspruchsgruppen sind, kein Netzwerk in Wirtschaft und Politik wie Lions und Rotarier, Gewerkschaften und Parteien oder Absolventen privater Eliteschmieden. Typisch für uns ist, dass übermäßige Eitelkeit, der Drang nach Geltung und Luxus, nach Reichtum und deren Darstellung in unseren Bünden eher unterrepräsentiert sind (…). Das, was wir – was Ihr – miteinander lebt, und was in diesen Tagen hier zum Ausdruck kommt, hat Zukunft. Und es ist wiederum so einzigartig, das ich meine: Die Jugendbewegung in Deutschland müsste als lebendiges UNESCOWeltkulturerbe ausgezeichnet werden! (…) b) Aus der Rede von Franca Federer: Es sind fünf Jahre Vorbereitungszeit vergangen – wenn man genau ist, vielleicht sogar sechs. Zufällig war ich dabei. Zufällig bin ich dabei geblieben. Es ist so vieles zufällig an unseren Begegnungen und Aktionen und dennoch finden sie immer wieder statt. Wir lernen uns hier kennen und wir lernten uns vor 25 Jahren kennen und wir lernten uns vor 100 Jahren kennen. Wir fanden Gemeinsamkeiten ohne über sie reden zu müssen, wie wir sie heute auch finden. Es sind sogar die gleichen. Wir wandern und singen, fühlen uns stark und frei, fühlen wir uns unfrei, möchten wir das mit aller Kraft ändern, wir fühlen uns aufgehoben, als Teil einer Gruppe und selbstständig wie nie. Wir haben alle Möglichkeiten und wir nutzen so viele, wie es geht. Wir können alles machen

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und wir tun es, wir stärken unser Selbstvertrauen und üben uns darin, die Meinung anderer zu lassen, was sie ist. Eine Meinung anderer. Gut um sich damit zu beschäftigen. Wir sind wie wir waren. Und wir sind neu. – Wir sind, wie wir waren, wir wissen selber wie er ist, der helle Sonnenschein, wir bauen unsre Häuser selber, jedes stürzt mal ein (1. Aus dem Lied »Man sagt« von Robert Welti, Piratenschaft Storman). Wir leben als Jugendbewegung davon, dass alles immer gleich und immer neu ist. Dass jeder seine eigene Erfahrung macht und sie machen darf. (…) Jugendbewegung ist eine andauernde Pubertät. Wir sind erwachsen wie nie und überschätzen uns im gleichen Atemzug. (…) Wer anfangs aufgebracht lange Redebeiträge brachte, findet Gelassenheit im Zuhören und Ratschläge anbieten. Wer anfangs krawallig explodierte statt von Beginn an mitzureden, bringt sich nun selbstbewusst ein. Wer sich anfangs als Gegenspieler empfand, sieht bei der letzten Vorbereitung, dass still und heimlich aus dem Gegen- ein Mitspieler geworden ist, der zukünftig fehlen wird. Besonderheiten, Macken und Überraschungen so vieler irgendwie seltsamer Mitstreiter werden zur Normalität und Stärke der Gruppe. Wir durchleben Pubertät und Gruppenprozesse verteilt auf acht Treffen in fünf Jahren. Wer hätte das anfangs gedacht? Wir kamen aber ja nie zum Kennenlernen zusammen, sondern um gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Auch dieser Prozess ließ uns eine Besonderheit der Jugendbewegung spüren. (…) 100 Jahre im Zeitgeist, 100 Jahre eigene Bestimmung, eigene Verantwortung und innere Wahrhaftigkeit. Wer oder Was bestimmt uns heute? Was haben wir zu verantworten und warum? Wer ist heute noch wahrhaftig und wie geht das? Die Gruppe stellt für uns nach wie vor das Zentrum der Jugendbewegung dar. In ihr finden und erleben wir Wahrheit, Ehrlichkeit und Mut zur Offenheit. Sie prägt uns. Wir selbst prägen uns. Wir bauen darauf. Diese Sicherheit nehmen und geben wir mit in die Gesellschaft. Allzu oft sehr unbewusst. Behalten und bewahren wir uns unseren Mut aus der Gruppe, können wir Oberflächlichkeiten, Unverbindlichkeiten, Schnelllebigkeit, Darstellungssucht und Überforderung wahrnehmen, für uns einordnen, all jenem vielleicht entgegentreten, auf jeden Fall jedoch unserer inneren Wahrhaftigkeit gegenüberstellen. Die Gruppe lässt uns erleben, wer wir selber sind. Sie macht uns klar, wann wir »bei uns sind«, was wir können und was wir üben sollten. (…) c) Aus der Festrede von Hans-Peter von Kirchbach: (…) Als Pfadfinder habe ich viele Jahre leben dürfen, habe in intensiven Erlebnissen in jungen, mittleren und späteren Jahren erfahren, welche gestalterischen Kräfte von jungen Leuten ausgehen können, die in ihrer Art und durch ihre Art zu leben

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Sinn und Gemeinschaft erfahren. Diese Art zu leben, die sich z. B. hier auf dem Meißner zeigt, entspricht oft nicht dem sogenannten »main stream«. Ob sie anderen gefällt, ist aber egal, sie muss Euch gefallen und für Euch und andere richtig sein, Euch zusammenführen und zusammenhalten. Ich jedenfalls habe in dieser Art zu leben Freunde gewonnen und vielfach profitiert. Vieles, was ich erlebt habe, hatte und hat Einfluss auf mein gesamtes Leben. (…) Eure Ideen, Eure Erklärung zum Meißner 2013 haben nur dann einen tiefen Sinn, wenn sie offensiv nach außen getragen werden, wenn Ihr damit Anhänger findet, wenn Ihr Eure Haltung nicht nur in Euren Gruppen lebt, sondern in allen Aufgaben, die Ihr wahrzunehmen habt, in der Schule, im Beruf, in Ämtern, in die Ihr gewählt werdet. Es muss klar sein, dass Fahrt und Lager, Freundschaft, die aus dem gemeinsamen Erleben kommt, dass das Erleben fremder Kulturen, das Bestehen von Abenteuern, das frühe Erleben von Verantwortung, die Zusammenarbeit, oder besser, das Zusammenleben in einer Gruppe nicht ein schöner aber letztlich nur wenige Menschen betreffender und damit weitgehend nutzloser Selbstzweck sind, sondern dass der Aufbruch der Jugend oder eines Teils der Jugend darauf abzielt, unsere eigene Umgebung, unser Land und die Welt zu einem besseren Platz zu machen. Die Meißnerformel und Eure Erklärung 2013 Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Diese Formel habt Ihr in den letzten Monaten immer wieder gehört und gelesen. Für 2013 habt Ihr sie, wie sich das nach 100 Jahren gehört, neu interpretiert. Aus der Vielzahl der Möglichkeiten der Ablenkungen und Versuchungen das Wesentliche finden, selbstbestimmt, verantwortlich und wahrhaftig zu leben und die Schöpfung zu achten, dies wollt Ihr als beständigen Kompass für Euer Leben nutzen. Dabei müsst Ihr berücksichtigen, dass die Jugendbewegung in den letzten 100 Jahren keine Kette ununterbrochener Erfolge gewesen ist. Die manchmal gehörte Vermutung, es gäbe sie nicht mehr, widerlegt Ihr allerdings eindrucksvoll. (…) In den Bünden lernen wir, ohne groß darüber zu reden, die Werte der Selbstbestimmung, der gemeinsamen Verantwortung, der Wahrhaftigkeit, der Achtung vor der Schöpfung in dem, was wir sagen und in dem, was wir tun, zu leben. (…) Also, lebt die Ideale der Meißnererklärung, sucht das Abenteuer, pflegt Eure Freundschaft und Verbundenheit, habt Respekt vor der Schöpfung und bewahrt sie, lebt in Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung, öffnet Eure Lebenswelt, geht hinaus und macht die Welt zu einem besseren Platz. (…)

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d) Aus der Festrede von Sebastian Arps: (…) Mit meinen 20 Jahren bin ich wohl einer der jüngsten Bundesführer innerhalb der jungen Jugendbewegung, doch genau diese junge Generation gilt es doch mit diesem Lager zu vertreten. 100 Jahre ist eine verdammt lange Zeit. Wohl kaum einer von uns hier Anwesenden vermag sagen zu können, ich habe sie alle miterlebt. Hätte uns Gegenteiliges wirklich so bereichert? Jemanden hier oben stehen zu haben, obwohl das Stehen wohl auch fragwürdig gewesen wäre, der uns von 1913 erzählt hätte. Ich bezweifele dies, denn dieses eine Jahrhundert, das nun hinter uns Meißnerjugendlichen liegt, ist nicht annähernd so wichtig, wie das, was noch vor uns liegt. Wir schließen den hundertjährigen Kreis. Doch wir eröffnen auch einen neuen. Und genau dies dürfen wir, mit freudigem Blick auf das Vergangene nie vergessen. Doch was bedeutet das »jugendbewegte Jetzt« eigentlich? Für mich bedeutet es ein absolutes Wechselbad der Gefühle, der Eindrücke und Erlebnisse. (…) Fahrt, Lager und Lied sind Ausdruck unserer Freiheit. Diese gilt es durch Entschlossenheit selbstbestimmt zu leben. (…) Doch was verbindet die Generationen, was schlägt die Brücke? Es ist die »Bündische Flamme«, die in uns allen lodert. Fernweh, der laute Ruf der Freiheit und die Unruhe in uns, etwas bewegen zu wollen. (…) Einige Fragen und Herausforderungen mit denen sich Jugendbewegte vor hundert Jahren beschäftigt haben sind geblieben. Doch stellt uns die Zeit auch vor ganz neue Probleme, von vielleicht jetzt noch unbekanntem Ausmaß. Denn die »Digitale Revolution« bestimmt unser Leben mehr und mehr. Außerhalb unserer jugendbewegten Subkultur, aber auch genau hier. Wir sollten uns ihr manchmal wohl ein wenig mehr öffnen, doch nur das Sinnvolle und Nützliche für uns mitnehmen. Muss Jugendbewegtes leben also zwangläufig einen Kampf gegen den Alltag bedeuten? Meiner Meinung nach ist die Antwort »Nein!«, doch wir sollten uns den Fluchtweg ins Fahrtenleben immer offen halten, wenn wir wieder mit medialer Reizüberflutung konfrontiert werden. Wir sollten uns in Zukunft nicht völlig abhängig machen vom Digitalen und Virtuellen, das uns manches Mal nützlich oder bequem erscheint. Es gibt noch ein Zusammenleben, bei dem persönlich miteinander kommuniziert und interagiert wird. Wenn wir auf uns schauen, auf unsere Fahrten und auch auf dieses Lager, wird es deutlich. Ja! Smartphone, Laptop, Facebook, Twitter – wir schätzen euch, doch innerhalb unserer Bewegung können wir auch ohne euch leben. Dieses Wissen und die Bereitschaft, sich nicht nur auf die Technik oder den Mainstream zu verlassen, ist es doch, was uns von anderen unterscheidet. (…)

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17. Roland Eckert im Interview während des Meißnerlagers 2013 (Phoenix: Bewegte Jugend – 100 Jahre freideutscher Jugendtag Fr. 18.10.13, 12.00 – 13.15 Uhr, AdJb). (…) Die Schicht, aus der die Jugendbewegung damals, 1913, entstanden ist, hat sich unglaublich vergrößert. Damals waren das drei bis vier Prozent der Jugendlichen, heute sind auf den Schulen und Universitäten etwa vierzig bis fünfzig Prozent der Jugendlichen. Und inhaltlich hat sich das wahnsinnig weit aufgesplittert, zwischen den unterschiedlichsten Musikrichtungen, den unterschiedlichsten politischen Richtungen, den unterschiedlichsten Aktionsformen, und ständig, jedes Jahr wird was Neues erfunden, so dass es ein sehr buntes Mosaik geworden ist. (…) In der bündischen Jugend haben sich die Pfadfinder sehr gut gehalten. Sie haben auch kontinuierlich Mitglieder gewonnen, während andere, die auch vielleicht in mehrfacher Hinsicht kreativer waren, zurückgegangen sind. Und in politischen Gruppierungen gibt es ausgesprochene Themenzyklen und Modewellen, je nach der jeweiligen Aktualität. (…) [Auf die Frage des Moderators nach den Schlüsselerlebnissen Jugendlicher in der bündischen Jugend:] Hier gewinnen Jugendliche Distanz zur Schule und zum Elternhaus. Sie geraten in Situationen, wo sie selbst für sich sorgen müssen. Wenn man einen Berg hinaus muss und einer kann nicht mehr, müssen die anderen das Gepäck nehmen. Sie lernen den Augenblick schätzen und – was ganz wichtig ist – sie lernen so etwas wie Askese, also, dass man (…) [Moderator: ohne Handy, ohne Computer, iPad] und die ständige Verfügung der Supermarktwaren ganz gut und glücklich existieren kann. Ich denke, dass ist eine wichtige Erfahrung für junge Leute. [Moderator : Ist das hier (das Meißnerlager 2013) irgendwie aus der Welt gefallen oder gehört das zu der Welt dazu?] Die Welt ist heute Gott sei Dank so, dass sie Menschen nicht mehr auf eine Einheitsform des Erwachsenwerdens oder Erwachsenseins reduziert, sondern dass sie solche außerweltlichen oder speziellen Kulturen zulässt und gelegentlich sogar fördert. Insofern nehmen sie Jugendliche natürlich aus ihrem Alltagszusammenhang heraus, aber genau das aber macht auch den Reichtum der modernen Gesellschaft aus.

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18. Meißner-Eindrücke von kökla, DPB (Auszug), http://meissner-2013.de/doku mentation/ostforum, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Mittwoch, 2. Oktober 2013. Ich stehe in der Abenddämmerung auf dem Lagerplatz des Ostforums. Oha! Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele Zelte werden und so viele Leute. Jetzt steht das Ostforum hier um mich herum im Kreis. Ein Abend unter uns, so hatten wir es uns zum Auftakt des Meißnerlagers gewünscht. Kurz bevor ich all die Busreisenden, Stämme, Klein- und Großbünde und die versprengten Spontanteilnehmer begrüße, denke ich zurück … Anfang Juli 2009 muss es gewesen sein. Einige Monate nach dem ersten Initiativtreffen auf Schloss Martinfeld, wo die Aufteilung in Regionalforen beschlossen wurde. Und wo popeye und ich (beide DPB) die Idee hatten, ein Berlinbasiertes Ostforum zu planen, kamen wir noch in kleiner Runde zusammen. In einem Pfadfinderheim im Süden Berlins dürften damals schon mehr oder weniger diejenigen dabeigewesen sein, die später den »harten Kern« des Ostforums bildeten. Damals war uns trotzdem noch gar nicht klar, wohin die Reise gehen würde. (…) Was uns vorschwebte, war ein buntes Unterlager mit Programmbeiträgen der Bünde und des Forums. (…) Vieles davon ist gelungen, einiges weniger : Wir sind ein lebendiges, lustiges, gut vernetztes und vielseitig begabtes Forum geworden; aber wir sind im Grunde auch ein (West)Berliner Forum geblieben. Mag uns am Anfang noch die Hoffnung umgetrieben haben, aus dem Meißner-Ostforum auch den Ort zu machen, an dem Ost und West endlich auch bündisch zusammenwachsen, so muss man am Ende sagen: Das ist nur sehr bedingt gelungen. Ich denke aber, dass auch hier Osten nicht gleich Osten ist. Im Brandenburger Umland von Berlin steckt bündisches Engagement mancherorts in den Kinderschuhen, in Mecklenburg-Vorpommern und vielleicht auch Thüringen ist man schon weiter, wohingegen ich mich frage, ob es in Sachsen-Anhalt überhaupt Bünde gibt. Also, Aufgabe für den Meißner 2038: Schafft ein gesamtdeutsches Ostforum! Andererseits haben wir alle, denke ich, durch das Ostforum erlebt, dass die bündische Szene in Berlin enger zusammengewachsen ist, vor allem auf der Ebene der aktiven Gruppenleiter. Für die den Jugendbünden schon fast entwachsenen Älteren gibt es eine sehr rege Singerunde in Berlin, aber für die Stämme und Jungenschaften war die Meißnervorbereitung sicher eine Horizonterweiterung. (…) Mittwoch, 2. Oktober 2013. Ich stehe in der Abenddämmerung auf dem Lagerplatz des Ostforums. In der Nacht sind die letzten Teilnehmer angekommen. Das Lager ist eröffnet. Jetzt steht das Ostforum hier um mich herum im Kreis, ein

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Abend unter uns, so hatten wir es uns zum Auftakt des Meißnerlagers gewünscht. Vor uns liegen große Tage. Endlich werden wir wissen, woran wir so lang gearbeitet haben. Wir Berliner haben uns neu kennengelernt und ein tolles Programm mitgebracht. Während ich gleich alle begrüßen werde, denke ich zurück. Was für ein Weg! Meißner-Ostforum: Es hat sich wahrlich gelohnt.

19. Bericht von »Lee«: Gast auf dem Meißner, http://meissner-2013.de/dokumentation/mein-mei%C3%9Fner/gast-auf-dem-mei%C3%9FnerfdemMeißner, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Als ich Enja, Verzeihung, Oklaija kennenlernte, da machte ich das erste Mal wirklich Bekanntschaft mit den Bünden und Pfadfindern. Von beidem hatte ich nur eine ungefähre Vorstellung (…). Ich bin selbst immer viel draußen gewesen und hätte mich früher, wenn möglich, vielleicht selbst einem Bund angeschlossen. Der Begriff Meißner begegnete mir, mal abgesehen von Meißner Porzellan, also das erste Mal, als ich von den Vorbereitungstreffen für das Lager hörte. Das ging so eine ganze Zeit und Stück für Stück interessierte ich mich mehr für die Geschichte dahinter und versuchte nachzuvollziehen was eigentlich so besonders am Meißnerlager ist. Natürlich ist es etwas ganz Besonderes, wenn ein Treffen nur alle 25 Jahre stattfindet. Aber das allein konnte es schließlich nicht sein, Klassentreffen finden schließlich auch nach längerer Zeit statt und sind meistens nicht halb so interessant. Ich wurde immer tiefer mit reingezogen und ließ das auch gern passieren. (…) Mehr und mehr wollte ich dabei sein, live sehen und hören wie sich das Lager abspielt und ein bisschen vom Zeitgeist mitnehmen. (…) Am 2. Oktober machte ich mich auf den Weg und kam in den Abendstunden an. Ich hatte für den 4. Oktober Urlaub genommen, um so lange wie nur möglich teilnehmen zu können. Begrüßt wurde ich von Oklaija mit einem gut gefüllten Deckel ihres Koschis und ’ner ordentlichen Portion Essen direkt vom Feuer – herrlich! (…) Ich war beeindruckt, ohne Frage. Man stelle sich eine Gruppe von etwa 30 Menschen an einem gemütlichen Feuer, fast alle in irgendeiner Form auf Fellen oder groben Bänken sitzend, vor. Ich verstaute meinen Rucksack in einem Teil unserer Schlafbereiche und ging zum Feuer. Ich setzte mich und bemerkte den einen oder anderen Blick, der an mir hängen blieb. Ja, ich fiel auf, denn ich trug kein Grünhemd und auch kein Halstuch, was mir in diesem Moment siedend heiß einfiel. Zum Glück ist ein roter Kopf im Feuerschein schlecht zu sehen und ich konnte gaaanz unauffällig und lässig mit meinem Meißnerarmband wedeln, das mich als offiziellen Lagerbewohner auswies. All das war vergessen,

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als der Tschai gereicht wurde und die ersten Lieder angestimmt wurden. Das war für mich eine unglaubliche Erfahrung … Natürlich kannte ich keinen der Liedtexte und musste mir daher irgendwoher einen »Codex« schnorren oder bei anderen mit in das Liederbuch hineinschauen. Aber es hat mir unglaublichen Spaß gemacht und mir doch vor Augen geführt, wie wenig man eigentlich noch singt. (…) Der nächste Morgen, der 3. Oktober, fing mit einem rustikalen Frühstück an. Dabei galt es möglichst früh aufzustehen, um sich an der Brötchenjagd zu beteiligen – denn wer zuerst kommt, isst zuerst. Mit einigen Brötchen im Magen machte ich mich dann zu Wasch- und Toilettenbereichen auf. Der Gang dorthin war jetzt schon um einiges angenehmer, weil mir die Fahrtenschaft ein Grünhemd und eine JuJa sponsorte, mit denen ich mich leicht unter das Lagervolk mischen konnte. (…) Am schwarzen Brett vor Ort wurden die ganzen Kurse, Spiele und Veranstaltungen aufgelistet, die jedes Forum (es gibt vier Foren, je nach Himmelsrichtung plus das Forum Mitte) der Bünde im Laufe des Tages anbot. Das Angebot war überwältigend: vom Zerlegen eines Wildschweins, über mittelalterliche Tänze bis hin zu Theatervorstellungen war alles vertreten! Ich machte mich auf den Rückweg zur Jurte und beobachtete dabei die mich umgebenden Menschen. Jede Altersklasse war vertreten und fast alle waren in irgendeiner Form ihren Gruppen zuordbar, da sie verschiedenfarbige Hemden und Halstücher trugen. Hordenpötte und Holz wurden durch die Gegend gekarrt, weitere Jurten und Kohten hochgezogen. Das Lager wuchs noch weiter und das sollte auch in den nächsten Tagen so bleiben. (…) [Am 4. Oktober] …fand der Festakt statt. Wie soll man da anfangen? Also, es gab ein größeres Stück flach abfallende Wiese direkt neben dem Lagerplatz, auf dem die ganzen Pfadfinder und Bündischen sitzenderweise Platz fanden. Dieses Areal war begrenzt durch Pfähle in Abständen von etwa einem Meter, die dem Ganzen eine große ovale Form verliehen. Auf jedem Pfahl war eine Jahreszahl zu sehen und zu jedem Pfahl gehörte ein Fackelträger. Die Zahlen 1933 – 1945 waren als Mahnung an die dunklen Jahre geschwärzt und die dazugehörigen, später entzündeten Fackeln wurden am Ende des Festaktes nicht mit zum Lagerfeuer getragen, sondern verblieben an ihrem Platz. Eine Bühne bildete den Boden des Eis und den Punkt, an dem das Rahmenprogramm stattfand. Neben der Bühne unzählige Wimpel und Fahnen der verschiedenen Bünde und Gruppen. Das Programm umfasste einige kurze Reden verschiedener Personen, Musikstücke und schließlich das Aufrufen den Jahreszahlen mit den dazugehörigen Bünden, die in diesem Jahr gegründet wurden. Zeitgleich wurde dann die entsprechende Fackel angezündet; die erste mit einem Feuer, das man vom allerersten Lagerplatz 1913 herübertrug. Es war wirklich eine tolle und sehr durchdachte Zeremonie. Vor den offiziellen Reden wurden Holzscheite durch die sitzenden Zu-

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schauer nach oben zum Feuerplatz gereicht. Jeder trug also ein Stückchen dazu bei, dass am Ende ein großes Ganzes entzündet werden konnte. (…) Ich hatte viel zu sehen, wie auch nicht, wenn tausende Menschen auf einem Platz zusammenkommen, um eine so ganz andere Lebensansicht zu pflegen, eine Tradition zu wahren und sich untereinander austauschen? Letztendlich schaue ich auf diesen kleinen Text und stelle fest, dass ich nur einen kleinen Bruchteil von allem aufs Papier gebannt habe. Für mich steht jedenfalls fest, dass ich neugierig auf mehr bin und unbedingt am Meißnertreffen 2038 teilnehmen will. Dann bin ich 50 … Naja, mein Gott, dann schaff ich 2063 wohl auch noch.

20. Uta Härtling, Pfadfinderbund Großer Jäger : Vom Meißner 1988 zum Meißner 2013. Als Familie mit Kleinkindern auf dem Lager, http://meissner-2013.de/ dokumentation/mein-mei%C3%9Fner/vom-mei%C3%9Fner-1988-zum-mei% C3%9Fner-2013, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Drei Tage lang waren wir, Carsten und ich mit unseren Söhnen Theo (4 1/2) und Anton (1 1/2) auf dem Meißner und durften an diesem beeindruckenden Erlebnis teilhaben. Ein wenig bedauere ich, dass wir wegen der Kinder nicht mehr vom Lagergeschehen mitbekommen haben. Daher sehe ich mich auch nicht in der Lage, einen umfassenden Bericht über dieses größte bündische Lager für lange Zeit zu schreiben. Doch ich kann einen Rückblick auf das Lager vor 25 Jahren geben und einen Vergleich damit ziehen – zumindest was meine persönlichen Eindrücke angeht. (…) Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, gab es seinerzeit auf dem Lagerplatz genau einen Kinderwagen (mit Kind darin natürlich), und vielleicht eine Handvoll Kleinkinder unter denen, die auch über Nacht blieben. Da wir 2013 nun selbst zwei kleine Jungen haben, fiel mir sofort auf, wie viele junge Familien ganz selbstverständlich überall dabei waren, die meisten wohl auch über Nacht, so wie wir. Vielleicht ist es eine Folge davon, dass Mädchen und Frauen längst eine Selbstverständlichkeit in den Bünden sind, und dass es heute wohl mehr Paare geben wird, die sich im bündischen Rahmen kennengelernt haben. 1988 konnte man sich in vielen Bünden noch daran erinnern, dass es einmal eine Zeit ohne Mädchen gegeben hatte, für unseren Bund endete sie erst 1978, bei den Luchsen 1971. Was war 2013 anders? Zunächst einmal gehörten wir Großen Jäger dieses Mal nicht zu den offiziell teilnehmenden Bünden, weshalb wir auf die oberhalb des Hauptlagers liegende Gästewiese verwiesen wurden. Zunächst dachte ich, dass wir dadurch zu einer Art Zaungast werden, doch ich kann nicht behaupten, dass es sich im weiteren Verlauf so anfühlte. Auch im

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Erscheinungsbild war das Gästelager eindeutig bündisch geprägt. Nur drei kleine Igluzelte versuchten, sich zwischen den Büschen zu verstecken, ansonsten gab es Schwarzzelte, darin ganz normale Schwarzzeltvölker. Das Lager selbst war dieses Mal in nur wenige große Foren unterteilt. Die inhaltliche Vorbereitung des Lagers fand in diesen Foren statt. Was mir im Lageralltag angenehm aufgefallen ist, ist die Tatsache, dass ich mir eigentlich nie besichtigt vorkam. 1988 war das hingegen oft der Fall, vor allen Dingen als an dem abschließenden Wochenende immer mehr alte Bündische direkt aus ihrem Alltagsleben ins Lager kamen und sich den Betrieb anschauten. Dieses Mal ist mir nur selten jemand aufgefallen, der sich nicht ohne Bruch in das Lagerleben eingefügt hätte. Der eigentliche Festakt hat mir gut gefallen. Die Geschichte der Jugendbewegung wurde im Wechsel von kürzeren Reden und dazu passenden Liedern vorgetragen, und zum Schluss gab es viele Fackeln und ein großes Feuer. Der Festakt von 1988 war dagegen weniger nach meinem Geschmack. Endlos lange Reden, nach denen es die Jugendbewegung ohnehin schon nicht mehr gab. Auch wenn sie im Rahmen der Gesellschaft bei weitem nicht mehr die Bedeutung hatte, wie Anfang des 20. Jahrhunderts oder in dessen Mitte, finde ich es doch ziemlich abstrus, mitten in einem Großlager die ausrichtende Bewegung für tot zu erklären. Und das nächste Mal? Ich hoffe, dass ich dann wieder dabei sein kann, und ich hoffe, dass ich dann vielleicht nur zehn Jahre älter bin und nicht 25. Es spricht doch eigentlich nichts dagegen, ein solches Jubiläum in Zehnerschritten zu feiern, oder?

21. Arno Klönne: Nutzen und Nachteil eines Jubiläums: Das Meissnertreffen 2013 in den Medien, in: Stichwort 198, 2013, S. 32 f. (auch in: Zeitung 3, 2013, S. 51 f.). Wenn heutzutage einige Tausende junger Leute (na ja – manche von ihnen nicht mehr so ganz jung …) in bündischem Stil »outdoor« lagern, ist das in der Regel nur für die jeweiligen Heimatzeitungen ein Anlass zur Berichterstattung. Da hatte das Thema Meißner 2013« bessere Bedingungen: Der einhundertjährige »Geburtstag der deutschen Jugendbewegung« stand an, und so bot sich denn die publizistische Gelegenheit, über Geschichte und Gegenwart jugendbewegten Treibens zu sinnieren. Durchweg fand dabei aber die Historie weitaus mehr Interesse als die Aktualität, was nicht verwunderlich ist. Der Freideutsche Jugendtag 1913 lässt sich als »Aufbruch der jungen Generation« beschreiben, als jugendgeschichtliche Rebellion mit nachhaltigen, erfreulichen und auch unerfreulichen Folgewirkungen. Das Meißnerlager 2013 gab für solcher Art dra-

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matische Deutungen nichts her, und unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen erwartet auch niemand einen kulturellen »Aufstand der Jungen«. Was die mediale Aufmerksamkeitsökonomie angeht, waren die Nachfahren also im Nachteil gegenüber ihren Vorfahren. Und einhundert Jahre sind halt eine lange Zeitspanne für eine Bewegung«, da ist das Rebellische nicht durchzuhalten. Anders als beim Freideutschen Jugendtag 1913 hatte der jugendbewegte Auftritt beim Meißnerlager 2013 für die veröffentlichte Meinung nichts Anstößiges mehr ; bündischer Gruppenstil ist heute ein jugendkulturelles Angebot unter vielen anderen, bei Außenstehenden erzeugt er keine Aufregung. An seltsamen Deutungen, Missverständnissen und Kuriositäten freilich fehlte es im Medienecho auf den »Meißner 1913/2013« keineswegs. Dafür einige Beispiele. Unter dem Titel »Wandern und vögeln« hatte schon vor den Jubiläumsaktivitäten ein Autor der »taz« seine Sicht der jugendbewegten Geschichte dem Publikum vermittelt;47 die beschrieb er, einen Gegenwartsfall sexuellen Missbrauchs in der bündischen Szene aufgreifend, als fortwährende Tummelei pädophiler Verbrecher, eine »mehr als 100jährige Tradition« stehe heute »auf der Anklagebank«. So falsch es wäre, solche »Schatten« in der Historie von Jugendbewegung zu verschweigen oder zu beschönigen, Geschichtsfälschung ist es, »sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene« als Leitmotiv jugendbewegten Lebens darzustellen. Eine andere dunkle Seite der Geschichte der Jugendbewegung, eine politische, stellte ein Redakteur des »Spiegel« heraus. Unter der Überschrift »Rassenwahn am Lagerfeuer« polemisierte er gegen nationalistisch-völkische Weltbilder im »Meißner-Milieu«,48 so als sei die gesamte Jugendbewegung davon geprägt gewesen. Auch hier eine selektive Sicht von Geschichte, die der notwendigen Auseinandersetzung mit katastrophalen historisch-politischen Fehlwegen nur hinderlich ist. Auffällig auch an den seriösen Artikeln zum »Jubiläum der Jugendbewegung« ist, dass deren Geschichte ganz überwiegend auf ihren gutbürgerlichen Sektor begrenzt wird. Die sozialradikalen Gruppierungen in der freideutschen Phase und in den ersten Jahren nach 1918 kommen kaum in den Blick, das jugendbewegte Milieu um die pazifistische Zeitschrift »Junge Menschen« auch nicht, die linken Strömungen in christlichen Jugendbünden werden nicht berücksichtigt, die Arbeiterjugendbewegung wird gar nicht erst erwähnt – obwohl all diese Strömungen ihren Bezug zu dem »Meißner-Ereignis« 1913 hatten. Es scheint so zu sein, dass heutige Kritiker des Nationalkonservativen in der Jugendbewegung ein verengtes Bild vom Spektrum der Bünde und Milieus über47 Christian Füller : Päderasten in der Jugendbewegung. Wandern und vögeln, in: taz vom 11. 6. 2013. 48 Gunther Latsch: Rassenwahn am Lagerfeuer, in: Spiegel Geschichte 3, 2013, S. 65.

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nommen haben, wie es Verfechter oder Rechtfertiger der eher rechtsgerichteten Gruppierungen einst angefertigt haben. Über das Meißnerlager 2013 ist in den Medien, wie schon angedeutet, Näheres nur wenig berichtet worden, ausgenommen eine TV-Sendung bei Phönix und die Berichterstattung in der nordhessischen Regionalpresse sowie ein Beitrag in der Mainzer »Allgemeinen Zeitung«, der als Titel hatte: »Gegenentwurf zur Konsumgesellschaft«.49 Die »Frankfurter Allgemeine« brachte online eine Video-Reportage unter der Benennung »faz.net/pfadfinder« und in der Printausgabe einen knappen Bericht, dem im Wesentlichen zu entnehmen war, das Verbot von Alkohol und Nikotin bei jugendbewegten Veranstaltungen, »die einzig wirklich konkrete Forderung von 1913«, sei bei Bündischen heute nicht mehr gültig. Dass Jugendbewegung gleichzusetzen sei mit Pfadfindertum, haben offenbar viele Zeitungen angenommen. Sogar »Bild« brachte eine kurze Meldung, auf dem Meißner finde ein Jubiläumstreffen von Pfadfindern statt, und die »Welt« titelte: »Pfadfinder-Loveparade«. So lässt sich denn als Frage für ein Ratespiel in jugendbewegten Heimrunden festhalten: War Lord Baden-Powell der Hauptredner auf dem Hohen Meißner 1913?

49 Carina Schmidt: Gegenentwurf zur Konsumgesellschaft, in: Allgemeine Zeitung. Rhein Main Presse vom 7. 10. 2013.

Verzeichnis der zitierten Quellen

Textauswahl Meißner 1913 1.

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Hans Breuer : Herbstschau 1913 – Plus ultra, in: Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jungwandern, 8. Jg. 1913, Heft 10, S. 282 – 285; Wiederabdruck in: Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): Wandervogel und freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 469 – 472; u. a. auch in: Hans Breuer – Wirken und Wirkungen, Burg Ludwigstein 1977, S. 78 – 81. Georges Barbizon [Georg Gretor]: Das Fest der Zukunft. Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner, in: Berliner Tageblatt vom 5. 10. 1913; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 318 f. Frankfurter Zeitung und Handelsblatt vom 4. 10. 1913, Titelseite (Abendausgabe), ohne Autorenangabe, Ankündigung des Meißnerfestes; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 313 – 316. Kurtis [Kurt von Burkersroda]: Die Hanstein-Tagung, in: Jung-Wandervogel, 3. Jg. 1913, Heft 11, 12, S. 161 – 165 [Original nicht im AdJb]; gekürzt wieder in: Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): Wandervogel und freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 473 – 475. Programm (AdJb A 104 Nr. 1). Liederblatt (AdJb A 104 Nr. 1). Knud Ahlborn: »Feuerrede« (Auszug): in: Gustav Mittelstraß, Christian Schneehagen (Hg.): Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Bruno Lemke, Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, Hamburg 1913, S. 14 – 19; 2. durchges. Aufl. hg. von Gustav Mittelstraß, Hamburg 1919, S. 29 – 32; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 289 – 292.

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15.

Verzeichnis der zitierten Quellen

Gustav Wyneken: Rede auf dem »Hohen Meißner« am Morgen des 12. Oktober 1913, in: Gustav Mittelstraß, Christian Schneehagen (Hg.): Freideutscher Jugendtag 1913: Reden von Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, Hamburg 1913, S. 16 – 20; 2. durchges. Aufl. hg. von Gustav Mittelstraß, Hamburg 1919, S. 33 – 41; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Dokumentation der Jugendbewegung II, Die Wandervogelzeit, Düsseldorf, Köln 1968, S. 501 – 505; Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 293 – 301. Ludwig Klages: Mensch und Erde (Auszug), in: Arthur Kracke (Hg.): Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Jena 1913, S. 89 – 107; Wiederabdruck in: Ludwig Klages, Mensch und Erde. Elf Abhandlungen, Stuttgart 1973, S. 1 – 25; Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 171 – 189. Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, als sechster Brief »Lukanga auf dem Hohen Meißner« in: Der Vortrupp. Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit, 2. Jg. 1913, Nr. 12, S. 760 – 764; Wiederabdruck (als neunter Brief) in: Franziskus Hähnel (Hg.): Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Geschildert in Briefen Lukanga Mukaras an den König Ruoma von Kitara, gesammelt von Hans Paasche, Hamburg 1921, 6. Auflage, Hamburg 1923, S. 79 – 84; Neuausgabe mit einem Nachwort von Iring Fetscher, Bremen 1998. Kurt Aram [Hans Fischer]: Jugendbewegung (Auszug), in: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, 60. Jg. 1913, Nr. 46, S. 972 f. Wandervogel, flieg! (Auszug) in: Vorwärts – Berliner Volksblatt – Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 14. 10. 1913; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 332 – 335. Ador (sic!) [Walter Benjamin]: Die Jugend schwieg, in: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst 3. Jg. 1913, Nr. 42 (8.10.), Sp. 979 – 981; Wiederabdruck in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 331 f. Ernst Keil: Völkische Aufgaben der deutschen Jugend (Auszug), in: Deutscher Volkswart. Monatsschrift für volksdeutsche Erziehung, 1. Jg. 1913/14, S. 182 – 186. Ferdinand Avenarius: Freideutsche Gesinnung (Auszug), in: Der Kunstwart, 27. Jg. 1913, Heft 4 (zweites Novemberheft), 1913, S. 257 – 264.

Verzeichnis der zitierten Quellen

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16. Gottfried Traub: Auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Die Hilfe. Wochenschrift f. Politik, Literatur u. Kunst Nr. 42, 1913, S. 659 f. 17. Enno Narten: Tagebuchblätter eines Meißnerfahrers (Auszug), in: Der Wanderer, 8. Jg. 1913, Heft 7 (Oktober), S. 175 – 180. 18. Martha Hörmann: Aufzeichnungen 1913 (Auszug), AdJb A 103 Nr. 1. 19. Siegfried Bernfeld: Die neue Jugend und die Frauen (Auszug) in: Siegfried Bernfeld: Die neue Jugend und die Frauen, Leipzig 1914; Wiederabdruck in: Siegfried Bernfeld: Theorie des Jugendalters (Werke, Bd. 1, hg. von Ulrich Herrmann, Gießen 2010, S. 9 – 42. 20. Gustav Wyneken: Die Freideutsche Jugend (Auszug), in: Die freie Schulgemeinde, 4. Jg. 1914, Heft 2/3 (April), S. 34 – 44. 21. Alfred Weber (Auszug), in: Knud Ahlborn, Fritz Lade, Christian Schneehagen, Hauptausschuss der Freideutschen Jugend (Hg.): Die Freideutsche Jugend im Bayrischen Landtag. Bericht über die Landtagsverhandlungen, die Presseäußerungen, die Aufklärungsversammlung in der Münchener Tonhalle mit der Rede von Universitäts-Prof. Alfred Weber, Hamburg 1914, S. 11 – 19; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die Wandervogelzeit. Dokumentation der Jugendbewegung II, Düsseldorf, Köln 1968, S. 528 – 531. 22. Ferdinand Avenarius: Ein Gruß an die Freideutschen am 10. Oktober, in: Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jungwandern, 9. Jg. 1914, Heft 11/12, S. 274; wieder in: Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): und freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 478. 23. Käthe Kollwitz: Tagebuchaufzeichnungen (Auszug), in: Jutta BohnkeKollwitz (Hg.): Käthe Kollwitz. Die Tagebücher, Berlin 1989, S. 130, 143 – 147. 24. Christian Schneehagen: Weihnachten im Feldlazarett, in: Freideutsche Jugend. Eine Monatsschrift, 1. Jg. 1915, Heft 2, S. 33 f. 25. Walter Hammer [Walter Hösterey]: Freideutsche Morgenröte, in: Der Vortrupp, 6. Jg. 1917, Nr. 17 (1.9.), S. 536 – 539 26. Walter Hammer [Walter Hösterey]: Des Herausgebers Wille und Weg (Auszug), in: Der Hohe Meißner, 1. Jg. 1919, Nr. 1 (1.2.), S. 93 f. 27. Eugen Diederichs: Zur Jugendbewegung. 2. Freideutsche Jugend (Auszug), maschinenschriftl. Typoskript (Skizze zu einer Selbstbiographie 1920/21), S. 7 – 11, AdJb A 103 Nr. 1.

Textauswahl Meißner 1923 1.

Knud Ahlborn, Ferdinand Goebel: Der freideutsche Gedanke (Auszug), in: Freideutsche Jugend, Heft 5 vom Mai 1922, Lauenburg, Elbe 1922; Wie-

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derabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 271. Meißnertag 1913, in: Rundbrief des Freideutschen Bundes, 1. Jg., April 1923 August Messer : Die freideutsche Jugend, in: Deutsche Jugend. Beilage zum Hannoverschen Kurier vom 18. 8. 1923. Der Freideutsche Bund und seine Verfassung, Flugblatt des »Freideutschen Bundes«, hg. von Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel, Anfang 1923; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 271 f. Einladungsbrief von Ferdinand Goebel zu einer »Tagung auf dem Hohen Meißner«, 25. 7. 1923, AdJb A 104 Nr. 9. Knud Ahlborn: Brief an die Redner der Tagung Mitte August 1923 (Auszug), AdJb N 2 Nr. 19 (Nachlass Ahlborn). Anzeige »Tagung auf dem Hohen Meissner 1913«, in: Junge Menschen, 4. Jg., Heft 7, Juli 1923, S. 116. Paulus Lambrecht: Die Tagung auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Hochschulblatt der Frankfurter Zeitung vom 12. 7. 1913; Wiederabdruck in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 273 f. E.T. [Erich Troß]: Der Sinn der Jugendbewegung. Die Tagung auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Hochschulblatt der Frankfurter Zeitung vom 26. 7. 1923. W. H. [Walter Hammer]: Meißnertag 1923 (Auszug), in: Junge Gemeinde. Wochenblatt der wandernden Jugend. Beilage zur Zeitschrift »Junge Menschen« 1923, Blatt 1, 6. 9. 1923, S. 1 f. Franz Oppenheimer : Volk in Not! Ansprache auf dem Hohen Meißner 1923 (Auszug), in: Freideutscher Bund, 12. 11. 1923, Keitum auf Sylt, S. 1 – 6. Meißner-Richtlinien des Freideutschen Bundes 1923. Thesen der politischwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft, AdJb N 2 Nr. 22 (Nachlass Ahlborn). Meißner-Bekenntnis 1923, AdJb N 2 Nr. 19 (Nachlass Ahlborn). Auszüge aus diversen Quellen: Rückblicke auf das Meißnertreffen 1923 (Erich Troß, Guida Diehl, Dettmer Heinrich Zopfs, H.H., Rudolf Lemberg, August Messer, Hugo Tlustek, Karl August Wittfogel, Erich Lüth, Hermann Schafft). Knud Ahlborn: Meißnertagung 1923 (Auszug), in: Junge Menschen, 4. Jg., Heft 10, Oktober 1913, S. 218 – 220. Das Pflaumenschiff, in: Junge Gemeinde, Jg. 1923, Blatt 6, 11. 10. 1923, S. 46. Walter Hammer : Zwei Meißnertage. Ein vergleichendes Schlusswort (Auszug), in: Junge Gemeinde, Jg. 1923, Blatt 9, 1. 11. 1923, S. 59 f. Theodor Lessing: Die Jugend tagt (Auszug), Das Tagebuch, 4. Jg. (22. 9. 1923), S. 1333 – 1343; Wiederabdruck in Theodor Lessing: Ich warf meine

Verzeichnis der zitierten Quellen

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Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Essays und Feuilletons (1923 – 1933), hg. von Rainer Marwedel, Darmstadt, Neuwied 1986, S. 165 – 172.

Textauswahl Meißner Zwischenkriegszeit Friedrich Kreppel: Nie wieder Langemarck! Rede bei einer bündischen Langemarck-Feier in der Rhön 1923; in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf, Köln 1963, S. 436 f.; auch in Adam Weyer (Hg.): Reden an die deutsche Jugend, Wuppertal 1966, S. 79 – 81. 2. Alfons Paquet: Auf dem Hohen Meissner (Auszug), in: ders.: Die neuen Ringe. Reden und Aufsätze zur deutschen Gegenwart, Frankfurt a. M. 1924, S. 195 – 214. 3. Erich Lüth: Das Ende der Jugendbewegung vom Hohen Meissner. Ein Bekenntnis zu neuen Zielen (Auszug), in: ders.: Das Ende der Jugendbewegung vom Hohen Meissner. Ein Bekenntnis zu neuen Zielen, Hamburg 1925. 4. Ernst Kemmer : Deutsche Jugendbewegung (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9 (Juni), S. 153 – 162. 5. P. Theo Hoffmann, S. J.: Katholische Jugendbewegung (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 163 – 166. 6. Leopold Cordier: Jugendbewegung und Protestantismus (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 169 – 173. 7. Kurt Pastenaci: Der Jungdeutsche Orden und die Jugendbewegung (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 177 – 180. 8. Walther G. Oschilewski: Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten (Auszug), in: Süddeutsche Monatshefte 23. Jg. 1926, Heft 9, S. 180 – 185. 9. Wilhelm Flitner : Der Krieg und die Jugend (Auszug), in: Otto Baumgarten, Erich Foerster, Arnold Rademacher, Wilhelm Flitner (Hg.): Geistige und sittliche Wirkungen des Krieges in Deutschland, Stuttgart 1927, S. 217 – 356; wieder in: Karl Erlinghagen, Andreas Flitner, Ulrich Herrmann (Hg.): Wilhelm Flitner. Die Pädagogische Bewegung. Beiträge – Berichte – Rückblicke, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Paderborn, München, Wien, Zürich 1987, S. 56 – 169. 10. Arnold Bergstraesser : Die Jugendbewegung und die Universitäten (Auszug), in: Jugendbewegung und Universität. Vorträge auf der Tagung deutscher Hochschullehrer in Weimar 1927, Karlsruhe 1927, S. 1 – 27. 11. (Jo)Hannes Aff: Kriegszeit und Kriegsnöte (Auszug), in: Der Wanderer. Sonderausgabe »Fünfundzwanzig Jahre Bund Deutscher Wanderer«, 25. Jg. 1930, S. 28 – 32. 12. Walter Dirks: Ende der Jugendbewegung? (Auszug), in: ders.: Erbe und

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Auftrag. Gesammelte kulturpolitische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1931, S. 26 – 30. Christian Hallig: Was bedeutet uns Jugendbewegung? (Auszug), in: Das Junge Deutschland. Überbündische Zeitschrift des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände, 25. Jg. 1931, Heft 7, S. 464 – 468. Peter Suhrkamp: Die Sezession des Familiensohnes. Eine nachträgliche Betrachtung der Jugendbewegung (Auszug), in: Die Neue Rundschau, 43. Jg. 1932, Heft 1, S. 94 – 112. Karl Rauch: Schluß mit junger Generation! (Auszug), Leipzig 1933, S. 8 f. Ernst Erich Noth [Paul Albert Krantz]: La Trag¦die de la Jeunesse allemande, Paris 1934 (Auszug); deutsch: Ernst Erich Noth: Die Tragödie der deutschen Jugend, Frankfurt a.M. 2002. Hans-Joachim Schoeps: »Losung des Deutschen Vortrupp«, in: Der deutsche Vortrupp. Blätter einer Gefolgschaft deutschen Juden (hg. von Hans Joachim (sic!) Schoeps), 1. Jg. 1933, Heft 1, Oktober (Vorspann) sowie ders: Das Dritte (Auszug), in: Der deutsche Vortrupp. Blätter einer Gefolgschaft deutschen Juden, 2. Jg. 1935, Heft 1 (Januar), S. 2 – 7. Heinz Kellermann: Der »Bund« (Auszug), in: Wille und Weg des deutschen Judentums, Vortrupp-Verlag, Berlin 1933, S. 30 – 45. Knud Ahlborn: Wurzeln der deutschen Jugendbewegung (Auszug), in: Will Vesper (Hg.): Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934, S. 23 – 40. Georg Müller : Rings um den Hohen Meißner (Auszug), in: Will Vesper (Hg.): Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934, S. 41 – 62. Baldur von Schirach: Die Hitler-Jugend. Idee und Gestalt, Berlin 1934 (Auszug), S. 13 – 15, 64 f. Friedrich W. Hymmen: Vom Hohen Meißner nach Potsdam? (Auszug), in: Wille und Macht, 3. Jg. 1935, Heft 12, S. 13 – 19. Gustav Wyneken: An den Herrn Reichsjugendführer, Brief vom 2. März 1937 an Baldur von Schirach, AdJb N 35, 1739. Walther Victor : Freideutsch. Zur 25. Wiederkehr des Jugendtages auf dem Hohen Meißner (Auszug), in: Das Wort. Literarische Monatsschrift, 3. Jg. 1938, Heft 10, S. 95 – 102; Wiederabdruck im Reprint der Zeitschrift, Zürich 1969. Alfred Kurella: Freie Deutsche Jugend (Auszug), in: Das Wort. Literarische Monatsschrift, 3 Jg. 1938, Heft 11, S. 93 – 114; Wiederabdruck im Reprint der Zeitschrift, Zürich 1969.

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Textauswahl Meißner 1942/43, 1946 und 1953 1. 2.

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Brief Knud Ahlborns vom 16. 8. 1942 an Hannes Aff (Auszug), AdJb A 210 Nr. 127. Waldemar Nöldechen: Die Aussaat. Gedanken zur 30-jährigen Wiederkehr des Festes der Jugend auf dem Hohen Meißner am 31. (sic!) Oktober 1913 (vermutlich Ende 1942/Anfang 1943 verfasst) sowie Antwort von Enno Narten an Waldemar Nöldechen nach Information von Hannes Aff über das Projekt Nöldechens (Auszug), Brief vom 25. 3. 1943 aus Hannover, AdJb A 210 Nr. 127. Ulrich Noack: Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt, Frankfurt a.M. 1946, Auszug aus Kapitel 5: Hohenmeissner. Deutschlands neue Bundeshauptstadt und die Neubegründung der Freideutschen Jugend, S. 91 – 112. Brief an sämtliche Jugendgruppen und Jugendorganisationen der Parteien, Konfessionen und freien Bünde, der Städte und Kreise und an Einzelpersönlichkeiten vom 20. Mai 1946 (abgedruckt in: Die junge Generation. Mitteilungsblatt vom Tag der jungen Generation dem Bund aller Bünde, Jg. 1, Nr. 1). Einladung zum Treffen auf dem Hohen Meißner am 12. und 13. Oktober 1946, AdJb A 210 Nr. 107. Vorgesehenes Tagungsprogramm zum Meißner-Treffen am 12./13. 10. 1946, AdJb A 210 Nr. 107. Vorschlag zu ENTSCHLIESSUNGEN DER HOHEN-MEISSNER-TAGUNG am 13. Oktober 1946, AdJb N 35 Nr. 1772. Waldemar Nöldechen: Brief an Ulrich Noack vom 29. 9. 1946 (Auszug), AdJb 210 Nr. 127. Knud Ahlborn: Persönliche Einladung für den Empfänger, verfasst am 3. 10. 1946, hier an Werner Kindt vom 5. 10. 1946, AdJb N 14 (Nachlass Kindt), Nr. 132. Erich Weniger : Der Hohe Meissner (Auszug), in: Göttinger UniversitätsZeitung, hg. von Dozenten und Studenten der Universität mit Genehmigung der Militärregierung, Nr. 18 vom 9. 10. 1946, AdJb N 2 Nr. 52. Jugendtreffen auf dem Hohen Meissner (Auszug), in: Westfalenpost vom 22. 10. 1946, AdJb N 2 Nr. 52. Die junge Generation. Jugendtreffen an historischer Stätte. Debatten auf dem Hohen Meissner – Der »Bund aller Bünde« abgelehnt – Appell an die deutsche Jugend (Auszug), in: Südost-Kurier, 1. Jg., Nr. 46 vom 16. 10. 1946, AdJb N 2 Nr. 52. Dr. Kreissel: Der Hohe Meissner 1946 (Auszug), in: Die Botschaft, 1. Jg. 1946, Nr. 23/24 vom 10. 11. 1946, AdJb N 2 Nr. 52.

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Verzeichnis der zitierten Quellen

14. Knud Ahlborn: Bericht über die Meissner Tagung 1946 am 12. und 13.10. (Auszug) sowie Aufruf vom 14.10. (Auszug), AdJb N 14, Nr. 132; N 2, Nr. 53. 15. Briefwechsel Werner Kindt/Hermann Schafft vor und nach dem MeißnerTreffen: 8.10./21.10./28. 10. 1946 (Auszug), AdJb N 14 Nr. 132. 16. Knud Ahlborn: Vorbesprechung für den Meissnertag 1953/Aufruf vom Dezember 1952 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110. 17. Wyneken an Ahlborn 9. 12. 1952 (Auszug), AdJb N 2 Nr. 66; Wyneken an Ahlborn am 23. 1. 1953 (nach Erhalt eines Rundschreibens von Ahlborn vom 15. 1. 1953) (Auszug), AdJb N 2 Nr. 69; Otto Steckhan an Ahlborn am 27. 1. 1953 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110; Vereinigung »Jugendburg Ludwigstein e.V.« an Ahlborn, 21. 2. 1953 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110. 18. Ludwigstein/Klappholttal: Einladung vom September 1953 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 110. 19. Programm der Arbeitstagung »Herkunft und Wirken der freideutschen Bewegung 1913 – 1953« (Auszug), in: Das Nachrichtenblatt, Nr. 23/24, September/Oktober 1953, S. 9. 20. Rückblicke und Reaktionen: W. J. [Walter Jantzen]: Arbeitstagung Hoher Meißner 1913 – 1953 (Auszug), in: Das Nachrichtenblatt Nr. 24 von Dezember 1953, S. 4 – 6; W.R.: Der Schwur von Hohen Meißner. Zum 40. Jahrestag des »Freideutschen Jugendtreffens« (Auszug), in: Der Freiheitsbote Nr. 13 vom November 1953; A. G.: Bleibender Impuls einer Bewegung. Hoher Meißner 1913 – 1953 (Auszug), in: Deutsche Nationalzeitung vom 31. 12. 1953, AdJb N 2 Nr. 93; Gustav Wyneken an Knud Ahlborn, Brief vom 27. 1. 1954 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 109. 21. Knud Ahlborn unter Mitwirkung B. v. Hattingberg, H. Hertling und dem Vortragenden (Auszug), AdJb A 210 Nr. 129.

Textauswahl Meißner 1963 1.

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Brief von Karl Vogt an Knud Ahlborn vom 18. 8. 1961 betr. Einladung zur ersten Vorbesprechung für den Meißnertag 1963 am 21./22. 10. 1961 auf dem Ludwigstein (Auszug), AdJb N 2 Nr. 165. Protokoll des ersten Treffens des Vorbereitungsausschusses für den Meißnertag 1963 am 21./22. 10. 1961 auf dem Ludwigstein, Protokollant Hermann Diehl (Auszug), AdJb N 1 Nr. 17. Protokoll eines Vorbereitungstreffens der Führer von zehn Bünden zum Meißner-Treffen 1963, Burg Ludwigstein 17./18. 2. 1962, Protokollant Horst Schweitzer (Auszug), AdJb A 210 Nr. 89; Nachtrag vom 15. April 1962: Rundschreiben von Peter Plette: »An alle Bünde, die ihre Teilnahme und

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Gestaltung an der Meißner-Feier 1963 zugesagt haben« (Auszug), AdJb A 210, Nr. 89. Stellungnahme zur Meißner-Formel beim 2. Meißner-Seminar der Jungen Bünde vom 17. bis 19. Mai 1963, Leitung Gerhard Neudorf (Auszug), AdJb A 210, Nr. 89. Einladung des Hauptausschusses zur Vorbereitung des Meißnertages 1963 an Gustav Wyneken: Briefwechsel Vogt-Wyneken Juli/August 1963 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 11; Brief Vogts vom 9. 8. 1963 an die Bundesführungen bzw. Meißnerbeauftragten, an die Mitglieder des Hauptausschusses und seine Mitarbeiter sowie an die Redner des Meißnertages. Karl Vogt: Meißner-Jahr 1963. Über den Sinn und die Aufgabe des Meißnertages 1963 (Auszug), in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 65 vom August 1963, S. 5 – 8. Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißner-Tag 1963 (Entwurf des 3. Meißnerseminars der jungen Bünde am 30.8./1. 9. 1963, offiziell beschlossen von den Bundesführungen am 14./15. 9. 1963 bei einem Treffen auf dem Meißner), AdJb A 210 Nr. 89; abgedruckt dann in: Junge Bünde 1963. Jahrbuch Bündischer Jugend zum Meißner-Tag am 12. und 13. Oktober 1963, S. 57. Offizielle Ankündigung des Meißnertages 1963, in: Die Reden der Gesprächsgruppen und die Einführungsworte zu den musischen Vorführungen und den Ausstellungen auf dem Meißnertage 1963 in Bad SoodenAllendorf, Selbstverlag der Gilde Hoher Meißner, hg. von Knud Ahlborn und Helmut Hertling, Klappholttal/Sylt 1964 (nach der Titelseite). Programme des Meißnertages 1963 (Auszug), in: Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, hg. im Auftrage des Hauptausschusses für die Durchführung des Meißnertages von Werner Kindt und Karl Vogt, Düsseldorf, Köln 1964, S. 72 – 75. Einweihung des Meißnerbaues auf Burg Ludwigstein am Nachmittag des 11. Oktober 1963 (Auszug), in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 66, Februar 1964, S. 6 – 9. Die am Meißnertreffen 1963 teilnehmenden Bünde, in: Der Meißnertag 1963 in der Sicht des Freundeskreises Jung-Wandervogel, 34. Rundbrief Juni 1964. Zitate aus den Reden zum Meißnertag 1963 von Heinrich Landahl, Eugen Gerstenmaier, Arnold Scheibe, Curt Miehe, Wilhelm Stählin, Karl Vogt, Heinrich Hemsath, Karl Thums, Willie Jahn, Knud Ahlborn, Alexander Gruber, Helmut Gollwitzer, in: Werner Kindt, Karl Vogt (Hg.): Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, Düsseldorf, Köln 1964. »Lebensfragen und Gestaltungswille« – Arbeitsgemeinschaften des Meißnertages 1963 am Nachmittag des 12. Oktober 1963 in Bad Sooden, in:

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Die Reden der Gesprächsgruppen und die Einführungsworte zu den musischen Vorführungen und den Ausstellungen auf dem Meißnertage 1963 in Bad Sooden-Allendorf, Selbstverlag der Gilde Hoher Meißner, hg. von Knud Ahlborn und Helmut Hertling, Klappholttal/Sylt 1964. 14. Rückblicke über und Rückblicke auf den Meißnertag 1963: Fritjof Korn (Auszug), in: Rundschreiben des Arbeitsausschusses des Freideutschen Konvents, Nr. 92/93, Dezember 1963, S. 520 – 523; Horst Schweitzer (Auszug), in: Rundschreiben des Arbeitsausschusses des Freideutschen Konvents, Nr. 92/93, Dezember 1963, S. 526 f.; W. Hausen: Hoher Meißner 1963. Einige Informationen und Eindrücke (Auszug), in: Beilage »J« zu »pläne, eine junge zeitschrift für politik und kultur«, Nr. 10/11, 1963, ohne Seitenangaben; Friedrich Hoffmann: Rückblick auf den Meißnertag 1963 (Auszug), in: Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, hg. von Werner Kindt und Karl Vogt, Düsseldorf, Köln 1964, S. 68 – 71; Bericht aus Kreisen der dj.1.11 – jungenschaft (Auszug), in: Der Bogen 14, Dezember 1963, S. 6 – 16; Bericht in einem Rundbrief der katholischen Jungenschaft Dortmund (Auszug), in: Beilage »J« zu »pläne, eine junge zeitschrift für politik und kultur«, Nr. 10/11, 1963, ohne Seitenangabe; Grenzen einer Diskussion, in: Blätter der Deutschen Gildenschaft, 6. Jg., Folge 1/2, Februar 1964, S. 14. 15. Presseresonanz auf den Meißnertag 1963: Einführung zu: Pressespiegel des Meißnertages 1963 (Auszug), hg. für den Hauptausschuss des Meißnertages in Zusammenarbeit mit Hans Dehmel und Heinz Gruber von Werner Kindt, Hamburg 1964, S. 5 f.; Hans Oberländer : Meißnertag 1963 – Kritisch erlebt (Auszug), in: Neue Politik, Hamburg, Nr. 43 vom 26. 10. 1963; C. T. Kommer : Wanderer zwischen beiden Welten. Jugendbewegung als wehmütige Reminiszenz (Auszug), in: Rheinischer Merkur, Nr. 42 vom 18. 10. 1963; Josef Schmidt: Nach 50 Jahren: Romantische Erinnerung und kritische Bilanz (Auszug), in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 246 vom 14. 10. 1963; Rolf Dörrlamm: Mit Bünden leben. Kritische Gedanken nach dem MeißnerTag 1963 (Auszug), in: Christ und Welt, Nr. 42 vom 18. 10. 1963; Bernd Nellessen: Einer der Jungen aber meldete Protest an. Bilanz des MeißnerTages 1963 (Auszug), in: Die Welt, Nr. 240 vom 15. 10. 1963; Hein Kröher : Hoher Meißner : Bericht von einem »Traditionstreffen« (Auszug), Süddeutscher Rundfunk, Abt. Jugendfunk, gesendet am 19. 10. 1963, 15.00 – 15.30 Uhr, Textvorlage AdJb B 255 – 011; Lutz Niethammer : Der Meissnertag 1963 – eine Nachlese. Beobachtungen und Anmerkungen (Auszug), Südwestfunk-Jugendfunk, gesendet am 2. 11. 1963, 14.20 – 15.00 Uhr, Textvorlage AdJb B 255 – 002. 16. Werner Kindt: Bilanz des Meißnertages 1963 (Auszug), in: Pressespiegel des Meißnertages 1963, hg. in Zusammenarbeit mit Hans Dehmel und Heinz Gruber von Werner Kindt, Hamburg 1964, S. 127 – 133.

Verzeichnis der zitierten Quellen

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17. Nachwirkungen des Meißnertages von 1963: Bundesführergespräch am 7./ 8. 12. 1963 in Frankfurt am Main im Haus der Jugend (Auszug), Niederschrift AdJb N 2 Nr. 99; Karl Vogt: Ring junger Bünde. Grundlagen, Aufgaben, Aufbau und Krisen 1983 bis 1973 (Auszug), in: 25 Jahre RjB. Mitteilungen des Rings junger Bünde, Nr. 66, Juni 1989, S. 35 – 61, hier S. 35 f.; Protokoll über die Beratung der Sprecher am 11. 4. 1964 in Paderborn (Auszug), in: Mitteilungen des Ringes junger Bünde 1/1964 vom 10. Juni 1964; Anlage zum Protokoll des Bundesführertreffens des Ringes junger Bünde in Hofgeismar am 24./25. 10. 1964 (Auszug).

Textauswahl Meißner 1988 Aus den Bünden. Was wird auf dem Meißner 1988 geschehen? in: Rundschreiben des Freideutschen Kreises Nr. 198, Juni 1987. 2. Entwurf einer Erklärung zum Meißner-Tag 1988 (Fassung vom 14. 6. 1987), AdJb A 210 Nr. 119. 3. Holger Grünke [für : Deutscher Pfadfinderbund Hamburg]: Brief an Thomas Grothkopp vom 2. September 1987 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 121. 4. Gemeinsame Erklärung 1988, beschlossen auf der Bundesführerversammlung Ende November 1987 auf Burg Ludwigstein, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 37. 5. Stellungnahmen zur »Gemeinsamen Erklärung der Bünde zum Meißnerlager 1988« von Eleonore Nebelsiek, Lothar Meiß, Frank-D. Pölert und Ekkehart Krippendorf, in: Idee und Bewegung Heft 3, 1988, S. 15 – 18. 6. Christian Geyer: Probleme haben die Wandervögel nur mit ihren Lederhosen (Auszug), in: Die Welt vom 5. 4. 1988. 7. Thomas Grothkopp [als Sprecher des Arbeitsausschusses zum Meißnertreffen 1988], AdJb, A 210 Nr. 122. Leserbrief zu »Probleme haben die Wandervögel nur mit ihren Lederhosen« von Christian Geyer in: Die Welt vom 5. 4. 1988, siehe Quellenauszug Nr. 6. 8. Fritz Uplegger : Brief an Thomas Grothkopp vom 15. April 1988 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 124. 9. Gerhard Kluchert: 75 Jahre Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner. Manuskript zur Radiosendung »Kulturtermin« im SFB 1 (Auszug) (5. Oktober 1988, 19:05 – 19:30 Uhr), AdJb A 210, Nr. 126. 10. Thomas Grothkopp: In wenigen Wochen ist es so weit! in: Die Buschtrommel, Heft 3 1988, S. 1 f. 11. Ausführliches Programm, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur 1.

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Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 161 – 163. Festfolge, Einladung zur Meißnerfeier anlässlich des 75. Jubiläums des Freideutschen Jugendtages 1913. Sonnabend, 15. Oktober 1988, 15.00 Uhr bei Frankershausen, Gemeinde Berkatal, Werra-Weißner-Kreis, AdJb A 210 Nr. 115. Alfred C. Toepfer : Grußworte eines Meißnerfahrers von 1913. Ansprache auf der Meißnerfeier am 15. 10. 1988, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 11 – 13. Jürgen Reulecke: Generationen der Jugendbewegung. Rede auf der Meißnerfeier am 15. 10. 1988 (Auszug), in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 14 – 26. Claus Eurich: Technik, Zerstörung und Gestaltung unserer Zukunft. Rede auf der Meißnerfeier am 15. 10. 1968 (Auszug), in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 27 – 35. Rudolf Br¦e: Rede am Gedenkstein auf dem Hohen Meißner vor Mitgliedern des Freideutschen Kreises und Gästen am 16. 10. 1988, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 36. Arno Klönne: Erinnerung an Zeiten der Unruhe. Erfahrungen und Gedanken im Rahmen der Zeitzeugen-Berichte des Zentrums »Hecken-Uni«, in: Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989, S. 99 – 102. Julius H. Schoeps: Eine Gemeinschaft zur Selbsterziehung. Die politische Problematik der Jugendbewegung, in: Die Zeit vom 14. 10. 1988. Arno Klönne: »Sich selbst ihr Leben gestalten«. Die deutsche Jugendbewegung wird 75 Jahre alt, in: Das Parlament vom 14. 10. 1988, S. 72 f. Meißnertreffen. 3500 Jugendliche bewohnen Zeltstadt, in: Werra-Rundschau vom 14. 10. 1988. Karl-Hermann Huhn: Ein neuer Aufbruch? Meißnertag ’88, in: HNA [Hessische/Niedersächsische Allgemeine] vom 16. 10. 1988. Corona Hepp: Trickreich und widerborstig sein. Zum 75. Jubiläum des Freideutschen Jugendtages: der Hohe Meißner 1988 mit und ohne Nebel, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. 10. 1988. Kay Funke-Kaiser : Wann wir schreiten Seit an Seit – 75 Jahre deutsche

Verzeichnis der zitierten Quellen

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Jugendbewegung. Radiomanuskript der Sendung vom 4. 12. 1988, 11:05 – 12:00; NDR, Redaktion Forum 3 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 123. Martin Koch: Bericht vom Meißner-Treffen 1988 (Auszug), in: Die Sternschnuppe. Pfadfinderbund »Großer Jäger«. Für seine Jungen, Mädchen und Freunde, 1988, ohne Seitenangabe. Hauke: , … in innerer Wahrhaftigkeit …, (Auszug), in: Die Sternschnuppe. Pfadfinderbund »Großer Jäger«. Für seine Jungen, Mädchen und Freunde, 1988, ohne Seitenangabe. Sabine Lietz-Ligat: Zu den Qualitäten des Lebens zurückkehren. Rund 3000 Jungen und Mädchen, Männer und Frauen auf dem Meißner versammelt, in: Frankfurter Rundschau vom 14. 10. 1988. Michael Swidersky : Meißner-Treffen der Nerother, in: Die Buschtrommel. Bündischer Anzeiger für Eisbrecher- und Stichwort-Leser, Heft 4, 1988, S. 4 f. Heinz Gruber : Ein »Freideutscher« geht durchs Lager, in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, 30. Jg. 1989, Heft 1, S. 198. Günter Knitschky : Morgenbesinnung des Freideutschen Kreises am Meißner-Gedenkstein, in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, 30. Jg. 1989, Heft 1, S. 203. Peter Lampasiak: Kultur-Initiative, in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, 30. Jg. 1989, Heft 1, 1989, S. 205. Roland [Eckert]: Was bleibt? (Auszug), in: Der Eisbrecher. Zeitschrift der bündischen Jugend, 29. Jg., Heft 3, 1988, S. 134 f.

Textauswahl Meißner 2013 1.

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Protokoll des Vorbereitungstreffens zum Jubiläum Hoher Meißner 2013 auf Schloss Martinfeld im Eichsfeld vom 13. bis 15. Februar 2009 (Auszug), (http://meissner-2013.de/sites/default/files/Medien/dokumentation-proto koll%20martinfeld.pdf), zuletzt aufgerufen am 2. 9. 2014. Protokoll der 2. Bundesführerversammlung zur Vorbereitung des 100-jährigen Meißnerjubiläums am 28. 02. 2010 in Hofgeismar (Auszug). Grundsteinlegung des Enno-Narten-Baus am 10. Januar 2010, Rede des Bauhüttenkreises, http://burgludwigstein.de/fileadmin/LudMedia/0660_ Burgbauhuette/ENB-Grundsteinlegung%20Rede%20und%20Wuensche% 20BHK.pdf, zuletzt aufgerufen am 20. 9. 2014. Grundsteinlegung des Enno-Narten-Baus am 10. Januar 2010, Rede Jürgen Reuleckes (Auszug), http://burgludwigstein.de/fileadmin/LudMedia/0660_ Burgbauhuette/ENB-Grundsteinlegung%20Rede%20Reulecke.pdf, zuletzt aufgerufen am 20. 9. 2014.

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Verzeichnis der zitierten Quellen

Einladung zum Vorbereitungstreffen am 21. Januar 2012, http://www.pfad finder-treffpunkt.de/include.php?path=forumsthread& threadid=10483, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Kay Schweigmann-Greve: Der Hohe Meißner und die Falken (Auszug), in: Mitteilungen Archiv der Arbeiterjugend 2, 2012, S. 34 – 43. BundesführerInnenversammlung des Ringes junger Bünde, 19. bis 21. November 2010 auf Burg Ludwigstein (Bericht von Dieter Geißler), http://www. rjb.de/index.php?option=com_content& view=article& id=54 %3Abund esfuehrerinnen-versammlung-des-ringes-junger-buende-2010& Itemid= 55, zuletzt aufgerufen am 2. 9. 2014. Arno Klönne: Kein Grund zum Jubeln. Einhundertjahrfeiern 2013: Das Völkerschlachtdenkmal und der Hohe Meißner (Auszug), in: Neues Deutschland vom 17. 1. 2013. Walter Laqueur : Junge Revolutionäre. Die Jugend vor hundert Jahren (Auszug), in: Die Welt vom 20. 4. 2013. Joachim Radkau: Ins Freie, ins Licht (Auszug), in: Zeit Geschichte Nr. 02/ 2013, S. 16 – 21. Almut Karig (VCP): Von der Formel zur Erklärung. Vom Meißner 1913 bis zum Jubiläum 2013 (Auszug), http://meissner-2013.de/dokumentation/ mei%C3%9Fnererkla%CC%88rung-2013/von-der-formel-zur-erkl%C3% A4rung, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Meißnererklärung 2013 (vom 24. 3. 2013). Zum Jugendtag in Weimar (30.8.–1.9.2013): Weimarer Erklärung vom 1. September 2013 (zur Verfügung gestellt von Kay Schweigmann-Greve). Liste der teilnehmenden Bünde am Meißnerlager bei Frankershausen 2013. Programm(-heft) zum Festakt des Meißnerlagers 2013 am 4. Oktober 2013 (Auszug), AdJb A 210 Nr. 131. Festreden (Auszug): a) Rede Thomas Grothkopps, b) Rede Franca Federers, c) Rede Hans-Peter von Kirchbachs, d) Rede Sebastian Arps’, http://meiss ner-2013.de/dokumentation/das-lager/reden, zuletzt aufgerufen am 19. 9. 2014. Roland Eckert im Interview während des Meißnerlagers 2013 (Phoenix: Bewegte Jugend – 100 Jahre freideutscher Jugendtag Fr. 18.10.13, 12.00 – 13.15 Uhr, AdJb). Meißner-Eindrücke von kökla, DPB (Auszug), http://meissner-2013.de/do kumentation/ostforum, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Bericht von Lee : Gast auf dem Meißner, http ://meissner-2013.de/doku mentation/mein-mei%C3%9Fner/gast-auf-dem-mei%C3%9Fnerf dem Meißner, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. Uta Härtling, Pfadfinderbund Großer Jäger : Vom Meißner 1988 zum Meißner 2013. Als Familie mit Kleinkindern auf dem Lager (Auszug), http://

Verzeichnis der zitierten Quellen

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meissner-2013.de/dokumentation/mein-mei%C3%9Fner/vom-mei%C3%9 Fner-1988-zum-mei%C3%9Fner-2013, zuletzt aufgerufen am 15. 9. 2014. 21. Arno Klönne: Nutzen und Nachteil eines Jubiläums: Das Meissnertreffen 2013 in den Medien, in: Stichwort 198, 2013, S. 32 f. (auch in: Zeitung 3, 2013, S. 51 f.).

Literaturauswahl

Bauer, Ulrich, Keyler, Hartmut, Besser, Jobst, Sudermann, Albrecht (Hg.): Kreuz und Lilie. Christliche Pfadfinder in Deutschland von 1909 bis 1972, Berlin 2013. Becker, Howard: Vom Barette schwankt die Feder. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Wiesbaden 1949. Becker, Jürgen C.: Wir wollen Brücke sein! Zuwanderung – Jugendverbandsarbeit – Integration. 50 Jahre DJO – Deutsche Jugend in Europa, Berlin 2002. Bias-Engels, Sigrid: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896 – 1920, Köln 1988 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 4). Börger, Bernd, Kortmann, Karin (Hg.): Ein Haus für junge Menschen. Jugendhaus Düsseldorf 1054 – 1994, Düsseldorf 1994. Breuer, Stefan: Der völkische Flügel der Bündischen Jugend, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, Berlin, Boston 2014, S. 110 – 133. Buchholz, Kai, Latocha, Rita, Peckmann, Hilke, Wolbert, Klaus (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1 und 2, Darmstadt 2001. Busse-Wilson, Elisabeth: Die Frau und die Jugendbewegung. Ein Beitrag zur frühen Genderforschung. Hg. und kommentiert von Irmgard Klönne, Münster 2012. Botsch, Gideon, Haverkamp, Josef (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, Berlin, Boston 2014. Ciupke, Paul, Jelich, Franz-Josef (Hg.): Ein neuer Anfang. Politische Jugend- und Erwachsenenbildung in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Essen 1999. Conze, Eckart, Witte, Matthias D. (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012. Dadarisch [Geißler, Dieter]: Hoher Meißner 1913, 1963 und 1988 – einige Quellentexte in Auszügen, in: Zeitung. Deutsche Freischar 1, 2009, S. 28 – 47. Dudek, Peter : »Mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.« Antisemitismus im Kontext des Freideutschen Jugendtages 1913, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, Berlin, Boston 2014, S. 74 – 92. Eckert, Roland: Gemeinschaft, Kreativität und Zukunftshoffnungen. Der gesellschaftliche Ort der Jugendbewegung im 20. Jahrhundert, in: Barbara Stambolis, Rolf Koerber

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Literaturauswahl

(Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5, 2008, Schwalbach, Ts. 2009, S. 25 – 40. Fiedler, Gudrun: Jugend im Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung, Erster Weltkrieg und sozialer Wandel 1914 – 1923, Köln 1989 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 6). Geuter, Ulfried: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1994. Großmann, G. Ulrich, Selheim, Claudia, Stambolis, Barbara (Hg.): Deutsche Jugend zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26. 09. 2013 – 19. 01. 2014, Nürnberg 2013. Hellfeld, Matthias von: Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930 – 1929, Köln 1987 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 3). Herrmann, Ulrich (Hg.): »Neue Erziehung« – »Neue Menschen«. Erziehung und Bildung zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weinheim, Basel 1987. Herrmann, Ulrich (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit …« Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim, München 2006. Ille, Gerhard, Köhler, Günter (Hg.): Der Wandervogel. Es begann in Steglitz, Berlin 1987. Jantzen, Hinrich: Namen und Werke. Biographien und zur Soziologie der Jugendbewegung, Frankfurt a.M., 5 Bde., Bd. 1: 1972, Bd. 2: 1974, Bd. 3: 1975, Bd. 4: 1975 und Bd. 5: 1982. Kenkmann, Alfons, Siegfried, Detlef (Hg.): Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968, Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 4, 2007, Schwalbach, Ts. 2008. Kerbs, Diethart, Reulecke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998. Kindt, Werner (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf, Köln 1963 (Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 1). Kindt, Werner (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896 – 1919, Düsseldorf, Köln 1968 (Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 2). Kindt, Werner (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974 (Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 3). Kindt, Werner, Vogt, Karl: Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, Düsseldorf, Köln 1964. Kersting, Franz-Werner (Hg.): Jugend vor einer Welt in Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland, Weinheim, München 1998. Klönne, Arno, Reulecke, Jürgen: »Restgeschichte« und »neue Romantik«. Ein Gespräch über Bündische Jugend in der Nachkriegszeit, in: Franz-Werner Kersting (Hg.): Jugend vor einer Welt in Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland, Weinheim, München 1998, S. 87 – 103. Klönne, Arno: Es begann 1913. Jugendbewegung in der deutschen Geschichte, 20. Jahrhundert (bis 1945), Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2013.

Literaturauswahl

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Klönne, Irmgard: Jugend weiblich und bewegt. Mädchen und Frauen in deutschen Jugendbünden, Stuttgart 2000. (überarbeitete, gekürzte und ergänzte Ausgabe der Studie »Ich spring’ in diesem Ringe« aus dem Jahre 1990). Koebner, Thomas, Janz, Rolf-Peter, Trommler, Frank (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos der Jugend. Frankfurt a.M. 1985. Korn, Elisabeth, Suppert, Otto, Vogt, Karl (Hg.): Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Zur 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düsseldorf, Köln 1963. Laqueur, Walter : Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962, 2., unveränd. Aufl. Studienausgabe 1978, Köln 1983 (englischsprachiger Originaltitel: Young Germany. A History of the German Youth Movement, London 1962, New Brunswick, New Jersey 1984, Neuausgabe 1994). Linse, Ulrich: Der Wandervogel, in: Etienne FranÅois, Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 531 – 548. Malzacher, Florian, Daenschel, Matthias: Jugendbewegung für Anfänger, 2. erweiterte Aufl., Stuttgart 2004. Meissner. Dokumentation, hg. vom Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988 e.V. und Ring junger Bünde e.V., Witzenhausen 1989. Mogge, Winfried: Bilder aus dem Wandervogelleben. Die bürgerliche Jugendbewegung in Fotos von Julius Groß, Wuppertal 1985 (Jugend und Jugendbewegungen 1); Köln 1986 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 1). Mogge, Winfried, Reulecke, Jürgen (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Deutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988. Neuloh, Otto, Zilius, Wilhelm: Die Wandervögel. Eine empirisch-soziologisch Untersuchung der frühen deutschen Jugendbewegung, Göttingen 1982. Olenhusen, Irmtraud Götz von: Jugendreich, Gottesreich, Drittes Reich. Junge Generation, Religion und Politik 1928 – 1933, Köln 1987 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 2). Paetel, Karl O.: Jugendbewegung und Politik. Randbemerkungen, Bad Godesberg 1961. Preuß, Reinhard: Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913 – 1919, Köln 1991 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 8). Pross, Harry : Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Bern 1964. Ras, Marion E.P. de: Körper, Eros und weibliche Kultur. Mädchen im Wandervogel und in der bündischen Jugend 1900 – 1933, Pfaffenweiler 1988. Reulecke, Jürgen (Hg.): Rückkehr in die Ferne. Die deutsche Jugend in der Nachkriegszeit und das Ausland, Weinheim, München 1998 Reulecke, Jürgen: »Ich möchte einer werden so wie die …«. Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2001. Reulecke, Jürgen: Hie Wandervogel – hie Pfadfinder. Die Meißnerformel 1913, das Prunner Gelöbnis und die Reformer Franz Ludwig Habbel und Martin Voelkel, in: Jürgen Reulecke, Hannes Moyzes (Hg.): Hundert Jahre Pfadfinden. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 6, 2009, S. 61 – 75. Reulecke, Jürgen, Moyzes, Hannes (Hg.): Hundert Jahre Pfadfinden. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 6, 2009.

496

Literaturauswahl

Reulecke, Jürgen: Hoher Meißner 1913 – 2013: zum Umgang mit einem Jubiläum. Ein essayistischer Annäherungsversuch, in: Barbara Stambolis, Rolf Koerber (Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5, 2008, Schwalbach, Ts. 2009, S. 191 – 212. Reulecke, Jürgen (Hg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor : Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung 9, 2012, Göttingen 2014. Reulecke, Jürgen: Das Pathos der Jugend. Die Entdeckung des jugendlichen »Selbst« und der »Hohe Meißner« 1913, in: Detlev Mares, Dieter Schott (Hg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmung am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 2014, S. 25 – 46. Schmidt, Fritz, Gerhard, Bernd (Hg.): Die klare Luft gibt’s heute umsonst … Der Bund deutschen Jungenschaften, Heidenheim 1986. Schroedter, Thomas: 50 Jahre Einmischung im Interesse der Jugend. Zur Geschichte von Jugendarbeit und Jugendpolitik, hg. vom Hessischen Jugendring, Frankfurt a.M. 1988. Seidel, Heinrich Ulrich: Aufbruch und Erinnerung. Der Freideutsche Kreis als Generationseinheit im 20. Jahrhundert, Witzenhausen 1996. Seidelmann, Karl: Die Pfadfinder in der deutschen Jugendgeschichte, Teil 1: Darstellung, Hannover 1977, Teil 2: Quellen und Dokumente aus der Zeit bis 1945, Hannover 1980. Siefert, Hermann: Der bündische Aufbruch 1918 – 1923, Bad Godesberg 1963. Siegfried, Detlef: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. Stibane, Peter, Prautzsch, Felix (Hg.): 100 Jahre Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner. Festschrift Meißner 2013, Karlsruhe, Dresden 2013. Stambolis, Barbara: Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 11). Schwalbach, Ts. 2003. Stambolis, Barbara, Koerber, Rolf (Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5, 2008, Schwalbach, Ts. 2009. Stambolis, Barbara (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013 (Formen der Erinnerung, Bd. 52). Stambolis, Barbara (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2014 (Formen der Erinnerung, Bd. 58). Stambolis, Barbara: Autonomie und Selbstbestimmung: der Wandervogel vor dem Ersten Weltkrieg, in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Deutsche Jugend zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26. 09. 2013 – 19. 01. 2014, Nürnberg 2013, S. 36 – 42. Thamer, Hans-Ulrich: Der Meißner-Tag. Probleme einer jugendbündischen Erinnerungskultur, in: Botho Brachmann, Helmut Knüppel, Joachim F. Leonhard und Julius

Literaturauswahl

497

H. Schoeps (Hg.): Die Kunst des Vernetzens (Festschrift für Wolfgang Hempel), Berlin 2006, S. 399 – 409. Thamer, Hans-Ulrich: Das Meißner-Fest der Freideutschen Jugend 1913 als Erinnerungsort der deutschen Jugendbewegung, in: Barbara Stambolis, Rolf Koerber (Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte. Themenschwerpunkt des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5, 2008, Schwalbach, Ts. 2009, S. 196 – 190. Warns, Eberhard (Hg.) in Zusammenarbeit mit Werner Brölsch und Ingo Holfapfel: Evangelische Schülerarbeit in 100 Jahren 1883 – 1983, Wuppertal 1983. Welter, Günter : Bündische Jugend heute, Frankfurt a.M. 1966. Weinrich, Arndt: Der Weltkrieg als Erzieher Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2013. Ziemer, Gerhard, Wolf, Hans: Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961. Ziemer, Gerhard, Wolf, Hans: Wandervogel-Bildatlas, Bad Godesberg 1963.

Abkürzungen

AdJb AWO BdP (BDP) BjPl BMFJ BuFü CDU CP CV-Jugend DMWB DIWAG d.j.1.11 DJJG DJO DPB DRJ (drj) DWJ e.V. FKK FM FVS GV h.c. Hg. HJ HNA HR ILI Jg.

Archiv der deutschen Jugendbewegung Arbeiterwohlfahrt Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder Bundesjugendplan Bundesministerium für Familie und Jugend Bundes-Führer (und -Führerinnen) Christlich Demokratische Union Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands Central-Vereins-Jugend (Jüdischer Centraverein) Deutscher Mädelwanderbund Deutsch-idealistische Weltanschauungsgemeinschaft Deutsche Jungenschaft vom 1. November 1929 Deutsch-Jüdische Jugendgemeinschaft Deutsche Jugend des Ostens Deutscher Pfadfinderbund Deutsche Reform-Jugend Deutsche Waldjugend eingetragener Verein Freikörperkultur Fritz-Martin Schulz Alfred-Toepfer-Stiftung Gesellschaftsversammlung honoris causa Herausgeber Hitlerjugend Hessische/Niedersächsische Allgemeine Hessischer Rundfunk wahrscheinlich: Liberale Jugend ILI (jüdische Jugendorganisation) Jahrgang

500 Jubi (JuBi) N NDR NS NSDAP PBN RjBH RjB RJF RM SAJ SFB S.J. SPD SV UNESCO USA VCP WDR WWV

Abkürzungen

Jugendbildungsstätte Nachlass Norddeutscher Rundfunk nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Pfadfinderbund Nord Ring junger Bünde Hessen Ring junger Bünde Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten (oft auch RjF) Reichsmark Sozialistische Arbeiterjugend Sender Freies Berlin Societas Jesu Sozialdemokratische Partei Deutschlands Stifungsvorstand United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United States of America Verband Christlicher Pfadfinder und Pfadfinderinnen Westdeutscher Rundfunk Weinbacher Wandervogel

Anmerkung zu den verwendeten Bildern

Die in diesem Buch verwendeten Fotos sind nicht immer vollständig oder genau bestimmbar gewesen. Die Urheber waren in einigen Fällen ebenfalls nicht eindeutig festzustellen. Die Bedeutung der Bilder für diese Publikation liegt in den Hinweisen auf die Zusammenhänge, nicht primär in der lückenlosen Benennung der Fotografen oder Rechtsinhaber an diesen Bildern.

Personenverzeichnis Bei Personen, die bei den Meißnerereignissen aktiv gewesen sind bzw. Autoren von Quellentexten waren, sind, wenn möglich, die Lebensdaten hinzugefügt worden.

Aff, Hannes (1879 – 1969) 192, 225, 231 f., 235, 241, 259, 262, 481, 483 Ahlborn, Knud (1888 – 1977) 15, 21 f., 32, 57 f., 71, 87, 95, 101, 115, 118 f., 122 – 125, 127, 130, 135, 137, 139, 141, 144 – 148, 150, 159, 162, 187, 208, 211 f., 216, 220, 225 – 228, 231 f., 241 – 243, 246 – 255, 258 – 260, 262 f., 265, 267, 280, 282 f., 294, 296, 305, 309 f., 315 f., 320, 334, 337, 372, 376, 414, 477 – 480, 482 – 486 Alphei, Hartmut (geb. 1940) 264 Antelmann, Siegfried 331, 437 Aram, Kurt [Hans Fischer] (1869 – 1934) 28, 71, 478 Arndt, Ernst Moritz 86, 110, 206, 447 Arps, Sebastian (erbse) 461 f., 467, 490 Avenarius, Ferdinand (1856 – 1923) 21, 32, 57 f., 70, 77, 80, 85, 88, 95, 103 f., 107, 114 f., 211, 215, 219, 372, 397, 477 – 479 Bach, Johann Sebastian 295, 397 Bachofen, Johann Jakob 67 Baden-Powell, Robert 475 Ballerstedt, Walther (1907 – 1974) 268 Barbizon, Georges [Georg Gretor] (1892 – 1943) 41, 79, 477 Bauer, Walter 22, 69, 86, 89, 381 Baumgarten, Otto 160, 186, 481 Becker, Carl Heinrich 388 Beethoven, Ludwig van 10, 67, 461 Benjamin, Walter [Ador] (1892 – 1940) 13, 76, 78, 478 Benze, Helmut 285

Bergstraesser, Arnold (1896 – 1964) 118, 190, 481 Bernfeld, Siegfried (1892 – 1952) 13, 20, 78 f., 94, 105 f., 479 Beyer, Lars (bölkes) 430 Bismarck, Otto von 21, 67, 79, 453 Bittel, Karl (1892-1969) 118, 123, 132, 141, 143–147 Bittel, Mia 132 Blauel, Gerald (gerte) 462 Bloch, Ernst 356, 359, 388 Blüher, Hans 95, 180 f., 386 Bode, Arthur (1901-1980) 254 Bodmann, Hartwig (buddy) 405 Bohnenkamp, Hans (1893 – 1977) 11, 14, 20, 255, 309 Bohnke-Kollwitz, Jutta 104, 479 Brandes, Tim 445 Branz, Elke 286 f. Brauch, Dieter (christophorus) 405 Braun, Lily 181 Br¦e, Rudolf (1907 – 2003) 334, 379, 408, 488 Breuer, Hans (1883-1980) 37 f., 172, 372, 477 Bruder, Siegfried (wanja) 195, 357, 432, 449 Burkersroda, Kurt von (1877 – 1918) 46, 477 Burckhardt, Jacob 67 Carnap, Rudolf (1891 – 1970) Conradi, Peter 391, 396

114, 118

504 Cordier, Leopold (1887 – 1939) 481 Curtius, Ernst Robert 388

Personenverzeichnis

161, 182,

Dehmel, Hans (1896 – 1985) 318, 320 f., 323, 486 Delbrück, Hans 85 Diederichs, Eugen (1867 – 1930) 22, 24, 32, 42, 44, 47, 78, 85, 92, 95, 112, 219, 372, 397, 479 Diehl, Guida (1868-1961) 139, 480 Diehl, Hermann (1928-2014) 263 f., 283–286, 484 Dirks, Walter (1901 – 1991) 161, 193, 481 Dörrlamm, Rolf (geb. 1938) 313, 326, 486 Drabsch, Gerhard 201 Dudek, Peter 12 f., 76, 78 Dutschke, Gottfried (friedel) 267, 299 Eckert, Roland (geb. 1937) 264, 331 f., 336 f., 410, 415, 420, 468, 489 f. Eco, Umberto 377, 398 Eichendorff, Joseph Freiherr von 408 Eisenträger, Eva 183, 444 Erlach, Paul [Otto Herrmann] 76 Erlinghagen, Karl 186, 481 Eucken, Walter 85 Eulenberg, Herbert 85 Eurich, Claus (geb. 1950) 334, 378, 394, 488 Federer, Franca (franca) 419 f., 430, 433, 435, 460, 462, 464, 490 Fetscher, Iring 68, 478 Fichte, Johann Gottlieb 60, 75, 86, 103 f., 110, 113, 115, 156 f. Fischer, Frank 114 Fischer, Karl 201, 213 Flex, Walter 209, 233 Flitner, Andreas 186, 481 Flitner, Wilhelm (1889-1990) 160, 186, 481 Foerster, Erich 160, 186, 481 Franke, Gustav 115, 173 Franke, Jochen 285 f. Franke, Walter 239, 243, 245–247, 249

Freyer, Hans 20, 93 Fritz, Michael (siddha) 17, 267, 344, 396 Frommel, Wolfgang 231 Funke-Kaiser, Kay 333, 398, 488 Gaebel, Ernst 107 Gandhi, Mahatma 178 Gardiner, Rolf 310 Geiler, Karl (1878 – 1953) 225 f., 239 Geißler, Dieter (dadarisch) 414, 429 f., 443, 490 Geißler, Willi (1895-1977) 256 George, Stefan 18, 205, 449 f. Gerbich, Timo 445 Gerkens, Walter 248 Gerson, Menachem [Hermann] 12 Gerstenmaier, Eugen (1906 – 1986) 295, 301, 324, 485 Geyer, Christian 356, 359, 487 Gläß, Theo (Gläss, Theo) 295, 310 Goebbels, Joseph 357 Goebel, Ferdinand (1886 – 1966) 118 f., 122, 125 f., 141, 310, 479 f. Goethe, Johann Wolfgang von 11, 59, 133, 154, 312, 376, 437, 457 Gollwitzer, Helmut (1908 – 1993) 261 f., 267, 277 – 279, 296, 306, 308, 313, 315 – 317, 319, 322, 325, 327, 375, 397, 485 Gothe, Hans 263 Gräser, Gusto 31, 90 Grigull, Hans (jack) 432 Grothkopp, Thomas (tom) (geb. 1954) 332 f., 340, 343, 350, 359 – 361, 391, 404, 406, 419, 426, 460, 462, 487, 490 Gruber, Alexander (geb. 1937) 263, 281, 296, 305 f., 316, 322, 485 Gruber, Heinz (heigru) (1911-2000) 318, 323, 334, 344, 407, 486, 489 Grünke, Holger 350, 487 Guardini, Romano 13 Gürke, Andreas 445 Gurlitt, Ludwig 75, 85, 451 – 453 Hähnel, Franziskus 68, 478 Hallig, Christian 195, 482

505

Personenverzeichnis

Hammer, Walter [Walter Hösterey] (1888 – 1966) 21, 107, 110, 112, 119, 131, 150 – 152, 479 f. Händel, Georg Friedrich 295 Härtling, Uta 472, 490 Hass, Ernst 136, 179, 238, 248, 310 Hasselblatt, Meinhard 219 Hattingberg, Erwin von (1887 – 1933) 145, 259, 484 Hauke 402, 439, 489 Hausen, W. 314, 486 Hausmann, Manfred 20, 295, 310 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 74 Heintze, Hans 285 Heise, Heinrich 256, 295, 309 Hemsath, Heinrich (1902 – 1978) 296, 298, 304, 485 Hepp, Corona 335, 393, 488 Heraklit 67 Herrmann, Nils (nils) 440 Herrmann, Ulrich 94, 186, 479, 481 Hertling, Helmut (1890 – 1991) 259, 294, 309 f., 484 – 486 Hesse, Hermann 8, 173, 239, 259, 297, 299, 317, 375 f., 406, 416, 442, 444 f., 500 Heybey, Wolfgang 309 Hillesheimer 239 Himmler, Heinrich 357 Hitler, Adolf 21, 210, 213, 222 f., 336, 381 f., 387, 391, 397, 409, 438, 453, 482 Hoffmann, Friedrich (1903-1984) 316, 486 Hoffmann, P. Theo (1890-1953) 160, 180, 481 Homer 67 Hörmann, Martha (1888 – 1971) 19, 21, 91, 479 Huhn, Karl-Hermann 392, 488 Hymmen, Friedrich W. (1913 – 1995) 210, 482 Jahn, Willie (1889 – 1973) 110, 296, 299, 305, 314, 485 Jantzen, Walther (1904 – 1962) 161, 227, 256, 259, 484 Jod(e)l, Friedrich 75, 85

Jöde, Fritz 277, 296 f. Jünger, Ernst 373, 392 Kant, Immanuel 39, 86, 372 Karig, Almut 453, 490 Katz, Fritz 88, 310 Keil, Ernst 77 f., 478 Keller, Gottfried 67, 338 Kellermann, Heinz 162, 205 f., 482 Kemmer, Ernst 179, 481 Kern, Gerd 335 Kerschensteiner, Georg 75, 85, 397 Keyler, Hartmut 332 Kießelbach 145 Kindt, Werner (1898 – 1981) 11, 13, 58, 101, 117 f., 122, 125, 129, 146, 171, 227, 242, 249 f., 261 – 263, 265, 268 f., 284, 295, 301, 313, 316, 318, 323, 441, 478 – 481, 483 – 486 Kirchbach, Hans-Peter von (geb. 1941) 419, 460, 462, 465, 490 Klages, Ludwig (1872 – 1956) 20, 64, 386, 397, 452 f., 478 Kleinert, Markus (veilchen) 433 Klönne, Arno (geb. 1931) 227, 239, 264, 269 f., 336, 380, 383, 389, 418, 446, 473, 488, 490 f. Klönne, Irmgard 12, 205 Kloppenburg, Heinz 310 Kluchert, Gerhard (geb. 1949) 336, 360, 487 Knitschky, Günter (1928 – 1999) 263, 322, 334, 408, 489 Knoll, Joachim H. 11, 69, 385 – 387 Kobiela, Georg 432 Koch, Martin 400, 489 Koebel, Eberhard (tusk) 407 Köhler, Walter 47, 93 Kökla 469, 490 Kollwitz, Hans 104 f. Kollwitz, Käthe (1867-1945) 21, 104, 479 Kollwitz, Konrad 105 Kollwitz, Peter 21, 104 Kommer, C.T. 325, 486 Koob, Daniel (bokow) 435 Korn, Elisabeth (1905-1988) 265 f., 326

506 Korn, Fritjof (1930-1989) 312, 486 Körner, Theodor 86 Koselleck, Reinhart 269 Kracke, Arthur 64, 113 f., 478 Krecke, Hermann (1852 – 1904) 134 Kreissel 246, 483 Kremers, Hans 93, 114 Kreppel, Friedrich (1903 – 1992) 160, 171, 250, 481 Krieg, Hans 295, 310 Krippendorf, Ekkehart (geb. 1934) 351, 353, 487 Kröher, Hein (geb. 1927) 328, 486 Kröher, Oss (geb. 1927) 328 Krüger, Hermann Anders 87 Kühnemann, Eugen 85 Kulke, Erich 282, 297 f. Küpper, Christel 310 Kurella, Alfred (1895 – 1975) 20, 30, 162 f., 216, 482 Kurtz, Rudolf 310, 324 Kutzleb, Hjalmar 375 Labrenz, Katharina (kathi) 432 Lacher, Hans 254 Lade, Fritz 101, 430, 479 Lagarde, Paul de 386 Lamberty, Muck 211 Lambrecht, Paulus 129 – 131, 480 Lampasiak, Peter (lampi) (geb. 1928) 409, 489 Lamprecht, Karl 85 Lamszus, Wilhelm 448 Landahl, Heinrich (1895 – 1971) 295, 301, 485 Langbehn, Julius 386 Laqueur, Walter (geb. 1921) 14 f., 17, 117, 448, 445, 490 Lee 470, 490 Lemberg, Rudolf 141, 480 Lemke, Bruno 46, 57, 82, 208, 477 Lessing, Theodor (1872 – 1933) 152, 480 Liebknecht, Karl 220 Liebs, Ludwig 283 f. Lietz-Ligat, Sabine 403, 489 Lindstädt, Erich (1906 – 1952) 227

Personenverzeichnis

Linse, Ulrich 12 f. Lißner, Hans 40 Litt, Theodor 388 Luserke, Martin (1880 – 1968) 77, 114 f., 215, 219 Lüth, Erich (1902 – 1989) 137, 143, 145, 147, 160, 176, 227, 250, 480 f. Lützow, Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von 86 Mann, Alfred 94 Manstein, Bodo 310 Mao Zedong 449 Martiny, Lutz 391 Marx, Karl 74, 134 McLean, Don 335 Mehnert, Klaus 449 Meiß, Lothar 351 f., 487 Merz, Albrecht Leo 309 Messer, August (1867 – 1937) 123, 141, 219, 480 Metzger, Ludwig 295, 310, 324 Meyer, Gertrud 116 Miehe, Curt (1903 – 1965) 302, 485 Mitgau, Hermann 309 Mittelstraß, Gustav 57 f., 477 f. Moczynski, Gerhard 396 Mogge, Winfried 7, 10, 41, 43, 57 f., 64, 66, 68, 74, 76, 162, 334, 477 f. Mohn, Daniel 443 Mommsen, Theodor 67 Monnet, Jean 373 Müller, Georg (1893-1978) 210, 482 Müller, Wolfgang 444–446 Müller-Using, Burkhard 286 Napoleon Bonaparte 447 Narten, Enno (1889 – 1973) 88, 91, 124, 225, 231 f., 235, 241, 414, 416, 422 f., 435 – 438, 445, 479, 483, 489 Natorp, Paul (1854 – 1924) 22, 75, 80, 85, 152, 397 Nebelsiek, Eleonore 351, 487 Nellessen, Bernd 327, 486 Nelson, Rudolf 219

Personenverzeichnis

Neudorf, Gerhard (1939 – 2014) 263, 268, 285, 287, 351, 409, 416, 485 Niethammer, Lutz (geb. 1939) 329, 486 Nietzsche, Friedrich 61, 67, 144, 386, 450 Noack, Ulrich (1899 – 1974) 225 f., 229, 235, 237, 239 – 244, 246, 249 f., 483 Nohl, Hermann 388 Nöldechen, Waldemar (1894 – 1980) 225, 232, 235, 241, 255, 483 Noll, Richard 105 Noth, Hans Erich [Paul Albert Krantz] (1909 – 1983) 201, 482 Oberländer, Hans 324, 486 Oelbermann, Karl (1896-1974) 286 Oelbermann, Robert 357 Ollenhauer, Erich 442 Oppenheimer, Franz (1864 – 1943) 120, 132, 142, 480 Oschilewski, Walther G. (1904 – 1987) 161, 185, 481 Paasche, Hans (1881 – 1920) 20, 24, 31, 68, 97, 114 f., 131, 219, 334 f., 414, 419, 450 – 452, 478 Palm, Juliane (kani) 420, 462 Palme, Olof 378 Paquet, Alfons (1881 – 1944) 173, 481 Pastenaci, Kurt (1894 – 1961) 161, 184, 481 Perschau, Hartmut 391, 396 f. Peter, Karin (hexe) 432 Pfeiffer, Walter (bolko) 429 f., 432, 444 f., 446 Pflästerer, Hans-Albrecht 285 f. Platon 386 Plette, Peter 266, 285 f., 484 Pöggeler, Franz 11 Pölert, Frank-D. 351, 353, 487 Popert, Hermann (1871 – 1932) 22, 46 – 48, 85, 97, 112, 114 f., 219, 372 Potthoff, Heinz 85 Prochaska, Eleonore 86 Pross, Harry 13, 119, 318 Puschner, Uwe 12 f., 78

507 Rachor, Henrich 446 Rachow, Eike 285 Rademacher, Arnold 160, 186, 481 Radkau, Joachim (geb. 1943) 21, 419, 450, 453, 490 Rauch, Karl (1897-1966) 200, 482 Reiser, Helmut (geb. 1942) 263, 267, 296, 308, 310 Reulecke, Jürgen (geb. 1940) 7 – 10, 13, 17, 41, 43, 57 f., 64, 66, 68, 74, 76, 117, 225, 261, 264, 267 – 269, 331, 334, 336 f., 374, 392 – 394, 398, 429, 437, 477 f., 488 f. Richter, Hans 8, 283, 309, 422 f. Rick, Josef 381 Ritter, Gerhard (1888-1967) 226 Ritter, Heinz 263 Rohrbach, Paul 85 Rommerskirchen, Josef (1916 – 2010) 227 Rosenau, Renate (geb. 1941) 264, 266, 268 Rüdiger, Walter 441 Rung, Volker 406 Rüpprich, Gerhard (1902-?) 255, 259 Saal, Adolf 46 – 48, 63, 80, 115, 212, 220, 297, 438 Sauer, Walter (wasa) 405 Schäfer, Hans-Georg 358 Schafft, Hermann (1883-1959) 20, 138, 140 f., 144–146, 226 f., 243, 245, 247, 249, 254 f., 480, 484 Scheibe, Arnold (1901-1989) 302, 485 Schill, Ferdinand von 86 Schiller, Friedrich 86 Schirach, Baldur von (1907 – 1974) 162, 213, 221, 225, 318, 482 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 86 Schlünz, Friedrich 220 Schmalz, Theodor Anton Heinrich 86 Schmid, Carlo 11 Schmidt, Josef 325, 486 Schmidt, Siegfried (1914-1986) 266 Schneehagen, Christian (1891 – 1918) 21,

508

Personenverzeichnis

57 f., 85, 88, 90, 101, 106 f., 113, 372, 477 – 479 Schoeps, Hans-Joachim (1909-1980) 162, 205, 250, 265, 385, 482 Schoeps, Julius H. (geb. 1942) 11, 384 f., 488 Scholvien, Andreas 432, 445 f. Schröcke, Helmut 345 Schroedel, Hermann von 321 Schubert, Hans-Achim 331, 437 Schultz 284 Schulz, Fritz-Martin (FM) 9, 11, 159, 356 – 358, 393, 406 f., 499 Schuman, Robert 373 Schwarz, Rudolf (1914 – 2005) 207, 297, 300, 333, 345 Schweigmann-Greve, Kay (geb. 1962) 417, 440, 457, 490 Schweitzer, Horst (1928 – 2006) 262 – 265, 267, 284 – 286, 313, 317, 322, 443, 484, 486 Seidelmann, Karl 295, 309, 326 Seifert, Alwin 310 Sievers, Rudolf 372 Smoltczyk, Hans-Ulrich 310 Sommerfeld, Stephan 444 Spranger, Eduard 388 Stachowitsch, Alexej (axi) (1918 – 2013) 334, 345 f., 349, 443 Stählin, Wilhelm (1883 – 1975) 261 f., 289, 295, 298, 302, 485 Stambolis, Barbara 3–5, 8–10, 14, 17 f., 159, 331, 337, 413, 420 Steckhan, Otto (1898 – 1968) 227, 247, 253, 484 Stein, Karl Freiherr vom 11, 60, 86 Steinbrinker, Heinrich (1901-1992) 295, 310 Steiner, Rudolf 150, 396 Suhrkamp, Peter (1891 – 1959) 197, 482 Swidersky, Michael 358, 405, 489 Thierbach, Hans 309 Thums, Karl (1904 – 1976) 314, 321, 485 Thurmair, Georg 381

267, 296, 304,

Timm, Ilse 298 Tlustek, Hugo (1887 – 1964) 142, 480 Toepfer, Alfred (1894 – 1993) 11, 20, 23, 310, 334, 338, 341, 372, 375, 391 f., 394, 438, 488, 499 Tormin, Helmut 220 Traub, Gottfried (1869 – 1956) 32, 42 f., 57 f., 84, 90, 93, 95, 114, 116, 211, 216, 372, 477 – 479 Troß, Erich (?-1930) 130, 138 f., 150, 480 Twittenhoff, Wilhelm (1904 – 1977) 256 Uplegger, Fritz (1905 – 2004) 487

334, 360,

Vesper, Guntram 447 Vesper, Will (1882-1962) 162, 208, 210, 212, 231, 482 Victor, Walther (1895 – 1971) 162, 214, 218, 265, 482 Vogt, Karl (1907 – 2002) 228, 255, 259, 261 – 269, 280, 282 – 284, 288 – 291, 295 f., 301, 303, 312, 316, 320 f., 326, 345, 405, 416, 438, 462, 484 – 487 Vollmer, Antje 391 Wagner, Rolf 446 Weber, Alfred (1868-1958) 19, 101, 397, 479 Weber, Max 394 Weichmann, Hermann 11, 20 Weike, Jörg (pack) 432 Weiß, Fritz 132 Weiß, Sepp 245 Weise, Otto 310 Weisser, Gerhard 295, 310 Welti, Robert 465 Weniger, Erich (1894 – 1961) 242, 483 Westphal, Max 442 Weyer, Adam 171, 481 Wildenbruch, Ernst von 107 Wilhelm, Theodor 11, 28, 162, 447 Wilhelm II. 20 Wittfogel, Karl August (1896 – 1988) 121, 132, 140 f., 143, 145 f., 480 Wolf, Friedrich 20

Personenverzeichnis

Wolf, Hans 37, 46, 103, 160, 477, 479 Wyneken, Gustav (1875 – 1964) 15, 22, 33, 48, 57 f., 77, 79, 85, 93, 95 f., 109, 114 f., 117, 129, 150, 152, 159, 162, 211 f., 219, 221, 225 – 228, 246 – 252, 255 f., 258, 265, 267, 288 – 290, 292, 306, 324, 334, 372, 390, 397, 414, 477 – 479, 482, 484 f.

509 Ziemer, Gerhard 25, 37, 46, 103, 160, 477, 479 Zimmer, Matti 444, 446 Zinn, Georg-August 296, 298 Zopfs, Dettmer Heinrich 139, 480