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German Pages [277] Year 2017
Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch
herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Dirk Schumann, Detlef Siegfried, Barbara Stambolis für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«
Jahrbuch 13 j 2017
»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch« ist die Fortsetzung der Reihe »Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung«. Die Bandzählung wird fortgeführt.
Karl Braun / Felix Linzner / John Khairi-Taraki (Hg.)
Avantgarden der Biopolitik Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung«
Mit 20 Abbildungen
V& R unipress
Finanziert durch das Hessische Ministerium fþr Wissenschaft und Kunst
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-9106 ISBN 978-3-7370-0740-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Redaktion: Susanne Rappe-Weber 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: »Unsere Zeit« von Robert Budzinski (1921)
Inhalt
Einleitung der Herausgeber Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vanessa Tirzah Hautmann Kultiviertes Triebleben. Sexualität und Geschlechtermoral in der Jugendzeitschrift »Der Anfang« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Braun Jugendbewegung, Sexualaufklärung, Sozialhygiene. Das Beispiel Max Hodann (1894–1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sven Reiß »Renaissance des Eros paidikos«. Erotisch-sexuelle Leitbilder und Alltagspraxen in der deutschen Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . .
61
Uwe Puschner Mit Vollkornbrot und Nacktheit – Arbeit am völkischen Körper. Gustav Simons und Richard Ungewitter – Lebensreformer und völkische Weltanschauungsagenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Felix Linzner »Freie Liebe oder Zucht« – Friedrich Lamberty zwischen jugendbewegter Selbst- und völkischer Aufzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
John Khairi-Taraki Gegen »Fremdkörper« und »Fremdherrscher« im eigenen Reich. Körperdenken bei Hans Paasche und Hermann Popert . . . . . . . . . . 109
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Inhalt
Christina Niem Zum Engagement des Verlegers Eugen Diederichs: Volkskunde, Jugendbewegung und Körperkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Meret Fehlmann Zwischen nostalgischer Sehnsucht und matriarchalen Gesellschaftsentwürfen. Bachofen-Rezeption in Lebensreform und Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Gabriele Guerra Führung und Befreiung des Körpers. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Felix Linzner »Gegen Sumpf und Fäulnis – leuchtender Menschheitsmorgen«. Zur Konzeption der Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Weiterer Beitrag David Templin Vom Pfadfinderbund zur »Organisation der Selbstorganisierten«. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Werkstatt Frauke Schneemann, Anne-Christine Weßler Vierter Workshop zur Jugendbewegungsforschung
. . . . . . . . . . . . 207
Anne Göpel Gab es eine konservativ-revolutionäre Jugendbewegung? Britische und deutsche Jugendbünde zwischen den Kriegen . . . . . . . . . . . . . . . 213 Johann Thun Aspekte der George-Rezeption innerhalb der deutschen Jugendbewegung Philipp Lehar 16378, 16379 … Wer steckt hinter den Häftlingsnummern? Österreichische Häftlinge des KZ Dachau aus der Pfadfinderbewegung
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. 223
Inhalt
7
Rezensionen Katja Gäbler, Fabian Wehner : Nachbeben. Begegnungen mit deutschen Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Wolfram Wette: Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914, Bremen 2017 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Fritz Redlich: Hitler – Diagnose des destruktiven Propheten, Gießen 2016 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Horst-Rüdiger Jarck: Otto Bennemann (1903–2003). Von Milieu, Widerstand und politischer Verantwortung, Braunschweig 2015 (Ulrich Linse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Walter Sauer (Hg.): Max Himmelheber – Drei Facetten eines Lebens: Philosoph – Erfinder – Pfadfinder, Baunach 2016 (Jürgen Reulecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Christina Norwig: Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne (1951–1958), Göttingen 2016 (Susanne Rappe-Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Rückblicke Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016 . . . . . . 255 Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2016 und Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Wissenschaftliche Archivnutzung 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Einleitung der Herausgeber: Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung«
Der geschichtliche Hintergrund: Lebenswissenschaften und Gesellschaft Jugendbewegung und Lebensreform werden in diesem Band als Reaktion auf die körperlichen Verunsicherungen und Bedrohungen verhandelt, die als Resultat der im 19. Jahrhundert vor sich gehenden Biologisierung und Medikalisierung gesehen werden müssen. Den Fortschritten in den Natur- und Lebenswissenschaften steht die Möglichkeit allgemeiner Degeneration gegenüber : So rücken individuelle wie kollektive Gesundheit, Gesunderhaltung wie heilende Wiederherstellung bei gesundheitlichen Einbrüchen, ins Zentrum bürgerlicher sozialer Bewegungen des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert. Allenthalben erschallt der Ruf »Heil!«, der sich nicht mehr auf den geglückten Übergang in ein jenseitiges Dasein bezieht, sondern auf allgemeine diesseitige Gesundung. Seit die Physikotheologie des 18. Jahrhunderts, welche die bis dahin akzeptierte und somit gültige biblische Setzung von Welt, Gesellschaft, Körpersein auf den Prüfstand der empirischen Erfahrung stellte, zu einem der Ausgangspunkte der Aufklärung wurde, brach die Allmacht Gottes, die für alle Gebiete der Erkenntnis gegolten hatte, nachhaltig ein. Im Deismus erst zum »Uhrmacher« einer mechanisch ablaufenden Maschine degradiert, wird Gott im Wissenszuwachs und in den Erkenntnissen der sich ausbildenden Natur- und biologischen Wissenschaften für die Lebensvorgänge gänzlich überflüssig, obwohl er als soziale Kohärenz stiftendes Traditionsrelikt weiter mit dem himmlischen Zepter herumdirigieren darf. Die vielgestaltige Spiritualität in der Lebensreform bezieht sich – nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Philosophie Friedrich Nietzsches (1844–1900) – auf Ausbildung anthropologisch fundierter, die degenerierenden Probleme meisternder und überwindender Verssatzstücke ideologischer Neusetzungen. Zwei wissenschaftliche Erkenntnisse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sollten für das naturwissenschaftlich-medizinische Körperbild der Mo-
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Einleitung der Herausgeber
derne grundlegend werden. Das ist zum einen Albrecht von Hallers (1708–1777) Irritabilitätslehre von 1752, in welcher zum ersten Mal eine klare Trennung der Funktionen von Nerven und Muskeln erfolgt. Die Muskeln nennt Haller reizbar, die Nerven empfindsam: Das Fühlen bekommt damit Eigenwert; es wird der Epoche den Namen geben: »Empfindsamkeit«. Zum anderen ist Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) zu nennen, der als der Begründer der vitalistischen Biologie gelten kann; in seinem Werk »Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte« (1781) sieht er eine naturgegebene, sich selbst organisierende Kraft am Werk, eben den Bildungstrieb (nisus formativus), der Erzeugung, Ausgestaltung und Fortpflanzung der lebendigen Organismen steuert. Beide Werke stehen für die Ausbildung einer selbstständigen Physiologie, einen biologischen Ansatz, welcher keinerlei theologischer Grundierung mehr bedarf. Bei Hallers Denken der Nerven – in den Nervenröhren sausen die spiritus animales, auf Flüssigkeitsbasis gedacht, auf und ab und leisten Reiz- und Reaktionsübertragung – sind Nerven-, Samen- und Hormontheorie noch gänzlich ungeschieden. Diese Nervenflüssigkeit ist die höchste Stufe der Digestion, der physiologischen Ausnutzung der Stoffwechselvorgänge: des alltäglichen Geschehens von Nahrungsaufnahme, von Sauerstoffzufuhr im Atmen durch gesunde bzw. verbrauchte oder gar miasmische Luft, vom vernünftigen Ausgleich von Wachsein und Schlaf. Die Digestionsleistung für eine leistungsstarke Nervenflüssigkeit hängt also von der Lebensweise und -gestaltung der einzelnen Individuen ab: Jede Person wird für den Zustand ihrer Nerven selbst verantwortlich! Alle diätetischen Entwürfe des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wie alle Lebensreform-Bestrebungen am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert sind diesem Ansatz körperlicher und seelischer Gesunderhaltung und, wenn nötig, Heilung geschuldet. Begleitet wird diese Umgestaltung, weg von einer noch theologisch unterströmten hin zu einer rein biologistischen Körperlichkeit, von neu auftretenden Krankheiten: den nervösen Leiden. Als nervöse Leiden gelten alle ohne offene Wunden und fieberige Zustände sich einstellenden, als »unnormal« empfundenen Körperbefindlichkeiten. Als erste der nervösen Krankheiten kann der Symptomkomplex um jugendliche (männliche wie weibliche) Onanie gelten, bei dem die übermäßige Ausschüttung des (auch für Frauen angenommenen) Samens, der fast identisch mit der Nervenflüssigkeit gedacht wurde, zur Minderung aller Stoffwechselvorgänge und damit zum Herunterkommen der Nervenund Samenflüssigkeit führt, was, je nach erblich-hereditärer Veranlagung, zu psychisch-physiologischer Degeneration, in jedem Fall zur allgemeinen »Entbürgerlichung« führt. Zwischen 1770 und1790 findet eine breite, öffentlich geführte Aufklärungskampagne gegen diese Sexualbetätigung der Jugend statt, die
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mit einer strikten Tabuierung des Themas endet.1 Mit dem Symptomkomplex »Onanie« beginnt die lange Reihe der durch Nerven-Dysfunktion ausgelöst gedachten Krankheiten, all die Neurasthenien und Hysterien, die nervösen Belastungen und nervösen Ursachen-Zuschreibungen für psychische Krankheiten. Eine medizinhistorische Genealogie dieser Krankheitsbilder findet sich bei Annemarie Wettley »Von der ›Psychopatia sexualis‹ zur Sexualwissenschaft«.2 So erstaunt es keineswegs, dass sich die Beunruhigung hinsichtlich nervöser Belastung und Degeneration an der geschlechtlichen Konstitution der Individuen festmacht3. Bei beiden anfangs genannten Konzepten, sowohl bei Haller wie bei Blumenbach, ist die Fortpflanzungsfunktion von entscheidender Bedeutung, Denn da die Geschlechtlichkeit und deren Zustand die Schaltstelle zwischen Individuen und Gesellschaft ist; die Gesundheit der Einzelnen gewährleistet die Gesundheit der Gesellschaft, organisch als Gattungs- bzw. als »Volkskörper« gedacht. »Die Sexualität befindet sich an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung«, stellt Michel Foucault (1926–1984) in der Vorlesung fest, in der er das Konzept der Biopolitik zuerst entwirft: »Vom Körpermenschen zum Gattungsmenschen: Geburt der Bio-Macht«.4 Michel Foucault, der im Erstentwurf seiner »Geschichte der Sexualität« einen Band zur Masturbations-Kampagne des 18. Jahrhunderts geplant hatte, hat im Zusammenhang mit diesem Projekt zwei grundlegende Feststellungen gemacht. Die erste lautet: Die Diskursivierung, d. h. das öffentliche Zur-Sprache-Bringen geschlechtlicher Belange im Ausgang des 18. Jahrhunderts, ist weniger Verbot als Anreiz, wenn nicht sogar Zwang zur Selbstreflexivität und -verortung der geschlechtlichen Subjektivität eines jeden Individuums. Die zweite lautet: Die bisherige Macht-Technik – der Souverän, der über Leben und Tod entscheidet – tritt zugunsten einer Macht zurück, in deren Blick die Bevölkerung als Größe, als zu beachtende Ressource Boden gewinnt, und dies meint alle Lebensvorgänge und Lebensvollzüge, die statistische Erfassung von Geburten und Todesfällen, auch im Verhältnis der Geschlechter, es meint 1 Siehe hierzu: Karl Braun: Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 1995; ders.: Gott und die Nerven, nervöse Leiden und die Libido, in: Sonja Fielitz (Hg.): Präsenz Interdisziplinär. Kritik und Entfaltung einer Intuition, Heidelberg 2012, S. 247–269, hier v. a. S. 258ff. 2 Annemarie Wettley : Von der »Psychopatia sexualis« zur Sexualwissenschaft, Stuttgart 1959. 3 Der Begriff geschlechtliche Konstitution wird hier deswegen verwendet, weil der Begriff Sexualität dem 20. Jahrhundert angehört und andere Bedeutungsinhalte impliziert. Eine klare Scheidung ist trotzdem nicht möglich, da in der Forschungsliteratur – auch der hier zitierten – Sexualität oft überzeitlich und damit auch für die Übergangsphase von biblisch vermittelter hin zur modernen Geschlechtsordnung – hier passt der Begriff Sexualität – Verwendung findet. 4 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am CollHge de France (1975–76), Frankfurt a. M. 2001, S. 297 (Vorlesung am 17. März 1976).
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Einleitung der Herausgeber
Krankheitsursachen wie auch die prophylaktischen Maßnahmen in Gesundheitsvorsorge und allgemeiner Hygienisierung. Im Deutschland des 18. Jahrhunderts beginnt dieses Interesse am Zustand der Bevölkerung unter dem Namen: »Medizinische Polizey«;5 zentral auch hier »Von Fortpflanzung und EheAnstalten«, wie der Titel des ersten Bandes dieses epochemachenden Werkes lautet. Denn die Gesunderhaltung der Individuen – nun über ihre sexuellen Vorlieben und Neigungen (positiv oder negativ) definiert – wie die des Gesellschaftskörpers geschieht an der Schnittstelle individueller wie kollektiver Prokreationsfähigkeit, findet am Ort der Weitergabe des Lebens statt. An dieser Schnittstelle aber lauert das Degenerationspotential übertrieben oder falsch gelebter Geschlechtlichkeit/ Sexualität. Das »Leben« als biologisch zu bedenkende und zu behandelnde Größe tritt in das Kalkül des Regierens: Biologie, Medizin, Psychiatrie, beginnende Sexualwissenschaft als Wissenschaften vom Leben. Die Reflexion über die Ressourcen des »Lebens«, ihr Erstarken oder Erkranken, durchdringt das öffentliche Leben, allerdings findet dieses Zur-Sprache-Bringen der von Geschlechtlichkeit abhängigen Lebensvorgänge nur in den ständig sich erweiternden Diskursen wissenschaftlich-fachspezifischer Disziplinen, kaum in der Alltagssprache des 19. Jahrhunderts statt. Michel Foucault hat seinen Blick auf das »Regieren des Lebens« zentriert; obwohl oder vielleicht gerade deshalb, weil das 19. Jahrhundert außer der fachdisziplinären keine stimmige Sprache für die Sexualvorgänge gefunden hat, füllt sich dieser Bereich im Alltagsleben mit Unsicherheit und Angst – diese sprachliche Unfähigkeit (Latinisierung, Zote, kein normalisiert-vernünftiges Aussprechen-Können des doch vorhandenen Wissens) dürfte eine Nachwirkung der strikten Tabuierung der weltweit ersten sexuellen Aufklärungskampagne6 darstellen. Der hier angesprochene Bereich von Sexualvorgängen ist weit gefasst, er betrifft nicht nur die direkt-sexuellen Belange: Er meint die leibliche und davon abhängig auch die psychische Existenz als solche, deren Bedrohung durch die allenthalben grassierende Nervenschwächung und die damit verbundene Degeneration. Und er verknüpft sich mit anderen neuen naturwissenschaftli5 Siehe z. B. Johann Peter Frank: System einer vollständigen medizinischen Polizey, 4 Bde., Mannheim 1779–1788. Das Werk wird vielfach aufgelegt, es umfasst schließlich 13 Bände nebst mehreren Supplementbänden. Die »Medizinische Polizey« kann als Vorläufer der Sozialmedizin, der Hygiene als Disziplin wie auch des öffentlichen Gesundheitswesens insgesamt gelten. 6 Sigmund Freud wusste von dieser Kampagne nichts mehr, auch nicht von den Aufklärungsversuchen des frühen 20. Jahrhunderts. Es kann als bezeichnend gelten, dass sich der Begriff Aufklärung außer als Epochenbezeichnung nur in der polizeilichen und Sexualaufklärung erhalten hat. Zur Kampagne siehe: Karl Braun: »Gläserner Körper«? Sexualaufklärung in Deutschland 1770–1800, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, 1996, NF 31, S. 89–101.
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chen Erkenntnissen, v. a. dem Darwinismus, in Form der Evolutionsbiologie und des Sozialdarwinismus, der auf Konkurrenz setzt, und nicht, was durchaus möglich gewesen wäre, auf gegenseitige Hilfe, wie sie Peter Kropotkin (1842–1921)7 propagiert hat. Ebenso starken Einfluss bekommen die sich durchsetzende Bakteriologie und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen.8 Es ist hinsichtlich des modernen Antisemitismus festzuhalten, dass die herrschende körperliche Verunsicherung und Sexualangst nicht zuletzt auf die jüdischen Bevölkerung, den Juden, projiziert worden war. Dies führte – die jüdische Bevölkerung befand sich im Prozess der sozialen Emanzipation – zu Bildern und Stereotypen, die den Juden zum einen als Angehörigen einer anderen, orientalischen, dem »negroiden« Menschentyp nahestehenden Rasse betrachtete, und beflügelte zum anderen die Imagination einer spezifischen physischen Körperlichkeit, des sog. jüdischen Körpers, dem Degeneration aus sexueller Haltlosigkeit und zersetzender Intellektualität eingeschrieben war.9 In der sich auffächernden völkischen Bewegung radikalisiert sich der Antisemitismus zunehmend, seine Ausgestaltung – trotz der verschiedensten Spielarten – ist jedoch immer auf einer rassistisch-körperlichen Fundierung zu denken.10 Zunehmend erfährt die alte Metapher parasitärer jüdischer Existenz durch die Entdeckungen der Bakteriologie durch Robert Koch (1843–1910) enorme Zuspitzung. Demzufolge werden letztendlich jüdische Menschen nicht mehr als Menschen, sondern als Bazillen und Bakterien wahrgenommen und auch als solche behandelt. So erklärt Adolf Hitler (1889–1945) am 10. Juli 1941: »Ich fühle mich wie Robert Koch in der Politik. Der fand den Bazillus und wies damit der ärztlichen Wissenschaft neue Wege. Ich entdeckte den Juden als den Bazillus und das Ferment der gesellschaftlichen Dekomposition.«11 Die grassierende Körperangst hat dazu geführt, dass zum einen in der Verknüpfung von Darwinismus und Gesellschaftsdenken das Recht des Stärksten und mithin Gesündesten vorherrschend und bestimmend wurde. Zum anderen 7 Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Leipzig 1902 (engl. Originaltitel: Mutual Aid. A Factor of Evolution). 8 Philipp Sarasin u. a.: Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren (1870–1920), Frankfurt a. M. 2007. 9 Siehe hierzu Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de SiHcle, Wien 1997 und die einschlägigen Aufsätze in: Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Frankfurt a. M. o. J. [1997]. Als Hintergrund siehe: Walter Boehlich (Hg.): Der Berliner Antisemitismsstreit, Frankfurt a. M. 1965. 10 Siehe hierzu Uwe Puschner : Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. 11 Zit. nach Karl Braun: Volkskörper, Körperangst und der Genozid am europäischen Judentum, in: Harald Roth (Hg.): Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten, München 2014, S. 37–43, hier S. 37.
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Einleitung der Herausgeber
haben andere neue medizinische Erkenntnisse wie bakterielle Ansteckung und Krankheitsübertragung die latent existierende Angst vor Degeneration und ihre Projizierung auf andere Bevölkerungsteile so radikalisiert, dass sie zur unbewussten Grundlage des größten Menschheitsverbrechens werden konnten – dem Genozid am europäischen Judentum und der Vernichtung anderer, sozial oder ethnisch definierter Gruppen (z. B. Menschen mit Behinderung, »Asoziale«, Homosexuelle, Sinti und Roma). Diese wurden als »anormal« erklärt: Basis hierfür war eine biopolitisch konstruierte, ungemein fiktive und doch realitätsmächtige Normalität, die des ideologisch-imaginierten »Ariers« als des Höchst-Zustandes menschlicher Entwicklung. So lässt sich zusammenfassend festhalten: War die Emanzipation des Menschengeschlechts im 18. Jahrhundert an die Selbst-Setzung der Vernunft und die ästhetische Erziehung innerhalb dieses Vernunftrahmens geknüpft, wird sie im 19. Jahrhundert zunehmend körperlich verhandelt: Die Erkenntnisse der ins Biologische gewendeten Wissenschaften vom Menschen durchdringen in Popularisierungen das Alltagswissen und kanalisieren so die expandierenden Ängste um den biologisch anfälligen Körper. Die Fortschritte der Lebenswissenschaften werden von den ihnen zugeschriebenen Bedrohungen unterlaufen: Herunterkommen aus selbstverschuldeter oder ererbter Nervenschwäche bzw. rassische Degeneration – es droht neben dem eigenen Verfall die nachhaltig wirksame nervöse Schwächung der Nachkommenschaft wie die Verunreinigung des »Volkskörpers«, denn Volk wird als organische Größe imaginiert. Die Sorge um Degenerierung ist allenthalben präsent: Um den erreichten Grad der Zivilisation und die Selbstzuschreibung der obersten Position in der Hierarchie der Rassen halten und um überleben zu können, muss man sich rüsten; es geht darum, stark und gesund sowie rassisch rein zu bleiben. Also müssen diese Werte nachhaltig geschützt und verteidigt werden – im Zusammenspiel von sozialem Ausschluss derer, die als anders imaginiert werden, und von eigener Verbesserung und Aufrüstung, zugespitzt von biopolitisch motivierter Ausmerze und Auslese. Das hier entworfene Szenario stellt die Extremposition biopolitischer Aktion dar ; es ist aber notwendig, die vielfachen Abstufungen und Schattierungen, wie sie in Lebensreform und Jugendbewegung praktiziert wurden, nicht zu vernachlässigen. Erst in einer differenzierten Betrachtung lebensverbessernder und Degeneration vermeidender Denkansätze öffnet sich der Blick auf Jugendbewegung und Lebensreform als Avantgarde biopolitischer Bestrebungen.
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Avantgarden der Biopolitik: Jugendbewegung und Lebensreform Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ist – trotz enthusiastischer Fortschrittsgewissheit – eine Vielzahl von biologisch und sexuell verunsichernden Phänomenen wirksam. Verbesserungszuversicht und imaginierte Untergangsangst verschränken sich: Krisenzeit voll gefährdendem Um-, aber auch heilendem Aufbruch. Die Vielzahl von kritischen und alternativen, aber auch affirmativen und zugleich rückwärtsgewandten, eine »heile« Vergangenheit frei imaginierenden Ansätzen, von Gegen- und Fluchtbewegungen zum wilhelminischen Alltag, entfaltet sich vor dem Ersten Weltkrieg. Ein breites Spektrum unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher, kultureller wie auch wirtschaftlicher Strömungen kommt dabei zum Tragen.12 Die Lebensreformbewegung – die expressionistische Literatur und Kunst folgt anderer Logik – stellt dabei ein Sammelbecken für diese unterschiedlichen, durchaus heterogenen Vorstellungen, Zielsetzungen und Projektentwürfe dar. Sie kann als Antwort eines städtischen Bildungsbürgertums auf degenerationsförderliche Veränderungen in Tempo und Lebensrhythmus durch Industrialisierung, Urbanisierung, globalen Kolonialismus und Individualisierung verstanden werden, wobei in beträchtlichen Teilen die Rückkehr zu einem imaginierten natürlichen Zustand und einer naturgemäßen Lebensweise propagiert wird. Auch die Jugendbewegung, Wandervogel wie Freideutsche Jugend, kann als durchaus modern geprägte Fluchtbewegung aus der Moderne gesehen werden; sie ist deutschland-spezifischer Ausdruck der dem 19. Jahrhundert entwachsenden und nachfolgenden Generationen. Als biopolitisch motivierte Orientierungssuche können die in ihr geführten Diskurse gelten: Diskussionen um Reinheit als höchstem selbstgesetztem Wert neben Selbständigkeit und -verantwortlichkeit, um gemischtes Wandern und die je spezifische Seins-Art von Mann und Frau, um ihre Antriebskraft aus homoerotischer Spannung (als Imaginierung der Rückkehr zu früherer, Kultur erst erschaffender Männerbündigkeit), um die Rückkehr zu gynaikokratischen Strukturen (von Johann Jakob Bachofen (1815–1887) in »Das Mutterrecht« (1861) beschrieben), um den Antifeminismus als Gegengewicht zur »Gleichmacherei« der Geschlechter, um eine Ethik der Enthaltung – kein Alkohol, Nikotin und nur kameradschaftlichasexuelle Beziehungen, um den Ausschluss jüdischer Jugendlicher (»Arier-Paragraphen«) als Bewahrung der Bewegung von intellektualistischer und sexueller Zersetzung, aber auch um das Ausleben-Können jugendlicher Heterosexualität in der radikalen Spielart der Jugendkulturbewegung. 12 Siehe hierzu: Karl Braun, Christian Boller, Marta Leonora Frank, Felix Linzner (Hg.): Friedenszeiten. Zum Eigensinn der Monate Januar 1913 bis Juli 1914, Marburg 2015.
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Einleitung der Herausgeber
Lebensreform wie Jugendbewegung können so als »Avantgarden der Biopolitik« gesehen werden; der Versuch, beide Bewegungen – Lebensreform und Jugendbewegung – zusammenzudenken und gesellschaftlich durchzusetzen, trägt bereits den Avantgarde-Gedanken, allerdings ins Deutsche übertragen, im Titel: »Der Vortrupp. Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit«/ ab 1919: »Deutsche Zeitschrift für das Menschentum unserer Zeit«, herausgegeben von Hermann Popert (1871–1932) und Hans Paasche (1881–1920). Um 1917, zur Zeit des zu Ende gehenden Krieges und der Revolution 1918/19, brechen die unterschiedlichen ideologisch-politischen und -sexuellen Ausrichtungen der verschiedensten Gruppen von Jugendbewegung und Lebensreform endgültig auseinander : Biopolitisch motivierte Entscheidungen spalten in der Weimarer Republik die Jugendbewegung der Vorkriegs- und Kriegszeit unüberwindbar auf. Diejenigen freideutsch-jugendkulturellen Gruppen, welche heterosexuelle Bedürfnisse artikulieren und sich, beeinflusst von Sexualwissenschaft und Psychoanalyse, in dieser Offenheit von der Unfähigkeit der Elterngeneration in deren sexualtabuiertem Verhalten abtrennen konnten, sind in die – durch die russischen, aber auch die deutschen Revolutionsereignisse – sich neu entwerfende Linke ein- und in ihr aufgegangen; sie rechnen sich selbst nicht mehr der Jugendbewegung zu. Die nicht unbeträchtlichen Teile der völkischantisemitisch orientierten bündischen Jugend finden sich – mit nationalem bzw. völkischem Auftrag – im rechts-konservativen bis nationalsozialistischen Lager wieder. Die Bünde, die unpolitisch bleiben wollen und als inhaltliche Bestimmung nach wie vor auf den Begriff des Jugendalters setzen, existieren als – durchaus Impulse gebende – Reliktform zwischen den Fronten der Polarisierung von links und rechts und werden nach 1933 von der nationalsozialistischen Jugendpolitik vereinnahmt; die Widerständigkeit einiger dieser Bünde sollte aber nicht vergessen werden. Praktisch alle Bestrebungen zur Hebung der biologischen Qualität in Jugendbewegung und Lebensreform vor 1917/1918 – seien es Bestrebungen zur Minderung nervöser Belastung und der heteronormativen Regulierung von Sexualität, Projekte von gesundheitsnormierender Eugenik, rassisch motivierte Aufzuchtversuche, Ausschluss von Gruppen, die für rassisch minderwertig und damit für gefährlich erklärt wurden, da sie die kollektive, als rein proklamierte Körperlichkeit der eigenen Gruppe in Frage stellen könnten, seien es Großstadtflucht, kommunitäre und Siedlungsvorhaben, Gartenstadt-, Abstinenz-, Vegetarismus, Freikörperkultur und sonstige Lebensreformprojekte – haben eines gemeinsam: Sie dienen biologisch-körperlicher Aufrüstung, sie zielen auf »vernünftiges Bewirtschaften« biologischer Ressourcen, wobei der Begriff des Vernünftigen hier zum Teil auf fiktive, nicht immer realitätsgesättigte, nichtsdestotrotz realitätsmächtige Ideologie-Versatzstücke Bezug nimmt. In jedem Fall ist dem »Körperhandeln« von Jugendbewegung und Lebensreform als einem
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ideologisch besetzten und zu bearbeitenden Feld eine nachhaltige Rettungsallegorie – wir müssen handeln, sonst … – eingeschrieben. Bei der Archivtagung vom 21. bis 23. Oktober 2016 konnte die Breite des Themas nicht in Gänze abgedeckt werden, zudem gab es gegenüber dem Programm-Entwurf einige schmerzliche Ausfälle. Trotzdem wurden – mit Ausnahme der körperlichen Dimension des Antisemitismus – entscheidende Punkte biopolitischer Beunruhigung und der Konsequenzen daraus unter den Stichworten »Heterosexualitäten«, »Inversion und pädagogischer Eros«, »Körperlichkeit und völkischer Aufbruch«, »Das Eigene Bewahren: Reinheit – Volkstum – Fortschritt der Kultur«,«Gynaikokratie: Aktualität eines urgeschichtlichen Konzepts« sowie »Aspekte der Reformpädagogik« vorgetragen und sind in diesem Tagungsband repräsentiert. Die von Felix Linzner zusammengestellte und verantwortete Ausstellung »Gegen Sumpf und Fäulnis – leuchtender Menschheitsmorgen«: Jugend! hat in der Präsentation von einschlägigen Dokumenten, Bildern und Objekten das Thema der Archivtagung erweiternd und nachhaltig bereichernd illustriert. Die Programmverantwortlichen für die Archivtagung 2016 und Herausgeber dieses Tagungsbandes »Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung Lebensreform und die Strategien biologischer ›Aufrüstung‹« möchten sich, zusammen mit der Redakteurin des Bandes und Archivleiterin, Susanne Rappe-Weber, bei den Beiträgerinnen und Beiträgern der Tagung wie des Bandes für ihre kooperative Arbeit und für ihr Engagement herzlich bedanken. Gleiches gilt für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung auf Burg Ludwigstein im Oktober 2016. Im August 2017
Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki
Vanessa Tirzah Hautmann
Kultiviertes Triebleben. Sexualität und Geschlechtermoral in der Jugendzeitschrift »Der Anfang«
Die Jugendbewegung und »Der Anfang« »Wir sind verkatert«,1 beschwert sich der junge Autor Herbert Blumenthal, ein Freund Siegfried Bernfelds, in der Jugendzeitschrift »Der Anfang«. Er kritisiert die durch Schule und Elternhaus unterdrückte jugendliche Sexualität, die entartet sei und nun einer Kultivierung bedürfe. Was dies zu bedeuten hat und welche weiteren Blickwinkel sich auf jugendliche Sexualität und Geschlechtermoral im »Anfang« finden lassen, sind Themen dieses Artikels. Zunächst werden einige allgemeine Informationen zum »Anfang« gegeben. Es werden die Struktur der Zeitschrift sowie die Resonanz in Politik und Freideutscher Jugend skizziert. Weiter wird auf die Themen Sexualität und Geschlechtermoral eingegangen, zu denen sich junge Männer wie auch Frauen innerhalb der Zeitschrift zu Wort meldeten. »Der Anfang« brachte das Denken Jugendlicher des frühen 20. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit und war damit bis zu diesem Zeitpunkt zwar nicht die erste, aber die einflussreichste und verbreitetste Jugendzeitschrift.2 In der ersten Ausgabe fordert sie alle Jugendlichen, die etwas zu sagen oder zu kritisieren haben, auf, einen entsprechenden Artikel an die Redaktion zu senden.3 Die Zeitschrift sah sich als Portal für die Jugend, um im Protest gegen Unterdrückung durch Eltern und Schule »allen Mächten und Autoritäten, wenn es sein muss, zum Trotz ihre Meinung und ihren Willen auszusprechen, rückhaltlos und weithin vernehmbar.«4 So heißt es in der ersten Ausgabe des »Anfangs«, die im Mai 1913 erschien. Herausgegeben wurde die Zeitschrift in Berlin und Wien von den 1892 geborenen Studenten Siegfried Bernfeld und Georges Barbizon – 1 Herbert Blumenthal: Jugendliche Erotik, in: Der Anfang, 1913, Nr. 6, S. 166. 2 Vgl. Peter Dudek zitiert Klaus Laermann, in: Peter Dudek: Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld. Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Bad Heilbrunn 2002, S. 109. 3 Vgl. Gustav Wyneken: Erklärung, in: Der Anfang, 1913, Nr. 1, S. 4. 4 Wyneken: Erklärung (Anm. 3), S. 4.
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dessen eigentlicher Name Georg Gretor war. Der Jugendführer und Schulreformer Gustav Wyneken hatte die presserechtliche Verantwortung übernommen. Siegfried Bernfeld – später bekannt als Psychoanalytiker und Pädagoge – war ein jüdischer Student, der 1912 das »Akademische Comit8 für Schulreform« (ACS), 1913 das »Archiv für Jugendkultur« sowie den ersten Sprechsaal in Wien gründete. Das ACS sollte Beiträge »zur wissenschaftlichen Fundierung des Begriffs, der Aufgaben und der Technik der Jugendkultur«5 und auch die Etablierung des »Anfangs« an Schulen fördern.6 Im »Archiv für Jugendkultur« sollten jugendliche Selbstzeugnisse, die jugendliches Denken, Leben und dabei auch Unterdrückung durch Schule und Elternhaus belegen, gesammelt werden.7 Die Sprechsäle waren eigentlich als Anfang-Lesekreise gedacht, entwickelten sich dann aber zu Debattierforen über Kunst, Literatur, Sexualmoral, Frauenemanzipation und Jugendkultur. In zahlreichen anderen Universitätsstädten etablierten sich daraufhin weitere Sprechsäle.8 Die Zeitschrift hatte ihren Standort in Berlin im Haus von Käthe Kollwitz, bei der Georges Barbizon wohnte. Der umstrittene Jugendführer und Schulreformer Gustav Wyneken war Mitbegründer der »Freien Schulgemeinde Wickersdorf«. Seine Prinzipien von jugendlicher Gemeinschaft, selbstständigem Lernen und nicht zuletzt der von ihm geprägte Begriff Jugendkultur wurden in der Zeitschrift oft zu Idealen stilisiert. Bekannte Persönlichkeiten wie der Pädagoge Paul Nartop, der Nobelpreisträger Wilhelm Oswald und – wie ihn der Erziehungswissenschaftler Peter Dudek nennt – der »anarchistische Antipädagoge«9 Walther Borgius verfassten Artikel für den »Anfang«. Jugendliche Autoren, die sich im späteren Alter einen Namen machten, waren der Philosoph Walter Benjamin, Hans Kollwitz, der Sohn von Käthe Kollwitz, und Alfred Kurella, Gründer der »Freien sozialistischen Jugend« und später Mitglied der KPD – um hier nur einige Namen zu nennen. Zum großen Teil bestand die Zeitschrift allerdings aus Einsendungen Jugendlicher und junger Erwachsener aus Deutschland und Österreich-Ungarn, die durch die Redaktion vor der Veröffentlichung sortiert und gegebenenfalls in der Zeitschrift kritisch kommentiert wurden.10 »Der Anfang« erschien im Berliner linkspolitischen Verlag »Die Aktion«, dessen Leiter Franz Pfemfert war. »Die Aktion« war Verlag und expressionistische Zeitschrift zugleich, die sich dem Kulturkampf widmete, worunter in erster Linie ein Eintreten für die Trennung von Kirche und Staat, aber auch der Wi5 Peter Dudek: »Er war halt genialer als die anderen«. Biographische Annäherung an Siegfried Bernfeld, Gießen 2012, S. 63. 6 Vgl. Umschau: Rundschreiben des ACS, in: Der Anfang, 1913, Nr. 1, S. 28. 7 Vgl. Siegfried Bernfeld: Das Archiv für Jugendkultur, in: Der Anfang, 1913, Nr. 2, S. 52. 8 Vgl. Dudek: Annäherung (Anm. 5), S. 63–65. 9 Dudek: Fetisch (Anm. 2), S. 85. 10 Vgl. Wyneken: Erklärung (Anm. 3), S. 3.
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derstand gegen Wilhelminismus auf kultureller Basis zu verstehen ist.11 Sie sah sich als »Tribüne, von der aus jede Persönlichkeit, die Sagenswertes zu sagen hat, ungehindert sprechen kann.«12 Die Wortwahl klingt ähnlich der Barbizons im ersten »Anfang«-Artikel »Die treibenden Kräfte«, in dem er diesen als »Tribüne der Jugend« bezeichnet und zum »Jugendkulturkampf«13 auffordert. Tatsächlich lassen sich beim Kampf der Jugend um Jugendkultur sowie beim »Anfang« als »Versuch, eine Gegenöffentlichkeit zu Elternhaus, Schule und Universität herzustellen«14, einige inhaltliche Gemeinsamkeiten zur »Aktion« feststellen. Ursula Walburga Baumeister, die eine Studie zur Zeitschrift und zu dem Verlag »Die Aktion« erstellt hat, resümiert: »Der Anfang« bedeutete für »Die Aktion« nicht nur die Expansion als Verlag. Franz Pfemfert sah die oppositionelle Jugend außerdem als eine Art Verbündete an.15 Die Jugendbewegten um den Anfangskreis herum forderten die freie Gestaltung einer eigenen Jugendkultur, des eigenen Lebens und eigener Interessen. Deshalb waren dies Themen: konsequente Schul- und Erziehungskritik, philosophische Fragen, Kritik am sogenannten Philistertum – eine Bezeichnung für die spießigen Angewohnheiten der Elterngeneration –, Alkoholkonsum und Religion, aber v. a. auch Fragen zu Erotik und Geschlecht. Die Zeitschrift sah sich aufgrund ihrer Struktur und ihrer Inhalte als Sprachrohr der Freideutschen Jugend – einer losen Vereinigung Jugendbewegter, die auf dem Hohen Meißner 1913 ihren Anfang nahm.16 Dennoch schloss die Freideutsche Jugend die Anfangsgruppe im Rahmen der Marburger Beschlüsse im Februar 1914 aus. Dies kann zum Teil auf eine Ablehnung der kritischen Stellungnahmen im »Anfang« in Bezug auf Elternhaus und Schule, besonders aber auch im Hinblick auf die Themen Sexualität und Geschlechtermoral zurückgeführt werden.17 Ebenfalls wird der – v. a. in den letzten Ausgaben der Zeitschrift – unübersehbare und dominierende Anteil der polarisierenden Figur Wynekens an den Veröffentlichungen im »Anfang« einen erheblichen Beitrag zum Ausschluss geleistet haben. 11 Vgl. Ursula Walburga Baumeister : Die Aktion 1911–1932. Publizistische Opposition und literarischer Aktivismus der Zeitschrift im Restriktiven Kontext, Erlangen u. a. 1996, S. 94, S. 114. 12 Baumeister : Aktion (Anm. 11), S. 94. 13 Georges Barbizon: Die treibenden Kräfte, in: Der Anfang, 1913, Nr. 1, S. 3. 14 Dudek: Annäherung (Anm. 5), S. 52. 15 Vgl. Baumeister : Aktion (Anm. 11), S. 114–115. 16 Vgl. o. A.: Zum Freideutschen Jugendtag, in: Der Anfang, 1913, Nr. 6, S. 162–163. 17 Vgl. Dudek: Fetisch (Anm. 2), S. 100–103. Dudek zeigt die Diskussion im bayerischen Landtag und den politischen Druck auf den »Anfang« und seiner Leser_innenschaft auf. Im Zuge dieses Drucks beugte sich auch die Hauptversammlung der Freideutschen Jugend und distanzierte sich von der Anfangsgruppe, Wyneken und deren Themen. Da sich »Der Anfang« als Sprachrohr der Freideutschen Jugend sah, wird diese sich ebenfalls durch diesen Druck bedroht gefühlt haben, weswegen zu vermuten ist, dass die Freideutsche Jugend als Reaktion darauf den »Anfang« ausschloss.
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In Kritiken wurde die Zeitschrift bspw. als ein »ödes Schimpfblatt«,18 das von den Ideen Wynekens manipuliert würde, bezeichnet. Es darf des Weiteren nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Freideutschen Jugend auch nationalistische und antisemitische Strömungen vertreten waren. Siegfried Bernfeld, Walter Benjamin und ein Großteil weiterer Schreiber_innen im »Anfang« waren jüdischer Abstammung.19 Somit wird auch antisemitische Motivation eine Rolle beim Ausschluss gespielt haben.20 Mit etwa 800 Abonnent_innen/en und einer Auflage von 2000 Exemplaren schien die Zeitschrift zwar nicht sonderlich verbreitet gewesen zu sein, doch durch die Praxis des gemeinsamen Lesens und der Weitergabe untereinander erreichte sie eine breite Leser_innenschaft. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit für den »Anfang« machte sich auch in den größtenteils kritischen Reaktionen der pädagogischen Fachpresse, aber auch der nationalen Presse und Diskussionen im Bayerischen und Preußischen Landtag deutlich.21 Der Bayrische Landtag war es, der bereits vor dem Ausschluss aus der Freideutschen Jugend die Zeitschrift verbot. Preußen und Baden rückten nach: Die »Verhöhnung der Lehrer, Herabwürdigung der Religion und eine Thematik der gesunden Erotik« wurden als »gemeingefährlich«22 eingestuft. Weiter kann die Zeitschrift als Verstoß gegen das Vereins- und Pressegesetz gedeutet werden, welches es Minderjährigen untersagte, in politischen Vereinen und Versammlungen tätig zu sein. Pünktlich zu Kriegsbeginn im Juli 1914 erschien mit Ankündigung des nächsten Heftes die letzte Ausgabe der Zeitschrift.
18 Gustav Wyneken: Noch einer, in: Der Anfang, 1913, Nr. 10, S. 310. 19 Vgl. Dudek: Fetisch (Anm. 2), S. 87. 20 Antisemitismus war ein diskutiertes Thema in der Jugendbewegung, sodass Bernfeld anfangs sogar Bedenken hatte, bei der Zeitschrift mitzumachen, die von Barbizon besänftigt wurden; vgl. Dudek: Annäherung (Anm. 5), S. 59. Im Mai 1913 wurde ein jüdisches Mädchen aus dem Wandervogel mit dem Argument, dieser sei eine deutsche Bewegung, ausgeschlossen. Weiter brachte die Wandervogel Führerzeitschrift im Oktober 1913 ihre sogenannte Judennummer mit antisemitischen Inhalten heraus; vgl. Dudek: Fetisch (Anm. 2), S. 87–89 und Georges Barbizon: Wandervogel und Antisemitismus, in: Der Anfang, 1914, 1. Jg., Nr. 10, S. 381–383. Auch auf dem Freideutschen Jugendtag wurden antisemitische Stimmen laut. Bernfeld bezeichnet in seiner Abrechnung mit den Marburger Beschlüssen den Auschluss als antisemitisch motiviert; ACS [d. i. Bernfeld]: Die Freideutsche Jugend, in: Der Anfang, 1914, 2. Jg., Nr. 1, S. 1–12, hier : S. 6. 21 Vgl. Dudek: Fetisch (Anm. 2). 22 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags im Jahre 1913/14, Stenographische Berichte Nr. 215–248, München, S. 152.
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Sexualität und Geschlecht Die Autor_innen/en im »Anfang« beschäftigten sich mit dem Kampf für Freiheit und Jugendkultur. Auch junge Frauen kamen zu Wort. Zur Jugendkultur sollte jugendliche Sexualität gehören. Was dachten Jugendliche der Zeit über Erotik und Sexualität? Was dachten sie über die bestehende Geschlechtermoral? Prinzipiell kann konstatiert werden, dass sich »Der Anfang« positiv zur zeitgenössischen Frauenbewegung positionierte, da er in der Rubrik »Umschau« über Veranstaltungen wie politische Vorträge zum Frauenwahlrecht berichtete. Bspw. informierte er über einen Vortrag der Frauenrechtlerin und Politikerin Dr. Gertrud Bäumer im Berliner Verein für Frauenstimmrecht. Sie »legte in überzeugender Weise das große Unrecht dar, das der heutige Staat an der Frau begeht: ›Sie hat Pflichten ohne Rechte.‹«23 Zwei der frühen Artikel von jungen Frauen im »Anfang« beschäftigten sich mit ihrer Rolle im jugendlichen Kulturkampf. Einsendungen von Frauen waren ab der dritten Ausgabe der Zeitschrift regelmäßig dabei. Eine »Kameradin« – so nennt sie sich – kritisiert die »hohe Mauer«24, die zwischen den Geschlechtern stehe. Die Autorin fordert »gemeinsames Denken und Handeln«25. Margot, eine andere Schreiberin, verfasste einen »Appell an die Mädel«, der junge Frauen dazu auffordert, sich im jugendlichen Kulturkampf einzusetzen.26 Beide Frauen verlangen die Eingliederung von Frauen in den jugendlichen Protest, was vermuten lässt, dass sie sich nicht als Teil dessen sahen und unterrepräsentiert waren. Die Sympathie der Zeitschrift für die zeitgenössische Frauenbewegung und die Tatsache, dass Artikel von Frauen veröffentlicht wurden, stehen im Gegensatz zu dem Tenor der Zusendungen hauptsächlich männlicher Autoren zu den Themen Sexualität und Geschlecht. Im Artikel »Nacktheit – Wahrheit« spricht der Autor »Ernst« von der Unterdrückung der jugendlichen Sexualität bzw. der Sexualität im Allgemeinen. Sexualität sei der »höchste[n] Affekt des Lebens«, Nacktheit etwas Natürliches und das »reinste Symbol reiner Wahrheit«27. Die Erziehung würde eine Abscheu bezüglich der natürlichen Ursprünglichkeit von Sexualität erzeugen, was eine Entfremdung darstelle. Trotzdem warnt der Verfasser vor der »nackten medusenäugigen Wahrheit«28, die junge Männer ins Verderben ziehe. Medusa als schöne Tochter eines griechischen Gottes, die alle versteinert, die sie ansehen, wird hier als Metapher für die Gefahr, die von weiblicher Sinnlichkeit und Nacktheit ausgehe, verwendet. Wir finden in diesem 23 24 25 26 27 28
Umschau: Die weibliche Jugend und der Staat, in: Der Anfang, 1913, Nr. 10, S. 316. Eine Kameradin: Seelenfeigheit, in: Der Anfang, 1913, Nr. 4, S. 104. Ebd. Vgl. Margot: Appell an die Mädel, in: Der Anfang, 1913, Nr. 4, S. 103. Ernst: Nacktheit – Wahrheit, in: Der Anfang, 1913, Nr. 5, S. 138. Ebd., S. 139.
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Artikel also das Streben danach, dass Nacktheit und Sexualität als natürlich und rein wahrgenommen werden sollen und gleichzeitig das Bild einer verdorbenen weiblichen Nacktheit, die eine Bedrohung sei. In diesem Artikel fällt auf, dass weibliche Sexualität als beängstigend und gefährlich bewertet wird. Der Autor Friedrich Mono kritisiert ebenfalls die damalige Sexualmoral. Vor allem aber lässt er sich über die Feierkultur, hauptsächlich über Tanzveranstaltungen in Städten, aus. Er wertet dabei Frauen und weibliche Sinnlichkeit ab: »›Es ist bekannt, daß das weibliche Geschlecht bei seiner sexuellen Leichtfertigkeit ebendieselbe Eigenschaft beim andern Geschlecht gern wieder findet‹ […] bestätigen muss ich aber, daß schon 16jährige Mädchen […] diesen Defekt mit sich herumschleppen in Konkurrenz mit einer widerlich forciert zur Schau getragenen Sinnlichkeit.«29 Dieser Defekt rühre vom Versagen der Mädchenerziehung her.30 Was jungen Frauen fehle und was er von ihnen verlange, so schreibt Mono weiter, sei »Menschlichkeit«31. Frauen trügen Schuld, dass keine Beziehungen entstehen würden: »[…] die Tatsache ist sehr ernst: der junge Mann mit menschlichen, intellektuellen und seelischen Interessen steht sexuell […] allein«32 und wünsche sich eine ebenbürtige Kameradin. Selbstbewusster Stolz bezüglich weiblicher Sexualität sei des Weiteren »dirnenmäßig[en]«33. Mono spricht sich aber trotzdem dafür aus, dass Frauen in die Jugendbewegung eingegliedert werden müssten. Dies würde eine »gesunde Jugendkultur«34 ausmachen. Da er der Meinung ist, dass junge Frauen aber noch nicht genügend Intellekt dafür hätten, bekräftigt er : »Wir fühlen uns als Vertreter unserer zukünftigen Kameradinnen, die noch nicht im gleichen Maße zum Kampf gerüstet sind.«35 Friedrich Mono arbeitet mit verschiedenen sexistischen Bildern und stellt Frauen als defizitär gegenüber Männern dar : Er erkennt zwar einerseits ein intellektuelles Potential von Frauen an und möchte sie in den jugendlichen Kulturkampf eingliedern. Er nimmt sich als männliche Person andererseits das Recht heraus zu bestimmen, wie sich Frauen intellektuell betätigen sollten. Weiter wird Frauen, die als sinnlich wahrgenommen werden, hier in Form von Tanzen und Flirten, ein Defekt unterstellt. Mono wehrt sich zwar gegen die Unterdrückung jugendlicher Sexualität, meint damit aber augenscheinlich nur die männliche und unterdrückt weiterhin weibliche Sexualität, indem er Verhaltensmuster, die als weibliche Sinnlichkeit wahrgenommen werden, als »wi29 30 31 32 33 34 35
Friedrich Mono: Unsere Geselligkeit, in: Der Anfang, 1913, Nr. 7, S. 201. Ebd., S. 202. Ebd., S. 204. Ebd., S. 205. Ebd., S. 208. Ebd., S. 206. Ebd., S. 205.
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derlich« und »dirnenhaft« beschreibt. Er geht so weit, dass er Frauen nicht einmal als Menschen wahrnimmt. Mono bedient sich eines Gesellschaftsmusters, von dem er behauptet, es würde nicht mehr existieren: der privilegierten, männlichen Position im Patriarchat und das daraus resultierende »Recht«, Verhaltensweisen von Frauen abzuwerten. Nichtsdestotrotz lässt sich anhand des Artikels noch etwas Anderes erkennen: der Wunsch danach, mit Frauen nicht nur sexuelle, sondern v. a. intellektuelle Partner_innenschaften zu führen. In einer Zeit, in der nur wenige Frauen studieren durften, es für Frauen kein Wahlrecht gab und sogenannte »häusliche Pflichten« zu ihren Aufgaben gehörten, kann dies als ein Aufbegehren junger Männer gegen diese Verhältnisse verstanden werden. Das Aufbegehren wird allerdings begleitet von Ablehnung und Abwertung von Frauen und von weiblicher Sexualität. Eine Besonderheit der Zeitschrift »Der Anfang« ist, dass jungen Frauen die Möglichkeit geboten wurde, auf Monos Artikel zu reagieren und so auch ihren Blickwinkel zu veröffentlichen. Eine Studentin schreibt: »Wer macht die Schulgesetze (und die übrigen)? Wer wählt, wer regiert und wer richtet? Wer hat die heutige Gesellschaftsordnung bestimmt? […] Wer die sozialen Formen und Einrichtungen (z. B. Prostitution)? […] Mono hingegen behauptet: ›die engen Schranken, die dem weiblichen Geschlecht aufgerichtet waren, sind längst gefallen.‹ Wer so gedankenlos-unkameradschaftlich schreibt, kann weiblich ebenbürtige Kameradschaft nicht beanspruchen […].«36
Weiter entgegnet sie: »Wie können Jungens es wagen, von uns Kameradschaft zu fordern, wenn sie in ihrer egoistischen Passivität und Bequemlichkeit […] keine Professoren boykottieren, die die Kameradinnen von ihren Collegs ausschließen? […] Mono erwartet von der weiblichen Jugend Menschlichkeit – Menschlichkeit? Die Ehefrau rangiert nach dem heutigen Gesetze neben dem besoldeten Hausgesinde, das ebenso wie sie ungestraft vom ›Herrn‹ geprügelt werden kann […]. […] Wer will sich wundern […], daß künftige Töchter […] einen moralischen ›Defekt‹ mit sich rumschleppen?«37
Sie fordert in ihrem Artikel »fünfhundert Jahre vollständiger politischer, juristischer, sozialer Gleichberechtigung«38 als Basis für die durch Mono angezettelte Diskussion. Weitere Antworten auf Monos Artikel folgten. Dabei erwidert die Autorin G. Rün, dass es die jungen Frauen seien, die in den »Sumpf oder Einsamkeit«39 getrieben würden – nicht nur durch die geltenden Erziehungsmaßnamen, sondern auch durch Jungen selbst, die im Sinn hätten »die Psyche des 36 37 38 39
Eine Studentin: Erwiderung, in: Der Anfang, 1913, Nr. 9, S. 261. Ebd., S. 262. Ebd. G. Rün.: Erwiderung, in: Der Anfang, 1913, Nr. 9, S. 264.
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Weibes auszuschöpfen«40. Rün bezieht sich hier auf eine Anspielung Monos, die Psyche und somit der Geist einer Frau würde mit Geschlechtsverkehr ausgeschöpft werden.41 Hier impliziert er eine intellektuelle Minderbegabung und eine rein sexuelle Brauchbarkeit von Frauen. Rün macht im Gegenzug auf die durch dieses Bild verursachte Diskriminierung durch Männer aufmerksam. Diese Reaktionen vermitteln ein Bild intelligenter und mutiger junger Frauen, die durch die Zeitschrift die Möglichkeit hatten, sich gegen die Unterdrückung durch Männer und strukturelle Diskriminierung zu positionieren und ihre Meinung deutlich zu machen. Die Zeitschrift kann bezüglich geltender Geschlechterverhältnisse also als Portal gesehen werden, in dem für Frauen Empowerment möglich war und welches auch in Teilen als solches genutzt wurde. Zum anderen ist diese Diskussion in der Zeitschrift ein Zeugnis dafür, dass die Gesellschaft und die bewegte Jugend von einer Gleichberechtigung von Männern und Frauen weit entfernt waren. Auch wenn Frauen für den »Anfang« schrieben, so waren sie doch in der Unterzahl. Mit welcher Intention der Redaktion wurde ein derart degradierender Artikel gegenüber Frauen, wie ihn Mono verfasste, überhaupt veröffentlicht? Die Frauen, die sich auf Monos Artikel meldeten, schrieben weniger über Sexualität als über die Rolle ihres Geschlechts in der Gesellschaft. Dies sagt wiederum etwas über ihre Sexualität aus: Weibliche Sexualität wurde von den männlichen Jugendbewegten, die eine Befreiung aus der Unterdrückung forderten, weitestgehend unterdrückt. Dadurch kam sie zumindest in der Zeitschrift nicht mal mehr selbst zur Sprache. Weiter muss beachtet werden, dass die angesprochenen Artikel von Frauen hauptsächlich als Antworten auf Monos Thesen erschienen. Somit kommt die Frage auf, ob und wie Frauen über weibliche Sexualität und Geschlechtermoral geschrieben hätten, wenn sie nicht damit beschäftigt gewesen wären, auf die ihnen entgegengebrachte Diskriminierung zu reagieren. Ein weiterer Artikel im »Anfang«, der sich mit Sexualität beschäftigt, ist Herbert Blumenthals »Jugendliche Erotik«. Auch er lässt sich über die Feierkultur in Großstädten aus: »Die Großstadtjugend endlich war es, die den Mut zum Protest fand. […] sie ließ sich nicht länger unterdrücken und schrie dem Philister die Wahrheit ins Gesicht, wie stark und gesund, wie unzerstörbar ihr Triebleben sei. […] sie stürzte sich in seinen Strudel […]. Seht ihr denn nicht, daß das alles Verzweiflungsschreie sind […]? Daß die Jugend den Sumpf, in den ihr sie hineingetrieben habt, mit herzbrechendem Ekel immer wieder in ihren Äußerungen hervorheben muß, wie sie unsäglich unter ihm leidet?«42 40 Ebd., S. 265. 41 Vgl. Mono: Geselligkeit (Anm. 29), S. 204. 42 Blumenthal: Erotik (Anm. 1), S. 166.
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Blumenthal stellt eine Verknüpfung von unterdrückten jugendlichen Trieben und dem »unanständigen« Triebleben in den Großstädten her. Damit meint er die dort wachsende Prostitution, die Ausgeh- und Flirtkultur sowie die sich dadurch verbreitenden Geschlechtskrankheiten. Zu diesem »Extrem«43 sei es nur durch die Unterdrückung des Sexualtriebs gekommen. Blumenthal solidarisiert sich mit diesem »Extrem«, sieht es als Teil der Jugendkultur. Dennoch wertet er dieses ab, denn das eigentliche Triebleben der Jugend sei rein. Er spricht von der »inneren Reinheit der Jugend«.44 Die Jugend müsse ein neues, kultiviertes Triebleben und eine neuartige schöne Form der Liebe erschaffen, welche Ausdruck des »Guten und der Wahrheit«45 werden solle. Er zitiert den Philosophen Johann Gottlieb Fichte: »Die Sinnlichkeit soll kultiviert werden«.46 Der Autor benutzt auf Sexualität bezogen die Begriffe »Reinheit«, »Wahrheit« und »Schönheit«, bleibt aber dennoch sehr vage. Des Weiteren schreibt er, dass die Jugend eine neue »kultivierte Sexualmoral« erst erschaffen müsse. Blumenthal scheint sich in einem Dilemma zu befinden: Zum einen ist er gegen die Unterdrückung von Sexualität, gleichzeitig lehnt er eine freier gelebte Sexualität ab. An einer anderen Stelle schreibt er von seiner »Sehnsucht nach heiliger Nüchternheit«47. Vielleicht meint Herbert Blumenthal, ähnlich wie Mono, dass Liebe und Sexualität v. a. auf einer intellektuellen Ebene stattfinden sollten, dass er eine Kameradin möchte, die Mitwirkende im jugendlichen Kulturkampf ist. Die »schöne Liebe«, die er fordert, kann seinen Aussagen zufolge nicht auf intellektueller Ungleichheit gegründet werden, wenn ihre Basis geistig sein soll. Frauen, die rechtlich wie intellektuell benachteiligt wurden und sind, kommen so also nicht als Geschlechtspartnerinnen in Frage. Dass Blumenthal Zitate von Fichte anbringt, deutet auf etwas Ähnliches hin: Fichte plädiert laut Juan CruzCruz dafür, zum einen Sexualität zu zähmen und zum anderen »die rein genüßliche Sinnlichkeit in einen nützlichen Diener des moralischen Willens«48 umzugestalten. Mit Fichte argumentiert, könnte Blumenthal dafürhalten, dass in einer Partner_innenschaft das kultivierte Triebleben eben ein gezähmtes sei, das sich auf einer Sexualmoral gründet, die »reinen Genuss« abwertet und dies gehe nur mit intellektuell ebenbürtigen Kameradinnen. Das würde bedeuten, dass er hier weniger das tatsächliche Ausleben sexueller Praxis meint. 43 44 45 46
Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Ebd., S. 169. Ebd., S. 169. Blumenthal zitiert Fichte in: Johann Gottlieb Fichte, 1914: Ein Evangelium der Freiheit, verfügbar unter : http://gutenberg.spiegel.de/buch/ein-evangelium-der-freiheit-82 80/7 [22. 02. 2017]. 47 Blumenthal: Erotik (Anm. 1), S. 168. 48 Juan Cruz-Cruz: Historische Individualität. Die Einführung einer Kategorie Fichtes in die Badische Schule, in: Klaus Hammacher (Hg.): Der Transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, S. 354.
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Werden die gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit in Bezug auf Sexualität und Geschlechtermoral betrachtet, lassen sich die Interpretationsansätze in einen größeren Bezugsrahmen stellen. Ulrich Linse beschreibt den Umgang mit Sexualität im 20. Jahrhundert als ambivalent. Schweigetabus um Sexualität sowie Enthaltsamkeitsaufforderungen v. a. gegenüber Frauen, aber auch gegenüber Männern, standen konträr zu einer tolerierten sexuellen Freizügigkeit von Männern und Prostitution. Steigende Zahlen an Infizierungen mit Geschlechtskrankheiten durch eine freier gelebte Sexualität und Prostitution in Städten wurden verknüpft mit der Degenerationsangst um Rasse und Nation. Mit dem Ziel der Gewährung der Volksgesundheit wurde sexuelle Abstinenz zu einer »patriotische[n] Tat«49. Die Prostituierte stand im Gegensatz dazu für Ansteckung und Unsittlichkeit und somit auch für den Niedergang der Nation.50 Als Reaktion darauf entstand eine präventive Sexualerziehung, die Sexualität zwar als natürlichen Trieb thematisierte, Sinnlichkeit und Lust aber bekämpfte und sexuelle Abstinenz bis zur Ehe forderte. Der Idee der Sexualerziehung um die Jahrhundertwende zufolge sollte der natürliche und gesunde Geschlechtstrieb nicht durch vorehelichen Geschlechtsverkehr »leichtsinnig vergeudet«51 werden. Das Denken über Sexualität der jugendlichen Schreiber im »Anfang« lässt sich mit damaligen Inhalten der Sexualerziehung in Verbindung bringen. Sei es nun »Ernst«, der Nacktheit zwar als natürlich erklärt, aber auch eine Bedrohung durch weibliche Sexualität formuliert – Unter Bedrohung lässt sich aus seiner Perspektive auch Prostitution und Ansteckungsgefahr fassen. Oder sei es Mono, welcher der freier gelebten weiblichen Sexualität eine Enthaltsamkeitsaufforderung und einen Wunsch nach Kamerad_innenschaft gegenüberstellt – welche sich mit der sexuellen Abstinenz bis zur Ehe verknüpfen lässt. Auch Herbert Blumenthals Text lässt sich dahingehend interpretieren: Seine Sehnsucht nach der »heiligen Nüchternheit« und dem Willen, dass Sinnlichkeit kultiviert werden müsse sowie die Abwertung der freier gelebten Sexualität in Großstädten passen in die »Diätetik«52 durch Sexualerziehung der Zeit, die Willensstärke und Selbstkontrolle in Bezug auf sexuelle Abstinenz verlangte.53
49 Ulrich Linse: »Geschlechtsnot der Jugend«. Über Jugendbewegung und Sexualität, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 254. 50 Vgl. Linse: Geschlechtsnot (Anm. 49), S. 250–251, S. 261. 51 Ebd., S. 261. 52 Ebd., S. 262. 53 Hier würde Ulrich Linse wohl widersprechen. In seinem Artikel »Geschlechtsnot der Jugend« hebt er hervor, dass Herbert Blumenthal Großstadt-Flirtkultur bejahen und der Enthaltsamkeit absagen würde (vgl. Linse: Geschlechtsnot (Anm. 49, S. 271). Er beachtet dabei allerdings nicht, dass Blumenthal die Flirtkultur als »Extrem« negativ bewertet und gerade
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Ulrich Linse beschreibt die Jugendbewegung und ihre Sexualmoral von Kamerad_innenschaftsliebe sowie das Hervorheben von sexueller Reinheit der Jugend sehr treffend als »freiwillige Anpassung an die Asexualitätsnormen der Sexualaufklärung«.54 Die Jugend habe der »Generation der Eltern beweisen [wollen], dass auch unbeaufsichtigt ein anständiges Verhalten der Geschlechter möglich sei«.55 Die sexuellen Ideale der Jugendbewegung waren laut Linse weiter verknüpft mit sexistischen und antifeministischen Standpunkten. Er erklärt diesen Aspekt mit der »Sexualnot« junger Männer – nämlich dem Sexualtrieb, der nicht ausgelebt werden konnte bzw. durfte und damit verbundene »tiefe sexuelle Ängste«.56 Auf der anderen Seite wird aber auch der Wille nach Gleichberechtigung im Wunsch nach Kamerad_innenschaft deutlich. Nicht nur Frauen sollten enthaltsam sein und Sexualität auf einer intellektuellen Basis gestalten, sondern auch Männer. Allerdings fußte dieses Streben nach Gleichberechtigung nicht auf gemeinsamen Aushandlungen der Geschlechter, sondern auf einem Ideal, was von Männern, seien es Akteure der Sexualpädagogik oder der Jugendbewegung, wie den Schreibern im »Anfang«, geschaffen wurde. Untermauern lässt sich dieses Argument mit dem Ergebnis dieser Abhandlung, dass Autorinnen im »Anfang« keine Artikel über weibliche Sexualität veröffentlichten, sondern hauptsächlich ihre Rolle in der Gesellschaft kritisch reflektierten. Die Gleichberechtigung, welche die jungen Schreiber forderten, kann nicht als tatsächliche Gleichberechtigung bezeichnet werden, da Männer die Rahmenbedingungen für diese festlegten. Aus diesen ambivalenten Aspekten, die sich in den Artikeln über Sexualität im »Anfang« finden lassen, entwickele ich folgende Thesen: Im »Anfang« wurde das Schweigetabu um Sexualität gebrochen – und das hauptsächlich durch Männer. Die Jugendlichen versuchten, einen »Weg zu finden, in dem das umfassende Triebleben anerkannter Bestandteil der Kultur werden kann.«57 Nichtsdestotrotz lassen sich die Forderungen als Anpassung an die sexualpädagogischen Maßnahmen der Zeit lesen. Die Jugendlichen thematisierten nicht ihre »Not«, sondern umgingen ihre Angst, indem sie sexistische Positionen vertraten und ein Ideal erschufen, was dem bürgerlichen glich. Was sie forderten, war die Möglichkeit der eigenen Gestaltung des Sexuallebens: Das derzeitige Sexualleben sei entartet, weil es unterdrückt werde. Würde es nicht unterdrückt, würden die
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wegen der großstädtischen Auswüchse des Sexuallebens das kultivierte, reine Triebleben fordert, was ich mit der Kameradschaftsliebe verknüpft sehe. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 267. Karl Braun: »Liebster Vater« oder : Franz Kafkas Befreiung aus dem Ehezwang, in: Peter Becher, Steffen Höhne, Marek Nekula (Hg.): Kafka und Prag. Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte, Köln u. a. 2012, S. 111 – 133, hier S. 117.
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Jugendlichen ohne Kontrolle von Erwachsenen durch Selbstbeherrschung und Willenskraft das Keuschheitsideal aufrechterhalten und durch die Kamerad_innenschaftsliebe eine schöne Form dessen entwickeln. Auch Bernfeld räumte 1919 ein: Es sei den Jugendbewegten darum gegangen, über Sexualität zu sprechen. Jugendliche Sexualität sei aber dennoch von Tabus geprägt gewesen. Die Jugend sei in Bezug auf ihre Sexualität »heillos verwirrt« gewesen.58
Fazit Die Zeitschrift »Der Anfang« konnte trotz des Aufgreifens verschiedenster Tabuthemen über ein Jahr erfolgreich veröffentlichen. Nie zuvor hatte die Jugend – und darunter auch weibliche Jugendliche – die Möglichkeit, sich so frei zu Themen wie Sexualität und Gesellschaftskritik zu äußern. In Bezug auf Sexualität und Geschlecht lässt sich eine Sympathie des »Anfangs« für die zeitgenössische Frauenbewegung und -emanzipation feststellen. Die Autoren zur Sexualität reflektieren ihre Privilegien in der Geschlechterhierarchie nicht. Somit ist die Gleichberechtigung auch keine tatsächliche Gleichberechtigung, weil Männer die Vorstellung von dieser festlegen. Sie drücken aber ihre Kritik gegenüber geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen und Erziehung aus. Zum einen erkennen sie, dass Sexualität unterdrückt wird, dass sie nicht als Teil der Jugend anerkannt wird. Zum anderen eruieren sie, dass Frauen aus intellektuellen Kreisen ausgeschlossen sind und fordern ihre Eingliederung. Auch die zwei erwähnten Autorinnen im »Anfang« verlangten genau dies: Teilnahme am jugendlichen Kulturkampf und gemeinsames Handeln. Im Widerspruch dazu lässt sich allerdings in den dargestellten Artikeln eine konservative und sexistische Einstellung männlicher Jugendlicher erkennen. Die jungen Männer scheinen zwar gegeißelt von der Unterdrückung ihres Trieblebens zu sein, wehren sich aber gegen freiere und v. a. gegen weibliche Sexualität und Sinnlichkeit. Diese wird als gefährlich, verdorben, widerlich und dirnenhaft charakterisiert. Die vehemente Abwehr und auch das Medusa-Sinnbild können als Implikate für die Angst der Autoren vor weiblicher Sexualität, sowie der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten, die damit verknüpft wurde, gesehen werden. Die freier gelebte Sexualität in Großstädten sei ein Extrem oder eine Widerwärtigkeit. Mono geht so weit, dass er Frauen die Schuld an der »verdorbenen« Großstadt-Jugendkultur gibt, was wiederum einen Ausdruck der männlichen Vormachtstellung innerhalb der Geschlechterhierarchie darstellt. Aber : »Der Anfang« konnte von Frauen als Portal genutzt werden, um sich gegen die sexistischen Äußerungen der Jugendlichen zu wehren. Sie reflektieren die 58 Dudek: Annäherung (Anm. 5), S. 67.
Sexualität und Geschlechtermoral in der Jugendzeitschrift »Der Anfang«
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Geschlechterhierarchie und fordern männliche Solidarität und Gleichberechtigung, was sicherlich als einzigartig charakterisiert werden kann, denn ansonsten hatten junge Frauen kaum Möglichkeiten, sich dahingehend zu äußern. Es fällt allerdings auf, dass die Frauen, die sich im »Anfang« zu Wort meldeten, weniger über Sexualität als über ihre Rolle in der Gesellschaft und Diskriminierung schrieben. Die Nicht-Benennung weiblicher Sexualität lässt sich als Sinnbild für die Unterdrückung dieser interpretieren. Wie soll sich nach Meinung der Schreiber_innen im »Anfang« jugendliche Sexualität gestalten? Sie verlangen eine neue, eine jugendliche Erotik. Mono fordert »Kameradinnen«, Blumenthal die Kultivierung von Sinnlichkeit. Aber was genau sagt das aus und welche konkreten Veränderungen würden damit einhergehen? Genau wird das leider nicht beantwortet. Aber es lässt sich interpretieren: Reinheit, Schönheit, Natürlichkeit und Nüchternheit sind Begriffe, mit denen Sexualität beschrieben wird. Aus dem Wunsch heraus, sich mit Frauen auch intellektuell zu »verschwestern«, entstand das Ideal der Partner_innen- und Kamerad_innenschaft, in der dann die sexuelle Praxis wieder in den Hintergrund rückt oder nur als Ausdruck der intellektuellen Verbundenheit dient. Somit kann resümiert werden: In der intellektuellen Verbundenheit und Liebe müsse das Triebleben ein kultiviertes, ein zivilisiertes sein. Der Ausschluss von Frauen aus intellektuellen Kreisen und deren rechtliche Benachteiligung machen allerdings deutlich, dass Beziehungen dieser Art zunächst einen Kampf der Emanzipation von Frauen und die Anerkennung als gleichberechtigt mit sich bringen müssten, was die jungen Schreiber anscheinend nicht berücksichtigen, wenn sie weibliche Sexualität abwerten und einen moralischen Defekt von Frauen betonen. Weiter lässt sich hier ein Bezug zur Sexualerziehung der Zeit feststellen: In der Zeitschrift »Der Anfang« scheinen die Ideen der Autor_innen/ en zu Sexualität von einer Diätetik geprägt zu sein, die Sexualität zwar als natürlich anerkennt, aber eine Abstinenz, ein Aufbewahren für die intellektuell passende Partnerschaft vertritt. In den Artikeln wird eine große Verwirrung deutlich: Der Wunsch nach gelebter Sexualität steht dem Ideal einer Kamerad_innenschaftsliebe und der Idee der »reinen und schönen Liebe« gegenüber, die wiederum Sexualität um der Lust willen abwertet. Betrachten wir dies gepaart mit der Sprache, die nicht konkret sexuelle Praxis benennt, sondern tabuisierend auftritt, so lässt sich die Ambivalenz erkennen, die die jugendliche Sexualmoral, die sich im »Anfang« finden lässt, durchzieht. Zum Abschluss möchte ich den heutigen Blick auf das Thema Sexualität und Geschlecht um 1913/14 reflektieren. Heute sind wir gewohnt, dass über Sexualität mit eindeutigeren Begriffen und Beschreibungen geschrieben und gesprochen wird. Aber für die Zeit von 1913/14 war allein die Tatsache, dass die Jugendlichen über Sexualität und Geschlecht schreiben konnten, ein absoluter Tabubruch. Nicht zuletzt führte u. a. dies zum Verbot. Das Brechen des
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Schweigens um Sexualität, aber auch die Kritik am Elternhaus, an Erziehung und Schule durch jugendliche Autor_innen/en im »Anfang« kann als etwas Einzigartiges betrachtet werden, was leider durch das Verbot und den Krieg sein Ende nahm: »Zum ersten Mal meldete sich eine Bevölkerungsgruppe zu Wort, die von der Öffentlichkeit strikt ausgeschlossen gewesen war«59 – die Jugend.
59 Klaus Laermann: Der Skandal um den Anfang. Ein Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich, in: Koebner u. a.: Zeit (Anm. 49), S. 376–377.
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Jugendbewegung, Sexualaufklärung, Sozialhygiene. Das Beispiel Max Hodann (1894–1946)
Jugendbewegung 1917 erschien im Eugen-Diederichs-Verlag ein Oktav-Bändchen mit dem Titel: »Die Urburschenschaft als Jugendbewegung. In zeitgenössischen Berichten zur Jahrhundertfeier des Wartburgfestes. Mit einem Geleitwort von Max Hodann und einem Nachwort von Hans Mühlestein«. Was mochte die beiden Herausgeber Max Hodann (1894–1946) und Walther Koch (1889–1979) bewogen haben, mitten im Ersten Weltkrieg, das Wartburgfest mit der Jugendbewegung zu verknüpfen? Es liegt nahe, an die nationalistische Ausrichtung des Wartburgfestes, die 400-Jahrfeier von Luthers Thesenanschlag unter der Prämisse einer Wiedererweckung deutschen Volkstums – Schlagwort Luther und Hutten – zu denken. Doch genau dies ist nicht der Fall. Einer der Herausgeber, der damals zweiundzwanzigjährige Max Hodann, schreibt im Geleitwort: »Nun denn: die Idee der Freiheit, wie sie damals die Jugend verband, sie ist auch heute noch nicht verwirklicht […] Darum wollen wir die Feier des Festes begehen: indem wir Einkehr halten und bedenken, daß die Jugend dem Volk, den Völkern gegenüber Pflichten hat, die noch unerfüllt, ja zumeist unerkannt, zum Teil sogar verleugnet sind. Denkt daran, daß Heinrich Heine einmal die Burschenschafter […] ›dunkle Narren, regenerierte Deutschtümler‹ genannt hat. Auch in dieser Zeit sind leider in der Jugend Strömungen gedankenlos am Werk, die vielleicht einmal einen Rückblick unter unsern Nachkommen zu einem derartigen Urteil bestimmen könnten. So geben wir diese Blätter heraus, nicht als eine historisch-kritische Urkundensammlung, sondern als ein lebendiges Zeichen des Geistes, der vor hundert Jahren in der Jugend lebte […].«1
Hier ist die Rede von Pflichten gegenüber »dem Volk« und »den Völkern« und über das Heine-Zitat geschieht eine klare Distanzierung vom chauvinistischen Nationalismus der Burschenschaften. Worauf also zielt die Jahrhundertfeier1 Max Hodann: Zum Geleit, in: Max Hodann, Walther Koch (Hg.): Die Urburschenschaft als Jugendbewegung. In zeitgenössischen Berichten zur Jahrhundertfeier des Wartburgfestes, Jena 1917, S. 3f.
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Schrift des Wartburgtreffens von 1917 ab? Wie die fortschrittliche deutsche Jugend 1817 ein einiges, von Fürstenwillkür unabhängiges Deutschland forderte, also »Deutschland zu einem politischen Körper umbilden«2 wollte, so gelte es heute, 1917, eine Jugendbewegung als europäisch und pazifistisch ausgerichtete aufzubauen. Klar kommt dies im Nachwort von Hans Mühlestein (1887–1969) zum Ausdruck: »Vor hundert Jahren war die deutsche Sache der freigewählte Wille weniger Erleuchteter zu einer rechtlichen Verfassung der einzelnen deutschen Länder und vor allem zu einer einheitlichen rechtlichen Verfassung des ganzen deutschen Reiches […] Die deutsche Sache war also vor hundert Jahren für alle ›Untertanen‹ jener 38 Landesfürsten die kühnste, gefährlichste Sache der Welt: der Kampf gegen die erdrückende Mehrheit, vor allem gegen die eigenen Regierungen, um die rechtliche Einigung Deutschlands! […] Die deutsche Sache von heute ist die selbstverständlichste von der Welt: ein Lump, wer sein Vaterland nicht zu schützen bereit ist, wenn ihm von außen der Untergang droht! Der Kampf von heute ist kein freigewählter Kampf weniger Edler um eine Idee, sondern ein euch von außen aufgedrungener Kampf um die nackte Existenz […]. Wenn ihr aber heute dem Geist des Wartburgfestes huldigen wollt, dann, Brüder, seid eingedenk, daß es nie und nimmer genügen kann, was ihr an aufopfernden Taten in dem euch aufgezwungenen Kampfe leistet! Ein Kampf wird von euch gefordert, höher und heiliger als auch der gigantischste Existenzkampf: der Kampf um dieselbe erhabene Idee, um die vor hundert Jahren eure Brüder von der Wartburg stritten und litten: um die Idee der Wiederherstellung des Rechts im öffentlichen Leben der Völker! Das heißt heute: der Kampf um die europäische Idee, um die rechtliche Einigung Europas. Denn was euren Brüdern vor hundert Jahren die deutsche Idee war, das muß euch Heutigen die europäische Idee werden.«3
Das sind durchaus ungewöhnliche Töne aus der Jugendbewegung. Wie es 1817 um die rechtliche Einigung Deutschlands gegangen sei, so ginge es heute – 1917 – um die rechtliche Einigung Europas, wobei der Begriff »rechtlich« – betrachtet man ihn im Zusammenhang des Nachworts von Hans Mühlestein – durchaus auf eine Verfassung abzielt: eine Verfassung für Europa. Zwar wird der vor sich gehende, für alle europäischen Gesellschaften zerstörend wirkende Krieg angesprochen, aber so, als geschähe dieser als bloßes Nebenprodukt angesichts einer größeren Aufgabe. Zum einen wird zwar betont, dieser Krieg sei dem geeinten Deutschland, dem von Bismarck umgesetzten Anliegen des Wartburgfestes (wobei die Art der Umsetzung keinerlei Erwähnung findet), aufgezwungen und »ein Lump« sei, wer sich der Verteidigung entziehen wolle. Zum anderen aber scheint es, als werde die Feindschaft zwischen den Völkern nicht so 2 Saul Ascher : Die Germanomanie. Skizze zu einem Sittengemälde, in: ders.: 4 Flugschriften, Berlin u. a. 1991, S. 191. 3 Hans Mühlestein: Nachwort. Ein Ausblick auf Europa im Geiste des Wartburgfestes, in: Hodann, Koch: Urburschenschaft (Anm. 1), S. 99–116, hier 105f.
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tiefgehend und trennend gesehen, dass es nicht möglich sein sollte, eine gemeinsame europäische Initiative der Jugend in Bewegung zu setzen. Die gesetzte Potentialität einer von der Jugend vorangetriebenen europäischen Einigung unterläuft sowohl die Kriegsmaschinerie als auch die Propaganda hinsichtlich von »Erzfeinden«; die Passagen zum Krieg erweisen sich als – wohl notwendiges – Zugeständnis an die Zensur. Wer war Hans Mühlestein, Schriftsteller und später Kunsthistoriker aus der Schweiz? 1914 hatte er in Weimar einen Text veröffentlicht, der dem deutschem Chauvinismus durchaus verpflichtet war : »Deutsche Sendung. Ein neuer mitteleuropäischer Völkerbund«. Ab 1916 studierte Mühlestein in Göttingen; dort kam er in den Kreis um den Philosophen Leonard Nelson (1882–1927), der sich in seiner »Kritik der praktischen Vernunft. Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik« (Göttingen 1916) für eine rigoros auf einem Gerechtigkeitsgrundsatz aufbauende, sozialistisches Gedankengut umsetzen wollende Lebensreform ausgesprochen hatte. Hans Mühlestein, über den Max Hodann 1916 mit dem Kreis um Leonard Nelson in Kontakt gekommen war, hatte Hodann den Vorschlag gemacht, anlässlich des 100. Jahrestags des Wartburgfestes ein Gedenkbuch zu veröffentlichen: »Man müsse die Dokumente jener Zeit den kläglichen Chauvinismus der Gegenwart vorhalten. Das würde möglich sein, ohne daß die Zensur uns hindern würde.«4 Max Hodann hatte zum Zeitpunkt dieses Vorschlags aus seiner Tätigkeit in der Freideutschen Jugend bereits einige Erfahrung mit der Zensur wie auch mit der Veröffentlichung von antimilitaristischer Propaganda. Die Linie, rückwärts gezogen, geht über die Central-Arbeitsstätte der Jugendbewegung (CAS), den Aufbruch-Kreis um die »Freie Studentenschaft« um Ernst Joel (1893–1929) zurück zur Gruppe um die Zeitschrift »Der Anfang. Zeitschrift der Jugend«,5 herausgegeben in Berlin von Georges Barbizon (d. i. Georg Gretor, 1892–1943) und von Siegfried Bernfeld (1892–1953) in Wien. Auf den »Anfang« wird sich Max Hodann in seinen Veröffentlichungen – die ersten datieren im Jahr 1915 – immer wieder beziehen. 1913 hatte er, 19-jährig, am Meißner-Treffen »als passiver Zuschauer« zwar teilgenommen, wobei ihn aber, wie er später, wohl im Rahmen einer geplanten Autobiografie im schwedischen Exil schrieb, der »psychische Vegetarismus, der unter den wandernden Scholaren herrschte, unbefriedigt« ließ. Was Hodann hier »psychischen Vegetarismus« nennt, die intellektuelle Enthaltsamkeit und politische Abstinenz der Jugendbewegung, bot für ihn keinerlei Ausweg »aus der geistigen Krise, in der (die Jugendlichen) standen«6. Einen solchen Ausweg zu finden – Sensibilisierung des Freideutschen 4 Hodann nach Wilfried Wolff: Max Hodann (1894–1946). Sozialist und Sexualreformer (Schriftenreihe der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 9), Hamburg 1993, S. 26. 5 Zu »Der Anfang. Zeitschrift der Jugend« siehe den Beitrag von Vanessa Tirzah Hautmann in diesem Band. 6 Alle Zitierungen: Hodann nach Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 22.
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Jugendbundes für allgemeine gesellschaftliche Probleme jenseits der Zentrierung auf Jugend – wird für Max Hodann in den Jahren 1915 bis 1917 zur verpflichtenden Aufgabe innerhalb seiner Tätigkeit in der Freideutschen Jugend. 1916 war Max Hodann eine der sichtbaren Gründungsfiguren der CentralArbeitsstätte der Jugendbewegung, einem »lokalen Zusammenschluß von acht Berliner Freideutschen Jugendgruppen«, womit die CAS innerhalb des Freideutschen Jugendbundes »eine relativ starke Bedeutung gewonnen«7 hatte. Die von Hodann herausgegebenen »Schriften zur Jugendbewegung« (erschienen April bis Dezember 1916) setzen die Arbeit des »Aufbruch«-Kreises fort. Max Hodann erinnert sich: »Was wir selbst nicht aussprechen durften, sagten wir denen, die hören wollten, mit den Worten von Schiller und Fichte, von Jean Paul und Lessing, in der Erwartung, daß der Oberbefehlshaber in den Marken, General von Kassel, sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben würde, die deutschen Klassiker als staatsgefährlich zu verbieten. Die erste Serie der ›Flugblätter an die deutsche Jugend‹ erschien bei Diederichs und ging, das Stück für zehn Pfennige, an alle Universitäten und an die Truppen, die im Felde standen. Gleichzeitig wurde bei Diederichs eine programmatische Zeitschrift vorbereitet, die 1915 unter dem Titel ›Der Aufbruch‹ unter Joels Redaktion zu erscheinen begann.«8
Von den »Flugblättern an die deutsche Jugend« konnte eine zweite Serie erscheinen, die dritte wurde jedoch verboten; der »Aufbruch« wurde nach Erscheinen des dritten Heftes behördlich eingestellt. »Joel wurde von der Universität verwiesen; die übrigen Vorstandsmitglieder liess [sic!] man noch ungeschoren; aber mit dem dritten Heft musste auch der ›Aufbruch‹ seine Erscheinen einstellen. Wir wollten unsere Überzeugung nicht verheimlichen, dass wir gegen den vom deutschen Imperialismus provozierten Krieg waren […]«9
Mit dem »Aufbruch« hatten Joel und Hodann versucht, die Arbeit der Zeitschrift »Der Anfang« weiterzuführen. Der »Anfang« – Gustav Wyneken (1875–1964) fungierte als Herausgeber, da die jungen Zeitschriftenmacher presserechtlich nicht in Frage kamen – kann als kritischste und radikalste Gruppe innerhalb der Freideutschen Jugend im Umfeld des Meißner-Treffens 1913 gelten; in der Zeitschrift wurde z. B. Kritik an der Schule und autoritären Strukturen in der Familie geübt und die »Sexualnot« der Jugend und Lösungswege in einer offenen Weise thematisiert, die im Jahr 1913 unerhört war. Auf der Marburger Führertagung der Freideutschen Jugend im Mai 1914 wird die Gruppe, immerhin eines der Gründungsmitglieder der Freideutschen Jugend, nachdem die Zeitschrift in 7 Werner Link: Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Meisenheim am Glan 1964, S. 42. 8 Hodann nach Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 23. 9 Ebd.
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Aufruf von Ernst Joel und Max Hodann, Mai 1915 (AdJb, A 104 Nr. 2)
Bayern wegen sittlicher Verwahrlosung und Jugendgefährdung verboten worden war, auch aus der Freideutschen Jugend ausgeschlossen. Schon Max Hodanns frühe Veröffentlichungen kreisen um die Möglichkeit einer Politisierung und gesellschaftskritischen Ausrichtung der Jugendbewegung und betrachten unter diesem Aspekt Standort und »Schicksal« der beiden
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Zeitschriften »Der Anfang« und »Der Aufbruch«10. In »Zur Frage der Freideutschen Jugend« schreibt Hodann zum Ausschluss von Wyneken und der »Anfang«-Gruppe beim Marburger Treffen 1914: »Das Zusammentreffen der ›romantischen‹ und der ›kritischen‹ Richtung der Jugendbewegung auf dem Meißner mußte natürlich eine Auseinandersetzung nach sich ziehen. Sie kam. Sie bereitete sich während eines halben Jahres vor, bis auf dem Vertretertag der Freideutschen Jugend in Marburg die Gegensätze aufeinanderstießen. Hie ›Erziehungsgemeinschaft‹, hie ›Zweckgemeinschaft‹. Diese beiden vielleicht nicht unberechtigten Begriffe haben in der Jugendbewegung eine heillose Verwirrung angerichtet. […] Weil die Freideutsche Jugend bis heute nicht vermocht hat, einen wirklich eigenen Lebensinhalt zu schaffen, der über das hinausging, was der Wandervogel bereits erworben hatte. Die ›Erziehungsgemeinschaften‹ verkörpern nunmehr den Freideutschen Verband. Das bedeutet: Der Freideutsche Verband umfaßt nicht die Freideutsche Jugend. […] Das Ergebnis von Marburg ist in weiten Kreisen als Fiasko gewertet worden, nicht mit Unrecht. Es ist verständlich, wie die Spaltung kommen konnte – sie ist aber gleichzeitig ein Beweis für die ausgesprochene Unfähigkeit zu politischem Denken, die diese Jugendbewegung bis zum Augenblick zu ihren größten Teilen auszeichnet.«11
Die Central-Arbeitsstätte der Jugendbewegung ist nach dem Versuch um den »Aufbruch« ein erneuter Versuch, »diese Jugendbewegung« an politisches Denken heranzuführen. Doch auch dem Projekt der CAS und ihrer Zeitschrift »Schriften zur Jugendbewegung« ist nur kurze Dauer beschieden. Eingeleitet durch einen Artikel von Max Hodann im ersten Heft, April 1916, »Vom Weg der Jugend«12, wird die Zeitschrift, nachdem sowohl das August- als auch das September-Heft beschlagnahmt worden waren, mit der Dezember-Nummer eingestellt: »Der Zusammenstoß mit der Staatsgewalt ließ auch hier nicht lange auf sich warten. Ich hatte mit erlaubt, in höchst ironischer Form über ein politisches Pamphlet des Bayreuther Schriftstellers Houston Stuart Chamberlain, diesen inzwischen kanonisierten Heiligen der Nationalsozialisten, zu berichten. […] Das Heft wurde sofort beschlagnahmt. Ich legte Protest ein. […] Mit diesem Zusammenstoß begann das Ende der CAS. Bald wurde jede weitere Arbeit von der Zensur erdrückt.«13 10 Zum »Aufbruch«: Klärung, Kritik, Erwartung, in: Die Tat. Sozial-religiöse Monatsschrift für deutsche Kultur, 1915/16, 7. Jg., S. 694–697. 11 Max Hodann: Zur Frage der Freideutschen Jugend, in: Neue Hochschule. Freistudentische Halbmonatsschrift, 1916, 1. Jg., H. 7; ein zweiseitiger Sonderdruck ohne Paginierung befindet sich im Bestand des AdJb, A A 104 Nr. 2. Der Text ist in der Bibliografie der Schriften Max Hodanns bei Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 268–279, nicht verzeichnet. 12 Schriften zur Jugendbewegung, 1916, H. 1, S. 3–11. 13 Hodann nach Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 25. Der hier erwähnte Artikel von Hodann zu Chamberlain muss sich im August-Heft befunden haben; denn vom beschlagnahmten September-Heft ist zumindest das Inhaltsverzeichnis bekannt. Die »Schriften zur Jugendbewegung. Herausgegeben im Auftrag der Central-Arbeitsstätte für die Jugendbewegung von
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Mai- und Juni-Heft der »Schriften zur Jugendbewegung« nehmen die Sexualdiskussion des »Anfang«-Kreises wieder auf; nicht nur thematisch, sondern auch in der Struktur der Veröffentlichung von Zuschriften von Lesern und vor allem auch Leserinnen. Es wird also nicht nur die ironische Auseinandersetzung mit Houston Stuart Chamberlain gewesen sein, welche die Zensur auf den Plan rief, sondern Form und Aussage der Zeitschrift selbst. In rechten Kreisen war zudem die Central-Arbeitsstätte und damit die »Schriften zur Jugendbewegung« – wie vorher auch »Der Anfang« – als jüdisch denunziert worden.14 Im Vorfeld des Vertretertreffens der Freideutschen Jugend an Pfingsten, 11./ 12. Juni 1916 in Göttingen vertieft sich der Kontakt der CAS mit der pazifistischen Gruppe um Leonard Nelson in Göttingen. Bereits in Heft 1 vom April findet sich ein Artikel von Nelson »Erziehung zur Tapferkeit«, der anhebt mit »Charakter zeigt sich in der Beherrschung der sinnlichen Antriebe durch das Bewußtsein der Pflicht«15 und sich mit der militärischen Jugendausbildung – gegen »Gehorsam als Unterwerfung« und »Abrichtung des Menschen«, für Selbstbestimmung aus Pflicht, also »nur durch die Umgestaltung des gesamten Erziehungssystems, eine Reform der Schule an Haupt und Gliedern«16 – befasst. Max Hodann oder andere Mitglieder der CAS haben am Göttinger PfingstTreffen nicht teilgenommen. Man weiß dies aus einem Brief Nelsons an Hodann, den dieser als Beilage zu den »Schriften« unter dem Titel »Zur Kritik der JuMax Hodann in Verbindung mit Klaus Albrecht, Wolfgang Breithaupt, Karl Vetter« befinden sich – wohl aus dem Wyneken-Nachlass stammend – in Deutschland komplett nur im AdJb, mit diversen Beilagen zu den beschlagnahmten Heften. Die Hefte sind thematisch angelegt: April (S. 1–32): »Zur gegenwärtigen Lage«; Mai (S. 33–64) und Juni (S. 65–96): »Die Jugend zum Sexualproblem I und II«; Juli (S. 97–128): »Hochschulfrage«; August/ September beschlagnahmt; Oktober (S. 193–224): »Nordische Jugend, zusammengestellt von Klaus Albrecht«; November (S. 225–256): »Schulfrage«; Dezember (S. 257–289) ohne thematischen Schwerpunkt; mit der Bemerkung der Hauptherausgeber Max Hodann habe »während der Drucklegung des vorigen Heftes die verantwortliche Leitung der Schriften zur Jugendbewegung niedergelegt« und zwar »aus sachlichen Differenzen mit den Mitherausgebern […] eine Niederlegung der Schriftleitung« habe »aber nichts an seiner Stellung in der Organisation der CAS geändert« (S. 272 f). Es ist offensichtlich, dass Hodann aus der Schusslinie der Zensur genommen werden sollte. 14 Ein dem Mai-Heft beigelegter maschinenschriftlicher Auszug »aus dem 14. Rundbrief des Greifen-Ordens vom 1.5.16« nimmt den dortigen Punkt 7 auf: »In Berlin ist eine ›Zentralarbeitsstelle für die Jugendbewegung‹ gegründet worden. Es arbeiten dort mit: Wolfgang Breithaupt, Gustav Landauer, Eduard Heimann, Ernst Joel, Max Hodann, Karl Bittel, Clauß Albrecht. Die Führung dieses Unternehmens ist in jüdischen Händen.« Gustav Landauer (1870–1919) hatte einen Artikel im »Aufbruch« veröffentlicht, Hodann erinnert sich: »Da kam der Anarchist Gustav Landauer zu Worte. Und da brach der Spektakel los. Ein Disziplinarverfahren [gegen Ernst Joel, Anm. KB] wurde eingeleitet«; Hodann nach Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 23. 15 Leonard Nelson: Erziehung zur Tapferkeit, in: Schriften zur Jugendbewegung (Anm. 12), S. 16–22. 16 Ebd. S. 17 u. 22.
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gendbewegung. Ein Brief« veröffentlicht hat und in dem Nelson Bilanz dieses Treffens zieht: »Lieber Herr Hodann! […] Ihre Beurteilung der freideutschen Jugend17 trifft so sehr das Richtige, daß ich umso mehr bedauere, daß weder Sie noch sonst jemand aus Ihrem Kreis den Vertretertag der freideutschen Jugend besucht hat. Die Wichtigkeit der Sache und das Bewußtsein ihrer ungenügenden Vertretung sowie der Wunsch und das Drängen einiger Freunde haben mich bewogen, angesichts des für mein Heufieber günstigen Regenwetters doch zur Tagung hinaufzugehen. Aber, obgleich ich noch Mühlestein zur Seite hatte, habe ich nichts, rein gar nichts ausgerichtet. […] So kommen wir zur leeren Form. Die Bewegung ist nur noch um ihrer selbst willen da. Ihr Zweck erschöpft sich in ihrem Dasein. […] Ich kann nicht dabei stehen bleiben, dem Übel zuzusehen und es zu kennzeichnen. Mein ernstes Bestreben gilt seiner Beseitigung. Darüber bin ich im klaren, daß eine erfolgreiche Umgestaltung nicht von der freideutschen Gesamtbewegung ausgehen kann, die wir einstweilen verloren geben müssen. Wir müssen vielmehr für unsere Arbeit von einem zunächst kleinen Kreise erprobter Charaktere ausgehen, also eine durchaus intensive Methode befolgen.«18 »Obwohl das Experiment Max Hodanns, mit Hilfe seiner in Berlin gegründeten ›Centralarbeitsstätte für Jugendbewegung‹ (CAS) eine ›Politisierung‹ der Jugendbewegung zu erreichen, gescheitert war, versucht nunmehr Nelson (unterstützt von Hans Mühlestein und Minna Specht) auf der Göttinger Tagung, die Freideutsche Jugend aus ihrer politischen Abstinenz zu drängen. Er vertrat die Auffassung, daß eine Erziehungsgemeinschaft von Menschen über zwanzig Jahren – wie die Freideutsche Jugend –, ob sie wolle oder nicht, auch eine Zweckgemeinschaft sei und für ihre Ideale im öffentlichen Leben eintreten müsse.«19
In den Zeitraum nach dem Göttinger Treffen dürfte Hans Mühlesteins Angebot der Veröffentlichung von Dokumenten zum Wartburg-Treffen 1817 fallen: Die Zensur hätte hier wohl keine Handhabe zum Einschreiten. Im Brief von Nelson wird mehrfach auf die Wartburg-Feier – z. B. »Mit Beschämung müssen wir der Jugend gedenken, die vor hundert Jahren den Kampf aufnahm«20 – verwiesen, so dass letztlich die »Urburschenschaft als Jugendbewegung«, das Wartburg-Gedenkbuch von 1917, einer Idee Nelsons folgt. Hodanns Einwilligung in das Projekt »Urburschenschaft als Jugendbewegung« steht am Scheidepunkt seines Engagements für die Jugendbewegung und 17 Nelson bezieht sich auf Hodanns Artikel »Zur Frage der freideutschen Jugend«, aus dem oben zitiert wurde (siehe Anm. 13). Nelson übernimmt zum Teil die Terminologie Hodanns, vor allem den Gegensatz Erziehungs- gegen Zweckgemeinschaft. 18 Leonard Nelson: Zur Kritik der Jugendbewegung. Ein Brief. Achtseitige Beilage zu den »Schriften zur Jugendbewegung«, hier S. 3, 4, 6. Wann genau der Brief, Datum 28. Juni 1916 mit einem Zitat aus dem Juli-Heft, erschien, ist nicht feststellbar. Im AdJb liegt der »Brief« dem Juli-Heft bei. 19 Link: Geschichte (Anm. 7), S. 44. 20 Nelson: Kritik (Anm. 18), S. 5.
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seiner Versuche, diese aus der selbstgewählten Fixierung auf »Jugend« und »Jugendkultur« zu entlassen und für gesamtgesellschaftliche Anliegen zu mobilisieren; sie ist ein Schritt in Neuland. Die Schrift erscheint 1917, die Verlagstradition der »Flugblätter an die deutsche Jugend« aus dem »Aufbruch«Kreis fortsetzend, bei Eugen Diederichs (1867–1930), dem Max Hodann, wegen des Verlagsprogramms und aus persönlicher Kenntnis, seit seiner Jugend besonders verbunden war.21 »[…] das Wartburgfest ist der Vorbote einer neuen Zeit, die noch bis heute gar nicht angebrochen ist! Oder führte das erste dunkle Ahnen derselben die deutsche Jugend 1913 auf den Meißner? Das war wohl nicht viel mehr als eine leise Wiedererinnerung an das große Erlebnis der Jugend vor 100 Jahren. Wenn es aber mehr war, wenn es eine Welle heißer Ahnung neuer mächtiger Ziele einer neuen Zeit war, dann ist sie heute, dann war sie schon am Tag danach fast spurlos verrauscht. Märtyrer hat sie nicht gezeugt. Wofür auch? Es war ja auf dem Meißner überhaupt nichts zu wagen – wenn ihr nicht ein Wagnis nennen wollt, daß der eine oder andere einem seiner Lehrer trotzen mußte, um hinzugelangen. Es fehlte dieser schönen erhebenden Jugendwoge auf dem Meißner das große, klare, gemeinsame Ziel, für das sie sich aufopfernd hätte hingeben können.«22
Bei der Veröffentlichung, wohl im Frühsommer 1917, ist Max Hodann von Leonard Nelson und dessen Ethik schon nachhaltig beeinflusst; seine damalige Lebensgefährtin, Maria Saran (1897–1976) – sie hatten sich beim Medizinstudium in Berlin kennengelernt und am Tag nach Hodanns Promotion, Heiligabend 1919, geheiratet – erinnert sich, dass Hodann ihr Göttingen wegen Nelson als Studienort empfohlen hatte: »Max was impressed by Nelson’s writings, by his ethical teachings and by his personality. In one of our first encounters he told me about Nelson, saying: ›He is not well known, but I believe that he is one the few personalities in our time who count‹«.23 »Ethik ist für Nelson praktische Wissenschaft. ›Praktisch ist das, was uns zu Entschlüssen verhilft, uns beim Handeln leitet.‹ Mit dem Aufbau der Ethik sagt Nelson dem Fatalismus den Kampf an. […] ›Schwerer als den tiefsten Gedanken zu fassen, ist es, den Menschen zu finden, der bereit ist, mit ihm ernst zu machen. Und was helfen uns die besten Gedanken ohne solche Menschen?‹«24 21 Hodann war auf diese Veröffentlichung »›besonders stolz‹, weil ›sein alter Liebling, der Löwe Marzotto auf dem Titelblatt‹ erschien«; Hodann nach Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 26. Der Florentiner Löwe Marzotto war das Emblem des Eugen-Diederichs-Verlags. Zur Beziehung Hodanns zu Eugen Diederichs siehe ebd. S. 20. Zur intensiven Beziehung Jugendbewegung – Eugen-Diederichs-Verlag siehe den Beitrag von Christina Niem in diesem Band. 22 Mühlestein in: Hodann, Koch: Urburschenschaft (Anm. 1), S. 104. 23 Mary Saran: Never give up. Memoirs, London 1976, S. 31 (dt. Ausgabe: Gib niemals auf. Erinnerungen, Privatdruck Bonn 1979). 24 Grete Henry-Hermann: Die Überwindung des Zufalls. Kritische Betrachtung zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft, in: Minna Specht, Willi Eichler (Hg.):
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Diese Verknüpfung von Denken und Handeln, die sich abzeichnende, potentielle Überwindung des fatalistischen Angebunden-Bleibens an einen Jugendbegriff begeistern Max Hodann. So finden 1917 in der Veröffentlichung des CentenarBuches zum Wartburg-Fest zwei sehr unterschiedliche Fraktionen des antimilitaristisch-pazifistischen Engagements im Deutschen Reich zueinander : auf der einen Seite, repräsentiert von Hans Mühlestein, Leonard Nelsons Ansatz einer sowohl auf Vernunft wie Gefühl basierten handlungsorientierten Ethik, auf der anderen Seite, repräsentiert von Max Hodann und Walther Koch25, die radikale Fraktion der Freideutschen Jugend, die aufgrund der In-Frage-Stellung der Machtverhältnisse, nicht zuletzt die der herrschenden Sexualmoral, Anfang und Aufbruch sucht in etwas Neuem, welches den Militarismus und Untertanengeist des Wilhelminismus – die Jugend im »Sumpf der Väter« gehalten26 – zu unterlaufen versucht. Die Verknüpfung dieser beiden Richtungen stellt die Idee eines in ethische Verpflichtung gewendeten Sozialismus dar. Die gemeinsam durchgeführte Veröffentlichung »Urburschenschaft als Jugendbewegung« ist ein durch und durch ambivalentes Buch; die intendierte pazifistisch-sozialistische Aussage ist nur schwer zu entschlüsseln und von Leonard Nelsons Fixierung auf den Jenenser Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773–1843) geprägt; 1913 war durch Nelson die Jakob-Friedrich-Fries-Gesellschaft gegründet worden, deren Mitglied Hans Mühlestein war. Denn wie lässt sich aus den zeitgenössischen Berichten des Wartburgfestes eine internationale Stoßrichtung ableiten? Im Zentrum der abgedruckten Dokumente befindet sich Jakob Friedrich Fries. Dieser hatte als einziger der vier auf der Wartburg anwesenden Professoren das Wort ergriffen; Fries vertrat in der Nachfolge von Kant eine aus praktischer Vernunft und kontrolliertem Gefühl abgeleitete Ethik der Einheit von Gesinnung und Tat; er kann als spiritus rector des burschenschaftlichen Engagements auf der Wartburg wie auch der inhaltlich-ideologischen Festgestaltung gelten. Die »Germanomanen«, wie der jüdisch-deutsche Schriftsteller Saul Ascher (1767–1822) die Mitglieder der burLeonard Nelson zum Gedächtnis, Frankfurt a. M., Göttingen 1953, S. 26, 30. Der zweite von Nelson stammende Satz wird in der Nelson-Literatur immer wieder, ohne genauen Nachweis (»aus einem Brief«), zitiert; siehe z. B. Willi Eichler : Leonard Nelson (1882–1927), in: ders.: Sozialisten, Bonn-Bad Godesberg 1972, S. 33–43, hier S. 43. 25 Walther Kochs Beitrag zum Buch war eine »Geschichtliche Einführung«, in: Hodann, Koch: Urburschenschaft (Anm. 1) S. 5–8. 26 Siehe hierzu: Karl Braun: »Liebster Vater« oder Franz Kafkas Befreiung aus dem Ehezwang, in: Peter Becher, Steffen Höhne, Marek Nekula (Hg.): Kafka und Prag. Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte, Köln u. a. 2012, S. 111–133, hier v. a. S. 116f. u. 122ff. Im letzten Heft (Dezember) der »Schriften zur Jugendbewegung« (Anm. 13) – seitenmäßig schon dünner und wohl mitfinanziert durch eine vierseitige Werbung des Kurt-Wolff-Verlags – werden auf der dortigen S. 3 Franz Kafkas »Der Heizer«, »Das Urteil«, »Die Verwandlung« beworben.
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schenschaftlichen Bewegung ironisch nannte, hatten sich durch Verbrennen von Schriften, die ihren Nationalismus oder die Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahns (1773–1852) kritisierten, in extremer Weise nationalistisch und zudem fremdenfeindlich – die Franzosen als Feinde von außen, die »Juden« als Feinde von innen – positioniert. Wie konnte es aus dem Geist des Wartburgfestes zur Forderung nach einer Jugendbewegung kommen, die sich europäisch und sozialistisch verstehen soll? Diese Verknüpfung ist nur über Leonard Nelsons Fries-Rezeption zu verstehen; sie betont dessen nachkantianisch-ethische Positionen stark, wobei die politisch-nationalistischen und antisemitischen – obwohl Nelson selbst jüdischer Abstammung war – Ansichten von Fries und deren Konsequenzen, z. B. im Kreis um die Brüder Follen in Gießen und den August-Kotzebue-Attentäter Karl Ludwig Sand (1795–1820), nicht nur vernachlässigt werden, sondern gänzlich ausgeblendet bleiben. Nichtsdestotrotz sind Karl Follen (1796–1840) und Karl Ludwig Sand neben Jakob Friedrich Fries in »Urburschenschaft als Jugendbewegung« prominent vertreten. Im Artikel »Zur Frage der Freideutschen Jugend« hatte Max Hodann schon ganz im Sinne Nelsons geschrieben: »Die Synthese aller schaffenden Kräfte in der Jugend tut not. Und es will mir scheinen, als würde die Erlösung von keinem der beiden Gegensätze kommen: Sagen wir Wandervogel – Wickersdorf oder Freideutsche Jugend – Aufbruch, sondern aus einer Verbündung einzelner Menschen aus beiden Gruppen, in gegenseitigem Wechsel wirklichkeitskräftigen Zielen zuschreitend, im Dienste der Volksgemeinschaft.«27
Diese »Verbündung« schafft etwas Neues jenseits der eigentlichen Jugendbewegung. Hodann ist ganz auf die Linie von Leonard Nelson eingeschwenkt. In einem Artikel, 1919 im »Vortrupp« mit dem Titel »Der Internationale Jugendbund«, begründet Hodann den Namen des neuen Bundes: »Jugendbund heißt die Gemeinschaft, weil es nur wahrhaft jugendlichen Menschen (das ist keine zahlenmäßige Altersbegrenzung) möglich sein dürfte, diese umwälzenden und höchst unzeitgemäß klingenden Gedanken wirksam zu vertreten. International ist der Bund, weil die Vernunft, auf die sich seine Ziele letzten Endes gründen, ein Vermögen aller Menschen ist, das nicht durch Grenzpfähle eingeengt wird. Die Gründung dieses Bundes rechtfertigt sich dadurch, daß keine der politischen Parteien, die im öffentlichen Leben der Gegenwart wirken, die Aufgabe erfüllt oder auch nur erkannt hat, die hier als die vornehmste aufgezeigt wird und gleichzeitig die einzige ist, deren Lösung uns über die Schäden der Gegenwart hinauszuführen geeignet ist. Diese Aufgabe besteht darin, das grundlegende Übel der Politik, den politischen Dilettantismus durch eine methodisch gesicherte Führerausbildung zu überwinden.«28 27 Hodann: Frage (Anm. 11) [unpag.]. 28 Max Hodann: Der internationale Jugendbund, in: Der Vortrupp. Deutsche Zeitschrift für
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Gründliche und selbstreflektierte Erziehung und Ausbildung der Funktionsträger des Bundes stehen – ganz im Sinne von Platons »Staat« – im Zentrum der Organisation; den Mitgliedern ist Zurückstellung der eigenen Interessen hinter die Pflichterfüllung des als vernünftig erkannten Handelns auferlegt, das jedoch eine historisch-gesetzmäßige Sicht auf Geschichte ablehnt und vernunftgebundene Flexibilität für die jeweilige Situation einfordert. Ziel ist die politische Richtungsvorgabe durch die gut geschulten »Fähigsten und Einsichtigsten«,29 nicht die zufällig-kontingente Mehrheitsentscheidung – was eine DemokratieSkepsis beinhaltet. »In der Tat, wir dürfen es dem Zufall nicht überlassen, wie die Denkweise derjenigen beschaffen ist, die uns politisch beherrschen sollen. […] In der Tat ist die Vernunft die wahre Gesetzgeberin.«30 Die Veröffentlichung »Die Urburschenschaft als Jugendbewegung« kann also als verstecktes Gründungsdokument des Internationalen Jugendbundes (IJB) gelten, eines für die sozialistische Bewegung wie auch für die intellektuelle Prägung Deutschlands im 20. Jahrhundert wichtigen Bundes. Der IJB war, die genannten Jahreszahlen gehen auseinander, ohne offiziell festzustellendes Datum 1917 oder 1918 gegründet worden. Die bestimmende und sichtbare Figur des IJB ist Leonard Nelson. Zum Kern der Gründungsmitglieder zählen Nelsons Lebensgefährtin Minna Specht (1878–1961), Hans Mühlestein, Max Hodann und Maria Saran. Der IJB stellt unter Nelsons Einfluss die »Verbündung einzelner Menschen« im zitierten Sinne Hodanns dar. Inwieweit Hodann allerdings Mitglieder der kritischen Fraktion der Freideutschen Jugend in den IJB überführen konnte, ist unklar, hierzu bedürfte es eigener, aufgrund der Struktur des IJB schwieriger Forschung. Die Mitglieder des IJB unterlagen der Verpflichtung, sich in anderen sozialistischen Gruppen, Parteien, Gewerkschaften zu betätigen und so aktiv Einfluss auf die Arbeiterbewegung zu nehmen – Hodann und Saran wurden z. B. Mitglieder der USPD und später der SPD. 1922 beschließt die KPD, 1925 die SPD die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft mit dem IJB. Nach dem SPD-Unvereinbarkeitsbeschluss reorganisiert Nelson 1925 den Internationalen Jugendbund als Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) neu. Dieser hatte nie eine große Mitgliederzahl (wohl nie mehr als 300), diese agierten jedoch in straffer Selbstdisziplin und Einsatzbereitschaft. 1932 führten Minna Specht und Willi Eichler (1896–1971), Sekretär und Nachfolger Nelsons, angesichts des Aufstiegs Menschen unserer Zeit, 1919, 8. Jg. , S. 112–115, hier 114f. Zum Vortrupp siehe den Beitrag von John Khairi-Taraki. 29 Udo Vorholt: Die politische Theorie Leonard Nelsons. Eine Fallstudie zum Verhältnis von philosophisch-politischer Theorie und konkret-politischer Praxis, Baden-Baden 1998, S. 156. 30 Hans Mühlestein: Die Herrschaft der Weisen, Leipzig 1918, S. 4 u. 9. Der Leipziger Verlag »Der neue Geist« kann 1918/1919 als Sprachrohr des IJB gelten.
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der NSDAP die Kampagne für eine gemeinsame antifaschistische Politik von SPD und KPD, in Zeiten der kommunistischen Sozialfaschismus-These allerdings vergebens. Der ISK war, im Gegensatz zu KPD und SPD, auf eine brutale Machtübernahme der NSDAP vorbereitet und hatte klandestine Strukturen aufgebaut, nicht zuletzt als Fluchthilfeorganisation für Mitglieder der gesamten linken Bewegung. Der ISK schaffte eine der wenigen sichtbaren Widerstandsaktionen im Nazistaat der Vorkriegszeit: Am 19. Mai 1935, bei der Einweihung der Reichsautobahn Frankfurt – Darmstadt wird Hitlers Eröffnungsfahrt durch antifaschistische Parolen auf den Autobahn-Brücken behindert, die von Mitgliedern des ISK angebracht worden waren. Nach 1945 sind ehemalige Mitglieder des ISK an der Reorganisation der SPD zentral beteiligt und für die Ausgestaltung des Godesberger Programms entscheidend. Max Hodann hatte sich, aufgrund von Differenzen mit Nelson, 1926 vom IJB/ ISK und fast zeitgleich von Maria Saran getrennt, blieb aber – als parteiloser Linker – der sozialistischen Idee und der Arbeiterbewegung im Sinne eines »konstruktiven Sozialismus«31 treu, während Maria/Mary Saran32 zeitlebens in der Führungsriege des ISK, erst in Deutschland, dann in England, verblieb.
Sexualtheorie und Sexualaufkärung Die Lebensaufgabe Max Hodanns, sicher verknüpft mit seinem Engagement im IJB, wird die Sexualberatung und Sexualpolitik, sein nicht ermüdender Einsatz für die Möglichkeit gesunder – d. h. positiv gelingender – Sexualitätsentwicklung der Jugend und Sexualitätsgestaltung im Erwachsenenalter. Max Hodann kann, neben Wilhelm und Annie Reich (1897–1957; 1902–1971), als der bekannteste, der Arbeiterbewegung verpflichtete Sexualreformer und -aufklärer der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Raum gelten. Bevor Max Hodanns Schriften zur Sexualtheorie und Sexualaufklärung, besonders die frühen, innerhalb der Jugendbewegung entstandenen, genauer analysiert werden, gilt es einen Blick auf den biografischen Hintergrund und vor allem die verschiedenen prägenden Einflüsse, die der junge Max Hodann erfahren hatte, zu werfen. Geboren am 30. August 1894 in Neisse/Schlesien verliert Max Julius Hodann im Alter von fünf Jahren, 1899, seinen Vater Carl Hodann, Oberstabsarzt in preußischen Diensten. Die Witwe Margarethe Hodann zieht nach dem Tod des Gatten von 1900 bis 1904 nach Meran. Grund für den Südtiroler Aufenthalt waren wohl gesundheitliche Erwägungen hinsichtlich ihres einzigen Kindes Max, der 31 Max Hodann: Erziehungsarbeit und Klassenkampf, in: Der lebendige Marxismus. Festgabe zum 70. Geburtstag von Karl Kautsky, Jena 1924, S. 395–404, hier S. 395. 32 Siehe Saran: Memoirs (Anm. 23).
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Max Hodann, 1935; Quelle: Saran: Memoirs (Anm. 23), Abb. 8
zeitlebens an Problemen der Atemwege litt. In Meran erhielt Max Privatunterricht. Anlässlich Max’ Übergang ins Gymnasium kehrte Margarethe Hodann nach Deutschland zurück; er besuchte bis 1913 das humanistische Gymnasium in Berlin-Friedenau und begann im WS 1913/14 ein Medizinstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. 1917 wurde Hodann wegen seiner Tätigkeit in der Jugendbewegung bereits als »politisch suspekte Person«33 überwacht und zum Militärdienst einberufen. Nach einer Tätigkeit in einer Entlausungsstation wurde er, nun im Status eines Militärarztes, in einem »Speziallazarett für Geschlechtskranke«34 in Polen eingesetzt. Wahrscheinlich hat diese Erfahrung zum Thema seiner Dissertation beigetragen, denn 1919 promovierte Hodann bei Alfred Grotjahn (1869–1931) über das Thema »Die sozialhygienische Bedeutung der Beratungsstellen für Geschlechtskranke«. Die Jahre 1916/1917 werden somit zum Fokus, in dem sich der Lebensweg und die verschiedenen Interessen Max Hodanns bündeln: jugendbewegtes Engage33 Saran: Memoirs (Anm. 23), S. 29. 34 Günter Grau: Max Hodann (1894–1946), in: Volkmar Sigusch, Günter Grau (Hg.): Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 296–302, hier 297.
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ment, das sich schließlich im pazifistisch-sozialistischen Göttinger Kreis um Leonard Nelson verortet und zur Mitgründung des sozialistisch-orientierten IJB führt, Medizinstudium und militärärztliche Tätigkeit im Bereich von Sexualwissenschaft und Sozialmedizin. Zu den prägenden Einflüssen für Max Hodann zählt der frühe Eintritt in die Jugendbewegung; er nimmt im Oktober 1913 am Meißner-Treffen teil. Er begeistert sich für Literatur, speziell den Naturalismus, wird Mitglied der »Freien Bühne« und agiert – wegen der Freikarten – als Statist bei Aufführungen von Max Reinhardt (1873–1943). Hodann ist seit Kindheit an allen naturwissenschaftlichen, speziell darwinistischen Fragen nachhaltig interessiert. Ernst Haeckel (1834–1919) hatte den Schüler, als er diesen vor seiner Villa angetroffen hatte, angesprochen und ihn durch die Sammlungen geführt: Er hatte »mir nur eine halbe Stunde […] einen Blick in seine Welt gewährt«35, aber was für eine halbe Stunde! Für Max Hodann steht fest: Er will Naturforscher werden. Einer seiner engen Schulfreunde ist Benedikt Kautsky (1894–1960): Hodann verkehrt in Berlin-Friedenau im Hause von Karl und Luise Kautsky (1854–1938; 1864–1944) und kommt durch diesen Umgang intensiv mit sozialistischen Ideen und marxistischen Theorien in Kontakt. Vor allem bekommt er die Auseinandersetzung des Ehepaars Kautsky mit Rosa Luxemburg (1871–1919), einer engen Freundin von Luise Kautsky, um die Ausrichtung der Arbeiterbewegung angesichts des Weltkriegs direkt mit. Der für Max Hodanns Lebensausrichtung als Sexualreformer entscheidende Einfluss dürfte von dem, der SPD nahestehenden Sozialmediziner und -hygieniker Alfred Grotjahn ausgegangen sein, den er zu Beginn seines Studiums kennengelernt und dem er sich angenähert hatte36 ; bei Grotjahn wird er 1919 auch promovieren. Max Hodanns Interessen – Jugendbewegung, ethischer Sozialismus, darwinistische Entwicklungslogik, Sozialmedizin – bündeln sich in einem Thema: Kampf der Sexualnot, vor allem der Jugend, aber auch der Erwachsenen. Max Hodann fängt diesen Kampf zu einer Zeit an, als die Freideutsche Jugend durch die Kriegsereignisse zu großen Teilen chauvinistisch geworden war und zudem die offene Beschäftigung mit heterosexueller Geschlechtlichkeit unter dem Vorwurf »jüdisch« stand. Im Jahr 1916 hatte Max Hodann zwei Aufsätze, die sich mit der Rolle der Sexualität in der Jugendbewegung auseinandersetzen, publiziert: »Das erotische Problem in der bürgerlichen Jugendbewegung«37 und »Sexualität und Jugend. Zugleich ein Versuch zur Kritik der Blüherschen 35 Nach Max Hodann: History of Modern Morals, London 1937, S. 2f. 36 Zu Hodanns früher und enger Beziehung zu Grotjahn siehe ebd. S. 21f. 37 Max Hodann: Das erotische Problem in der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Neue Generation, Juni 1916, wiederabgedruckt in: Max Hodann: Sexualpädagogik. Erziehungshygiene und Gesundheitspolitik. Gesammelte Aufsätze und Vorträge (1916–1927), Rudolstadt (Thür.) 1928, S. 9–16.
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Schriften.«38. Die kritische Auseinandersetzung mit Hans Blüher (1888–1955) eröffnet die Themenstellung »Die Jugend zum Sexualproblem« des zweiten und dritten Heftes (Mai/ Juni) der »Schriften zur Jugendbewegung«: Neben Hodanns Blüher-Auseinandersetzung (S. 34–41) finden sich Texte von Dorothee Berendes und Idamarie Solltmann »Zwei Gespräche« (S. 42–47; Bedeutung der Frauen in der Gesellschaft), Hans Zacharias »Wider den Antifeminismus« (S. 48–51), Otto Fenichel »Sexuelle Aufklärung« (S. 52–60) im Mai-Heft; Susanne Köhler »Antwort auf Franz Sachs’ ›Rede an die Kameradinnen‹« (S. 65–70); Rudolf Leonhard »Geist und Liebe« (S. 85–86); Harald Schultz-Hencke »Männerliebe« (S. 87–89); Lia Bergen »Miteinander« (S. 89–91) im Juni-Heft.39 Max Hodann beginnt die Kritik an Blüher mit der anerkennenden Bemerkung, dieser habe richtigerweise erkannt, dass treibende Kräfte der Jugendbewegung unbewusst sexuell motiviert gewesen seien, aber Hodann leitet sofort zum »Anfang«-Kreis, also zur heterosexuellen Beunruhigung über : »Es ist eine bekannte Erscheinung, daß Menschen, die auf irgendeinen von ihnen […] unterdrückten Komplex ihres Innenlebens gestoßen werden, zumeist mit Ablehnung, mit Abscheu, ja mit Entrüstung reagieren. […] Uns Jugendlichen ist allen noch in Erinnerung, wie unverkennbar diese psychische Regel sich bemerkbar machte, als Hans Blüher zum erstenmal erkannte, daß treibende Kräfte der Wandervogelbewegung sexueller Natur waren. Ebenso erkennbar war dies, als im ›Anfang‹ Blumenthals Aufsatz ›Jugendliche Erotik‹ erschien. […] Der Sturm der Entrüstung wird auch jetzt wieder in manchen Lagern losbrechen […] Es hat wenig Sinn, mit dem Leben Versteck zu spielen. Die Sexualität ist eines der stärksten Momente im Leben überhaupt; und darum wird die Jugend heute mehr denn je dazu gedrängt sein, ehrlich zu sein.«40 »Alles zeigte, daß sich die Jugend, die so frei und mutig in das neue Leben hineinmarschiert war, die so viel Hoffnung auf Genesung unserer unerträglichen öffentlichen Zustände in sich trug, daß diese Jugend dem Problem der Erotik nicht gewachsen war. 38 Max Hodann: Sexualität und Jugend. Zugleich ein Versuch zur Kritik der Blüherschen Schriften, in: Schriften zur Jugendbewegung (CAS), Mai 1916, S. 34–41. Ebenfalls in Hodann: Sexualpädagogik (Anm. 37), S. 17–27. 39 Die »in Berlin von Max Hodann herausgegebenen, bald verbotenen ›Schriften zur Jugendbewegung‹, die mir leider nicht zugänglich waren […] beschäftigten sich seit dem ›Anfang‹ zum ersten Mal ausführlich mit der Sexualfrage in einem Sinn, der mit der Keuschheitsmoral nichts zu tun hat. Sie proklamieren die Hochschätzung des jugendlichen Eros, bekämpfen den Unfug der sexuellen Unwissenheit, entwickeln aber, wenn ich mich recht erinnere, kein positives Programm vorehelicher Sexualfreiheit.«, in: Fritz Jungmann (d. i. Franz Borkenau): Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung, in: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936, S. 669–705, hier S. 696. Mit dieser Studie hat Franz Borkenau (1900–1957), im Umfeld von Siegfried Bernfeld in Wien jugendbewegt geprägt, eine frühe, nach wie vor Aktualität beanspruchen könnende, Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften verbindende Historiographie der Jugendbewegung geliefert, die jedoch an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt werden kann. 40 Hodann: Sexualität (Anm. 38), S. 17.
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Einzig einige Köpfe der […] kritischen Richtung der Jugend, vornehmlich der Leserkreis des ›Anfang‹, beschäftigten sich in erfreulicher Selbstsicherheit mit den Fragen des Verhältnisses der Geschlechter zueinander […] Auch diesen Auslassungen gegenüber erhob sich bei den anderen Jugendlichen bezeichnenderweise starker Widerstand. Man wollte nicht sehen, was klar zutage lag, was gerade infolge der strotzenden seelischen und körperlichen Gesundheit der Jugendbewegung klar zutage treten mußte, – ja, warum eigentlich? Weil im Unterbewußtsein noch die gesellschaftliche Unwahrhaftigkeit des 19. Jahrhunderts herrschte, auch heute noch herrscht.«41
Hodann nennt die genannte Erblast, die Bigotterie und Doppelmoral des 19. Jahrhunderts, ein »Verhängnis«:42 Es gilt, dieses Verhängnis zu überwinden, es gilt, dieses Verhängnis nicht zu verlängern, indem von gegen-, aber auch gleichgeschlechtlicher Kamerad- und Freundschaft ohne Körperlichkeit und von »geistiger Ehe« ohne leibliche Erfüllung geträumt wird. Jeder und jede hätte demnach »ein Bekenntnis abzulegen, daß er [sie, Anm. KB] ein Mensch von Fleisch und Blut sei.«43 Die Einforderung des Praktizieren-Könnens von Sexualität auch für Jugendliche, die aufgrund der ethischen Gebundenheit von Hodann nichts, aber auch gar nicht mit Promiskuität zu tun hat, sondern mit fester Beziehung und eventueller serieller Monogamie, zielt, ähnlich wie die Bestrebungen im »Anfang«-Kreis, auf heterosexuelle Beziehungen ab. Hodann erkennt, dass Blühers These der Inversion, sich äußernd in homoerotischer Gestimmtheit und in Einzelfällen auch in homosexueller Neigung und Betätigung, als die Triebkraft der Jugendbewegung nicht zutrifft, sondern vielmehr eine – nach »Verherrlichung der ›Reinheit‹, vermischt mit sentimentaler Sinnlichkeit«44 strebende und somit durchaus nachvollziehbare – Verschiebung psychologischer Vorgänge aufgrund der herrschenden Sexualangst darstellt. Indem Hodann die Einseitigkeit der Blüher’schen These – homoerotisch-männerbündische Unterströmung der Jugendbewegung als primäres Geschehen und Motivation ihrer Organisationsformen – in Frage zu stellen und dadurch die heterosexuelle Problematik zu benennen vermag, erweist sich die innerbündisch geführte Diskussion der Inversion als falsche Fährte, letztlich als Irrweg. Trotz aller Zweifel an der jugendbewegten Fähigkeit, sich der gegengeschlechtlichen Sexualität in allen ihren Formen in freier, rationaler Wiese zu stellen, schreibt Hodann: »Die Jugend darf sich rühmen, ein wahreres Verhältnis der Geschlechter angebahnt zu haben. Hier scheide ich mich von Blüher, der in dem
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Hodann: Problem (Anm. 37), S. 13. Ebd. Ebd. Jungmann: Autorität (Anm. 39), S. 677.
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jetzigen Gemeinschaftsleben von Buben und Mädchen durchaus eine Fehlentwicklung empfindet.«45 Dennoch ist sich Hodann angesichts der Bestrebungen zu gemischten Gruppen unsicher, inwieweit durch die sekundäre Koedukation die »Wesensreinheit der Geschlechter«46 beeinträchtigt werden könnte. Auch wenn Hodann »Geschlecht und Charakter« (11903; 121912) von Otto Weininger (1880–1903) nicht zitiert, ist dessen Einfluss sowohl bei Hodann, aber auch bei Blüher deutlich spürbar. Weiningers Kernaussage besteht in der Behauptung, dass der Mann den sexuellen Trieb zwar habe, ihn aber durch Geist beherrschen könne und ihm also nicht ausgeliefert sei, während die Frau dem Trieb, dem Eros gänzlich ausgesetzt und widerstandlos hingegeben, folglich fast identisch mit ihm sei. Die Belastungen der Moderne und die allenthalben vor sich gehende nervöse Degeneration aber würden die eigentliche »Wesensreinheit der Geschlechter« verwischen; die grundsätzlich entgegengesetzten Pole zwischen Mann und Weib würden auf einer Skala von Vermischungen und hybriden Zwischenstufen dazu führen, dass »der eigene Geschlechtstypus verlassen« und »der Verweichlichung der Knaben und die Burschikosität der Mädchen«47 Vorschub geleistet würde. Bei Blüher, so Hodann, wird das Gegensatzpaar Mann – Frau als Geist – Eros durchgespielt, auf der »geistbestimmten ›männlichen Gesellschaft‹ baut sich der Staat, damit alle höhere Kultur auf« und in Klammern fügt Hodann in kritischer Absicht hinzu: »(männliche Kultur!)«48. »Ist denn nun der Gegensatz Eros-Geist so vorhanden, wie ihn Blüher sieht? Wir sind uns einig darin, daß das Männliche und das Weibliche grundsätzlich verschieden sind. Hier liegt der Unterschied: Der Mann (als Prinzip) wirkt in die Weite, die Frau (als Prinzip) in die Nähe. […] Der Mann durch seine Schöpfung, die Frau durch ihr Sein! Was hat das an sich mit Geist zu tun? Daß die geistige Schöpfung des Mannes etwas Geistiges ist, besagt nicht, daß das Weib, das ›unproduktiv‹ wirkt, ungeistig ist. […] Es ist schlichtweg falsch, der Frau jede eigene kritikbegabte Leistung abzusprechen. Wir wollen bedenken, daß die Leistung der Frau auf ganz anderem Gebiet liegt, daß sie nicht aus dem Intellektuellen, sondern aus dem Intuitiven entspringt: Aber deshalb doch Leistung bleibt. […] Vielleicht von anderem Geist. Vielleicht nach anderen Denkgesetzen. Aber Geist. Und diesen Geist wird die Schöpfung des Mannes nicht entbehren können, wenn sie nicht einen begrifflichen Kadaver entstehen lassen will. Hier liegt die große Gemeinsamkeit der zwei Lebensprinzipien: auf Grund ihrer stets beachteten Gegensätzlichkeit zum Übergegensätzlichen zu kommen, zum – Menschlichen!«49
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Hodann: Sexualität (Anm. 38), S. 21. Ebd. S. 24. Ebd. S. 23. Nach Hodann: Zitat aus dem Brief eines Wandervogelführers. Ebd. S. 24. Ebd. S. 25.
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Die Aussage zum »Getrennt-Menschlichen in Mann und Frau« führt bereits im Juni-Heft der »Schriften zur Jugendbewegung« zu Reaktion und Kritik, vor allem auf die Position Blühers bezogen, wobei diejenige von Hodann dazwischen anzusiedeln wäre: »Im nächsten Heft der Schriftenreihe finden sich zwei Aufsätze von Frauen, die sich gegen den Gedanken der Inferiorität ihres Geschlechtes wehren. Mann und Frau, so argumentiert Susanne Köhler, müßten sich auch über den Geist vereinigen und nicht nur über die Sinnlichkeit. Lia Bergen ruft den ›unnatürlich Veranlagten‹, den Vertretern des Antifeminismus und der Männerbünde zu, sie würden ›in dünkelhafter Überhebung‹ die ›ursprüngliche Geistigkeit‹ der Frau verneinen. Geist sei weder ›männliche noch weibliche Geschlechtsbesonderheit, sondern menschliches Gemeingut‹, eine Meinung, die im selben Heft auch ein Mann vertritt (Leonhard).«50
Trotz Max Hodanns Rückgebundenheit an konventionelle Vorstellungen des 19. Jahrhunderts über Charakter und gesellschaftlichen Aktionsradius von Mann und Frau – eine klar abgegrenzte und klar abzugrenzende Differenzgeschlechtlichkeit – sucht er eine Neubestimmung in der Beziehung der beiden Geschlechter ; Grundlage für diese Neuausrichtung ist das Ausleben, und zwar für Frau und Mann, der sinnlichen Körperlichkeit – »Vergeistigung der Sinnlichkeit«51 – und damit eine klar ausgesprochene Ablehnung aller asexuellen »Reinheitskonzepte« innerhalb der Jugendbewegung. Zuneigung und deren leibliches Ausleben in sexueller Gegenseitigkeit stehen nichtsdestotrotz unter dem Signum einer »inneren Reinheit«. »Wenn wir das Trugbild der ›geistigen Ehe‹ stürzen, wenn wir der gesunden Sinnlichkeit ihr freies Lebensrecht zuerkennen, sie nicht in den Winkel des Schmutzes bannen, sondern ihre dionysische Schönheit zur Geltung erheben: dann wird uns eine Möglichkeit gegeben sein, die Voraussetzung des geschlechtlichen Zusammenseins der Naturen zu gewährleisten. […] Wissen wir denn nicht, was Liebe ist? Unser Streben muß darauf hinzielen: unter dem Gesetz innerer Reinheit den Bund zu schließen, der nach menschlicher Voraussicht die bestmöglichste Auslese darstellt […]«.52
Die sexualtheoretische Entwicklung Max Hodanns kann als typisch für den Teil seiner Generation gelten, den Franz Borkenau als »die Jugendkulturbewegung« bzw. »die radikalen Richtungen«53 bezeichnet hat: Anerkennung der heterosexuellen Bedürfnisse beim größten Teil der Jugendbewegten, Ablehnung kame50 Ulfried Geuter : Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994, S. 180. Die Titel der zitierten Aufsätze von Köhler, Bergen, Leonhard finden sich in der Präsentation des Juni-Hefts der »Schriften zur Jugendbewegung« (Anm. 13). 51 Hodann: Sexualität (Anm. 38), S. 27. 52 Ebd. S. 26. 53 Jungmann: Autorität (Anm. 39), S. 687, 686.
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radschaftlicher Vergemeinschaftung unter dem Primat asexueller Reinheitskonzepte und Forderung des Ausleben-Könnens körperlicher Bedürfnisse in festen, innerer Reinheit verpflichteten Zweierbeziehungen, welche gewünschte Nachkommenschaft miteinschließen. Voreheliche wie eheliche Beziehungen sind »ethisch zu gestaltende Lebens-, aber zugleich auch Zweckgemeinschaften«; für Hodann besitzt die glückende Zweierbeziehung nicht zuletzt auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Individuelle Sexualberatung auf der einen Seite, Kampf gegen repressive Sexualgesetzgebung und für sinnvolle Gestaltung des Sexuallebens im öffentlichen Geschehen und Bewusstsein auf der anderen Seite und dadurch Hebung des allgemeinen gesellschaftlichen Gesundheitszustands verschränken sich und prägen Max Hodanns Tätigkeit. Mit Gründung des sozialistisch orientierten IJB und der beruflichen Hinwendung zu sozialpolitischer Arbeit im Aufgabenfeld »Verbesserung der sexuellen Zustände«, dem sich Max Hodann mit großer Energie und unermüdlichem Einsatz stellt, endet sein Einsatz für die Jugendbewegung als soziale Gruppe. Denn ein freier und verantwortungsvoller gesellschaftlicher Umgang mit Sexualität bedarf breiter und öffentlich geführter Diskursivierung der geschlechtlichen Problematik: Zwar bleibt für ihn der Umgang mit Sexualität im Bereich der Jugend ein vorrangiges Thema, aber es ist eines unter anderen. Gelingende Paarbeziehung sowohl als Gestaltung individueller psychischer wie körperlich-sexueller Befriedigung, aber auch als Ort gesellschaftlicher Reproduktion wird Thema gesamtgesellschaftlicher Organisation und Strategie. Die Aufgabenstellungstellung im Selbstverständnis von Max Hodann hat sich somit verschoben: Sexualtheoretisches und vor allem sexualpraktisches Wissen muss der gesamten Bevölkerung zugänglich gemacht werden; Wissensvermittlung in diesem Feld an die Jugend stellt nur einen speziellen Aspekt dar, hier geht es um Prophylaxe, um vorbeugende Verhinderung von Schäden, um die Gewährleistung frei-gewählter und -ausgeübter Befriedigung, welche die »Verschmutzung sexuellen Handelns«, also die Folgen der allgemeinen Sexualangst, auszusetzen im Stande sind. Max Hodann, kurzfristig Vertreter im Berliner Arbeiter- und Soldatenrat, wird bereits 1919 »leitender Arzt der Abteilung für Geschlechtskrankheiten in einem Berliner Privatkrankenhaus, 1921 folgte der Eintritt in den Staatsdienst als Stadtarzt in Nowawes (heute Babelsberg, Stadtteil von Potsdam), ein Jahr später wechselte er nach Berlin-Reinickendorf als ärztlicher Leiter des Gesundheitsamtes. Diese Stellung hatte er bis zu seiner Emigration 1933 inne.«54 Im Jahr 1927 übernimmt Hodann die ärztliche Leitung der Sexualberatungsstelle am Institut für Sexualwissenschaft, das Magnus Hirschfeld (1868–1935) 1919
54 Grau: Hodann (Anm. 34), S. 297.
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gegründet hatte55 ; Hodann hatte Hirschfeld bereits 1915 kennengelernt. Hodanns ärztliche und organisatorische Tätigkeit im Ehrenamt hinsichtlich der Verbesserung der sexuellen Notlage der Bevölkerung ist enorm und kaum zu überschauen: Er ist an allen »Fronten« nachhaltig präsent. Neben der Arbeit in der Sexualberatung war Hodann im Vorstand der Vereinigung sozialistischer Ärzte, Leiter des proletarischen Gesundheitsdienstes, Gründer der ersten Mütterberatungsstelle, eingebunden in die Kampagnen gegen § 218 Abtreibung und § 175 Gleichgeschlechtliche Unzucht. Vor allem publiziert Max Hodann auf dem Gebiet von Sexualtheorie und Sexualaufklärung; es sind rund 200 Publikationen zu den verschiedensten Themen in diesem Bereich. Einige, die große Verbreitung hatten, seien hier genannt: – Bub und Mädel. Gespräche unter Kameraden über die Geschlechterfrage, Leipzig 1924. – Woher die Kinder kommen [später : Bringt uns wirklich der Klapperstorch?]. Ein Lehrbuch für Kinder lesbar, Rudolstadt 1926/ Berlin 1928. – Geschlecht und Liebe in biologischer und gesellschaftlicher Beziehung, Rudolstadt 1927. – Die Sexualnot der Erwachsenen, Rudolstadt 1928. – Sexualelend und Sexualberatung. Briefe aus der Praxis, Rudolstadt 1928. – Onanie – weder Laster noch Krankheit, Berlin 1929. Max Hodanns sexualaufklärerische Tätigkeit und die von ihm angewendeten methodischen Zugänge – große Meetings und Einzelgespräche, schriftliche Anfragen bei den Meetings und deren Beantwortung, echte/fiktive Zuschriften in den Aufklärungsbüchern, klare graphische Darstellungen der in Frage stehenden Organe – können hier im Detail nicht behandelt werden; er wurde wegen der Offenheit in der Vermittlung immer wieder, mehrfach auch strafrechtlich, angegriffen und verklagt.56 Dennoch soll ein Blick auf sein Wirken in der proletarischen Jugendbewegung geworfen werden, der er sich besonders verbunden fühlte. Hodanns Spitzname in der Berliner Arbeiterjugend ist liebevoll aussagekräftig: Er ist der »Hoden-Maxe«, ein Arzt, mit dem die Jugendlichen über sexuelle Probleme reden können und der gewillt ist, ihnen zuzuhören und ihre Probleme ernstzunehmen.
55 Kristine von Soden: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik 1919–1933, Berlin 1988, S. 101. 56 Siehe hierzu z. B. Hans-Joachim Bergmann: »Deutschland ist eine Republik, die von Rudolstadt aus regiert wird.« Das Strafverfahren gegen Max Hodann und Karl Dietz in Rudolstadt des Jahres 1928 – zugleich ein Betrag zur Geschichte des Greifenverlags, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliographie, 1990, Nr. 117, S. 35–53.
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»Das kleine Buch ›Bub und Mädel‹ grassierte unter uns, das war ein Hit würde man wohl heute sagen. Hodann hat mit uns im Sozialistischen Schülerbund diskutiert. Das war für uns ganz außergewöhnlich, daß man mit einem Erwachsenen so offen über Sexualität reden konnte. Er hat uns die Angst genommen und uns ganz einfach objektiv, fast schon wissenschaftlich aufgeklärt. Immer aber war er auch zu einem persönlichen Gespräch bereit. [Gert J] […] Also die Menschen hingen ja an seinen Lippen. Wollten alles hören über ›Bub und Mädel‹. Zum Beispiel, kann man Jungen und Mädchen zusammen in die Badewanne setzen? Darf man sich nackt zeigen? Das Schamgefühl, das stand doch im Vordergrund. So hab’ ich das empfunden, als er hier in Hamburg im Gewerkschaftshaus war. [Thea A]«57
Zwischen 1924 und 1930 hat Max Hodann mehrere Vorträge bei den Treptower Naturfreunden, einer proletarischen Jugendgruppe in Berlin, gehalten. Themen waren z. B. »Kameradschaft, Freundschaft, Liebe«, »Die sexuelle Frage« und »Gemeinsame Erziehung der Geschlechter«. Über den Wissenstand zu geschlechtlichen Fragen bei proletarischen Jugendlichen ist wenig bekannt. Über Herta Steffin, Schwester von Margarete Steffin (1908–1941), Geliebte und Mitarbeiterin von Bert Brecht (1898–1956), beide bei den Treptower Naturfreunden und Zuhörerinnen von Hodanns Vorträgen, erhält man einen – wohl nicht untypischen – Einblick in den Umgang mit Fragen von Sexualität und Geschlechtlichkeit in ihrer Familie: »Unser Vater durfte von den Fahrten gar nichts wissen. […] Der durfte doch nicht wissen, daß wir mit Jungs zusammen in ’ner Scheune schlafen. Da passiert bloß was, sagte er. Aber wirklich wahr, wir hatten überhaupt keine Idee, da ist gar nichts passiert. Und später dann, sexuelle Aufklärung, ach, das gab’s gar nicht. Nee, nee, die haben kein Wort darüber verloren, alle beide nicht. Also, das muß ich sagen: Meine Mutter, auch mein Vater, die so fortschrittlich eingestellt waren, alle beide in der Partei und im Proletarischen Gesundheitsdienst und wo überall, die haben nicht ein Wort darüber gesprochen, meine Mutter auch nicht, das Thema wurde überhaupt nicht angerührt. Wir wußten von gar nichts, wir waren doof bis siebzehn. Als wir unsere Menstruation hatten – wir wußten von nichts. […] Und ich staune selbst, daß unsere Mutter, die so interessiert war und nun wirklich nicht nur in der Stube gesessen hat, kein Wort darüber verlor, obwohl es längst sozialistische Aufklärer gab. Magnus Hirschfeld, Max Hodann, die wirkten doch damals schon in Berlin. […] Unsere Eltern haben das regelrecht totgeschwiegen. Kein Wort darüber, auch keine Verbote, daß sie uns den Geschlechtsverkehr vor der Ehe verboten hätten. Das wurde einfach nie erwähnt.«58
Erich R. Schmidt (1910–2008), damaliger Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend Berlin und zum Treptower Kreis gehörend, sagt über die Wirkung der Aufklärungsarbeit Hodanns: »Der Informationsbedarf in den Gruppen war unerschöpflich. […] Den aufgeklärten Pädagogen verdanken wir einen guten 57 Zit. nach Soden: Sexualberatungsstellen (Anm. 55), S. 131f. 58 Hartmut Reiber : Grüß den Brecht. Das Leben der Margarete Steffin, Berlin 2008, S. 52.
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Teil unserer psychischen Stabilität. […] Es ist unmöglich, den Einfluß zu überschätzen, den Hodanns Artikel und Schriften ausgeübt haben.«59 Die Charakterisierung des Engagements Max Hodanns für die proletarische Jugend, wie sie Hartmut Reiber aufgrund seiner Recherche bei den Treptower Naturfreunden und anhand der Interviews mit Zeitzeugen geliefert hat, ist mehr als aussagekräftig: »Hodann verbindet seine lebensnahen Vorträge über Sexualpraktiken, Schwangerschaftsverhütung und den Abtreibungsparagraphen 218, an denen die jungen Leute am meisten interessiert sind, mit Diskussionen über eine neue Sexualmoral, wie sie in Deutschland seit 1905 geführt worden waren, seit Helene Stöcker und ihr ›Bund für Mutterschutz und Sexualmoral‹ zu bedenken gaben, Sexualität nicht nur auf Fortpflanzung zu beschränken. Aber Hodann geht noch weiter. Er hat einen emanzipatorischen Ansatz, und eben dieser macht ihn so populär bei der bildungsinteressierten Arbeiterjugend. Hodann hat die gesamte Lebensweise im Blick, die seine Zuhörer aus eigener Erfahrung nur zu gut kennen. Er zeigt auf, was sich von der wilhelminischen Kasernenhofgesellschaft und ihren jahrhundertealten preußischen Vorläufern in vielen Arbeiterfamilien abgelagert hat: patriarchale Strukturen, Prügelerziehung, Autoritätshörigkeit, Frauenunterdrückung – Deformationen, die dem Heranwachsen von Untertanen förderlich sind. Hodanns Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaft schließen die familiäre, psychische und pädagogische Emanzipation unabdingbar mit ein, werden aber von den meisten Politikern der Linken unter Verweis auf die alles entscheidende Klassenfrage oft genug beiseite geschoben. Max Hodann bleibt ein ständiger Mentor und Begleiter der Berliner Arbeiterjugend bis 1933.«60
Max Hodanns sexualaufklärerischer und sexualreformatorischer Ansatz bleibt, wie könnte es anders sein, zeitgebunden und zeitgesättigt; eine heutige Lektüre seiner Schriften bedarf hermeneutischer Anstrengung, soll heißen: Seine Schriften sollte man nicht »mit Aktualitätserwartungen […] belasten, die sie ohne Zweifel nicht einlösen können.«61
Sozialhygiene und Eugenik Wenn Max Hodann die in der Jugendbewegung propagierte asexuelle Kameradschaftsbeziehung mit den Worten »Unser Streben muß darauf hinzielen: unter dem Gesetz innerer Reinheit den Bund zu schließen, der nach menschli59 Ebd. S. 53 (Die Auslassungen befinden sich im Original). 60 Ebd. S. 53f. 61 Peter Dudek über Wilfried Wolff: Max Hodann (1894–1946). Sozialist und Sexualreformer [Rezension], in: Zeitschrift für Pädagogik, 1994, 40. Jg. H. 1, S. 173–176, hier S. 174. Vgl. hierzu z. B. Soden: Sexualberatungsstellen (Anm. 55), S. 137 f, betreffs männliche Aktivität und Führungsrolle und weibliche Passivität und Erweckung.
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cher Voraussicht die bestmöglichste Auslese darstellt«62 kritisiert, dann zeigt sich im hier benützten Begriff »Auslese« – bei aller emanzipatorischen Entschlossenheit – eine Bindung an Verbesserungstendenzen des menschlichen Geschlechts, wie sie allen Formen darwinistischen Denkens, auch denjenigen, die nicht sozialdarwinistisch orientiert sind, beim Nachdenken über menschliche Entwicklung eingeschrieben bleiben. Der Einfluss von Alfred Grotjahns Konzept von Sozialhygiene und Eugenik, das Hodann seit 1913, bereits in der Installierungsphase mitbekommen hatte, bleibt in seinem Denken merkbar, auch wenn er Grotjahns Entwicklung während der Weimarer Republik eher in sehr kritischer Weise begleitet hat. 1918 hatte Max Hodann gegen die allenthalben vor sich gehende Vereinfachung und gesellschaftliche Ideologisierung des Darwinismus in einem Aufsatz von 1918 Stellung bezogen: »Wenn wir in diesem Sinne gegen den ›Darwinismus‹ Front machen, so nicht gegen Darwin. […] Die Auffassung, daß die ›künstliche‹ wie die ›natürliche Zuchtwahl‹, das heißt mit anderen Worten, das ›Überleben des Passenden, des Tüchtigsten‹ oder aber – rohe Gewalt treibende Kräfte des Daseins sind, hat sich in den Gedankenkreisen übervieler Politiker, Hygieniker und Moralisten (ich sage wohlbewußt nicht Ethiker) verankert. Man hat mit den diesen reklameartig unter die Massen geworfenen Begriffen die Herrenmoral, die Notwendigkeit des Krieges, ja des schrankenlosen Chauvinismus, den Segen der Kindersterblichkeit und der Tuberkelbazillen, und, was weiß ich, alles ›bewiesen‹, ohne zu bedenken, daß ein Beweis in sich zusammenstürzt, wenn eine seiner Voraussetzungen sich als falsch erweisen sollte.«63 »Eugenik? Was ist das schon wieder für ein schreckliches Wort, werdet Ihr fragen. Der Engländer Galton verstand unter Eugenik ›die Wissenschaft, die sich mit allen Einflüssen befaßt, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern, und welche diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil der Gesamtheit zur Entfaltung bringt.‹ Wir verstehen dabei unter ›Rasse‹ nichts anderes als die Summe der in einem gesellschaftlichen Zusammenhang miteinander lebenden Menschen. So können wir für Eugenik auch Rassenhygiene sagen, wobei Hygiene soviel heißt wie Gesundheitsfürsorge oder Gesundheitspflege.«64
Es ist zu sehen, wie Hodann im Text »Was müssen unsere Genossen von der Eugenik wissen?« aus dem Jahr 1924 die populären Groß-Begriffe wie Rasse zu entschärfen und auf Alltagsebene verstehbar zu machen versucht. Geschlechtskrankheiten werden besprochen, die Gefahren von Alkohol und Nikotin, allgemeine gesunde körperliche Konstitution der Proletarierinnen und Proletarier 62 Hodann: Sexualität (Anm. 38), S. 26. 63 Max Hodann: Wider die darwinistischen Schlagwörter, in: Die Tat, November 1918; wieder abgedruckt in: Hodann: Sexualpädagogik (Anm. 37), S. 28–32, hier : S. 28f. 64 Max Hodann: Was müssen unsere Genossen von der Eugenik wissen?, in: Die Sozialistische Erziehung, Mai 1924; wiederabgedruckt in: Hodann: Sexualpädagogik (Anm. 37), S. 66–73, hier S. 66.
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eingefordert, man könnte die Schrift als kleinen Gesundheitsratgeber bezeichnen: »Die Bewahrung dieser Spannkraft auch bei entsprechender Konstitution setzt aber, in erhöhtem Maße, unter den durchschnittlich ungünstigen Lebensbedingungen des Proletariats voraus, daß eine vernünftige Regelung des Lebens Platz greift: gelüftete Zimmer, Benützung der Zahnbürste, Abschaffung der Federbetten, der steifen Kragen, der Schnürbrüste, der spitzen Schuhe (machen wir doch nicht immer die bürgerlichen Modetorheiten nach!), verständige Einteilung des Schlafes, der Arbeit (Kampf um den Achtstundentag!) und der Ernährung (vgl. zu all dem das beste Volksgesundheitsbuch: Grotjahn, ›Die hygienische Forderung‹).«65
Die Prägung Hodanns durch die »Soziale Hygiene« Alfred Grotjahns ist offensichtlich. Als Grotjahn in der Abtreibungsfrage eine andere Position als die SPD einnahm, für die er im Reichstag saß, und ab Mitte der 1920er Jahre sich mehr und mehr den Positionen der »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene« annäherte,66 stand Hodann seinem früheren Mentor kritisch gegenüber. In einer Frage allerdings ist er ihm treu geblieben: der einer drohenden Entvölkerung. »Eine regellos um sich greifende Befruchtungsverhinderung und ein ihr entsprechender Geburtenrückgang ist nun notwendig verbunden mit dem Verlust wertvollen Erbgutes, da natürlich die Geburtenbeschränkung zunächst bei den wertvollsten Familien auftritt, die ihr Leben verantwortungsvoller gestalten als die anderen. Ein solcher Verlust an wertvollem Erbgut ist auch im Interesse des Proletariats bedenklich.«67
Diese Aussage, die nach den rassehygienisch motivierten Verbrechen der nationalsozialistischen Regimes durchaus als bedenklich gelten mag,68 wird jedoch im Fortgang von Hodann wieder alltagsnah und zum Wohle der Frauen verortet: »Hierzu nur allgemein: Nicht nur das Alter und der Reifegrad der Eltern beeinflußt die Widerstandsfähigkeit der Kinder, sondern vor allem die Geburtspausen, die eine entscheidende Bedeutung für die Erhaltung der mütterlichen Kraft haben und damit indirekt eine Bedeutung für die späteren Geburten gewinnen. Heute wird ein geradezu unverantwortlicher Raubbau an Frauenkraft durch fortgesetzte Schwängerung betrieben. Menschen aber, die auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens grundsätzlichen Reformen geneigt sind, sollten auch dieser Sklaverei ein Ende zu machen helfen.«69 65 Ebd. S. 72. 66 Siehe hierzu Florian Mildenberger : Alfred Grotjahn (1869–1932), in: Sigusch, Grau: Personallexikon (Anm. 34), S. 249–250. 67 Hodann: Eugenik (Anm. 64), S. 72. 68 Eine ausführliche Diskussion um Hodanns eugenische Position und die darin aufzufindenden bedenklichen Aussagen findet sich in Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 217–223. 69 Hodann: Eugenik (Anm. 64), S. 72f.
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Zuzustimmen jedoch ist der Aussage, dass Max Hodann »für den linken Flügel der Sexualreformbewegung typische radikale Positionen und normative Ordnungsmuster«70 vertritt, denn sein Einsatz um Sexualberatung und Sexualreform ist politisch gebundener und positionierter Kampf. Die Broschüre »Die Sexualnot der Erwachsenen« aus dem Jahr 1928, Magnus Hirschfeld zum 60. Geburtstag gewidmet, endet folgendermaßen, die Forderung an die Jugendbewegung, politisch zu werden, wieder aufnehmend, diesmal für die Sexualreformbewegung: »Man vergesse aber nicht, daß die Sexualfrage – und die mannigfachen politischen Beziehungen, die ich im Rahmen dieser Ausführungen aufdecken mußte, sollten es beweisen – eine politische Frage ist. Die nicht mit Hilfe einer »Reformbewegung« gelöst werden kann, sondern nur, wenn wir die gesellschaftlichen Bedingungen der Sexualnot erkennen. […] Gesellschaftliche Fragen sind Klassenfragen; der Kampf um die Lösung der Sexualfrage somit ein Teilgebiet des Klassenkampfes. Damit wird aus einem Problem, das zu behandeln und zu verstehen uns ursprünglich die individuelle Not des einzelnen Menschen gedrängt hat, ein Problem von gesellschaftlicher Bedeutung, das zu seinem Teile, vielleicht zu einer Verständigung der heute gespaltenen arbeitenden Massen wenigstens auf einem Gebiete führen kann: Zum einheitlichen Kampf gegen Klassenjustiz, Klassenmedizin und Priesterherrschaft, zum einheitlichen Kampf für proletarische Sozialpolitik.«71
Jugendbewegt, proletarisch verpflichteter Sexualkämpfer, Sozialist ohne Rückhalt »Wie sich die bündische Jugend in der pubertären Fluchtattitüde fixierte, so die Jugendkulturbewegung in der pubertären Revolutionsstellung. Nur war diese Rebellion im Verhältnis zu jener insofern realitätsnäher, als sie kein Denkverbot enthielt; sie war darauf gestellt, den vorhandenen Grundkonflikt zu sehen und zu durchleben. Sie trieb daher mit aller Wucht auf die möglichen individuellen und sozialen Lösungen, auf die Psychoanalyse und den Sozialismus zu.«72
In dieser Beschreibung der Spaltung der bürgerlichen Jugendbewegung, wie sie Franz Borkenau vornimmt, ist Max Hodanns Leben und Werk zu verorten. Er begriff die Sexualnot in der Jugendbewegung als gesellschaftliches Problem; das führte ihn zu einem Sozialismus, der von einer ethischen Prägung und Verpflichtung grundiert war. Nelsons Forderung trifft auf Max Hodanns Lebensgestaltung durchaus zu: »Schwerer als den tiefsten Gedanken zu fassen, ist es, 70 Grau: Hodann (Anm. 34), S. 300. 71 Max Hodann: Die Sexualnot der Erwachsenen, Rudolstadt 1928, S. 47. 72 Jungmann: Autorität (Anm. 39), S. 690.
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den Menschen zu finden, der bereit ist, mit ihm ernst zu machen. Und was helfen uns die besten Gedanken ohne solche Menschen?«73 Max Hodann hat seine Überzeugungen radikal und mit unermüdlichem Engagement gelebt, sei es in der Jugendbewegung, sei es in der politisch verorteten Sexualreform. Bereits schwer asthmakrank nahm Hodann als Arzt am Spanischen Bürgerkrieg teil, im schwedischen Exil beteiligte er sich an den dortigen Kämpfen um Sexualreform und baute ein überparteiliches Netz von deutschen Antifaschisten auf; ein Anliegen waren ihm besonders die sog. Militärflüchtlinge – Deserteure aus der Wehrmacht.74 Max Hodann starb, 52-jährig, am 17. Dezember 1946 nach einer schweren Lungenentzündung an einem Asthmaanfall in Stockholm. Peter Weiss (1916–1982), der mit Hodann in Stockholm eine nahe, aber durchaus auch schwierige Beziehung hatte, schildert in der »Ästhetik des Widerstands« ein fiktives, nichtsdestotrotz aussagekräftiges Gespräch zwischen Hodann und dem Ich-Erzähler. Hodann ist aus dem verlorenen Kampf in Spanien zurück; der Stalin-Hitler-Pakt ist durch den Kriegsbeginn und das Vorgehen der UdSSR und Nazi-Deutschland hinsichtlich Polens publik geworden. Hodann muss über diese geschichtliche Entwicklung – er hat der UdSSR sehr wohlwollend gegenübergestanden75 – äußerst enttäuscht gewesen sein; seinem Kampfesmut und seiner ethischen Grundhaltung hat dies keineswegs Abbruch getan. Peter Weiss inszeniert: »[…] saßen wir im Badezimmer, Hodann auf dem Toilettendeckel, ich auf einem Schemel, vielleicht würden wir jetzt, dachte ich, miteinander sprechen können. Ich erwähnte die Unterscheidung zwischen den unpolitischen und politischen Flüchtlingen, und die Ausschaltung der Roten Hilfe. Gegenüber den ökonomisch schwachen linken Einrichtungen, sagte er, erböten die bürgerlichen und sozialdemokratischen Initiativen den Exilierten die einzige Möglichkeit einer Sicherheit. Der Kommunistischen Partei, in ihrer offiziellen Gutheißung der faschistischen Aggression, könne kein Vertrauen mehr entgegengebracht werden. Auch wer in den deutschen Arbeitern, die bereit waren, die Bürden der Rüstung und des Krieges zu tragen, zukünftige Kämpfer für den Sozialismus erkenne wolle, habe sein Urteilsvermögen verloren. […] Kein Zeichen von Stärke könne er darin sehen, daß sich der Sowjetstaat dazu bewegen ließ, nach der Auslöschung einer ganzen Generation von Vorkämpfern nun auch die kommunistische Weltbewegung zu opfern. […] Ein paar Jahre noch würde er durchhalten, mittellos, als Arzt längst von den schwedischen Behörden gemordet, sich um Handlungsvertretungen bemühn […], ruhelos wandern, mit dem Musterkoffer zusammenbrechen, unter dessen Gewicht, sich wieder 73 Siehe zu diesem Satz Anm. 24. 74 Siehe Charlotte Körner : Max Hodann im schwedischen Exil. Zu seiner Arbeit mit deutschen Militärflüchtlingen, Zweibrücken 2009. 75 Siehe Max Hodann: Sowjetunion. Gestern – heute – morgen, mit siebzig Photographien, Berlin 1931.
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aufraffen, bis zur frühen Morgenstunde am siebzehnten Dezember Neunzehnhundert Sechsundvierzig, als ihn der Erstickungsanfall überkam, als er die Spritze noch einmal füllte, dann aber zurücklegte in den Kasten, in die Knie sank und vornüber fiel, und tot gefunden wurde, in einer Lache von Schweiß.«76
76 Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1975–1981, hier Bd. 2, 1978, S. 242 und Bd. 3, 1981, S. 267. Wolff: Hodann (Anm. 4), S. 70, stellt ein freiwilliges Ausdem-Leben-Scheiden von Max Hodann meines Erachtens zurecht und mit plausiblen Gründen (Buchprojekt, Arbeit an einem Artikel) in Frage. Durch diese fiktive Behauptung eines aussetzenden Lebenswillens allerdings ist die öffentliche Sicht auf Max Hodanns Lebensende nachhaltig beeinflusst und geprägt worden.
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»Renaissance des Eros paidikos«. Erotisch-sexuelle Leitbilder und Alltagspraxen in der deutschen Jugendbewegung
»Der Angeklagte begann, sein erigiertes Glied zwischen den Oberschenkeln von Peter zu reiben. Dieser äußerte, der Angeklagte solle das sein lassen, er möge das nicht. Zur Unterstützung seines Vorhabens gab der Angeklagte dem Jungen daraufhin einen Artikel über griechische Erziehungsmethoden…«1
Wenn erwachsene Männer in unserer Kultur vorpubertäre oder pubertäre Jungen erotisch begehrenswert empfinden oder mit diesen sexuelle Kontakte wünschen, bedarf es einer Rechtfertigung vor sich selbst, dem Jungen gegenüber und möglicherweise auch gegenüber dem sozialen Umfeld. Denn Beziehungen dieser Art werden aufgrund des gegebenen Macht-, Wissens-, Entwicklungs- und Erfahrungsgefälles meist als sexueller Missbrauch eingestuft und als deviantes Handeln verschiedentlich über das Sexualstrafrecht sanktioniert. Dies gilt besonders bei möglichen Abhängigkeitsverhältnissen, wie sie in Schulen, aber auch in Jugendgruppen bestehen.2 Dabei unterliegen diese Zuschreibungen mit den damit verbundenen Fragen nach gesellschaftlich akzeptierten und illegitimen sexuellen Verhaltensweisen kulturellen Aushandlungsprozessen und sind abhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Kontext.3 In alternativkulturellen Milieus wie der deutschen Jugendbewegung können sich parallel eigene Normvorstellungen mit abweichenden Rechtfertigungsmustern herausbilden. Ein Legitimationsversuch konnte die geistige Überhöhung sol1 Aus dem Urteil gegen den Gruppenleiter einer Wandervogelgemeinschaft wegen sexuellen Missbrauchs an einem Gruppenmitglied nach § 174 und § 176 StGB, Frankfurt a. M. 5/8 KLs 41 Js 2539.2/98, 17. 11. 1999. Der Name des Betroffenen ist geändert. 2 Vgl. die verschiedenen Aufarbeitungsberichte von Missbrauchsfällen in Institutionen seit 2010. Einen Überblick gibt Jörg M. Fegert, Mechthild Wolff (Hg.): Kompendium »Sexueller Missbrauch in Institutionen«. Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention, Weinheim u. a. 2015. 3 Vgl. Thomas Stompe: Sexueller Missbrauch, Pädosexualität und Kultur, in: Thomas Stompe u. a. (Hg.): Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie, Berlin 2013, S. 15–34 sowie aus anderer Perspektive David Menasco: Pederasty, in: George E. Haggerty (Hg.): Gay Histories and Cultures. An Encyclopedia, New York u. a. 2000, S. 672–675.
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chen Begehrens über die Rezeption antiker Erziehungsvorstellungen im Sinne eines pädagogischen Eros bzw. Eros paidikos sein. Im Folgenden sollen nicht – was möglich wäre – Fälle sexuellen Missbrauchs im jugendbewegten Kontext im Sinne einer kritischen Aufarbeitung offengelegt werden, sondern es soll nach den damit verbundenen alternativkulturellen Eigenlogiken und historisch bedingten gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen gefragt werden. Wie kann ein von gesellschaftlichen Normvorstellungen abweichendes, ja über lange Zeit als »Perversion« geltendes Handeln gegenüber dem Jugendlichen, in Teilen gegenüber dem jugendbewegten Umfeld und vor sich selbst als etwas »Normales« und Positives, Erstrebenswertes begründetet, gerechtfertigt und ausgelebt werden? Die Antworten drauf müssen komplex und vielschichtig sein. Eine von mehreren möglichen Annäherungen ist die hier näher dargestellte Rezeption des antiken Eros paidikos. Auch wenn wiederholt der Eros paidikos bzw. der pädagogische Eros als ein zentrales Leitbild der Jugendbewegung begriffen wurde, zeigt ein Blick auf die äußerst heterogene jugendbewegte Alternativkultur mit einer über hundertjährigen Geschichte von Transformationsprozessen und Brüchen, dass Vorstellungen und Alltagspraktiken intergenerationeller (homo-)erotisch/sexueller Beziehungen nur für einige Gruppen zu bestimmten Zeiten Relevanz besessen haben und Eros in diesem spezifischen Sinn rezipiert und tradiert wurde. Mit diesem Hinweis soll nicht nur einer verkürzten Sichtweise auf die deutsche Jugendbewegung entgegengewirkt, sondern zugleich auf Zusammenhänge innerhalb der Alternativkultur hingewiesen werden, in deren Rahmen Vorstellungen eines begehrenden Eros verhandelt wurden. So hatten sich in der Jugendbewegung nicht nur bereits im Kaiserreich eigene Mädchengruppen und koedukative Gruppen gegründet, die neue Formen des jugendlichen Umgangs zwischen den Geschlechtern lebten, sondern es gab ebenso Auseinandersetzungen über Jugendsexualität, Enthaltsamkeit und sexuelle Aufklärung.4 Zweifelsfrei spielten Vorstellungen von Eros und homoerotischen Freundschaften als bindendes Moment gerade in den männerbündischen Gruppierungen der deutschen Jugendbewegung vielfach eine Rolle. Nur konnte das, was darunter als Leitbild wie auch in der Alltagspraxis verstanden wurde, äußerst divergent sein und war keineswegs unumstritten.5 4 Vgl. Ulrich Linse: »Geschlechtsnot der Jugend«. Über Jugendbewegung und Sexualität, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 245–309 sowie die verschiedenen Beiträge dazu in diesem Band. 5 Bereits in der Zwischenkriegszeit widmeten sich der Thematik kritisch u. a. der Gerichtsmediziner Siegfried Placzek und der Erziehungswissenschaftler Eduard Spranger. Vgl. Siegfried Placzek: Freundschaft und Sexualität. 5. Aufl. Bonn 1920, insbes. S. 117–130 u. Eduard Spranger : Psychologie des Jugendalters. 3. durchges. Aufl. Leipzig, 1925, insbes. S. 105–139.
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Nachdem im Folgenden zunächst die Bedeutungsebenen des Eros paidikos benannt und dessen Rekonstruktion als ein jugendbewegtes Leitbild durch den Wandervogelchronisten und Schriftsteller Hans Blüher im Deutschen Kaiserreich im gesellschaftlichen Kontext skizziert werden soll, wird auf die divergenten Deutungs- und Aneignungsoptionen von Blühers Thesen sowie die erneute Rezeption innerhalb der Bünde seit den 1970er Jahren eingegangen werden.
Eros paidikos: Bildungsideal und Möglichkeit sexueller Legitimation Seinen Bezugspunkt hat die Rezeption des Eros paidikos in der hellenischen Antike.6 Diese kannte intime Beziehungen zwischen erwachsenen Männern zu pubertären Jungen, die eingebunden waren in komplexe Beziehungs-, Sozialisations- und Erziehungsvorstellungen. Jener Eros paidikos war eine im Ideal der geistigen Unterweisung und Persönlichkeitsbildung dienende, stets homoerotisch-sinnliche Beziehungsform zwischen einem erwachsenen Lehrer bzw. Mentoren zu einem heranwachsenden Jungen, die sexuelle Formen annehmen konnte – aber nicht zwangsweise musste. Besonders Platon popularisierte das Ideal der Transformation des leidenschaftlichen Begehrens zum Jungen auf eine geistige Ebene als höchste Form des Eros, wobei der sich noch in der Entwicklung befindliche Jungenkörper als vollendente und damit göttliche Schönheit idealisiert wurde. Doch dieser Weg vom körperlich-sinnlichen Begehren zur Vergeistigung des Eros war nur eine Variante neben auch dezidiert sexuellen Ausprägungen antiker Päderastie.
Spätere Versuche der Einordnung finden sich etwa bei dem Soziologen Roland Eckert oder auch bei dem Pädagogen Walter Sauer. Beide waren selbst aktive Mitglieder in Jungenbünden. Vgl. Roland Eckert: Gemeinschaft, Kreativität und Zukunftshoffnungen. Der gesellschaftliche Ort der Jugendbewegung im 20. Jahrhundert, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5, Schwalbach/Ts. 2009, S. 25–40 sowie Walter Sauer: Die deutsche Jugendbewegung – Schwierigkeiten einer Ortsbestimmung, in: Walter Sauer (Hg.): Rückblicke und Ausblicke. Die deutsche Jugendbewegung im Urteil nach 1945, Heidenheim 1978, S. 9–41, insbes. S. 24–31. Eine kritische Perspektive aus der Sicht von Betroffenen gibt Christian Füller : Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen, München 2015. 6 Da an dieser Stelle die Rezeption im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt steht, sei hier nur sehr grob auf die Bedeutungen in der Antike verwiesen. Vertiefend etwa Carola Reinsberg: Der manipulierte Eros, in: Johannes Bilstein, Reinhard Uhle (Hg.): Liebe. Zur Anthropologie einer Grundbedingung pädagogischen Handelns, Oberhausen 2007, S. 17–34 sowie Ute SchmidtBerger: Platon. Das Trinkgelage oder Über den Eros. Übertragung, Nachwort u. Erläuterungen, Frankfurt a. M. 1985.
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Rezeptionsebenen des Eros paidikos Prinzipiell eröffnet der Rückgriff auf antike Erziehungsideale somit zwei unterschiedliche Aneignungsmöglichkeiten: zum einen als Bildungsideal eines pädagogischen Eros, zum anderen als Möglichkeit der Legitimation homosexuell-päderastischer Kontakte zu Jungen und jungen Männern. Beide Rezeptionen lassen sich im jugendbewegten Milieu aufzeigen. Als Bildungs- und Erziehungsideal aufgegriffen, fand die Rezeption des Eros paidikos als pädagogischer Eros bei der Frage nach einem idealen Verhältnis von »Nähe und Distanz« als empathische Antwort auf frühere »Rohrstockpädagogik« Eingang in die Erziehungswissenschaften.7 Keineswegs wurde dabei ein körperlich-sinnliches Begehren per se ausgeschlossen. Dieses sollte jedoch überwiegend im Sinne der Rezeption von Platon auf eine geistige Ebene transformiert und damit »schöpferisch« werden: Der Zögling schwärme für den Lehrer als Verkörperung des Geistes: Der Lehrer begehre den erotischen Körper des Jungen als »vollkommene Schönheit«.8 Ob zwangsweise in sexueller Askese oder auch nicht, hier gab es verschiedene Positionen, wie generell der semantische Bezug auf antike Erziehungsideale innerhalb der fachlichen Debatte um gelingende pädagogische Beziehungen nie unumstritten war und Alternativen bot. Besonders die pfadfinderische Erneuerungsbewegung der 1920er Jahre orientierte sich an dieser Form der Antikenrezeption im pädagogischen Kontext.9 Achtzig Jahre später griff der frühere Pfadfinderführer und Erziehungswissenschaftler Friedrich Karl Rothe (Jg. 1936) die Thematik 2002 in seinem Buch »Heranwachsen in bündischem Geist«10 erneut auf. Dezidiert deutet und proklamiert er die »Renaissance des Eros paidikos«11 als erzieherisches Leitbild bündischer Jugendgruppen. In der deutschen Jugendbewegung sei der Gedanke vom pädagogischen Eros erneut aufgegriffen und in vielerlei Weise verwirklicht worden. Jüngere und Ältere hätten sich auf der Grundlage gegenseitiger Sympathie – so der zentrale Begriff bei Rothe – im Wandervogel zusammengefunden und eine neue Art der Gemeinschaftserziehung in freien Gruppen und Landerziehungsheimen verwirklicht. Dies sei auch für das heutige »Heranwachsen in 7 Dazu im Überblick: Detlef Gaus, Reinhard Uhle: Pädagogischer Eros, in: Wolfgang Keim, Ulrich Schwerdt (Hg.): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933), 2 Bde., Frankfurt a. M. 2013, Bd. 1, S. 559–575. 8 Vgl. zu dieser Vorstellung Spranger: Psychologie (Anm. 5), S. 80ff. 9 Vgl. Sven Reiß: Problematischer Eros. Nähe und Distanz in den pfadfinderischen Beziehungsformen, in: Wilfried Breyvogel (Hg.): Pfadfinderische Beziehungsformen und Interaktionsstile. Vom Scoutismus über die bündische Zeit bis zur Missbrauchsdebatte. Wiesbaden 2017, S. 171–191. 10 Friedrich Karl Rothe: Heranwachsen in bündischem Geist. Die Bedeutung von Sympathie, Erfahrung und Führung im Leben des jungen Menschen, Baunach 2002. 11 Rothe: Heranwachsen (Anm. 10), S. 7.
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bündischem Geist« zentral. Dabei ist sich Rothe der gegebenen Nähe zur Sexualität durchaus bewusst und stellt fest, dass »eine allzu große Nähe von Erwachsenem und Heranwachsendem problematisch, ja gefährlich sein kann [Hervorhebung SR]«12, macht dabei jedoch einen aus Nordamerika kommenden Puritanismus dafür verantwortlich, wenn pädagogischer Eros mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht werde. Dies blendet einen zweiten möglichen und genutzten Rezeptionsrahmen ein: Es ist die Möglichkeit der Antikenrezeption zur kulturellen Legitimation männlichen körperlich-sexuellen Begehrens zu Jungen und jungen Erwachsenen. Beides konnte durchaus eine Schnittmenge bilden: Exemplarisch kann hier der der Jugendbewegung nahestehende Reformpädagoge Gustav Wyneken genannt werden, dem »beide Flügel des Eros«13 gewachsen seien, wie es der Schriftsteller und Freund Wynekens, Erich Ebermayer, ausdrückte: sowohl die des geistigen Ideals als auch die der sexuell ausgelebten Alltagspraxis, die unter anderem 1921 zu einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs an Schülern geführt hatte.14 Der »Fall Wyneken« wurde in den Bünden der frühen 1920er Jahre kontrovers diskutiert: Während der Nerother Wandervogel eine Solidaritätskundgebung für Wyneken durchführte,15 veröffentlichte die Wandervogelzeitung »Zwiespruch« eine deutliche Kritik an Wynekens Vorstellungen von Eros als einem »genießenden Eros«, dem der dortige Autor einen asexuellfreundschaftlich »schöpferischen Eros« entgegenstellte: »Stets aber wird der schöpferische Eros eine gleichmäßige seelische Verkettung ohne irgendwelche Herrschgelüste sein, während der genießende, sexuell betonte Eros naturgemäß mehr oder weniger von dem Willen zur Unterwerfung beherrscht sein wird – ein Gedanke, der sich einem immer wieder beim Lesen von Platons Gastmahl wie von Wynekens Eros aufdrängt.«16 Wenn auch unausgesprochen rezipierte der Autor damit die zeitgleiche Debatte innerhalb der Erziehungswissenschaften. Die Rezeptionenebenen des Eros paidikos sind wie die Wandervogelbewe12 Ebd., S. 14f. 13 Brief Erich Ebermayer an Günther Welter, 23. 09. 1962; Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), A 204, Nr. 150. Ebermayer bezieht sich dabei auf Wyneken selbst, der den Begriff in seiner Verteidigungsschrift Eros nutzte: Gustav Wyneken: Eros, Lauenburg 1921, S. 18. 14 Vgl. Thijs Maasen: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Berlin 1995. 15 Vermutlich wurde diese maßgeblich inspiriert durch den Nerother Wandervogel Paul Leser, der Wynekens Bund für freie Schulgemeinden angehört hatte und noch 1955 aus der Rückschau Wyneken als den Denker würdigte, der ihn am maßgeblichsten beeinflusst habe und »Gott seiner Jugend« gewesen sei. Vgl. Brief Paul Leser an Gustav Wyneken, 14. 03. 1955; AdJb, N 35, 693. Deutlich ist zu betonen, dass neben Wynekens Vorstellungen zum Eros insbesondere seine Gedanken zur Jugendkultur breit in den Bünden rezipiert wurden sowie besonders für den Nerother Bund seine Gedanken zur Errichtung einer Jugendburg von Bedeutung waren. 16 Albrecht Meyen: Eros, in: Der Zwiespruch, 1922, 4. Jg., H. 11, S. 1–2.
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gung selbst eng mit den gesellschaftlichen Kontexten des bildungsbürgerlichen Milieus um 1900 verbunden.
Eros Paidikos und Bürgerliche Antikenrezeption um 1900 Die bürgerliche Gesellschaft um 1900 war durch die radikalen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse von einer Verunsicherung des bildungsbürgerlichen männlichen Selbstbildes geprägt. Hieraus erwuchs eine Zivilisationskritik, die besonders auch in der Antike ein »Schutzschild und Heilmittel«17 sah und deren Kern um 1900 eben jener erotisch konnotierte Jünglingskult wurde. Jugend wurde zu dieser Zeit innerhalb reformorientierter Kreise nicht nur mit utopischen Heilserwartungen als Träger eines »Neuen Menschen« überhöht, sondern zugleich wurden Jugendlichkeit und der jugendliche Körper in Anlehnung an die Antike als vollendete Schönheit in Kunst und Literatur idealisiert.18 Eingebunden war jener »Jünglingskult« in einen komplexen gesamtgesellschaftlichen Rahmen von Vorstellungen, Praktiken, Rede- und Umgangsweisen über »Sexualität« in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Noch immer bestanden christlich-moralische Vorstellungen der »Sündhaftigkeit« des Sexuellen sowie von medizinisch-psychologischen Diskursen ausgehende Normierungen und Pathologisierungen von anderen als der Fortpflanzung dienenden Sexualitätspraktiken als »sexuelle Perversionen«, die sich in konkreten strafrechtlichen Regulierungen auswirkten. Homosexualität war gesellschaftlich ebenso illegitim wie vorehelicher Geschlechtsverkehr und Selbstbefriedigung, auch wenn dies sehr wohl verbreitet war. Zugleich entstand eine über Magnus Hirschfeld mit der Homosexuellenbewegung verbundene junge Sexualwissenschaft sowie die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die im Sexualtrieb einen zentral bestimmenden Faktor menschlichen Zusammenlebens sah, der insbesondere in einer indirekten, »sublimierten« Weise wirkte.
Hans Blüher: Eros und Männerbund Vor diesem Hintergrund entwarf der selbst im Wandervogel sozialisierte Hans Blüher (1888–1955) seine Deutung des Wandervogels als eine »revolutionäre Bewegung der Jugend gegen den verbildeten Einfluss der Alterskultur« und 17 Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004, S. 370. 18 Vgl. dazu neben Sünderhauf: Griechensehnsucht (Anm. 17) Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900, Köln u. a. 2006.
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zugleich »Träger und Wiedererweckter des Eros paidikos«.19 Seine Thesen wurden seither wiederholt von verschiedenen Generationen jugendbewegter Akteure durchaus kontrovers aufgegriffen, sei es auch nur in einer indirekten Weise, wie es die Kulturwissenschaftlerin Claudia Bruns für die Bünde der Zwischenkriegszeit formulierte: »Über die explizite Bezugnahme hinaus waren Blühers Thesen zum heimlichen Subtext und unausgesprochenen Referenzpunkt der Debatten um Führer- und Gefolgschaft avanciert.«20 Direkte Anregungen erhielt Blüher nicht nur über Sigmund Freud und Magnus Hirschfeld, in dessen Organen Blüher im Kaiserreich zeitweise publizierte, sondern insbesondere über den kulturell argumentierenden Flügel der noch jungen Homosexuellenbewegung.21 Zu diesem gehörte der zeitweilig eng mit Blüher in Kontakt stehende hohe Wandervogelführer Wilhelm Jansen (1866–1943), der für Blüher zur Idealfigur eines »Männerhelden« wurde, den Altwandervogel jedoch wegen des Öffentlichwerdens seiner sexuellen Neigungen verlassen musste. Der kulturell argumentierende Kreis um die von Adolf Brand (1874–1945) herausgegebene Zeitschrift »Der Eigene« berief sich sowohl auf die antike Päderastie als auch auf die seinerzeit populäre Theorie des Ethnologen Heinrich Schurtz (1863–1903), der in seiner Schrift »Altersklassen und Männerbünde« den männlichen »Geselligkeitstrieb« statt eines »Familientriebs« als die eigentliche Ursache für die Herausbildung sozialer Gesellschaften deutete.22 Hans Blüher stellte nun – wie weitere Personen um die Zeitschrift »Der Eigene« – die These auf, dass die Ursache jenes männlichen Gesellungstriebs die Homoerotik sei. Konnte dies auf der einen Seite als Sublimation im Sinne Freuds verstanden werden, bot die These auf der anderen Seite die Möglichkeit, eigenes sexuelles Begehren statt einer »Perversion« zu einer kulturschöpferischen Begabung zu erhöhen. Nach Blüher war es die erotische Liebe zum Mann bzw. im Sinne des antiken Eros paidikos vielmehr die zum Jugendlichen, die soziale 19 Hans Blüher : Werke und Taten, Bd. 1, Jena 1920, S. 101. 20 Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln u. a. 2008, S. 448. 21 Zu Blühers Thesen und Wirken an der Schnittstelle zwischen Jugendbewegung, Psychoanalyse, Homosexuellenbewegung und dem Diskurs um hegemoniale Männlichkeit vgl. insbes. Bruns (Anm. 21) sowie Ulfried Geuter : Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994. Einen biographischen Überblick gibt Jürgen Plashues: Hans Blüher – ein Leben zwischen Schwarz und Weiß, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 19 (1999–2004), S. 146–185. 22 Zur Zeitschrift und Gemeinschaft »Der Eigene« vgl. Marita Keilson-Lauritz, Rolf F. Lang: Emanzipation hinter der Weltstadt. Adolf Brand und die Gemeinschaft der Eigenen. Katalog zur Ausstellung, Berlin 2000 sowie Marina Schuster : Antiker Eros um 1900 – »Die Gemeinschaft der Eigenen«, in: Michael Grisko, Helmut Scheuer (Hg.): Liebe, Lust und Leid: zur Gefühlskultur um 1900, Kassel 1999, S. 123–145.
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Gemeinschaften schuf und staatenbildend wirkte, während die Liebe zur Frau der menschlichen Reproduktion diente.23 Als Beleg diente Blüher der Wandervogel: 1912 veröffentlichte er die Schrift »Der Wandervogel als erotisches Phänomen« und 1917 sowie 1919 erschien das seinerzeit äußerst populäre Werk »Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft«. Blühers erotisch-elitäre Theorie des hegemonialen Männerbundes wurde weit über die Jugendbewegung hinaus sowohl zustimmend als auch kontrovers und entschieden ablehnend diskutiert. Ohne auf das vielfältige Wirken Blühers und dessen – auch über diese Thematik hinausgehenden – Theorien an dieser Stelle weiter einzugehen, sollen drei zentrale Aspekte aufgegriffen werden, die für die Rezeption im Sinne einer Legitimation sexueller Alltagspraxen von besonderer Relevanz sind und dabei zugleich verdeutlichen, was eine Aufarbeitung in diesem Zusammenhang in den Jugendbünden erschwert: 1. Eros im Sinne Blühers war Kern und Zugangsvoraussetzung elitärer Männergemeinschaften. Keineswegs musste dieser eine zwangsweise sexuelle Ebene beinhalten, sondern konnte in sublimierter Form zugleich Ausdruck eines als männlich begriffenen Geistes, idealisierter charismatischer Führung und auf gegenseitigen Sympathien aufbauender Gemeinschaft begriffen werden.24 Damit bot der Bezug auf Blüher Jungenbünden nicht nur die Möglichkeit der Distinktion gegenüber anderen Jugendgruppierungen, sondern zugleich Argumentationsmöglichkeiten bei der Auseinandersetzung um die Rolle von Mädchen und Frauen innerhalb der Jugendbewegung – bis zu den (erneuten) Debatten um koedukative Gruppen seit den 1970er Jahren. Begreift man aus der Eigenlogik heraus den Eros als einen Schlüssel zu Bildung und Bildungsmilieus, konnte nicht nur das hoch emotionale Gemeinschafts- und Naturerlebnis in den Bünden prägend für die eigene Biographie werden, sondern zugleich konkret die mit dem Eros verbundenen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Ganz in diesem Sinn verstand sich die Jugendburg Balduinstein, die wegen mehrerer Fälle sexuellen Missbrauchs in den vergangenen Jahren in die Kritik geriet, als ein »Freies Bildungswerk«. Anspruch war es, in »Rückbesinnung auf die Pädagogik der Antike«25, eine Art bündische Führungsakademie für ältere Jungen aus den
23 Aus dieser Logik heraus waren und sind päderastische Beziehungsformen keineswegs mit gleichzeitiger Ehe mit einer Frau unvereinbar. Die »Gemeinschaft der Eigenen« ging daher auch von einer grundsätzlichen Bisexualität des Menschen aus. 24 Zu den Wirkungen einer überwiegend entsexualisierten Deutungsoption Blühers vgl. Jürgen Reulecke: Männerbund versus Familie. Bürgerliche Jugendbewegung und Familie in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: ders.: »Ich möchte einer werden so wie die…« Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001, S. 69–88. 25 Hans Albrecht Stempel: Standort-Bestimmung und Voraus-Schau. Manuskript; AdJb, A 220, Nr. 22.
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Jugendbünden zu schaffen. Später wich man von diesen Plänen ab und Begriff sich eher als eine »Begegnungsstätte der Bündischen Jugend«. 2. Blüher befasst sich in seinen Schriften sowohl mit generationellen als auch mit intergenerationellen Beziehungen: Besonders in seinem Spätwerk »Werke und Tage« beschreibt er im Kapitel »Eros paidikos« homoerotische als auch sexuelle Erfahrungen als Schüler am Steglitzer Gymnasium: »Unter den Gleichaltrigen [!] dagegen waren die erotischen Beziehungen entschieden lebhafter ; hier packte uns der vollentflammte Eros und riß uns durch alle Dunkelheiten mit sich fort«.26 Der Psychologe Ulfried Geuter charakterisierte solche homoerotischen Jugendfreundschaften, die optional mit sexuellen Erlebnissen, meist mutueller Onanie, verbunden sein konnten treffend als »zeitgeschichtliches Adoleszenzphänomen«.27 Hierzu können auch Beziehungen zu wenig älteren, ebenfalls noch jugendlichen Gruppenleitern in den Bünden gerechnet werden. Zugleich fasst Blüher unter Eros paidikos jedoch konkret intergenerationelle erotische wie sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Wandervogelführern zu pubertären Jungen aus der Gruppe, wobei bereits genannter Wilhelm Jansen für Blüher die wiederholt genannte Idealfigur des »Erasten« darstellte – und selbst erst mit knapp 40 Jahren zum Wandervogel stieß. Dass sich diese zwei Ebenen nicht nur in der Theorie, sondern auch im Alltag auf problematische Weise miteinander verbinden konnten, zeigen mehrere Beispiele, bei denen sowohl die Homoerotik innerhalb der Peergroup als auch die Päderastie sexuell ausgelebt wurden: So schätzte ein in den 1950er Jahren in einer Jungenschaftsgruppe sozialisierter Gesprächspartner den dortigen sexuellen Freiraum außerhalb gesetzlicher Schranken, der es ihm als Jugendlichen ermöglichte, eigene Neugier bezüglich der in ihm aufbrechenden Sexualität zu befriedigen.28 Insofern bewertet er noch heute diese Freiräume als etwas positives, zumal er dadurch die Bewusstheit erlangt habe, homosexuell zu empfinden. Andererseits sieht auch er aus der Rückschau ein von Älteren geschaffenes Arrangement mit dem Ziel, diesen sexuelle Kontakte zu Jungen zu ermöglichen. Eine andere Person beschreibt ein ähnliches Setting innerhalb einer Gruppe in den 1970er Jahren, die sich selbst in der Tradition des Nerother Wandervogels begriff. Den dortigen sexuellen Möglichkeitsraum außerhalb gesellschaftlicher Normvorstellungen sieht er aus der Rückschau heraus jedoch ausschließlich negativ. Er habe sich so selbst nicht nur als Betroffener, sondern auch als Mitwisser und Täter begriffen, da er selbst seinen Erinnerungen nach »zweimalige homoerotische Kontakte zu dritt mit zwei Zwölf oder Dreizehnjährigen hatte.«29 26 27 28 29
Hans Blüher : Werke und Tage. Geschichte eines Denkers, München 1953. Geuter : Homosexualität (Anm. 21), S. 284. Gespräch mit einem namentlich bekannten Zeitzeugen, 28. 09. 2016. Schreiben eines namentlich bekannten Zeitzeugen, 21. 05. 2015.
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Hierauf Bezug nehmend berichtet der Zeitzeuge weiter : »Dieses macht es mir bis heute nicht leicht, da ich damals sah, dass diese Jungen dann vom selben Täter, der sich an mir und anderen verging, missbraucht wurden und dieser sich noch bei mir bedankte, dass ich die Jüngeren ›gut eingefahren‹ habe.«30 3. Träger männlicher Gemeinschaft war nach Blüher der »Männerheld«, dessen sexuelle Neigung ausschließlich dem männlichen Geschlecht galt und dessen päderastisches Begehren letztlich die Grundlage von Staatenbildung gewesen sei. So sonderbar Blühers Theorien heute erscheinen mögen, bot die Rezeption des Eros paidikos durch Hans Blüher oder auch Gustav Wyneken eine der wenigen Möglichkeiten, Homosexualität nicht eingebunden in einen Krankheitsdiskurs sondern kulturell zu legitimieren: »Pädagogischer Eros als Notlösung«, wie es der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik treffend beschrieb.31 Dabei mag es sein, dass das Objekt des Eros paidikos im Idealbild der griechischen Antike ausschließlich »Jünglinge« von der Geschlechtsreife bis zum ersten Bartwuchs, also dem Pubertätsalter im engeren Sinn, waren. Auch bei den verschiedenen Rezeptionen im 20. Jahrhundert scheint diese Altersphase zentral, enthielt jedoch stets fließende Übergänge zu jüngeren »Knaben«, also dem, was meist als pädophil oder pädosexuell bezeichnet wird, als auch zu jungen Männern, also dem, was heute meist als homosexuell oder – selten – als Ephebophilie verstanden wird. Noch bis 1969 waren in der Bundesrepublik nach § 175 des Strafgesetzbuches sämtliche gleichgeschlechtlichen männlichen Sexualkontakte als »Unzucht« strafbar, womit der Rückgriff auf antike Erziehungsvorstellungen auch als identitätsstiftendes Angebot innerhalb der männlichen Homosexuellenszenen Relevanz besaß.32 Deutlich zeigt sich dies in den Homosexuellenzeitschriften der frühen 1950er Jahre, die sich selbst als homophile Freundschaftsmagazine begriffen und in denen die Antike als Leitbild deutlich präsent war.33 Auch die Theorien Blühers und Wynekens wurden hier
30 Schreiben eines namentlich bekannten Zeitzeugen, 21. 05. 2015. 31 Micha Brumlik: Sexualisierte Gewalt und Beschämung – vom Missbrauch der Literatur, in: Sabine Andresen, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen, Weinheim 2012, S. 152–163, hier S. 154. 32 Anschaulich zeigt etwa der Bildband von Cecile Beurdeley : L’Amour Bleu. Die homosexuelle Liebe in Kunst und Literatur des Abendlandes, dt. Ausgabe der frz. Erstausgabe Fribourg 1977, Köln 1994, wie Päderastie als kulturstiftend idealisiert werden konnte. Noch heute erscheinen in diesem Sinn in der Reihe »Bibliothek rosa Winkel« Nachdrucke älterer Schriften. Vgl. zudem Nicholas C. Edsall: Toward Stonewall. Homosexuality and Society in the Modern Western World, Charlottesville u. a. 2003, der sich neben der Antikenrezeption auch dem »Cult of Youth« mit Verweis auf die Pfadfinder- und Wandervogelbewegung widmet (S. 153–166). 33 Vgl. Burkhardt Riechers: Freundschaft und Anständigkeit. Leitbilder im Selbstverständnis
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erneut rezipiert und über Personen wie den aus der Deutschen Freischar stammenden Dichter Heinrich Eichen34 oder den bei der Neugründung der Pfadfinder nach 1945 publizistisch in der »Gesellschaft zur Förderung des Pfadfindertums« aktiven Johannes Dörrast35 bestanden Schnittstellen. Bedingt durch die generelle Verfolgung von Homosexualität bis 1969 ist oftmals keine trennscharfe Unterscheidung sexueller Alterspräferenzen möglich.36 Damit konnte auch eine offen sexuell argumentierende Rezeption von Blühers männerbündischem Eros verschiedene Deutungsebenen beinhalten. Über einen Zeitraum von mittlerweile hundert Jahren lassen sich Versuche innerhalb jugendbewegter Alternativkultur rekonstruieren, die unter den stehenden Begriffen Blüherei oder auch Blüherscher Eros Beziehungsformen deuten und legitimieren. Dabei war das, was darunter gefasst werden konnte wie der Erosbegriff selbst äußerst heterogen, konnte vieles beinhalten – und zugleich als Chiffre vieles verbergen.
Wirkungsgeschichten – »Blüherei« nach 1969 Es ist bezeichnend, dass nach der Liberalisierung des Homosexuellenparagraphen 175 StGB 1969 in zwei alternativkulturellen Kontexten eine Blüherrezeption stattfand: In Berlin gründete sich 1970 die Zeitschrift »pikbube« als frühes Organ einer sich aus der Homosexuellenbewegung emanzipierenden Pädophilen- und Päderastenbewegung. Neben direkten Bezügen zur Antike und den Ideen eines »pädagogischen Eros« wurde wiederholt auf die deutschen Jugendbewegung und die Thesen Hans Blühers Bezug genommen und es wurden ausgehend vom »Hans Blüher Archiv« Auszüge aus dessen Schriften neu abgedruckt. Deutlich fand hier eine Funktionalisierung zum Zweck der Legitimation sexueller Kontakte zu Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen statt. Zugleich förderte das »Hans Blüher Archiv« die Beschäftigung mit Blühers männlicher Homosexueller in der frühen Bundesrepublik, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 1999, 1. Jg., S. 12–46, zur Antikenrezeption insbes. S. 30ff. 34 Heinrich Eichen publizierte in der Zeitschrift »Der Kreis« unter dem Pseudonym »Heinz Birken«. Nach der Gesetzesänderung des § 175 StGB veröffentlichte Eichen auch unter selbigem Pseudonym in verschiedenen Publikationen der sich formierenden sogenannten Pädophilenbewegung. 35 Johannes Dörrast war in den 1950er Jahren Herausgeber verschiedener homophiler Magazine, etwa »Die Freunde«, »freond« und »Vox. Stimme freier Menschen«. 36 Beispielhaft können hier die früheren jugendbewegten Jugendgruppenleiter Heinz Dörmer und Erhard Günzler genannt werden, die sich beide der Homosexuellenbewegung zugehörig verstanden, dabei jedoch intergenerationelle Sexualkontakte zu Jugendlichen, aber auch Frühpubertären und jungen Erwachsenen bevorzugten und sich dabei explizit auf einen pädagogischen Eros beriefen. Vgl. mit weiteren Literaturangaben Reiß: Eros (Anm. 9) S. 182ff.
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Deutungen durch posthume Abdrucke in den jugendbewegten Zeitschriften »Stichwort« und »Eisbrecher«. Auch dort wurde so mit Blüher seit den frühen 1970er Jahren erneut direkt auf den Eros paidikos Bezug genommen: »Der Wandervogel ist ein erotische Phänomen und kann nichts anderes sein: eine Wiederbelebung der antiken Päderastie in ihrem ganzen seelischen Ausmaß, die eben deshalb gar nicht untergehen kann, weil sie eine ›natürliche Grundkraft des Menschen‹ (Benedikt Friedländer) ist.«37 Jedoch waren die Blüherrezeption und der »Knabenkult« in den jugendbewegten Zeitschriften seit den 1970er Jahren nie unumstritten, wie besonders die regelmäßig dazu abgedruckten Leserbriefe verdeutlichen.38 Dass sich über Blüher legitimierende Sexualkontakte und Homophobie nicht ausschließen müssen, zeigt ein Interview mit Wolf Heribert Flemming als früherem Mitarbeiter des »Hans Blüher Archivs« in der jugendbewegten Zeitschrift »Eisbrecher« aus dem Jahr 1982, in der er die »bündische Erotik« (die nach Flemming durchaus sexuell sein konnte) streng von einer »pathologischen Homosexualität« unterschieden wissen wollte und dabei auf Blüher selbst verwies, der sich gegen die Vereinnahmung seiner Schrift durch »Entartete« verwehrt habe.39 Überschneidungen zwischen der sich formierenden Pädophilen- und Päderastenszene, die sich selbst auch als »Boylover« bezeichneten, und den durch die gesellschaftlichen Umbrüche der späten 1960er Jahre personell stark geschwächten Jugendbünden in der Tradition der deutschen Jugendbewegung gab es nicht nur über gemeinsame Blüher-Rezeptionen. Besonders die überbündische Zeitschrift »Eisbrecher« widmete sich seit den 1970er Jahren vermehrt einer Idealisierung von erotischen Jungen- und Männergemeinschaften und »sinnlicher Knabenfotografie«. Scheinbar unverfängliche Bilder wie das Titelbild eines wassertrinkenden »Pimpfen« im »Eisbrecher« 61 bekommen eine andere Deutungsebene, wenn man dieselbe Aufnahme in der Zeitschrift »pikbube« abgedruckt sieht, als Werbung für ein neues Knabenfotomagazin »peter« mit der Werbebotschaft: »Da bleibt kein Glied trocken«.40 Deutlich wird der gewandelte gesellschaftliche Kontext, der geprägt war durch weitgehende sexuelle Liberalisierungsprozesse und eine junge Generation, die spätestens seit der Einführung der »Pille« in den 1960er Jahren eine freiere Sexualität ohne Rechtfertigungs-
37 Hans Blüher: Die Rolle des Eros in der Jugendbewegung. Aus dem Nachlass abgedruckt in: Stichwort, 1972, H. 2, S. 57–62, hier S. 57. 38 Vgl. dazu im Kontext szeneinterner Aufarbeitung Florian Weghorn: »Sechs deutsche Pfadfinder schwimmen hüllenlos in der Ostsee«. Ein kritischer Blick in alte Eisbrecherhefte, in: Stichwort, 2016, H. 2, S. 50–55. 39 Hans Blüher : Fragen und Klärungen. Interview mit dem Hans Blüher Archiv, Wolf Heribert Flemming, in: Eisbrecher, 1982, Nr. 99, S. 136–138, hier S. 137. 40 Werbung für das Magazin Peter im Sagittar-Verlag, in: Pikbube, [1970/71], H. 3, S. 27.
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zwänge postulierte41 – Zwänge, die bei päderastisch begehrenden Männern fortbestanden, gleichwohl sich neben der Legitimation über die Antike neue Möglichkeiten ergaben, die deutlich intensiver auch hedonistische Sexualität thematisieren konnten, etwa wenn man sich als Anwalt einer freien Kinder- und Jugendsexualität begriff.42 1993 veröffentlichte der von 1975 bis 1982 als Chefredakteur des »Eisbrecher« tätige, zu diesem Zeitpunkt knapp 50-jährige Joachim M. sein Verständnis vom tieferen Wesen bündischer Gruppen. Es sei das Wiedererleben des Eros paidikos als eines »heidnischen«, nicht durch den alternden Platon »entmenschten« Eros durch die Bünde der Jugendbewegung »im Zwielicht des verdämmernden Zeitalters der christlichen Fische« durch »Schwärme von päderastietrunkenen Kriegern und Knappen« in »Hoffnung auf den Anbruch eines neuen Weltentages«43. Selten wurden in der jugendbewegten Öffentlichkeit, zwar immer noch leicht chiffriert aber doch derart offen, mit einem solchen Pathos sexuelle Kontakte Erwachsener zu Jungen als jugendbewegtes Leitbild idealisiert. Es sei »typisch für eine Ausrichtung, wie man sie gerade in den Bünden findet«, wie die einleitende Rechtfertigung des Abdruckes jenes Beitrags im Themenheft »Homosexualität« der jugendbewegten Älterenzeitschrift »Stichwort« 1993 lautete. Doch 1982 musste der Schriftleiter wegen »Aktionen zugunsten einer Minderheit im Sinne des Blüher Eros«44 sein Amt abgeben. Er hatte sich in Rundschreiben für zwei wegen sexueller Kontakte zu Jungen angeklagter Bündischer und für eine Resolution der Humanistischen Union zur Abschaffung weiter Teile des Sexualstrafrechts engagiert.45 1987 schrieb dieser zum »Eros blüh8rien« in 41 Vgl. Franz X. Eder u. a. (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015. 42 Beispielhaft zeigt hingegen der 1981 von der Schwulen Buchhandlung Prinz Eisenherz und dem Buchversand Enfants terribles erstellte und herausgegebene Literaturkatalog »Die Liebe zum Knaben«, wie auch innerhalb einer progressiv-radikalliberal argumentierenden Szene die Legitimation über antike Päderastie weiterhin eine hohe Bedeutung besaß, ebenso der Rückgriff auf Hans Blüher, Gustav Wyneken, die Gemeinschaft der Eigenen und den Wandervogel. 43 Alle Zitate aus: Joachim M.: Jenseits des Tales – Bündische Jugend und Homoerotik, in: Stichwort, 1993, H. 3, S. 7–9. 44 Die Buschtrommel. Bündischer Anzeiger für Eisbrecher- und Stichwort-Leser, 1983, H. 3, S. 1. 45 Die entsprechenden Rundbriefe liegen im AdJb, Sammlung Homosexualität und Pädophilie (unverzeichnet). Auch andere Jugendbewegte engagierten sich zu dieser Zeit politisch in diesem Sinn sowohl bei der Humanistischen Union als auch innerhalb der Partei Die Grünen bzw. der Berliner Alternativen Liste. Vgl. dazu etwa Bündnis 90/Die Grünen Landesverband Berlin (2015). Kommission zur Aufarbeitung der Haltung des Landesverbandes Berlin von Bündnis 90/ DIE GRÜNEN zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder von der Gründungsphase bis in die 1990er Jahre: Bericht und Handlungsempfehlungen, verfügbar unter : http://gruene-berlin.de/sites/gruene-berlin.de/files/benutzer/henriette.kluge/bericht _komm_aufarbeitung_gruene_berlin_.pdf [06. 04. 2017].
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der Jugendbewegung in der französischen Zeitschrift »gaie france«, einem der französischen »Neuen Rechten« zugerechneten Gay- und Boylovermagazin, in dem auch Hans Heribert Flemming vom früheren Hans Blüher Archiv unter Pseudonym schrieb.46 Zudem wurde Joachim M. festes Redaktionsmitglied in der seit 1985 erscheinenden Zeitschrift »philius. Magazin für Pädophile« und unterhielt dort eine Rubrik, welche sich der »Knabenliebe in der Kulturgeschichte« widmete. Der Herausgeber dieser seinerzeit einzigen deutschsprachigen Pädosexuellenzeitschrift stammte aus einer jugendbewegten Gruppierung in Berlin, die sich in der Tradition des Nerother Wandervogels verstand, von diesem heute noch bestehenden Bund jedoch scharf abgelehnt wurde. Zeitzeugenberichten und gerichtlichen Verurteilungen nach gehörten dort über Jahre hinweg sexuelle Kontakte Erwachsener zu Kindern und Jugendlichen zur Alltagskultur, die sich über eine stark antibürgerlich-radikalliberale Haltung legitimierte. Nicht »pädagogischer Eros«, sondern »sexuelle Befreiung« diente hier – ganz im Sinne der Zeit – der Legitimation.47 Standen mit Sicherheit die wenigsten in der Jugendbewegung aktiven Personen mit der Pädophilenszene in Kontakt, ergibt die Perspektive auf diese und auf deren Umfeld ein anderes Bild, auf das in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden kann.
Männliche Identitätssuche und Missbrauch Zweifelsfrei spielte Eros gerade in den männerbündischen Gruppierungen der deutschen Jugendbewegung eine Rolle. Dass die Thematik auch gegenwärtig für einige Bünde noch Relevanz besitzt, zeigt der Bericht über eine Gesprächsrunde im Rahmen des Meißnerlagers der Jugendbünde 2013: Unter der Überschrift »Kameradschaft, Liebe, Freundschaft in den Bünden« war es der schlüssige Versuch, sich dem Kern jugendbewegter Gemeinschaften zu nähern.48 Neben dem Hinweis auf Gefahren des Missbrauchs von Abhängigkeiten wurden erneut bekannte Narrative ausgebreitet: Eros paidikos, pädagogischer Eros und die Freundesliebe, die Vorstellung, dass die Jugendbewegung die »Urform der Gemeinschaft« wiederentdeckt habe, jugendliche Wünsche nach körperlicher Nähe und die Gefahren einer »Dämonisierung« des Eros durch die Gesellschaft. Die relevante Frage nach dem besonderen Gehalt jugendbewegt-bündischer 46 Joachim M.: L’Eros blüh8rien dans le mouvement allemand de la jeunesse, in: Gaie France, 1987/88, H. 8, S. 25–29, Internetfassung: o. A.: Blüher, 2007, verfügbar unter : http://vouloir. hautetfort.com/archives/2007/week18/index-1.html [06. 04. 2017]. 47 Vgl. zu dieser Berliner Szene den Aufarbeitungsbericht der Berliner Grünen (Anm. 45). 48 Vgl. Frederic: Bündische Streitwerkstatt »Kameradschaft, Liebe, Freundschaft in den Bünden«, 2013, verfügbar unter : http://meissner-2013.de/dokumentation/forum-mitte/b%C3% BCndische-streitwerkstatt [08. 04. 2017].
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Beziehungen blieb so an dieser Stelle geprägt von einer »verhängnisvollen Blickverengung«49 durch die »«platonische Erblast»50 und die Wirkmächtigkeit der Theorien Blühers, wie es die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter für den allgemeinen Diskurs um »pädagogische Liebe« aufgrund der oftmaligen Gleichsetzung mit Eros konstatierte. Die mit dem Eros verbundenen semantischen Felder sind im jugendbewegten Kontext vielfältig und reichen von tiefen Jugend- und Männerfreundschaften, wie sie als Phänomen in jüngster Zeit auch unter dem Begriff »Bromance« diskutiert werden, bis zur Ausnutzung von Machtstrukturen für die Befriedigung eigenen sexuellen Begehrens. Wie schmal dieser Grat in der Realität sein konnte, verdeutlichen verschiedene Gerichtsprozesse und Erinnerungen von Personen, die emotionale Abhängigkeiten, sexuelle Annäherungen und Übergriffe durch geschätzte und »charismatische Jugendführer« erfuhren.51 Durch die Rekonstruktion von Bedeutungszusammenhängen werden spezifische jugendbewegte Eigenlogiken sichtbar, die zur Legitimation sexueller Kontakte von Erwachsenen zu pubertären Jugendlichen nutzbar gemacht werden konnten und können. Vielleicht ermöglicht die Dekonstruktion dieser Legitimationsstrategien eine Sensibilisierung im Sinne künftiger Präventionsarbeit.
49 Sabine Seichter : Eros und Politik. Von Blüher zu Platon und retour, in: Elmar Drieschner, Detlef Gaus (Hg.): Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung, Wiesbaden 2011, S. 75–84, hier S. 75. 50 Ebd., S. 75. 51 Etwa Nele Glöer, Irmgard Schmiedeskamp-Böhler : Verlorene Kindheit. Jungen als Opfer sexueller Gewalt, München 1990 sowie Füller: Revolution (Anm. 5), S. 94f. u. 101ff.
Uwe Puschner
Mit Vollkornbrot und Nacktheit – Arbeit am völkischen Körper. Gustav Simons und Richard Ungewitter – Lebensreformer und völkische Weltanschauungsagenten
Gustav Simons und Richard Ungewitter sind Völkische der ersten Stunde. Beider Lebensweg ist auf das engste mit der im Übergang zum 20. Jahrhundert Fahrt aufnehmenden völkischen Bewegung verbunden. Beide sind zugleich prominente Exponenten ihres lebensreformerischen Flügels wie auch der Lebensreformbewegung.1 Simons erlangte Bekanntheit als Ernährungsreformer, namentlich als Brotreformer, Ungewitter als Prophet der Nacktkultur.2 Beider Reformagenda stand auf dem Boden und im Dienst der völkischen Weltanschauung. Wie alle völkischen Parteigänger wollten sie »den ›Volkskörper‹ regenerieren«, wobei sie in der Überzeugung, dass »Volksgesundheit […] der Völker Fundament [ist]«,3 mit ihrem ebenso reformerischen wie reformatorischen Eifer bei der »Regeneration des Körpers« und damit im Gefolge des lebensreformerischen Paradigmas von der voraussetzungslosen Selbstreform beim Einzelnen ansetzten.4 Ihr erklärtes, von allen Völkischen verfolgtes Ziel, 1 Zu beiden Bewegungen s. Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, sowie Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017; zu den Beziehungen Uwe Puschner : Lebensreform und völkische Weltanschauung, in: Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst in der Moderne, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 175–178. 2 Zum kontextuellen Umfeld s. Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. u. a. 1996; Maren Möhring: Körperbilder der deutschen Nacktkultur (1890–1930) (Kölner Historische Abhandlungen 42), Köln u. a. 2004; Bernd Wedemeyer-Kolwe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, sowie ders.: Aufbruch, S. 45–69 u. S. 92–123. 3 Gustav Simons: Ernährung. »Zur Lösung der Brotfrage«, in: Der Naturarzt, 1901, Nr. 29, S. 114–116, hier S. 116. 4 Justus H. Ulbricht: »Bünde Deutscher Lichtkämpfer«. Lebensreform und völkische Bewegung, in: Buchholz: Lebensreform (Anm. 1), S. 425–428, hier S. 426; hierzu auch Cornelia KloseLewerentz: Der »ideale Körper« und seine »Herstellung« – Körperdiskurse der Lebensreformbewegung zwischen Utopie und Normativität, in: Marc Cluet, Catherine Repussard (Hg.): »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht. La dynamique sociale de l’impuissance politique, Tübingen 2013, S. 147–159. Zum Selbstreform-Paradigma s. Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 1), S. 23; zum Kontext Sebastian Weinert: Der Körper im
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dem sich u. a. auch der 1902 gegründete »Deutsche Bund für Regeneration« des Arztes Alfred Damm verschrieben hatte und dem Simons angehörte,5 war »die rassische, körperlich-gesundheitliche (konstitutionelle), sittliche, geistige und seelische Erneuerung des deutschen Menschen auf germanischer Grundlage«.6 Simons und Ungewitter sind nicht nur ideologisch prototypische Vertreter der völkischen Bewegung. In den 1860er Jahren – Simons 1861, Ungewitter 1868 – geboren, repräsentieren beide einerseits jene Generation, »die seit den neunziger Jahren auf das Leben Deutschlands einzuwirken begann« und »sehr empfänglich für diese [seinerzeitig charakteristische] Revolution des Geistes« war,7 und andererseits die Gründergeneration der völkischen Bewegung, deren Sozialisation in der Bismarckära erfolgte und die vom Nationalismus mit seinen inkludierenden und vor allem exkludierenden Paradigmen gleichermaßen geprägt war wie von der als bedrohlich empfundenen (sich beschleunigt herausbildenden) Industriegesellschaft. Simons hatte, wie es ein Nachruf der Edener Siedler 1914 formuliert, den »Industrialismus mit allen Folgen […] in der industriellen Hochburg Englands, in Manchester, kennen[gelernt], wo er durch einige Jugend-Jahre arbeitete« und wo er – wie später von dem von ihm zum messianischen »Held[en]« stilisierten Silvio Gesell (1862–1930) und dessen Freiland-Freigeld-Theorie – nachhaltig von den Lehren des amerikanischen Sozialreformers Henry George (1839–1897), die großen Einfluss auf die deutsche Bodenreformbewegung erlangten, beeinflusst wurde.8 In ihrem sozialen Herkommen, im Fall von Simons aus »einer Jahrhunderte alten Niedersachsenfa-
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Blick. Gesundheitsausstellungen vom späten Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 50), Berlin u. a. 2017, besonders S. 221–369. Zum Bund und Simons Mitgliedschaft s. Uwe Puschner : Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001, S. 165f., S. 168 und S. 171, sowie hierzu insbesondere Gustav Simons: Das Gesamtbild deutscher Erneuerungs-Bestrebungen. Ein Leitfaden für alle Reformer besonders für Führer, Oranienburg-Berlin 1913, S. 61–63. [Richard Ungewitter]: Die Loge des aufsteigenden Lebens, in: Ders. (Hg.): Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen, Stuttgart 1919, S. 467f., hier S. 467. Friedrich Meinecke: Drei Genrationen deutscher Gelehrtenpolitik. Friedrich Theodor Vischer, Gustav Schmoller, Max Weber [1922], in: Hans Herzfeld u. a. (Hg.): Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 9, Stuttgart 1979, S. 476–505, hier S. 495. [Nachruf] Gustav Simons, in: Edener Mitteilungen, 1914, Nr. 9, S. 48. Zu Simons GesellRezeption s. Simons: Gesamtbild (Anm. 5), S. 72–79, sowie ders.: Volkswirtschaft und Volksgesundheit, in: Hamburgische Monatsschrift. Norddeutsche Monatshefte, 1914, Heft 1, S. 231–237, hier S. 235, u. ders.: Unsere Volkswirtschaft gemeinschädlich heute, gemeinnützig in Zukunft (Erstes der vier Bücher des Deutschen Kulturbundes), Oranienburg o. J. [1915], S. 17, S. 32–38, zu Simons Rezeption von Gesell u. George s. Gustav Simons: Die soziale Frage und eine deutsche Antwort, Küstrin-Neustadt 1906, S. 38–51; Simons beruft sich ferner auf Eugen Dühring, Eduard Baltzer sowie auf Franz Hermann Schulze-Delitzsch, zu Gesell s. Werner Onken: Freiland – Freigeld, in: Diethard Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal, 1998, S. 277–288.
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milie auf Westfalens Erde« aus dem Raum Soest und von Ungewitter aus einer in Artern, einer Kleinstadt nahe Halle, eingesessenen Handwerkerfamilie,9 entsprechen beide völkische Weltanschauungsarchitekten zudem dem mittelständischen und – mit Blick auf die Führungsebene – ländlich-kleinstädtischen Herkunftsprofil der völkischen Mehrheit. In etwa zeitgleich um 1900 wurden Simons und Ungewitter vom zeitgenössischen »Reformvirus« infiziert und fanden zu ihrer lebensreformerischen Berufung,10 Simons nach einer nicht näher bezeichneten Betriebsleitertätigkeit im russischen Zarenreich und darauffolgendem Dienst im preußischen Heer im Rang eines Artillerieleutnants, Ungewitter nach einer Gärtnerlehre, mit seinem Umzug nach Stuttgart, dem lebenslangen Wohnort bis zum Tod 1958, und infolge einer Erkrankung seiner Frau, die ihn zur Beschäftigung mit der Naturheilkunde und lebensreformerischen Forderungen führte.11 Beide lebten fortan konsequent ihre lebensreformerische Überzeugung. Für Simons und Ungewitter hieß dies insbesondere eine abstinente und vegetarische Lebensführung. Tabak und Alkohol, zudem Kaffee, Zucker, Tee, Kakao, Schokolade, Weißbrot und Kuchen, aber auch die Schulmedizin, Impfungen und nicht zuletzt auch das Korsett galten ihnen als »Sterbemittel«.12 Ungewitter berichtet mit dem ihm eigenen missionarischen Sendungsbewusstsein 1906 über seine »Lebensweise«, er »habe […] im Jahr 1899 das Rauchen aufgegeben, ohne erst die schädlichen Folgen abzuwarten. Seit 1900 lebe ich alkohol-abstinent, seit 1901 vegetarisch, also von Gemüsen, Mehl- und Eierspeisen, Brot und Milch, sowie deren Produkte und Obst. Seit 1902 vermeide ich die nervenerregenden Getränke Kaffee und Tee. Vom Februar 1904 an vermied ich die gekochten, weil dadurch entwerteten Speisen, seit 1905 auch die Milch als zu ›eiweißreich‹. Seitdem lebe ich ausschließlich von frischem Obst (im Winter von nach ›Weck‹ frischgehaltenem), sowie von Nüssen, Datteln, Feigen, Rosinen und Simonsbrot, bin also Fruchtesser oder ›Rohköstler‹ geworden. Selten genieße ich noch Butter, milden Käse, öfter Kuchen. (Diese Rohkost […] ist nur möglich bei genügender Bewegung und ausgiebigem Nacktleben […].) Früher nicht gerade krank, hielt ich mich dennoch für gesund, muß aber heute bekennen, daß diese Gesundheit keine vollkommene, sondern eine eingebildete war, denn das Gefühl der Gesundheit stieg fortlaufend mit der Vereinfachung der Lebensweise und hat sich zu einer Gesundheitsfreudigkeit entwickelt, die ein Gefühl ›unbedingter‹ Gesundheit erzeugt und 9 Nachruf (Anm. 8), S. 48; der Lebensweg von Simons kann im Wesentlichen nur aus dem Edener Nachruf nachgezeichnet werden. Zu Ungewitter, auch im Folgenden, s. Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 26, Berlin 2016, S. 642f., u. Andreas Schmölling: Lebensspuren eines Lichtkämpfers. Aus Schaffen und Werk von Richard Ungewitter (1868–1958). Lebensreformer und Pionier der Freikörperkultur, in: Aratora. Zeitschrift des Vereins Heimatkunde, Geschichte und Schutz von Artern, 2002, Nr. 12 , S. 16–49. 10 Oliver Prange: Das Sonnenfest. Roman, Zürich 2016, S. 69. 11 Richard Ungewitter : Mein Lebensgang, in: Reform-Rundschau, 1937, Nr. 12, S. 204. 12 Gustav Simons: Volksernährung und Volksgesundheit. Ein Beitrag zur Volksaufklärung, Soest 1904, S. 10–18 u. 36, hier S. 10.
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zweifellos den Höhepunkt darstellt. Schon seit drei Jahren habe ich nicht die geringste Unpäßlichkeit […] empfunden und ist meine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit außerordentlich gestiegen. Daß ich neben allmorgendlicher Ganzwaschung (ohne Seife, die ich schon seit Jahren nicht an meine Haut bringe mit Ausnahme der Hände und Füße) fleißig Luft- und Sonnenbäder nehme, Gymnastik treibe […], wurde […] schon erwähnt. Unterkleider und Strümpfe trage ich nie, nur Hemd, Hose, Weste (im Sommer ohne letztere), Rock, Stiefel, alles porös und huldige zu Hause der Kleiderlosigkeit […]. Und daß bei dieser besonders eiweißarmen Ernährung der Körper vortrefflich gedeiht, zeigen die verschiedenen Abbildungen. Bei dieser spartanischen Lebensweise entbehre ich nicht das geringste, im Gegenteil, sie bereitet mir durch vollkommene Gesundheit höchsten Lebensgenuß […].«13
Zeitgleich um 1900 kamen Simons und Ungewitter mit der jungen völkischen Bewegung in Berührung, zu der sie wie viele von deren Parteigängern über den (organisierten) Antisemitismus gelangten. Ungewitter war 1894 in die antisemitische »Deutsch-Soziale Partei« eingetreten, Simons gehörte dem aus Ernst Henricis (1864–1915) kurzlebiger »Sozialer Reichspartei« hervorgegangenen sozialaristokratischen »Sozialitären Bund« an und wurde, obwohl sonst weitgehend in Vergessenheit geraten, noch Jahrzehnte nach seinem frühen Tod von der antisemitischen Geschichtsschreibung als Gewährsmann ins Feld geführt, wenn es darum ging, die Etablierung des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg zu untermauern.14 Der für die völkische Weltanschauung konstitutive Antisemitismus ist ein wesentliches Begründungselement für beider völkisch-lebensreformerisches, rassisch fundiertes Regenerationsprogramm,15 wonach »[g]anz insbesondere […] dem deutschen Geblüt die andauernde Mischung mit dem semitischen Blute schlecht bekommen [ist]. […] Der recht verstandene Antisemitismus ist das erste Anzeichen der Selbstbesinnung der Deutschen auf sich selbst und auf das, was sie ihrem Volkstum schuldig sind.«16 Unter Rückgriff auf das Arsenal des völkischen Rassenantisemitismus formulierte Ungewitter, der folgerichtig auch Mitglied im »Reichshammerbund« (gegr. 1912), im »Verband gegen die Überhebung des Judentums« (gegr. 1912) und im »Deutschvölkischen Schutz13 Richard Ungewitter : Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung, Stuttgart 1909, hier S. 104. 14 Werner Bergmann: Völkischer Antisemitismus im Kaiserreich, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München u. a. 1996, S. 449–463, hier S. 452, u. Willi Buch: 50 Jahre antisemitische Bewegung. Beiträge zu ihrer Geschichte, München 1937, S. 60 u. S. 27. 15 Uwe Puschner : Völkischer Antisemitismus, in: ders., Ernst Baltrusch (Hg.): Jüdische Lebenswelten. Von der Antike bis zur Gegenwart (Zivilisationen & Geschichte 40), Frankfurt a. M. u. a. 2016, S. 267–283. 16 Gustav Simons: Unsere Volksgesundheit, die gefährdete von heute, die gehobene in Zukunft (Zweites der vier Bücher des Deutschen Kulturbundes), Oranienburg-Eden o. J. [1915], S. 18; Richard Ungewitter : Unsere rassische Grundlage, o. O. u. J. [Stuttgart 1920].
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und Trutzbund« (gegr. 1919) war,17 unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die Alternative »Rettung oder Untergang des deutschen Volkes«, forderte das Zustandekommen einer »Einheitsfront aller deutscher Männer« (unter Führung der von ihm später mit Distanz begegneten NSDAP) und gab die Parole »Aus der Judenknechtschaft zur Freiheit empor!« aus.18 Infolge der losen Struktur der völkischen Bewegung spielte die Vernetzung ihrer zahlreichen ebenso unterschiedlich organisierten wie mitgliederstarken Vereinigungen und mit ihren überdies verschiedenen weltanschaulichen Anliegen eine Schlüsselrolle. Ein Großteil der völkischen Protagonisten, namentlich die Weltanschauungsproduzenten und -multiplikatoren, gehörte deshalb mehreren Organisationen an, stellte auf diesem Weg die personellen wie institutionellen Verbindungen zwischen den Teilbewegungen und ihren Einzelvereinigungen her und sorgte vor allem als Ideologie-Mittler für die völkische Ideenzirkulation. Simons und Ungewitter publizierten unablässig im üppigen völkischen Blätterwald und sie unterhielten eigene Periodika, Ungewitter die 1914 aus den »Vertraulichen Mitteilungen« der »Loge des aufsteigenden Lebens« hervorgegangene und bis 1933 erscheinende Zeitschrift »Aufsteigendes Leben«, Simons die »Deutsche Kultur«, die er 1914 mit der 1905 gegründeten Zeitschrift »Neues Leben« fusionierte und die nach seinem Tod von dem im eigenen Lager umstrittenen, aber nicht minder streitbaren völkischen Multifunktionär Ernst Hunkel (1885–1938) weitergeführt und jugendbewegt-deutschgläubig ausgerichtet wurde.19 Simons und Ungewitter sind typische völkische Vereinsmenschen. Abgesehen von den genannten Organisationen gehörten – zumindest temporär – beide dem vornehmlich antisemitisch ausgerichteten »Deutschvölkischen Schriftstellerverband« (gegr. 1910) an, ferner in der nicht minder antisemitischen völkischreligiösen Teilbewegung mit der »Guido-von-Listgesellschaft« (gegr. 1907) und dem »Ordo Novi Templi« (1900) Jörg Lanz von Liebenfels’ (i. e. Adolf Lanz) zwei ariosophischen (und mithin esoterischen) Vereinigungen und mit der »Germanischen Glaubens-Gemeinschaft« (gegr. 1912/13) – Simons auch deren Vorläuferorganisation, dem »Deutschen Bund für Persönlichkeitskultur« (gegr. 1908) – dem neuheidnischen Lager, wobei Simons zudem auch Mitglied im deutsch17 Zu den Organisationen s. Uwe Lohalm: Reichshammerbund, Johannes Leicht: Verband gegen die Überhebung des Judentums, sowie Björn Hofmeister : Deutschvölkischer Schutzund Trutzbund, alle in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Bd. 5, Berlin u. a. 2012, S. 211–213, S. 517–519 u. S. 624f. 18 Richard Ungewitter : Aus der Judenknechtschaft zur Freiheit empor! (Rettung oder [den] Untergang des deutschen Volkes), Stuttgart 1923, Titelzitate u. S. 34; ders.: Rassenverschlechterung durch Juda, o. O. u. J. [Stuttgart 1919]. 19 Zu Simons Zeitschriftenprojekten s. Justus H. Ulbricht: Das völkische Verlagswesen im deutschen Kaiserreich, in: Puschner : Handbuch (Anm. 14), S. 277–301, hier S. 294.
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gläubig orientierten »Deutschen Orden« (gegr. 1911) und Ungewitter in der »Deutschgläubigen Gemeinschaft« (gegr. 1911) war. Während Ungewitter des Weiteren dem »Deutschbund« (gegr. 1894), dem Flaggschiff der völkischen Bewegung, sowie seinen nacktkulturellen Obsessionen folgend der in Berlin ansässigen sexualreligiösen und leistungsaristokratischen »Nacktloge A.N.N.A.« (i. e. »Aristokratische Nudo-Natio Allianz«) (gegr. 1906) des Ariosophen Max Ferdinand Sebaldt (1859–1916) und Karl Vanselows (1876–1959) »Vereinigung für Sexualreform« (gegr. 1905) angehörte, ist Simons Mitgliedschaft im »Jungdeutschen Bund« (seit 1901, zuvor »Wartburgbund«, gegr. 1894) belegt.20 Ungewitter hatte 1908 mit der »Loge des aufsteigenden Lebens« (seit 1919 »Treubund für aufsteigendes Leben«) eine eigene Organisation zur Popularisierung und Verwirklichung seiner völkisch-lebensreformerischen Agenda gegründet, die dem nur für Teile ihres Spektrums zutreffenden Urteil eines Zeitgenossen zufolge zeige, dass »die völkische Bewegung […] die Nacktheit in ihren Dienst gestellt [hat]«.21 Deren Anhänger waren in Hinsicht sexueller und freizügiger Körper- und Geschlechtervorstellungen und -praktiken mehrheitlich traditionellen bürgerlich-konservativen Werten und Normen verpflichtet. Sie hätten Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß (1865–1920), dem Herausgeber der konservativen radikalprotestantischen und -nationalistischen Kulturzeitschrift »Türmer«, in der auch Akteure der völkischen Bewegung aus der Abteilung Kultur ihr Gedankengut entfalten konnten, beifällig zugestimmt, bei dem nämlich »der bloße Name ›Nacktkultur‹ […], so oft ich ihn ernsthaft aussprechen höre, einen unwiderstehlichen Lachreiz aus[löst]. Sollte man es für möglich halten, daß an der 20 Zu den aufgeführten und weiteren Mitgliedschaften s. Puschner : Bewegung (Anm. 5), S. 168 (Simons), zu Ungewitter Uwe Schneider: Nacktkultur im Kaiserreich, in: Puschner : Handbuch, S. 411–435, hier S. 429f., Schmölling, bes. S. 31f., Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 2), S. 206–211, zu beiden ferner Gregor Hufenreuter : Philipp Stauff. Ideologe, Agitator und Organisator im völkischen Netzwerk des Wilhelminischen Kaiserreichs. Zur Geschichte des Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes, des Germanen-Ordens und der Guido-von-List-Gesellschaft (Zivilisationen und Geschichte 10), Frankfurt a. M. u. a. 2011, bes. S. 72, S. 164, S. 181 u. S. 201. Zum Deutschvölkischen Schriftstellerverband s. Hufenreuter: Stauff (Anm. 18), S. 66–133, u. ders.: Deutschvölkischer Schriftstellerverband, in: Benz: Handbuch (Anm. 17), S. 209f., zu den genannten völkischreligiösen Gemeinschaften Jörn Meyers: Religiöse Reformvorstellungen als Krisensymptom? Ideologie, Gemeinschaften und Entwürfe »arteigener Religion« (1871–1945), Frankfurt a. M. u. a. 2012, zu Deutschbund u. Wartburgbund incl. Jungdeutschem Bund Gregor Hufenreuter : Deutschbund, u. Stefan Noack: Wartburgbund, beide in: Benz: Handbuch (Anm. 17), S. 131–133 u. S. 642–644, zur Nacktloge u. Vereinigung für Sexualreform Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 2), S. 201–203. 21 [Oskar Stillich]: Deutschvölkischer Katechismus, H. 2: Völkische Organisationen. Parteien, Vereine, Verbände, Orden. Von einem deutschen Hochschullehrer, Leipzig 1931, hier S. 155. Zum Treubund s. Bernd Wedemeyer-Kolwe: Treubund für aufsteigendes Leben, in: Benz: Handbuch (Anm. 17), S. 601f.
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dergleichen wirklich geglaubt wird? Daß es wirklich Leute gibt, die in der Entblößung ihres Körpers bloß um der Entblößung willen eine ›Kulturaufgabe‹, in der gemeinsamen Propaganda für diese ›Aufgabe‹ eine ›Vereinigung für ideale Kultur‹ erblicken? Und doch hat sich ein so benannter Verein in der deutschen Reichshauptstadt aufgetan, der keine anderen ›Zwecke‹ verfolgt, als eben diese. Und doch gibt es eine große Reihe von ›Nacktlogen‹ in Berlin und in der Provinz, in denen, wie glaubwürdig berichtet wird, die Mitglieder, Männlein und Weiblein, verheiratet oder ledig, in puris naturalibus miteinander verkehren und allerlei Spiele und Scherze treiben. Vereine, zu denen auch Gäste zugelassen werden, nachdem sie den Garderobenfrauen Hemd und Unterhosen abgeliefert haben. Hier soll sich, wie es in einer Denkschrift hieß, daß Mysterium der Dreieinigkeit von Mann, Weib und Kind zugleich als ewiger Rhythmus von Sexualästhetik und Sexualreligion offenbaren.«22
Während die völkische Mehrheit dementsprechend zur Nacktkultur große Distanz hielt, drang mit Hilfe von Protagonisten wie Ungewitter das Völkische und das für diese obligatorische Hakenkreuz in die Nacktkulturbewegung ein,23 wie ein wacher Zeitgenosse beobachtet: »Die Nacktkultur beschränkte sich für ihre Anhänger in den meisten Fällen nicht auf das Sonnenbad, sondern verband sich mit einer Art Sonnenanbetung, die mehr oder weniger metaphorische Züge annahm und mit mystischem Vegetarismus, uralten germanischen Runen oder ähnlich pseudo-religiösem Gedankengut verbrämt wurde.«24 Drei Jahre nach Ungewitter, im Oktober 1911, gründete Simons in der nahe Berlin gelegenen »Obstbaukolonie Eden«, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte und im September 1914 an Schwindsucht verstarb, mit dem »Deutschen Kulturbund« seine eigene, wenig erfolgreiche agitatorische Plattform. Mit ihr verband Simons, der auch als ihr »Bundesredner« firmierte,25 die vergebliche, schon seit Jahren verfolgte Hoffnung, die »Einzelgruppen aller Reformer in ihren Führern zu einem großen geistigen Generalstab des deutschen Volkes« zusammenzuschließen, die »Reformen auf allen Hauptgebieten menschlicher Betätigung« koordinierend zusammenzufassen und damit Präsenz und Schlagkraft der völkischen Fraktion in den verschiedenen Reformbewegungen und in der deutschen Gesellschaft zu erhöhen.26
22 Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß: Aus deutscher Dämmerung. Schattenbilder einer Übergangskultur, Stuttgart 1909, S. 294. 23 S. hierzu Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 2), S. 268; zum Hakenkreuz als völkisches Signet s. Ungewitter: Lebensgang (Anm. 11) S. 204. 24 Ren8 Halkett: Der liebe Unhold. Autobiographisches Zeitporträt von 1900 bis 1939, Hürth b. Köln 2011 (engl. Original: The Dear Monster, London 1939), S. 272. 25 Philipp Stauff: Das Deutsche Wehrbuch, Wittenberg 1912, hier S. 145. 26 Nachruf (Anm. 8), hier S. 48, u. Deutscher Kulturbund, in: Die Post v. 11. 10. 1811, Nr. 487, zit. n. Hufenreuter : Stauff (Anm. 18), S. 31; zur Organisation s. Gregor Hufenreuter : Deutscher Kulturbund, in: Benz: Handbuch (Anm. 17), S. 175–177. Simons hatte bereits 1906 die »Dauereinrichtung eines deutschen geistigen Generalstabs zur Zusammenfassung und
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Simons’ und Ungewitters Mitgliedschaften veranschaulichen die erfolgreichen, ihr erst Kontur gebenden Vernetzungsmechanismen in der völkischen Bewegung und zugleich auch, dass es beiden weder nur um ihre ernährungsreformerischen noch nacktkulturellen Anliegen ging, mit denen sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Diese waren vielmehr in Verbindung mit weiteren (lebens-)reformerischen Forderungen Teil des alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche durchdringenden völkischen Erneuerungsprogramms – im Falle Simons’ eine soziale Gegensätze überwindende, das völkische Gemeinschaftsdenken befördernde Volkswirtschaft und eine dem Genossenschaftsgedanken verpflichtete, in der Siedlungsbewegung verwirklichte Bodenreform sowie von beiden die reformpädagogisch orientierte und insbesondere körperbetonte Jugenderziehung.27 Simons bringt dies zum Ausdruck, wenn er, der sich 1912 öffentlich zum Heidentum bekannte,28 in einem »Leitfaden für alle Reformer« dazu aufrief, »an einer rassischen Wiedergeburt unseres Volkes durch eine germanisch-religiöse Reform und eine allseitige germanische Lebenserneuerung zu arbeiten« und an anderer Stelle diese Überzeugungen verbunden mit einer polemischen Absage an jüdisch-christliche Traditionen als die »natürliche Weltanschauung« der Deutschen deklarierte.29 Simons’ und Ungewitters Reformprogramm stand auf dem Boden der völkischen Rassenideologie. Ihre Mission waren der neue Mensch und der neue (Rassen-)Adel als zukünftige Führungselite.30 Als völkische Sozialingenieure forderten sie vor dem Hintergrund des in drastischen Bildern ausgemalten drohenden »Untergange[s]« die »bewußte Hochzüchtung des kommenden Geschlechts« unter Bezugnahme auf die Paradigmen der Rassenhygiene,31 wobei
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Fortentwicklung aller heutigen und zukünftigen deutschen Volkskräfte« gefordert; Simons: Frage (Anm. 8), S. 109–112, hier S. 109. Ungewitter zählte etwa zu den Unterzeichnern des »Aufrufes an die deutschen Männer und Frauen mitzuwirken bei der Aufrichtung einer wahrhaft deutschen und naturgemäßen Erziehung!« (o. J. [~1901]) des völkischen Erziehungs- und Schulreformers Arthur Schulz; hierzu Puschner : Bewegung (Anm. 5), S. 136–138. Gustav Simons: Volkswirtschaft und Volksgesundheit, in: I. Kongress für Biologische Hygiene. Vorarbeiten und Verhandlungen. Hamburg 1912, Hamburg 1913, S. 343–356, hier S. 355; hierzu Uwe Puschner : »Arbeit an einer rassischen Wiedergeburt unseres Volkes durch eine germanisch-religiöse Reform und eine allseitige germanische Lebenserneuerung«. Grundlagen, Entwürfe und Ausformungen völkischer Religion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Cluet: Lebensreform (Anm. 4), S. 251–264, bes. S. 251–253. Simons: Gesamtbild (Anm 5), hier S. 32; ders.: Die natürliche Weltanschauung. Ein Leitfaden durch des Lebens Labyrint, Stettin o. J. [~1910], S. 15–20. Alexandra Gerstner : Rassenadel und Sozialaristokratie. Adelsvorstellungen in der völkischen Bewegung (1890–1914), Berlin 22006, u. dies.: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, bes. S. 140–196 u. S. 376–420. Richard Ungewitter : Der Vegetarismus als Grundlage höheren Menschentums, in: Vegetarische Warte, 1904, Nr. 37, S. 563–567, hier S. 565. Zum social engineering s. Thomas Etze-
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sich Simons explizit für die »negative« Eugenik und konkret für Euthanasie (von Geisteskranken) und Zwangsterilisation (von »taub, stumm und blind Geborenen«) aussprach.32 Anders als der ihm ansonsten seelenverwandte Ungewitter und weitere völkische Vertreter planmäßiger Rassenzucht wie Willibald Hentschel (1858–1947) oder Ernst Hunkel lehnte Simons den »Gedanke[n] einer menschlichen Gestüterei als menschenunwürdig und im großen auch sicherlich […] als für das ganze unwirksam« ab und empfahl nicht weniger utopisch und minder absurd: »Hängt Bilder mit schönen blonden Kindern in eure Gemächer, und hegt den alle anderen Rücksichten überwiegenden Wunsch nach reinen blonden Kindern. Da wird sich im Laufe von Generationen aus den tausenderlei Möglichkeiten in jedem deutschen Menschen, weil seine Vorfahren von der einen oder der anderen Seite her doch allemal mehr oder weniger blond und blauäugig waren, der Typ als stärkster durchsetzen, der sich, von der Phantasie beflügelt, bei dem Kampf um das weibliche Eichen als der stärkste erweist.« Auf diese Weise »sollten wir im Laufe der Jahre, und uns eine völkisch gesinnte Regierung mithülfe, die Volksreinheit und Schönheit ein gut Stück fördern können.«33 Simons und Ungewitter standen zugleich und konsequent auf dem Boden der völkischen Germanenideologie mit deren rassisch begründeter germanischdeutscher Genealogie.34 Mit Tacitus als Gewährsmann verwies Simons auf den Vorbildcharakter der Germanen für die Gegenwart, die, weil sie ihre »Bestimmung bewußt in sich selbst [tragen]«,35 »ein einheitliches, gesundes, kinderreiches und lebensfrohes Volk gewesen« seien,36 und begründete und legitimierte damit sein ernährungsreformerisches Programm:
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müller : Wie Hase und Igel – Social engineering und Kontingenz in der Moderne, in: Franz Becker, Benjamin Scheller, Ute Schneider (Hg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte (Kontingenzgeschichten 1), Frankfurt a. M. u. a. 2016, S. 139–160, bes. S. 149–156. Simons: Volksgesundheit (Anm. 14), S. 19. Ebd., hier S. 19. Hierzu Uwe Puschner : Germanenideologie und völkische Weltanschauung, in: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch – deutsch‹. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 34), Berlin u. a. 2004, S. 103–129, u. zur Genese Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, bes. S. 197–342. S. in diesem Zusammenhang auch Julian Köck: »Die Geschichte hat immer recht«. Die Völkische Bewegung im Spiegel ihrer Geschichtsbilder (Campus Historische Studien 73), Frankfurt a. M. 2015. Simons: Frage (Anm. 8), S. 54. Simons: Volksgesundheit (Anm. 14), hier S. 15; s. auch Gustav Simons: Die Naturgesetze im Völkerleben und die Gewaltpolitik, Mariendorf-Berlin 1908, bes. S. 4 zur germanenideologischen Begründung des Bodenbesitzes.
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»Gewiß hängt alles zusammen in der Schöpfung und so hat jede Rasse etwas mit der ihr eigentümlichen Ernährung zu tun […] Wollen wir nun die höheren Probleme, so das Rassenproblem verstehen lernen, so müssen wir hinabsteigen in den Jungborn der Mutter Natur und dort im Evangelium dieser Natur in den ersten Kapiteln der Schöpfungsgeschichte die Formen- und Farbenbildung zu verstehen suchen. […] Wollen wir wieder die schönen Gestalten der Altvordern haben, so müssen wir aufhören, Früchte vom Mist und Eigendung täglich zu genießen. Geile Früchte, geile Menschen, Lagerfrüchte, Lagermenschen. […] Nun zu unseren Vorfahren, den Germanen. Wenig Nutzvieh, karg gedüngte Äcker, karge Nahrung war ihr glückliches, gute Sitten förderndes Los. Waldfrüchte, Wurzeln, wahrscheinlich im Frühjahr Brennnesselgemüse, Hafer-, später Roggenspeisen und gelegentlich ein Braten waren ihre Kost […]. Was nun die speziellen Beziehungen zwischen Speisen und Rassenmerkmalen anbelangt, so wäre es wohl denkbar, daß die haferstrohgelbe Farbe ihre Haare und Bärte, abgesehen vom bleichenden Klima, mit ihrer Vorliebe für Haferspeisen in Verbindung ständen, während es eine auffallende Aehnlichkeit zwischen der Samenhaut eines gequollenen Roggenkornes und der blauen Farbe der Augen gibt […].«37
Simons zählt zu den »Gründergestalten« der Ernährungsreform.38 Richtige, d. h. völkische Ernährung war für ihn, das gilt im Übrigen auch für Ungewitter,39 ein wesentlicher »Beitrag zur Wiedergeburt unseres Volkes zu Kraft, Schönheit und Sittlichkeit.«40 Diesem ideologischen Grundsatz waren seine ernährungsreformerischen Forderungen verpflichtet, die Alkohol und Nikotin strikt ablehnten und im Kern in einer vegetarischen, keineswegs jedoch gänzlich fleischlosen Ernährung bestanden.41 In seinem Ernährungsplan spielte das von ihm kreierte und gemeinsam mit seinem Bruder Fritz wie auch von anderen Lebensreformern, u. a. von Ungewitter, in speziellen Fabriken produzierte Simonsbrot eine prominente Rolle.42 In Simons nicht ungerechtfertigter Selbsteinschätzung hatte es »sich seinen Platz erobert und wird ihn wohl behalten. Leibesökonomie beim einzelnen und die Volkswirtschaft im Ganzen verlangen danach.«43 Der unternehmerische Erfolg – nicht anders erging es Ungewitter mit dem Konkurs seiner Simonsbrotfabrik44 – blieb Simons versagt, der dem völkischen Mitstreiter und Oberhaupt der Volkserzieher-Bewegung Wilhelm Schwaner (1863–1944) zufolge 37 Gustav Simons: Rasse und Ernährung, in: Kraft und Schönheit, 1904/5, Nr. 4, S. 156–159. 38 Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 1), Zit. S. 46. 39 Richard Ungewitter : Diätetische Ketzereien. Die Eiweißtheorie mit ihren Folgen als Krankheitsursache und ihre wissenschaftlich begründete Verabschiedung, 13. – 15. Tsd., Stuttgart 1922 (1. Aufl. 1908), u. – völkisch-rassisch argumentierend – ders: Die Quelle unserer Krankheiten und der Weg zur Gesundung, Stuttgart 1922. 40 Simons: Rasse (Anm. 34), S. 159. 41 Simons: Volksernährung (Anm. 10), bes. S. 35f. 42 Noch vor der »Erfindung« seines Brotes intervenierte Simons für das Schwarzbrot; Gustav Simons: Welches tägliche Brot soll der Haushalt kaufen? Eine Belehrung für Männer, in: Vegetarische Warte, 1898, Nr. 32, S. 286–288. 43 Simons: Volksgesundheit (Anm. 14), S. 36. 44 Ungewitter: Lebensgang (Anm. 11), S. 244.
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»in Armut gestorben« ist.45 Dieses von ihm unermüdlich in einer Reihe von Kleinschriften beworbene »leicht verdauliche Vollkornbrot« war in Simons Überzeugung ein wesentlicher Baustein seines Regenerationsplans und mithin ein wichtiger Beitrag zur Volksgesundung,46 wie er in einem von den Germanen bis zur Gegenwart reichenden, rassischen Niedergang und Wiederaufstieg beschreibenden Treppenbild ausführt:47 »Abwärts führte der Weg von Schwarzbrot auf Braunbrot auf Graubrot auf Weißbrot auf Kuchen auf Krankheit. Darum führe nun aufwärts wieder der Weg von Kuchen zu Weißbrot zu Graubrot zu Braunbrot zu Schwarzbrot und Bären-Gesundheit.«48 Ungewitter betonte in zahlreichen Zeitschriftenbeiträgen in der lebensreformerischen Presse und in seinen Büchern die »ästhetische Komponente der Nacktheit«, um so »Einfluß auf weitere, eher bürgerlich-liberale Kreise zu gewinnen.«49 Wie Simons galt sein Streben jedoch in erster Linie der rassischen Regeneration der Deutschen. Nacktheit war für Ungewitter zunächst der Garant für »wahre Sittlichkeit« und daraus folgend der Schlüssel zur »Rettung des deutschen Volkes« und zum rassischen (Wieder-)«Aufstieg«.50 Mit diesem Ansinnen forderte Ungewitter »alle namentlich schon äußerlich erkennbaren (blauäugigen und blondhaarigen) Germanenabkömmlinge auf, ihrer edlen Rasse treuzubleiben und Ehen mit Andersgearteten und erst recht mit Andersrassigen unter allen Umständen zu vermeiden. Denn sie sind Träger der
45 Wilhelm Schwaner zit. n. Gregor Hufenreuter, Christoph Knüppel (Hg.): Wilhelm Schwaner/ Walther Rathenau. Eine Freundschaft im Widerspruch. Der Briefwechsel 1913–1922 (Neue Beiträge zur Geistesgeschichte 10), Berlin 2008, S. 141. 46 Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 1), hier S. 51; Judith Baumgartner : Ernährungsreform, in: Kerbs, Reulecke: Handbuch (Anm. 8), S. 115–126, hier S. 120f., u. Sabine Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930 (Studien zur Geschichte des Alltags 22), Stuttgart 2003, S. 111. 47 Hierzu Simons: Frage (Anm. 8), S. 1: »Alles Große vollzieht sich in allmählichen Uebergängen aus Niederem zu Höherem, falls zielbewußte Geisteskraft lenkt, oder aus Höherem zu Niederem, falls der Dumme als Tyrann zu seinem und der Seinigen Unheil den Bremser der völkischen Entwicklung spielt.« 48 Simons: Volksernährung (Anm. 10), S. 24. 49 Rolf Koerber : Freikörperkultur, in: Kerbs, Reulecke: Handbuch (Anm. 9), S. 103–114, Zit. S. 105. 50 Ungewitter: Nacktheit (Anm. 11), hier S. 96: ders.: Nacktheit und Moral. Wege zur Rettung des deutschen Volkes, Stuttgart 1925, u. ders.: Nacktheit und Aufstieg. Ziele zur Erneuerung des deutschen Volkes, Stuttgart 1920; s. in diesem Zusammenhang auch den programmatischen Briefkopf des Treubundes, abgedr. in: Christoph Knüppel: Im Lichtkleid auf märkischen Sand. Die völkische Siedlung Wodanshöhe bei Groß Bademeusel, in: Forster Jahrbuch, 2011, S. 73–97, hier S. 75, wo es heißt, das Ziel des Treubundes »ist die Erziehung zur wahren Sittlichkeit auf völlig neuem Wege durch gemeinsame Nacktkultur beider Geschlechter in Luft und Sonne.« Zum Sittlichkeitsparadigma s. Ulrich Linse: Sexualreform und Sexualberatung, in: Kerbs, Reulecke: Handbuch (Anm. 8), S. 211–226, hier S. 216.
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deutschen Zukunft.«51 Die Angesprochenen sollten sich demzufolge dem das »Blutsbekenntnis« einfordernden »Treubund für aufsteigendes Leben« anschließen, »an der rassischen, körperlich-gesundheitlichen, sittlichen, geistigen und seelischen Erneuerung des deutschen Volkes« mitwirken, als rassisch Auserlesene »unsere Gedanken und Ziele ins deutsche Volk« hineintragen und »dadurch erziehende und befruchtende Erneuerungsarbeit leisten.«52 Ungewitter ging es bei seinem nacktkulturellen Imperativ und insofern mit dem »Treubund« erstens um »eine Annäherung der Geschlechter […] im natürlichen Sinne«, u. a. »durch gemeinsame Luftbäder«, zur Stärkung von »Körper, Geist und Seele«, zweitens um eine Lebensführung »im rassenhygienischen Sinne« mit dem Ziel, »uns selbst [zu] kräftigen und damit auf eine gesunde Nachkommenschaft hin[zu]wirken« und drittens um die »rechte Auffassung von Ehe im züchterischen Sinne« durch »eine strenge Auslese der Eheschließenden in bezug auf rassisch-körperliche, geistige und seelische Vorzüge«. Dafür war die Begegnung in Nacktheit insofern bedeutsam, als »uns Vorzüge und Mängel nicht verborgen bleiben, […] sich die Ansprüche von selbst [steigern], wodurch die Auslese gewährleistet ist.«53 Mit seinen Vorstellungen und Forderungen (und unter Bezugnahme auf das den Völkischen vorbildliche Sparta) reiht sich Ungewitter in das Lager der von Sozialdarwinismus und Rassenhygiene geleiteten völkischen Rassenerneuerer ein,54 die wie Willibald Hentschel mit seinem Mittgart-Projekt ihre Rassezuchtobsessionen in eigens dafür angelegten Siedlungen zu verwirklichen trachteten.55 Ungewitter griff zum selben Zeitpunkt wie Hentschel, und wahrscheinlich 51 Ungewitter: Nacktheit und Aufstieg (Anm. 50), S. 132. 52 Ebd. S. 135. 53 Ungewitter: Loge (Anm. 6), S. 467; hierzu Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 2), S. 208f., zu den völkischen Geschlechtervorstellungen Uwe Puschner : Völkische Diskurse zum Ideologem »Frau«, in: Walter Schmitz, Clemens Vollnhals (Hg.): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus (Kulturstudien 2; Kultur und antidemokratische Politik 1), Dresden 2005, S. 45–75, bes. S. 65. 54 Uwe Puschner : Sozialdarwinismus als wissenschaftliches Konzept und politisches Programm, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890–1970) (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 77), München 2014, S. 99–121, hier S. 114–121; Jürgen Reulecke: Rassenhygiene, Sozialhygiene, Eugenik – ein Überblick, in: SOWI. Sozialwissenschaftliche Informationen, 1997, Nr. 26, S. 20–27. Zur völkischen Sparta-Rezeption s. Uwe Puschner : Sparta – »Lichtblick in der Menschheitsgeschichte«: Völkische Perspektiven, in: Monika Schuol, Christian Wendt, Julia Wilker (Hg.): exempla imitanda. Mit der Vergangenheit die Gegenwart bewältigen? Festschrift für Ernst Baltrusch zum 60. Geburtstag, Göttingen 2016, S. 139–152, bes. 143f. 55 Uwe Puschner : Mittgart – Eine völkische Utopie, in: Klaus Geus (Hg.): Utopien, Zukunftsvorstellungen, Gedankenexperimente. Literarische Konzepte von einer »anderen« Welt im abendländischen Denken von der Antike bis zur Gegenwart (Zivilisationen & Geschichte 9), Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 155–185; Gregor Hufenreuter : Zwischen Liebe, Zweck und Zucht. Völkische Ehe-Vorstellungen am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Ariadne. Forum für
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unmittelbar von ihm beeinflusst, diese Idee auf und forderte die »zielgerichtete Züchtung von Edelmenschen«:56 »Aber nicht warten sollten wir, bis in späteren Zeiten dieser ›Vollmensch‹ sich entwickelt haben wird. Planmässig sollte derselbe jetzt schon gezüchtet werden. Ich denke dabei in erster Linie an meine engeren Landsleute, an unser deutsches, dem germanischen Spross entstammendes Volk. Zu diesem Zwecke müsste eine Siedelung in schönster obstreicher Gegend unseres deutschen Vaterlandes gegründet werden, gross genug, um vorerst ein Dutzend Familiensitze begründen zu können. Aufgenommen dürften nur schon länger dem Vegetarismus ergebene gesunde, normal gebaute und kräftig entwickelte verheiratete oder unverheiratete Genossen beiderlei Geschlechts von reinem germanischen Typus werden. Die Beschäftigung sei der Obstbau sowie die Pflege von Gymnastik, Sport und Spiel; in geistiger Richtung hin die Pflege der Naturwissenschaften, Erziehung zu charaktervollen Persönlichkeiten. Die Bekleidung sei sehr einfach, möglichst lose Gewänder frei von modischen französischen und englischen Einflüssen. Innerhalb der Siedelung möglichst Nacktleben bei voller Sittenreinheit. Die Nahrung dürfte nur aus Rohkost bestehen, ausgenommen Früchte für den Winter, nach Weckschem Verfahren frischgehalten. Die Wohnungen sollen aus Blockhäusern im nordischen Stil erbaut, den höchsten gesundheitlichen Anforderungen entsprechend, bestehen. Aller Luxus, wie Vorhänge, Decken, Teppiche, Polstermöbel und Federbetten seien verbannt. Einfache naturfarbige altdeutsche Eichenholzmöbel bilden die Einrichtung. Die Siedelung müsste unabhängig von der Aussenwelt durch eine efeubewachsene Umfassungsmauer abgeschlossen sein, um sich in voller Eigenart zu entwickeln. Nur durch den gemeinsamen Verkauf des Obstes sowie durch Bezug der hervorragendsten Zeitschriften und Bücher und einiger Gebrauchsgegenstände, die tunlichst in der Siedelung selbst angefertigt werden, wäre die notwendige Verbindung mit der übrigen Kulturmenschheit herzustellen. Auf dieser Grundlage wäre die Züchtung germanischer Edelmenschen in unserem Sinne zu erreichen, die dann befruchtend auf die Aussenwelt einwirken könnten. Das ist mein Ideal, harrend der Verwirklichung. […] Dieser Versuch würde die Welt in Erstaunen und in Bewunderung setzen und zur Nachahmung anspornen.«57
Ungewitters Botschaften fand Gehör. Seinen Aufrufen zum Beitritt in den »Treubund« wurde Folge geleistet. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg entstand in Deutschland, Österreich, der Schweiz und der Tschechoslowakei eine Reihe von Treubund-Filiationen mit geschätzten 700 bis 1000 Mitgliedern.58 Das 1904 annoncierte »Ideal« einer Edelmenschen-Siedlung wurde in den 1920er Jahren
Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2006, Nr. 48, S. 16–23, u. Uwe Puschner : Heimland. Eine völkische Siedlung, in: Christiane Barz (Hg.): Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939, Berlin 2015, S. 123–127. 56 Kai Buchholz: Lebensreform und Lebensgestaltung. Die Revision der Alltagspraxis, in: ders.: Lebensreform (Anm. 1), S. 363–368, hier S. 367. 57 Ungewitter: Vegetarismus (Anm. 31), S. 566f. 58 Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 2), S. 210f. u. S. 221f.
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ebenfalls verwirklicht.59 Mit der 1924 ins Leben gerufenen Siedlung »Wodanshöhe« bei Groß Bademeusel in der Lausitz ist zumindest ein Siedlungsunternehmen gesichert nachgewiesen. Es kann jedoch »von einer Siedlung im eigentlichen Sinne nur für die Jahre 1925 bis 1930 gesprochen werden«, wenngleich auch danach weiterhin einzelne Siedler und namentlich ihr Gründer, der Postsekretär Paul Bombe (1880–1967), bis zum Frühjahr 1945 auf »Wodanshöhe« lebten.60 Überaus erfolgreich war Ungewitter mit seinen nacktkulturellen Büchern. Die Gesamtauflage belief sich auf etwa 300.000 Exemplare,61 wobei vor allem die zahlreichen Abbildungen nackter Menschen – Frauen und Männer und immer wieder obsessiv, exhibitionistisch anmutend Ungewitter – und die damit verbundenen Skandale die Verbreitung begünstigt haben dürften. Simons’ Reformschriften, überwiegend dünne Broschüren, zu den Themen Ernährung, Volksgesundheit, Volkswirtschaft und Kultur sowie Religion waren deutlich weniger auflagenstark, allenfalls sein Buch über »Die Deutsche Gartenstadt. Ihr Wesen und ihre heutigen Typen« (Wittenberg 1912, Nachdr. Dresden 2016) erfuhr eine weitere Verbreitung.62 Es zählte – wie auch Ungewitters mehrfach aufgelegte »Diätetische Ketzereien« (Stuttgart 1908) und dessen (rassenhygienisch ausgerichtete) Publikationen zur Nacktkultur – vor dem Ersten Weltkrieg neben seinen beiden sozial- und kulturreformerischen Büchern zum völkischen Lektürekanon, nicht jedoch die ernährungsreformerischen Veröffentlichungen.63 Simons war gleichwohl vor dem Ersten Weltkrieg ein prominenter völkischer Ideologieproduzent und effektiver »Systembauer«,64 nicht zuletzt für die völkischreligiöse neuheidnische Teilbewegung und für die völkische Siedlungsbewegung. Das gilt nicht minder für Ungewitter und mit Blick auf den rassenhygienisch-rassezüchterischen Flügel der völkischen Bewegung. Fest verankert im völkischen Netzwerk sind Simons und Ungewitter prägende, einander 59 60 61 62
Ebd. S. 233f. Knüppel: Lichtkleid (Anm. 50), Zit. S. 83. Schneider : Nacktkultur (Anm. 20), S. 429. S. die unvollständige Zusammenstellung bei Simons: Volksgesundheit (Anm. 14), unpag. [S. 37]. 63 Rudolf Rüsten (Hg.): Was tut not? Ein Führer durch die gesamte Literatur der Deutschbewegung, Leipzig 1914 (Reprint Toppenstedter Reihe 4, Toppenstedt 1983), S. 31 u. S. 33. Bei den beiden Büchern von Simons handelt es sich um: Das Gesamtbild der deutschen Erneuerungsbewegung (1913), und: Die soziale Frage und eine deutsche Antwort (1906). Ungewitter wurde nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere mit seinen beiden Broschüren: Unsere rassische Grundlage (Stuttgart 1922), und: Rasse und Volk. Wege zur Rettung (Stuttgart 1923) im völkischen Lager rezipiert; Achim Gercke (Hg.): Die Rasse im Schrifttum. Ein Wegweiser durch das rassenkundliche Schrifttum, bearb. v. Rudolf Kummer, Berlin 2., neubearb. Aufl. 1934 (Reprint Toppenstedter Reihe 4, Toppenstedt 1984), S. 34. 64 Armin Mohler, Karlheinz Weissmann: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6., völlig überarb. und erw. Aufl. Graz 2005, hier S. 399.
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wertschätzende Akteure im völkischen Segment der Lebensreformbewegung,65 die beide mit unterschiedlicher Akzentuierung am völkischen (Volks- und Individual-) Körper und an ihrem Zukunftsprojekt, an der Schaffung der »lebensreformerisch-völkischen Gemeinschaft« arbeiteten.66 Das Urteil seiner Edener Weggefährten, wonach Simons »unermüdlich für seine völkischen Ziele […] tätig« gewesen sei, »mit unbeugsamer Treue und Gründlichkeit zur Sache der Lebensreform« gestanden habe und – so der Tenor eines Nachrufes seiner völkischen Parteigänger – buchstäblich bis zum letzten Atemzug für die völkische Sache arbeitete,67 trifft in derselben Weise auf Ungewitter zu. Er, der sich vorgenommen hatte, »mindestens 100 Jahre zu leben«,68 blieb sich und seinen Überzeugungen über die nationalsozialistische Herrschaft hinaus, wo er endgültig 1938 mit seiner Ernennung zum Ehrenführer des »Bundes für (Deutsche) Leibeszucht« auf ein »institutionelles Abstellgleis« verschoben worden war,69 treu. 1950 und vier Jahre später in zweiter Auflage erschien Ungewitters letzter schmaler, wie von jeher leidenschaftlicher Mahnruf: ein Abriss der Menschheitsgeschichte in siebenundvierzig Seiten als einer, von Beginn an, Geschichte der »Vernichtung [der] Lebensgrundlage« durch die Zerstörung der »Fruchtbarkeit der Erde«. Darin warnte er in gewohntem völkischem Denkstil vor dem drohenden »Untergang der Menschheit« und entfaltete wie bereits in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in bewährter Manier sein und der (lebensreformerischen) Völkischen apokalyptisches Szenarium von der Gegenwart: »Besonders in den USA hat der Waldraub durch Änderung der natürlichen Wasserversorgung und falscher Bewirtschaftung eine katastrophale Erosion hervorgerufen, die jährlich Millionen vorher fruchtbaren Ackers zerstört. Die Ertragsfähigkeit schrumpft und der Bedarf wächst, weil täglich 55000 Esser auf der Erde hinzukommen. Europa und Deutschland können nur die Hälfte der Nahrungsmittel erzeugen und sind auf Import aus USA angewiesen, der in wenigen Jahren aufhören und eine unausdenkbare Hungerkatastrophe herbeiführen wird, wobei unser Lebensstandard auf die Stufe des asiatischen herabsinkt. Unsere Schlachtschweine fressen heute die Lebensmittel von 25000000 Deutschen weg. Wir werden sie abschaffen müssen, wenn wir nicht verhungern wollen. Durch das Zusammenballen der Menschen in Großstädten fehlen die natürlichen Lebensreize. Die Industrialisierung zermürbt die Menschen; die Erde 65 Ungewitter nimmt wiederholt auf Simons und dessen Simonsbrot Bezug, Simons seinerseits verweist auf Ungewitters Publikationen. Zu Ungewitter s. die verschiedenen Hinweise und Zitate in diesem Beitrag, zu Simons’ Ungewitter-Referenzen Simons: Volksernährung (Anm. 12), S. 1. 66 Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 2), S. 417. 67 Nachruf (Anm. 8), S. 48; Richard Bloeck: [Nachruf], als Vorsatz zu dem Konvolut Vier Bücher des Deutschen Kulturbundes, Oranienburg-Eden o. J. [1915]. 68 Ungewitter: Lebensgang (Anm. 11), S. 204. 69 Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 2), S. 417.
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wird den Energien geopfert, der Untergang beschleunigt. Die chemisch-pharmazeutische Industrie vergiftet Pflanzen, Tiere und Menschen durch Kunstdünger, die Lebensmittel durch Konservierungs- und Färbungsgifte und durch Giftmedizinen. Falsche medizinische Maßnahmen wirken verheerend. Stoffwechsel-, Herz- und Gefäßkrankheiten, die Zahnfäule und andere Leiden nehmen enorm zu. Schon jeder sechste stirbt an Krebs. Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten gehen weiter trotz Impfen und Spritzen, oder gerade deshalb. Es geht dem Ende zu, wenn das Steuer nicht herumgeworfen wird.«70 Rettung verhieß wie schon ein halbes Jahrhundert zuvor, »[a]nstelle unserer bisherigen falschen Lebensweise […] zu einer neuen Lebensordnung, zur wahren Lebensreform, zu einer alkohol- und tabakfreien Lebensweise, zum Vegetarismus über[zu]gehen« und sich der »Pflichten gegen sich selbst und [der] Nachkommenden« bewusst zu werden.71
In seinem altneuen Appell zur »Umkehr vom falschen Weg« spielt nun – vom Klappentext abgesehen – die Nacktkultur ebenso wenig mehr eine Rolle wie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rettungs- und Regenerationsutopie der arischen, deutschen oder (indo-)germanischen Rasse. Das Credo blieb gleichwohl dasselbe, die »Heilssuche« lebte fort.72 Größere Resonanz erfuhr Ungewitter – den enthusiastischen, auf Werbepostkarten zitierten Stimmen zum Trotz – seinerzeit nicht.73 Simons wie Ungewitter irritierten ihre Zeitgenossen. Mit Oskar Stillich (1872–1945) kam ein hellsichtiger Beobachter und Analytiker des völkischen Spektrums nach eingehendem Studium von Simons’ Schriften in den 1930er Jahren zu dem Ergebnis, dass »[d]ieser geistig durch eine völkische Hypothek bereits schwer vorbelastete ›Sozialreformer‹ […] schon in der Vorkriegszeit verschiedene Patentmedizinen empfohlen hat, um Deutschland zu retten. Sie sind aber ebensowenig wert wie heute die ähnlich zusammengesetzten Mixturen und Allheilmittel der Nazis. Das nach ihm benannte Simonsbrot sollte die Deutschen gesund machen. Es ist vielleicht noch das Beste oder Unschädlichste, was wir ihm verdanken.«74 Ähnlich harsch ging einige Jahre zuvor Wilhelm 70 Richard Ungewitter : Der Untergang der Menschheit oder Umkehr vom falschen Wege. Eine Warnung, 1950 (2. erw. Auf. 1954), Werbepostkarte. 71 Ebd., S. 44–47, hier S. 46f. 72 Das Zitat ist entlehnt Ulrich Linse: Geisterseher und Wunderwirker. Heilssuche im Industriezeitalter (Europäische Geschichte), Frankfurt a. M. 1996. 73 Auf der Werbebeilage dieser Ungewitter zufolge »hochaktuellen Schrift« heißt es aus Leserzuschriften: »Man liest das Buch wie eine spannende Kriminalgeschichte.« – »Kurz aber prägnant. Dieser Mahnruf gehört in jedes Heim.« – »Diese Broschüre ist eine wahre Fundgrube von Belegmaterial.« Auf dem Rücktitel wirbt Ungewitter unter der Überschrift »Freikörperkultur-Schriften. Aus der Kampfzeit mit Seltenheitswert« für seine beiden Bücher »Nacktheit und Moral« und »Nacktheit und Kultur«. S. auch die Anzeige u. positive Kurzbesprechung in: Der Naturarzt. Zeitschrift für bewußtes Leben und natürliche Heilweise, Organ des Deutschen Naturheilbundes e.V., 1954, S. 76. 74 Oskar Stillich: Die völkische Religion; IfZ-Archiv ED 156/1, hier S. 239; eine Edition des
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Stapel (1882–1954), Ungewitter vor Augen, ohne ihn jedoch namentlich zu nennen, mit den »Propheten und Apostel[n] der Nacktkultur« ins Gericht, wenn er, ein Sympathisant des Völkischen und »völkischer Satiriker«,75 1926 in der Nacktkultur »eine zivilisatorische Zersetzungserscheinung stadtgeborener Geschlechter« sieht und resümiert: »Die Nacktkultur ist nicht Wiederaufbau, sondern Zersetzung. Durch eine weltanschaulich begründete Lebensreform kann man niemals die Unschuld vergangener Zeiten zurückerwerben. Das Paradies bleibt unzugänglich.«76 Stillich und Stapel, wie Jahrzehnte später Ulf Erdmann Ziegler, für den Ungewitter ein »zurecht vergessener Schriftsteller« der Nacktkulturbewegung ist,77 verkennen mit ihren – nachvollziehbaren – Urteilen den nachhaltigen Einfluss, den Simons und Ungewitter, ihre Reformforderungen und Aktivitäten auf die völkische und Lebensreformbewegung und über beide hinaus in der langen Jahrhundertwende ausübten. In seinem autobiografischen, 1939 im britischen Exil erschienenen »Zeitporträt« weist Ren8 Halkett alias Albrecht Georg Friedrich Freiherr von Fritsch (1900–1983) das angelsächsische Publikum darauf hin, dass es »[n]iemals vorher […] eine für Propheten so vorteilhafte Zeit gegeben [hat] und in kaum einem anderen Land […] es so viele und fanatische Propheten [gibt] wie in Deutschland.«78 Zu ihnen zählen zweifellos Gustav Simons und Richard Ungewitter, beide »eifernde Missionar[e]« der völkischen Weltanschauung und des »Denken[s] mit dem Blut«.79
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Textes ist in Vorbereitung. Zum Verfasser s. Toni Pierenkemper : Oskar Stillich (1872–1945). Agrarökonom, Volkswirt, Soziologe (Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie 42), Marburg 2013, bes. S. 169–191. Bernd Wedemeyer-Kolwe: Die Lebensreformbewegung, in: Uwe Puschner, Christina StangeFayos, Katja Wimmer (Hg.): Laboratorium der Moderne. Ideenzirkulation im Wilhelminischen Reich/Laboratoire de la modernit8. Circulation des id8es / l’Hre wilhelminienne (Zivilisationen & Geschichte 31), Frankfurt a. M. u. a. 2015, S. 115–125, hier S. 125. Wilhelm Stapel: Die Lichtbekleideten (Juli 1926), in: ders.: Stapeleien, Hamburg 1939, S. 272–285, hier S. 284f. Ulf Erdmann Ziegler : Nackt unter Nackten. Utopien der Nacktkultur 1906–1942. Fotografien aus der Sammlung Scheid, Berlin 1990, S. 14. Halkett: Unhold (Anm. 24), S. 208; s. hierzu Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983. Ebd. S. 116, S. 348.
Felix Linzner
»Freie Liebe oder Zucht« – Friedrich Lamberty zwischen jugendbewegter Selbst- und völkischer Aufzucht
Barfüßiger Prophet, Inflationsheiliger, Messias von Thüringen, völkischer Prediger, Sünder und Parasit der Jugendbewegung – Friedrich Lamberty (1891–1984) wurde zu Lebzeiten sowie aus forschender und reflektierend analysierender Perspektive mit einer Reihe von Beinamen belegt. In der Tradierung ist es aber sicher die Ähnlichkeit mit dem kleinen Muck aus dem Märchen Wilhelm Hauffs, die ihn als Muck-Lamberty über die Jugend- und Reformbewegung hinaus bekannt machte. Als eine Polarisationsfigur jener Strömungen wurde sein Leben und Wirken zum Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten, wobei vor allem die Forschung Ulrich Linses zu erwähnen ist, der Lamberty interviewen konnte.1 Es wurde ein Einblick in die sozialen und gesellschaftlichen Gestimmtheiten jener Zeit erzeugt und die »barfüßigen Propheten« als weit mehr als eine historische Kuriosität illustriert. Besonders die Jahre zwischen den beiden Kriegen, die Last des verlorenen Ersten Weltkriegs, Reparation und Gebietsverluste, die Inflation und Arbeitslosigkeit sowie die Unsicherheit in allen Werten, Regeln und Ordnungen, auch auf der Ebene der »großen Politik«, förderten selbsternannte Heilsbringer. Die als negativ empfundenen Auswirkungen der Moderne schienen um ein Vielfaches verstärkt und nicht nur die bürgerliche Welt empfand die Zeit als eine krisenhafte, die das nationale wie auch das ganz private Geschick bedrohe. Dass »der Name Muck-Lamberty beinahe in Vergessenheit geraten, zwischen 1913 und 1921 […] jedoch in aller Munde«2 war, bezeugt Pamela Kort. Sie und die Kuratoren der Ausstellung »Künstler und Propheten«3, die 2015 in der Schirn 1 Vgl. u. a. Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983, sowie ders.: Der »lebendige Prediger«. Friedrich Lamberty-Muck (1891–1984), in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1984–1985, Nr. 15, S. 355–364. 2 Pamela Kort: Friedrich Muck-Lamberty. Der »Messias« der deutschen Jugendbewegung, in: Pamela Kort, Max Hollein (Hg.): Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972, Köln 2015, S. 241–258, hier S. 243. 3 Die Ausstellung »Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972« war vom 6. März bis 14. Juni 2015 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt a. M. zu sehen.
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Kunsthalle Frankfurt zu sehen war, brachten Lamberty aber ebenso in die Erinnerung zurück, wie zum Beispiel das Radio Feature »Wahrheitsmensch und tanzender Messias – Die Hochkonjunktur der Inflationsheiligen«4 und erreichten ein breites Publikum. Der vorliegende Text möchte keine neuen Details aus dem Leben Lambertys zu Tage fördern, sondern vielmehr seine Wirkung und den ihn umgebenden Diskursrahmen im Spiegel dreier Quellen quasi mikroanalytisch anreißen. Die Autoren beziehen jeweils Stellung zu Lamberty, beziehungsweise zu einem einschneidenden Erlebnis in seinem Leben. In ihrer Chronologie greifen sie den jeweils älteren Text auf. Sie sind durchaus als Streit- beziehungsweise Diskussionsschriften oder auch als Werben für die eigene Sache zu lesen. Es handelt sich um Gertrud Prellwitz und ihr »Bekenntnis zu Muck-Lamberty«5 und in der direkten Folge um Emil Engelhardts Beitrag »Gegen Muck und Muckertum«6 sowie um Rudolf Linkes Sonderdruck »Freie Liebe oder Zucht«7. Um den Kontext der Entstehung dieser Schriften nachvollziehen zu können, bleibt es aber unumgänglich, einen Blick in Lambertys Biografie zu werfen. Friedrich Lamberty wurde am 14. Juli 1891 in Straßburg geboren. Er verbrachte seine Kindheit in dem kleinen Ort Simpelveld in den Niederlanden, und wuchs in einer katholischen Familie auf. Dort übte er den Ministrantendienst aus. Als Dreizehnjähriger verließ Lamberty das Elternhaus und begann 1906 in Bregenz eine Ausbildung in einem Reformwarenbetrieb. Als Vertriebsleiter in Stuttgart und Filialleiter in Brünn spezialisierte er sich auf Reformprodukte, speziell auf Kleidung. Neben der unternehmerischen Tätigkeit hatten aber auch lebensreformerische Ideen und Praktiken einen Einfluss auf Lamberty : Er ernährte sich vegetarisch, rauchte und trank nicht. Erste Kontakte zu Wandervögeln soll er bereits 1909 gehabt haben.8 Prägend war damals aber vor allem der lebensreformerische Einfluss Gusto Gräsers. Lamberty gehörte in Esslingen einer Gruppe von sieben Personen an,9 die den Freundeskreis um den frühen Lebensreformer, Dichter und Bewohner der Siedlungsgemeinschaft auf dem 4 Robert Schurz (Autor), Anna Panknin (Regie): Wahrheitsmensch und tanzender Messias. Die Hochkonjunktur der Inflationsheiligen, Deutschlandfunk 2010 (Erstsendung: 19. 10. 2010, Wiederholung: 25. 04. 2017). 5 Gertrud Prellwitz: Mein Bekenntnis zu Muck-Lamberty, Oberhof im Thüringer Wald 1921. 6 Emil Engelhardt: Gegen Muck und Muckertum. Eine Auseinandersetzung über die höhere freie Liebe mit Muck-Lamberty und Gertrud Prellwitz, Hartenstein 1921. 7 Rudolf Linke: Frei Liebe – oder Zucht? Von Muck zu Mittgart (Sonderdruck aus der Monatsschrift »Der junge Deutsche«. Blätter zum Baumeistergedanken zum rechten deutschen Leben), Leipzig 1922. 8 Ulrich Linse verweist auf einen Brief Lambertys von 1961: Linse: Propheten (Anm. 1), S. 110. 9 Vgl. Hermann Müller : Die Esslinger Sieben. Brief von Hermann Müller an Detlef Belau in Naumburg (Saale), August 2009, verfügbar unter : http://www.naumburg-geschichte.de/ge schichte/esslingersieben.htm [12. 02. 2017].
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Monte Verit/ darstellten. Gräsers und Lambertys Verbindung sollte von längerer Dauer sein und auch die Wanderung der von letzterem gegründeten »Neuen Schar« beeinflussen. Neben der Nähe zu Gräser pflegte er auch Kontakte zum »Deutschen Vortruppbund« um Hermann Popert und Hans Paasche.10 1914 besuchte er den »Ersten Deutschen Vortrupp-Tag« in Leipzig, der vom 3. bis 6. Juni stattfand. Linse attestiert allerdings: »Gegenüber der jeweiligen Leitung opponierte er ständig, ohne daß die Gründe für dieses ›Aufmucken‹ ganz klar werden.«11 Ebenfalls von der Lebensreform inspiriert, widmete sich Lamberty verstärkt dem Siedlungsgedanken und suchte bei Wandervogel und Freideutscher Jugend nach Unterstützern und Gleichgesinnten. 1913 veröffentlichte er dazu die Flugschrift »Neuland in Sicht – Den Freunden und Führern der Jugend«.12 Er arbeitete Pläne für Handwerksiedlungen aus, die er unter anderem in den »Flugblättern für jungdeutsche Siedlung« im Jungborn Verlag publizierte. Die Kerngedanken verdeutlicht folgende Passage: »Für uns muss es einfach andere Möglichkeiten geben, wie wir die Schaffensfreudigkeit und die seelisch starken Werte unserer deutschen Jugend für die Gesundung unseres Volkes verwenden können. Lenken wir die junge Schaffenslust und den freien Willen zum einfachen, herben Leben auf die Handwerksarbeit; dort kann jeder sich mannigfaltig auswirken und durch seinen guten, lebendigen Geist auch für das ganze Volk wirken.«13
Lamberty plante verschiedene Siedlungsprojekte, unter anderem mit Heinrich van der Smissen auf dem Klingberg, wo bereits völkische Siedler tätig waren.14 Van der Smissen wird als Mitglied des »Mittgart-Bundes« für die Einordnung von Linkes »Freie Liebe oder Zucht« von Bedeutung sein, ebenso wie die Beziehung des »Mittgart-Bundes« zu Lamberty. Der Erste Weltkrieg beendete derartige Pläne vorerst. Lamberty leistete seinen Kriegsdienst auf der Insel Helgoland, nachdem er sich freiwillig gemeldet hatte. Er und andere ehemalige Wandervögel wurden in 10 Zum »Vortrupp« vgl. u. a. den Beitrag von John Khairi-Taraki in diesem Band sowie Ulrich Linse: Der Vortrupp (1912–1921). Ein lebensreformerisches Organ des fortschrittlich-liberalen Konservatismus, in: Michel Grunewald, Uwe Puschner (Hg.): Le milieu intellectuel consevateur en Allemagne, sa presse et ses r8seux (1890–1960) / Das konservative Intellektuellenmilieu, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Berne 2003, S. 377–406. 11 Vgl. Linse: Propheten (Anm. 1), S. 110. 12 Friedrich Lamberty : Neuland in Sicht. Den Freunden und Führern der Jugend, Heimstätten, Esslingen a. N. 1913. 13 Friedrich Lamberty : Siedlungsmöglichkeiten, in: Flugblätter für jungdeutsche Siedlung, 1919, 3. Blatt. 14 Ulrich Linse: Völkisch-rassische Siedlungen der Lebensreform, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus Ulbricht (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München 1996, S. 406f.
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diesem »merkwürdigen militärischen Experiment«15 einer Marineeinheit zugeteilt und vegetarisch verpflegt. Während dieser Zeit kam es vermehrt zu Auseinandersetzungen mit Offizieren und Matrosen – Lamberty schien auch hier Spannungen zu erzeugen. Dies griff die Zeitschrift »Junge Menschen« der Herausgeber Walter Hammer und Knud Ahlborn in den Jahrgängen 1921 und 1922 auf, in der immer wieder harsche Kritik an ihm geübt wurde.16 Sein Kriegsdienst endete, als er sich 1918, während des Heimaturlaubes, auf der »Völkischen Woche«17 in Witzenhausen verletzte und im Lazarett von Hannoversch-Münden behandelt werden musste. Lamberty begrüßte die Novemberrevolution und das Ende des Krieges, zeigte sich aber sowohl von Militär und Marine als auch von den Parteien enttäuscht. Er wollte die Jugend erreichen und veröffentlichte 1918 »An die Lebendigen im Adel«. Dort heißt es: »Haltet ein mit den starren Formen – schaffet Menschen im Blut und Geist. Haltet ein mit den ungesunden Lebensgewohnheiten. Eine körperliche und geistige Wiedergeburt ist die erste Aufgabe.« Dass diese »Wiedergeburt« durchaus in einem völkischen Sinne zu verstehen war und nach Lamberty durch »Blutsdeutsche« vollzogen werden sollte, zeigt das nachfolgende Zitat: »Das Deutschtum braucht Edelinge. Es muss zur Scheidung der Geister kommen. Schafft nicht der Adel den edlen Menschen, so schafft sich das Deutschtum einen neuen Adel. Nicht den des Sozialismus – den der Gerechtigkeit – der Heimatkraft.«18 Lamberty war in den folgenden Jahren bei vielen zentralen Treffen der Jugendbewegung anwesend – oft auch als Redner. Hier setzte er sich über eine entstehende »Trennung der Völkischen von der Freideutschen«19 Jugendbewegung hinweg, die sich nach Harry Pross während der »Völkischen Woche« verfestigte. So besuchte er 1919 den Freideutschen Jugendtag in Jena genauso wie den ersten Bundestag des Jungdeutschen Bundes auf Burg Lauenstein, bei dem das Lauensteiner Bekenntnis, des 1916 von Otger Gräff geplanten völkischen
15 Linse: Prediger (Anm. 1), S. 359. 16 Vgl. Sammlung diverser Artikel zur Muck-Kontroverse in der Zs. Junge Menschen, AdJb, N 139 Nr. 15 sowie Knud Ahlborn, Walter Hammer : Junge Menschen. Blatt der Deutschen Jugend. Stimme des neuen Jugendwillens, 1920, Nr. 1–24 gebunden, 1921, Nr. 1–24 gebunden (AdJb, Z/100/1755). 17 Vgl. Werner Kindt: Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf 1963, S. 220f. sowie Rudolf Ernst Dörgeloh: Von der Schriftleitung, in: Alt-Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jungwandern, 1918, Nr. 9/10, hier : Werner Kindt: Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf 1968, S. 897. 18 Friedrich Lamberty : An die Lebendigen im Adel. Aus einem Briefe, München 1918, zit. nach: Detlef Belau: Friedrich Muck-Lamberty, 2010, verfügbar unter : http://www.naumburg-ge schichte.de/geschichte/mucklamberty.htm [11. 02. 2017]. 19 Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern 1964, S. 479.
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Originaltitel des Bildes: Muck Lauenburg; Quelle: AdJb, F 1, Nr. 48/55, Fotograf: Julius Groß
Sammelbundes, formuliert wurde.20 Auch bei der Pfingsttagung des Wandervogel in Kronach, wo sich der Kronacher Bund als Älterenvereinigung gründete, war Lamberty anwesend.21 Hier soll er die von ihm geführte »Neue Schar« ausgerufen haben. Harry Wilde beschreibt dieses Ereignis in seiner Biografie über Theodor Plievier : »Es dämmerte schon, als plötzlich aus der Runde ein Mann aufstand und eine Ansprache hielt. Viele kannten ihn und wussten seinen Spitznamen: Muck. Er sagte, er hätte die Absicht, mit einer neuen Schar durch Thüringen zu ziehen und gegen die modernen Sitten aufzutreten, also gegen den american style [Hervorhebung im Ori-
20 Werner Kindt: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf 1974, S. 323–334. 21 Ebd. S. 294–322.
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ginal], den Foxtrott, den er ›Trottelfox‹ nannte, das Zigarettenrauchen und die hemmungslose Genußsucht. […] Am nächsten Morgen zogen wir los.«22
Die Schar reiste von Kronach nach Eisenach, durch Franken und Thüringen. In Städten wurden Volkstänze veranstaltet, Volkslieder gesungen und Märchen erzählt. Besonders eindrücklich zeigt dies die Bilderserie von Julius Groß, die den Aufenthalt der Neuen Schar in Eisenach vom 25. September bis 8. Oktober dokumentiert.23 Die »längste und erfolgreichste ›Demo‹ der klassischen Jugendbewegung«24 sprach dabei vor allem Kinder an. Doch auch in der Erwachsenenwelt hatten sie Freunde und Förderer, so wurden der Neuen Schar auch Kirchen geöffnet. Die Wirkung zeichnete unter anderem ein Artikel der Weimarischen Landeszeitung nach: »Dieser 18. August 1920 wird in der jungen Geschichte unserer jungen freien Volkskirche ein Ruhmestag bedeuten, und leitenden Männern der Kirche gebührt Dank für den Mut und die Einsicht, daß sie einmal einen sprechen ließen, der keine der üblichen amtlichen Beglaubigungen besitzt, sondern allein die Berechtigung des Geistes und der Kraft. Die mittelalterliche Nebenbestimmung des Kirchenhauses als Versammlungsort der Gemeinde scheint wieder in die Rechte zu treten. In die Tage des Urchristentums glaubte man sich versetzt, in die enthusiastische apostolische Zeit, oder in die Epoche der wilden Mystik, wo inbrünstige, gotterfüllte Wanderer und Prediger durch die Lande zogen, wenn man um das blumenvolle Sprecherpult die schlichten stämmigen Gestalten mit Kittel und Wanderlatschen stehen sah.«25
Linse sieht in »dieser belebenden Feiergestaltung des protestantischen Gottesdienstes […] die nachhaltigste Wirkung der Neuen Schar«26. Doch es gab auch Kritik an Lamberty und seiner Schar, die in einem Skandal um ihn kulminierte. Das Bild des asketischen Predigers, der mit religiösem Eifer die »Revolution der Seele«27 verkündete, wurde ins Gegenteil verkehrt und verstärkte den »Sündenfall«28. Lisa Tetzner, bekannte Begleiterin der Schar, fasste dies treffend zusammen: »Seine Zucht, die er ausübte, ist gut: Enthalte dich, Harry Wilde: Theodor Plievier. Nullpunkt der Freiheit, München 1965, S. 116. Bilderserie von Julius Groß: Die Neue Schar in Eisenach, AdJb, F 1, Nr. 59, 42 Fotografien. Linse: Prediger (Anm. 1), S. 361. Die »Neue Schar«, in: Weimarische Landeszeitung, 18. August 1920, zit. nach: Detlef Belau: Friedrich Muck-Lamberty, 2010, verfügbar unter : http://www.naumburg-geschichte.de/ge schichte/mucklamberty.htm [11. 02. 2017]. 26 Linse: Propheten (Anm. 1), S. 102. 27 Unter diesem Titel hielt Lamberty während der Reise seiner »Neuen Schar« zahlreiche Vorträge. Vgl. Flugblätter zu Vorträgen in Rudolstadt 06. 07. 1920, Erfurt 27. 08. 1920 und Jena 28. 07. 1920, AdJb, N 151, Nr. 411. 28 Das Sinnbild des Sündenfalls taucht in der Sekundärliteratur sehr häufig auf, so u. a. bei Linse, bei Rüdiger Safranski: Romantik. Eine Deutsche Affäre, München 2007, S. 337; Wolfgang Kemp: Wir haben ja alle Deutschland nicht gekannt. Das Deutschlandbild der Deutschen in der Zeit der Weimarer Republik, Heidelberg 2016, S. S. 72, S. 304. 22 23 24 25
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faste, reinige dich, um deinen Geist zu stärken. Askese in allen Dingen des Lebens, um die Kraft zu haben. Muck selber jedoch, der diese Gesetze stellt, hebt sich oft ausserhalb ihrer Formen. […] Seine größte Gefahr ist das Weib.«29
Originaltitel des Bildes: Heiner Rösner ; Quelle: AdJb, F 1, Nr. 59/12, Fotograf: Julius Groß
Es kam zum Eklat, als sich Käthe Kühl, die zur Schar gehörte, in einem Brief an die Altenburgische Regierungsbehörde wandte und Lamberty vorwarf, außereheliche Kinder gezeugt zu haben. Die junge Frau berichtete darin von »Haremswirtschaft«30. Er wurde daraufhin von Beamten und drei Pfarrern vernommen. Kühls Forderung, der Neuen Schar das Gastrecht in ihrem Winterquartier, der Leuchtenburg bei Kahla in Thüringen, abzusprechen, wurde entsprochen. Der »Sündenfall« wurde publik und in einer Vielzahl von Zeitungsartikeln verarbeitet. Im Nachgang wurden Lamberty drei uneheliche Kinder von verschiedenen Müttern nachgewiesen.31 Daraufhin zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück und gründete eine Drechslerwerkstatt in Naumburg, die seinen Vorstellungen einer Werksgemeinschaft nahe kam und über einen
29 Lisa Tetzner : Im Land der Industrie zwischen Rhein und Ruhr. Ein buntes Buch von Zeit und Menschen, Jena 1923, S. 123. 30 Käthe Kühl: Brief an die Altenburgische Staatsregierung, zit. nach: Linse: Propheten (Anm. 1), S. 119. 31 Ebd.
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längeren Zeitraum erfolgreich wirtschaftete. Sie wurde zu einer der größten Drechslerwerkstätten in Deutschland.32 1930 nahm Lamberty auch als Redner an der »Religiösen Woche« in Hildburghausen teil. Der Einladung Max Schulze-Söldes folgten Völkische, Freireligiöse, Lebensreformer und Jugenbewegte.33 Schulze-Sölde und Lamberty hielten Kontakt zu »Deutschgläubigen« und zum frühen nationalbolschewistischen Flügel der NSDAP um Otto Strasser. In einem offenen Brief an Ernst Graf zu Reventlow, der Reichstagsabgeordneter der NSDAP war, warb er unter der Überschrift »NSDAP und Jugendbewegung – Ein Versuch klarer Verständigung« für konstruktiven Austausch. »In seiner Vorstellung sollte die Jugend sich der Partei als Kopf zur Verfügung stellen, um bloße Quantität durch Qualität zu ergänzen.«34 Nach dem Zweiten Weltkrieg wendete er sich wieder dem Werkstattbetrieb zu und berichtete Enno Narten, dass er wieder 100 Menschen beschäftige.35 Kurz vorher hatte er angeboten, einen solchen Betrieb auch auf der Jugendburg Ludwigstein einzurichten.36 1949 verließ Lamberty mit seinem Betrieb die Sowjetische Besatzungszone und ging in den Westen. Darüber hinaus ist die Quellenlage äußerst dünn.37 Linse führte 1980 Gespräche mit Lamberty, die in seine Publikationen einflossen. Am 7. Januar 1984 verstarb Friedrich MuckLamberty in Oberlahr bei Altenkirchen. Lambertys Leben und Wirken hatte mit dem Vorfall auf der Leuchtenburg und mit seinem Verstoß gegen die bürgerlichen Moralvorstellungen eine jähe Zäsur erlebt. Neben den vielen Kritikern erhoben aber auch Sympathisanten und Unterstützer das Wort. Gertrud Prellwitz, die in engem Kontakt zu Hugo Höppener (genannt Fidus) stand, eröffnete mit ihrem »Bekenntnis«38 eine Debatte, die hier näher beschrieben werden soll. In der Jugendbewegung war sie vor allem wegen ihres Erfolgsromans »Drude« bekannt geworden.39 Sie sah Lamberty als Teil und Verkünder einer neuen Zeit und deutete seinen »Sündenfall« positiv als »Eheform« um. Prellwitz nahm Stellung, nachdem sie mehrere Briefe von 32 Vgl. ebd. S. 125. 33 Christoph Knüppel: Völkisch-religiöse Einigungsversuche während des Zweiten Weltkriegs, in: Uwe Puschner, Clemens Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 149–192, hier S. 173f. 34 Linse: Propheten (Anm. 1), S. 127, vgl. dazu auch ebd. S. 126f. 35 Friedrich Lamberty : Brief an Enno Narten, Naumburg 24. 12. 1945, AdJb, P1 Nr. 157. 36 Rundschreiben von Hannes Aff, 05. 12. 1945 (u. a. Angebot von Lamberty betr. Einrichtung eines Handwerksbetriebes auf dem Ludwigstein), AdJb, CH 1 Nr. 145. 37 Vgl. Linse: Prediger (Anm. 1), S. 364. 38 Prellwitz: Bekenntnis (Anm. 5). 39 Gertrud Prellwitz: Drude (Roman in drei Bänden), Woltersdorf 1920, 1923, 1926. Vgl. auch Nachlass Gertrud Prellwitz, AdJb, N 38.
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Lamberty erhalten hatte, und gab an, ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennengelernt zu haben, verbrachte dann aber neun Tage mit ihm und der Schar. »Und ich bekenne mich zu Muck-Lamberty«, resümiert sie aus dieser Erfahrung, »als zu einem schaffenden Menschen von Geistesadel, zu dem alles Gemeine unorganisch ist.« Weiter betont sie: »Er ist in seinem Triebleben von der naiven Reinheit des Gotteskindes, und zugleich von der geistesbewußten Zucht des Lebensreformers voller Enthaltsamkeit, raucht nicht, trinkt nicht, lebt vegetarisch, fastet, weiß, daß der Menschenleib zwischen der alten Welt und der neuen in asketischer Behandlung umgewöhnt, umgebaut werden muß, um ein willigeres Werkzeug der reinen Kräfte zu werden, aus denen die neue Zeit geschaffen werden muß.«40 Lamberty verkörpere die Reinheit und Enthaltsamkeit einer neuen Zeit und eines neuen Menschentums, jenes ambivalente Motiv des zwanzigsten Jahrhunderts und der Moderne, das eine Heilsvorstellung in sich trägt und die bestehende Moral und Ordnung der Gesellschaft ablösen solle. Ganz im Sinne der herrschenden Reformbestrebungen prallten hier die »alte« und die »neue« Zeit aufeinander, die sich diametral entgegenstünden. Ausgerechnet Lamberty war für Prellwitz ein positives Beispiel für das Voranschreiten einer Ehe- und Sexualreform, die auch die Rolle der Frau stärken und aufwerten sollte. Sie zitiert Lamberty, der die Not der Frau im vorherrschenden System erkannt habe: »Ich sah, daß es einen Kapitalismus gibt, der ist noch viel schlimmer als der des Geldes. Das Besitzrecht über eine Menschenseele, das lebenslange Besitzrecht der Ehe. […] Wie soll der Materialismus der Menschheit überwunden werden, wenn die Kinder gezeugt werden in der öden Ehe, die die Seele tötet, in der Tyrannei der tausend Dinge? […] Es muß jetzt eine Zeit kommen, in der die Menschen mit ganzer geheiligter Hingabe das Kind wollen und dem Kinde leben. Es muß jetzt ein Heldentum der Frau kommen.« Und weiter : »Alles muß zum Willen werden, sich hinaufzupflanzen, höhere Menschen zu zeugen, den König zu zeugen.«41
Hier klingen einige zentrale Positionen Lambertys und Prellwitz’ an. Sie kritisieren Wirtschafts- und Besitzregelungen und geben sich antimaterialistisch. Die Kritik an der Ehe als besitzergreifende Machtstellung des Mannes gegenüber der Frau und der Gegenentwurf einer geheiligten Mutterschaft tritt klar hervor. Damit waren die Aussagen zum einen anschlussfähig an die Inszenierung der Geschlechterdifferenz weiblicher Jugendbewegter, die die Erfüllung der Mutterrolle in den Maßstäben Natürlichkeit, Gesundheit und Reinheit dachten42 und 40 Prellwitz: Bekenntnis (Anm. 5), S. 1, S. 5. 41 Lamberty frei nach Prellwitz: Bekenntnis (Anm. 5), S. 4, S. 6. 42 Vgl. Sabine Andresen: Körperinszenierungen und Geschlechterdifferenz. Zur Gestaltung jugendbewegter Mädchenjugend, in: Meike Sophia Baader, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Jugendbewegte Geschlechterverhältnisse (Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 7/2010), Schwalbach/ Ts. 2011, S. 118–128.
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zum anderen an Konzepte jugendbewegter »Kameradschaftsehen« als Ansatz zur Lösung eines »sexuellen Generationskonflikts«.43 Dass die Behörden der »alten Welt« diese Ansätze nicht verstanden – Prellwitz betont Lambertys Befragung auf der Leuchtenburg –, sei der Grund, warum er von ihnen nicht verurteilt werden könne. Im Zitat finden sich aber auch klare Verweise auf die züchterische Erschaffung einer völkischen Oberschicht. Ob Lamberty tatsächlich junge Frauen zur »Züchtung« bewegen wollte, lässt sich aus den Quellen nicht rekonstruieren. Genauso wenig sind konkrete, zusammenhängende Aussagen Lambertys dazu zu finden. Doch der Vorwurf bestand spätestens, seitdem Wilhelm Siegmeyer letzteres 1921 behauptete.44 Prellwitz griff dies aus und zitierte Lamberty mit: »Es ist nicht wahr, daß ich ›den Christus‹ erzeugen wollte. Wir brauchen doch nicht einen! Es muß doch eine ganze neue Welt aufgehen, ein ganzes Geschlecht von Menschen mit Christussinn.«45 Wilde bekräftigt diese Aussage: »Innerhalb der ›Neuen Schar‹ herrschten deshalb auch alles andere als Zustände, die man mit ›Freie Liebe‹ hätte umschreiben müssen. […]Es war jene Selbstzucht, wie sie in der Jugendbewegung seit Jahren geübt wurde. […] [Sie] wollten – nach vier Jahren Krieg – vor allem fröhlich sein.«46 Gedanken völkischer Aufzucht sollten im dritten Text von Linke und dem dahinter stehenden Mittgart-Plan ihre bis dato extremste Ausprägung finden. Es gab zahlreiche Stimmen, die sich gegen Prellwitz’ Darstellung richteten. Explizit anknüpfend setzte sich der jugendbewegte Pfarrer Emil Engelhardt »gegen Muck und Muckertum« ein.47 Er stellt ein markantes Beispiel für die »Rechtfertigungsschriften« dar. »[N]icht wenige Leute hatten Grund, zu erklären, warum sie als Vorboten des ›Neuen Propheten‹ aufgetreten waren. […] Aber niemand konnte umhin, seinen guten Willen und die Reinheit seiner Absichten anzuerkennen.«48 So betonte auch Engelhardt, dass er nicht gegen Lamberty persönlich interveniere, den er gegen »Zeitungsschmutzfinken und Lüstlinge« als »Menschenbruder«49 verteidigte, sondern gegen den »Typ-Muck« und sah dies als seine »Pflicht gegen unser Volk, vor allem gegen die reifende Jugend«.50 In der Frage nach jugendlicher und jugendbewegter Sexualität hatten Prellwitz und Lamberty offensichtlich die Grenzen des Diskurses erreicht. 43 Ulrich Linse: »Geschlechtsnot der Jugend«. Über Jugendbewegung und Sexualität, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 245–309, hier : S. 256ff. 44 Vgl. Linse: Propheten (Anm. 1), S. 119f. 45 Lamberty frei nach Prellwitz: Bekenntnis (Anm. 5), S. 6. 46 Wilde: Plievier (Anm. 22), S. 117ff. 47 Engelhardt: Muck (Anm. 6). 48 Ren8 Halkett: Der liebe Unhold. Autobiographisches Zeitporträt von 1900 bis 1939, Hürth b. Köln 2011 (engl. Original: The Dear Monster, London 1939), S. 247. 49 Engelhardt: Muck (Anm. 6), S. 3. 50 Ebd. S. 3f.
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Engelhardt stellt zwei Grundfragen nach der »Jugendbewegung und [der] alten Zeit in ihrem grundsätzlichen Verhältnis und die Frage nach der Gestaltung des Geschlechtslebens.«51 Wie auch Prellwitz unterscheidet er in eine »alte« und »neue« Zeit und sieht die Möglichkeit eines »Neubaus« der Kultur. Seine Hauptkritik formuliert er aber wie folgt: »Wir haben den Eindruck, daß auch der Menschentyp Muck Sehnsucht nach diesem Neuen in sich trägt, auch manche Regung dieser neuen Zeit, aber sie ist in ihm noch nicht so mächtig, daß zum Alten eine ernsthafte, gründliche und sichere Einstellung finden konnte.«52 Der Autor sieht die Ehe als einzig legitime Lebensform der Geschlechter und keine Möglichkeit für freie Liebe mit »Aufartungsphantasien«. Die Jugendbewegung will er vor dieser »Verrottung« und den Zeichen für »untergehendes Abendland« schützen.53 Seine Stellungnahme macht deutlich, dass Ehereform, Gesellschaftskritik und die Gestaltung des Geschlechterlebens von Teilen der Jugendbewegung als kollektive Aufgaben verstanden wurden. Körperlichkeit und Gesundheit spielten ebenso eine gewichtige Rolle, wie die Auseinandersetzung mit »alt« und »jung« – »alter« und »neuer« Welt. Die angestoßene Diskussion um Lamberty dient dabei als Projektionsfläche und als Ausgangspunkt weitreichenderer sowie grundlegenderer Fragen der Jugend, die eine Reform und Neugestaltung des Lebens beinhaltet: »Muck ist wie die allermeisten Menschen ein Kampfplatz zwischen dem Alten und dem Neuen, oder ein Übergang, oder anders gesagt: auch in ihm wie in vielen tausend anderen drängt eine höhere Lebensordnung ans Licht.«54 Eine andere, dezidiert völkische Stimme greift Prellwitz’ »Bekenntnis« ebenfalls auf. Rudolf Linke nutzt die Diskussion um Lamberty und die Ereignisse auf der Leuchtenburg, um für die Ideen des Mittgart-Bundes zu werben. Er und der bereits erwähnt van der Smissen waren führende Mitglieder. Der Bund ging auf Willibald Hentschel55 zurück, der in »Mittgart. Ein Weg zur Erneuerung der 51 52 53 54 55
Ebd. S. 4. Ebd. S. 6. Ebd. S. 12, S. 25. Ebd. S. 8. Zu Willibald Hentschel vgl. u. a. Julian Köck: »Die Geschichte hat immer Recht«. Die Völkische Bewegung im Spiegel ihrer Geschichtsbilder, Frankfurt a. M 2015, S. 248–282; Uwe Puschner : Völkische Intellektuelle? Das Beispiel Willibald Hentschel, in: Richard Faber, Uwe Puschner (Hg.): Intellektuelle und Antiintellektuelle im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2013, S. 145–184; ders.: Mittgart – eine völkische Utopie, in: Klaus Geus: Utopien, Zukunftsvorstellungen, Gedankenexperimente. Literarische Konzepte von einer anderen Welt im abendländischen Denken von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2011, S. 153–181; ders.: Hentschel, Willibald, in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 2/1: Personen A–K, Berlin 2009, S. 351–353; Gregor Pelger : Willibald Hentschel, in: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 239–243; Dieter Löwenberg: Willibald Hentschel
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germanischen Rasse«56 einen Plan zur Menschenzucht vorlegte. Dies machte Hentschel zu einem diskutierten Agitator der völkischen Bewegung. Eine »völkische Oberschicht« – in sogenannten Mittgart-Ehen gezeugt – sollte die »Degeneration des Volkskörpers« verhindern und einen »neuen Adel« nach vermeintlich arischem Idealtypus bilden.57 Dieses Zuchtprogramm sah eine grundlegende Veränderung der Geschlechter- und Ehemoral vor – ein Grund für Linkes Anknüpfen an die Diskussion um Lamberty. Er bezeichnet ihn als »Mann, dem die Jugendbewegung manches verdankt [im] Kampf des jungen Geschlechts um neue, seinem Wesen gemäßere Ausdrucks- und Lebensformen […], weil er, unangekränkelt von der sie beherrschenden Sucht zur Spekulation, zum Reden über die Dinge, an der sie zu ersticken droht, den Weg zur Tat gewiesen hat und ihr voran geschritten ist. Diese ›Tat‹ war die Schaffung einer neuen Volksgemeinschaft.«58 Zunächst findet also eine positive Bewertung Lambertys statt, weil er erkannt habe, dass der »Fortbestand als Volk« nur in der Mehrehe sicher zu stellen sei. Doch Lambertys Plan oder vielmehr seine Darstellung durch Prellwitz’ »Bekenntnis«, auf das sich Linke hauptsächlich bezieht, würde nicht zur »Aufartung« beitragen: »Da ist einmal die Frage, welcher Mann denn das Recht haben soll, sich polygam zu betätigen. […] Nicht etwa körperlich und seelisch wertvolle Menschen, der Held, dem Herz und Sinne im Sturme zufliegen, wird das Zeugungsrecht ausnutzen, sondern der Jude, diesen Begriff ganz allgemein auf die ausgeworfene Spreu auf der Tenne des Lebens angewandt.«59 Die klare völkisch- antisemitische Position des Mittgart-Bundes tritt hier zu Tage. Zudem wird deutlich, dass es sicher nicht »freie Liebe« war, die Linke vorschwebte, sondern die planmäßige Zucht vermeintlich rassisch wertvollerer Menschen. Die Frage nach dem Verbleib von Mutter und Kind sieht er als zu wichtig an, als dass sie von Lamberty zu lösen sei. Sie sollten in einem »Kulturbund« unterkommen, bei dessen Beschreibung er auf Hentschels MittgartSiedlungen rekurriert: »Die Gemeinde, welche die Pflanzstätte der neuen Menschen sein will, muß also […] zunächst auf der wohlbegründeten dauernden Erde wirtschaftlich so fest verankert sein, daß nach menschlicher Berechnung ihre Auflösung oder auch nur ernstliche Erschütterung gar nicht im Bereiche der Möglichkeit liegt. […] Endlich aber ist die Gemeinde zusammengehalten durch
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(1858–1947). Seine Pläne zur Menschenzüchtung, sein Biologismus und Antisemitismus (Dissertation), Mainz 1978. Willibald Hentschel: Mittgart. Ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse, Leipzig 1904. Vgl. Felix Linzner : »Neuer Mensch« und »neuer Adel« – Willibald Hentschels Züchtungsutopie, in: Eckart Conze, Jochen Strobel, Daniel Thiel, Jan de Vries (Hg.): Adelssemantiken und Kulturkritik (im Druck). Linke: Liebe (Anm. 7), S. 1. Ebd. S. 3.
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die Einheit oder wenigstens ausgesprochene Verwandtschaft des körperlichen Typus.«60 Hentschel formulierte klarer, was Linke einem breiteren Leserkreis offensichtlich nicht mitteilen wollte. 100 Männer und 1000 Frauen sollten auf ostelbischen Rittergütern siedeln. Für die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber hätten körperliche und rassische Merkmalen gegolten. Geplant war, Männer und Frauen daraufhin getrennt leben und nur zu Mittgart-Ehen zusammenkommen zu lassen, die die Zeugung »rassisch wertvoller« Kinder zum Ziel hatten.61 Linke wendet sich an die Jugendbewegung und versucht, sie über die Diskussion um Lamberty und die dahinter stehende »Geschlechtsnot der Jugend«62 zu erreichen. Seine Blätter wenden sich »in erster Linie an die unverbildete Jugend beider Geschlechter, die dumpf erkennen, daß von der reinlichen Beantwortung der sexuellen Frage Gedeih und Verderb des Volkskörpers abhängt, die durch Mucks Unaufrichtigkeit verwirrt, von der überlegenen Dialektik seiner Gegner in die Enge getrieben, betäubt aber nicht überzeugt, nach einem klaren und befriedigenden Ausweg aus dem Chaos such.«63 Dieser Ausweg sei in Hentschels Schriften zu finden. Als interessante Randnotiz ist hinzuzufügen, dass es nicht nur der Mittgart-Bund war, der seine Haltungen durch den »Sündenfall« Lambertys in einem größeren Rahmen vereinbarer machen wollte. So gab Lamberty in seinen Gesprächen mit Linse an, dass die beiden ersten Frauen, mit denen er außereheliche Kinder zeugte, in eben jenem Bund gewesen seien und er gar nicht als Verführer auftreten musste.64 Ob Lamberty als Vertreter der völkischen Bewegung angesehen werden kann oder ob bei ihm, wie Linse konstatiert, eine offensichtliche völkische Ausrichtung vorliegt65, vermag dieser Text nicht vertiefend zu klären. Sicher ist, dass sich Lamberty auch in mehr oder weniger dezidiert völkischen Kreisen bewegte und von völkischen Autoren beeinflusst war. Die Frage nach einem geschlossenen Weltbild bedarf sicher einer anderen Fragestellung und Herangehensweise. Es wurde aber gezeigt, dass die Diskussion um diese – zu Recht oder zu Unrecht – in Verruf geratene Figur die Grenzen dessen erreicht hatte, was in jugendbewegten und lebensreformerischen Kontexten getan, geschrieben und diskutiert werden konnte. Die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft waren wohl schon übertreten. Die Vorstellungen von freier Liebe und völkischer Aufzucht, zwischen jugendbewegten und lebensreformerischen Idealen, rückten brennende Fragen der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens der Geschlechter, der Sexualität, der 60 61 62 63 64 65
Ebd. S. 4. Vgl. Hentschel: Mittgart (Anm. 56). Vgl. Linse: Geschlechtsnot (Anm. 43). Linke: Liebe (Anm. 7), S. 16. Vgl: Linse: Propheten (Anm. 1), S. 120. Vgl. ebd. S. 110.
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Ehe und grassierende Degenerationsängste in den Fokus. Muck und seine Neue Schar, aber besonders die durch sie vertiefend geführte Debatte, waren somit Teil einer »Avantgarde der Jugendbewegung«, die »den harten Panzer der bürgerlichen Lebensweise und ihrer Vorurteile zu sprengen«66 gedachte.
66 Halkett: Unhold (Anm. 48), S. 241.
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Gegen »Fremdkörper« und »Fremdherrscher« im eigenen Reich. Körperdenken bei Hans Paasche und Hermann Popert
Hans Paasche besitzt eine besondere Stellung in der Hagiografie der historischen freideutschen und späteren bündischen Jugendbewegung.1 Insbesondere seine kulturkritische Schrift »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland« wurde von der Jugendbewegung und später von Öko- und Friedensaktivisten aufgenommen und rezipiert. Die Briefe des fiktiven Lukanga Mukara formen und spiegeln die Wahrnehmung von Gesellschaft und Individuum, aber auch das Naturverständnis der frühen Jugendbewegung und bedeutender Teile der Ökologie- und Friedensbewegung nach 1945 wider.2 Im Sprechen über Hans Paasche werden insbesondere der »Lukanga«, seine Ökologie- und Zivilisationskritik, sein Pazifismus und seine Ermordung, u. a. resultierend aus seiner aktiven Rolle in der Novemberrevolution, aber auch sein späterer Antinationalismus lobend erwähnt und das Hauptaugenmerk darauf gelegt. Im folgenden Aufsatz stehen aber seine lebensreformerischen Ideale im Allgemeinen und sein Körperdenken im Besonderen im Fokus. Primär lebensreformerisch war Paasche als Mitherausgeber des »Vortrupps« tätig. Dies macht es nötig, einen genaueren Blick auf die Zeitschrift zu werfen. »Der Vortrupp« versuchte als explizit lebensreformerische Publikation, die verschiedensten Reformbemühungen zu bündeln. In der Definition des »Vortrupp« fielen unter den Begriff der Lebensreform u. a. der Vegetarismus, der Antialkoholismus aber auch die Esperantobewegung, der Pazifismus und insbesondere die Jugendbewegung. Die Frauenbewegung und der Kampf für das Frauenstimmrecht wurden aufgrund ihrer gesellschaftsverändernden, emanzipatorischen Inhalte begrüßt und unterstützt. Ermöglicht wurde die Gründung der Zeitschrift durch den 1 Vgl. Peter Morris-Keitel: »Umwertung aller Werte!«. Hans Paasches »Lukanga Mukara« neu gelesen, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1992, Nr. 17, S. 163–176. 2 Es war Helmut Donat, der Paasche in den 1980er Jahren einem breiteren Publikum wieder bekannt machte. Ab 1984 gab der Donat-Verlag den »Lukanga« in mehreren Auflagen heraus. Schon 1981 editierte Donat Aufsätze und Flugblätter Paasches unter dem Titel »›Auf der Flucht erschossen‹. Schriften und Beiträge von und über Hans Paasche«. 1992 gab Donat zusammen mit der Tochter Helga Paasche »›Ändert Euren Sinn!‹ Schriften eines Revolutionärs« heraus.
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Erfolg von Hermann Poperts Roman »Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit«. Popert wirkte neben Hans Paasche als Herausgeber der Zeitschrift. Als Gründer war insbesondere Popert für ihre programmatische Ausrichtung verantwortlich. Die zwischen 1912 und 1921 erschienene Zeitschrift wird oftmals wegen der emanzipatorischen Inhalte positiv gewertet. Es kann aber gesagt werden, dass der »Vortrupp« auch völkisch-nationalistisch ausgerichtet war. Die Ausrichtung auf das Deutschtum spiegelt sich im propagierten Körperbild wider. Des Weiteren ist das Körperbild oder vielmehr das Körperdenken mit seinen Dichotomisierungen ein normalisierendes. Diese Normalisierung des idealen Körpers besitzt das Potenzial des Ausschlusses, das durch die teils nationalistische Ausrichtung der Zeitschrift und ihrer Autoren verstärkt wird. Doch ist das propagierte Körperbild kein originär von Popert oder Paasche entwickeltes, sondern ein vielmehr durch die Verhandlung von Körper in der Lebensreform hergestelltes. Inwiefern Paasche das lebensreformerische Körperdenken teilte und ob es Unterschiede zum Körperdenken Hermann Poperts gab, soll durch einen Vergleich herausgearbeitet werden.
Körper der Lebensreform Wurde in der Lebensreform über Körper gesprochen, so ging es immer um Gesundheit. Körper als biologische Entitäten wurden entweder als gesund oder krank bzw. durch Krankheit gefährdet betrachtet. Bei der Lebensreform, die von Anfang an als »Bewegung aller Bewegungen«3 verstanden wurde, handelt es sich um ein Konglomerat verschiedenster Reformbewegungen.4 Trotz unterschiedlichster taktischer Zielsetzungen bzw. Kampffelder können der Lebensreform in ihrer Heterogenität gemeinsame Ziele zugeordnet werden. Jost Hermand sieht als Hauptcharakteristikum der bürgerlichen Lebensreform das Eintreten für eine natürlichere Lebensführung und die Schlichtheit in der Kultur.5 Dies impliziert eine Kritik an der Moderne und ihren Widersprüchen: die Industrialisierung, die Zerstörung der Umwelt, das kapitalistische Gewinnstreben und die soziale und individuelle Degeneration. Um den Widersprüchen der Zivilisation entgegen treten zu können, war Gesundheit für die Lebensreform Schlüsselfaktor im Kampf um eine neue Sittlichkeit. Die Gesundheit war aber selbst durch 3 Marc Cluet: Vorwort, in: ders., Cathrine Repussard (Hg.): Lebensreform. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht/ La dynamique sociale de l’impuissance politique, Tübingen 2013, S. 11–48, hier S. 12. 4 Vgl. ebd., S. 12ff. 5 Vgl. Jost Hermand: Die Lebensreformbewegung um 1900 – Wegbereiter einer naturgemäßeren Daseinsform oder Vorboten Hitlers, in: Cluet: Lebensreform (Anm. 3), S. 51–62, hier S. 52.
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die Zivilisation bedroht. Luxusstreben und falsche Mode, Umweltverschmutzung, schlechte Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Alkoholismus und Drogensucht bedrohten nicht nur den Körper, sondern da sie den Körper bedrohten, auch die Sittlichkeit und moralische Ausrichtung von Individuum und Gesellschaft. Sich den krankmachenden Einflüssen zu entziehen, ist als allgemeine Forderung der Lebensreform zu betrachten. Es kann also beim lebensreformerischen Diskurs um Gesundheit und den gesunden Körper von einem Präventionsdiskurs gesprochen werden, da es darum ging, erst gar nicht krank zu werden. Die Prävention von Krankheit, also sich um seine eigene Gesundheit zu kümmern, wurde in der Lebensreform als Notwendigkeit betrachtet, um intervenierend zu arbeiten zu können: Um für die Gesundung einzutreten, war es also notwendig, selbst gesund zu sein.6 Neben der Prävention ist deshalb auch die Intervention kennzeichnend für den lebensreformerischen Diskurs um Gesundheit. Des Weiteren ist der Gesundheitsdiskurs einer, der sowohl auf das Individuum als auch auf das Kollektiv ausgerichtet gewesen ist. Diskursiv wurde die Forderung nach Gesundheit an den Einzelnen gerichtet, da Gesundheit als primär individuelle Aufgabe gesehen wurde. Durch Verzicht, natürliche Lebensführung und Schlichtheit sollte die individuelle Gesundheit erreicht und bewahrt werden. Des Weiteren propagierte die Lebensreformbewegung bestimmte Techniken und Praktiken, die sich positiv auf das Individuum auswirken sollen, wie das Sonnenbad, die Freikörperkultur oder das »Fletschern«, die langsame Speiseaufnahme durch gründliches Kauen. Die Veränderung des Individuums sollte eine kollektive Veränderung zur Folge haben. Durch die Optimierung des Einzelnen sollte eine Verbesserung des Menschen erreicht werden. Die Optimierung wurde dabei in einem sozial-darwinistischen Rahmen gedacht und als notwendig für die Auslese betrachtet. Wie die Gesundheit war auch die Auslese im Kampf ums Dasein durch die moderne Zivilisation in Gefahr. Aufgrund der modernen Verhältnisse war der Kampf um das Dasein ein Kampf, der unter falschen Prämissen geführt wurde, der nicht zur gewünschten Auslese, sondern zu einer Selbstvernichtung führe. Unnatürliche Lebensführung und materielles Gewinnstreben führten im lebensreformerischen Diskurs nicht zu einer Verbesserung der Individuen und dadurch auch des Kollektivs, sondern zu Degeneration. Die Abwärtsspirale aufzuhalten, war also die Aufgabe und Ziel der Lebensreform. Zwar war die Sorge um sich selbst primär eine individuelle Aufgabe, doch wurden auch politische Forderungen gestellt. Eine biopolitische Ausrichtung des Staates wurde in den verschiedenen lebensreformerischen Zeitschriften und Publikationen, wie dem »Vortrupp«, diskutiert und als für reformbedürftig befunden. Die Forderung an den Staat war es, intervenierend bzw. präventiv die 6 Vgl. Friedrich Landmann: Begriff und Aufgabe der Lebensreform. Mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Jugendbewegung, Hartenstein 1921, hier S. 5.
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Gesundheit zu fördern und Grundlagen zu schaffen, dass eine individuelle Gesundung und somit auch eine des kollektiven Körpers stattfinden konnte.
Der Vortrupp: Popert und Paasche Große Teile der Forschungsliteratur beschäftigen sich mit Hermann Poperts Erfolgsroman »Helmut Harringa«.7 Im Roman beschreibt Popert den Titelhelden Harringa als perfekten Deutschen: groß, blond und abstinent.8 Günter Hartung sieht die Heldenwahl Poperts durch die besonderen persönlichen Umstände des Autors begründet, denn Popert sah sich aufgrund seiner jüdischen Abstammung dazu genötigt, den Helden so deutsch wie möglich zu gestalten. Es bleibt aber nicht nur dabei, dass Poperts Roman das Germanentum idealisiert, sondern er ist auch voller Ressentiments gegenüber Nichtgermanen. Hartung kommt zu dem Schluss, dass dies eine »Auskunft eines Assimilierten, der den lastenden Umweltdruck bis zum Selbsthaß verinnerlicht und der seine Komplexe zu einem repressiven Heroismus hochgesteigert hat«9, sei. Unter anderem deswegen wird Poperts Roman der sich in den Jahren zwischen 1890 und 1918 konstituierenden völkisch-nationalkonservativen Literatur eingeordnet.10 Er zeichnet sich also durch eine Germanophilie – Ernst Jünger ist sogar der Meinung, dass er den Begriff des Ariers als einer der Ersten positiv besetzt habe11 – und Zivilisationskritik aus. Der Roman geht in seiner Zivilisationskritik über das Genre der naiven, schematisierenden Heimatliteratur hinaus. Deswegen folgt er nicht »unbedingt jener anzutreffenden zeitgenössischen Realitätsblindheit, die von der Illusion der möglichen Rückkehr zur vorindustriellen,
7 Hermann Poperts »Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit« stieß auf große Resonanz. Dies ist unter anderem an der Auflagenzahl und Auflagenhöhe zu sehen: 1. Aufl. 1910, 37. und 38. Aufl. 1918: 181. –190. Tsd., 43. Aufl. 1919: 221.–230. Tsd., 45.–48. Aufl. 1921–1925: 251.–310. Tsd., 49. Aufl. 311.–315. Tsd., vgl. Ulrich Hermann: »Ein Krieger im Heere des Lichts« – Hermann Poperts »Helmut Harringa« als Spiegel-Bild lebensreformerischen Strebens in der Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1986–87, Bd. 16, S. 45–62, hier S. 46. 8 Vgl. J.A. Mangan: Blond, strong and pure: ›proto-fascism‹, male bodies and political tradition, in: The International Journal of the History of Sport, 1999, Nr. 16, H. 2, S. 107–127, hier S. 119. 9 Günter Hartung: Deutschvölkische Religiosität in der Belletristik vor dem ersten Weltkrieg (1993), in: Günter Hartung: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Gesammelte Studien, Leipzig 2001, S. 43–60, hier S. 43. 10 Vgl. Karl Detlev Sievers: Antialkoholismus und Völkische Bewegung. Hermann Poperts Roman Helmut Harringa, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2004, 29. Jg., H. 1, S. 29–54, hier S. 30. 11 Vgl. Ernst Jünger : Annäherungen. Drogen und Rausch, Stuttgart 1970, hier S. 174.
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vorkapitalistischen Zustände getragen ist.«12 Der Roman ermöglichte die Gründung des »Vortrupps«. Die Zeitschrift wurde als Dauerfortsetzung des Romans beworben.13 Im »Vortrupp« fand Popert das Sprachrohr, um sein lebensreformerisches Programm nach außen zu tragen. Elitär in seinem Gestus und nicht ohne ein hohes Maß an Sendungsbewusstsein sammelte Popert mit Hilfe Paasches im Vortrupp verschiedene reformerische Autoren, wie den Nacktprediger und bekennenden Antisemiten Heinrich Pudor und den Reformpädagogen Ludwig Gurlitt, aber auch den sudetendeutschen Heimatkämpfer Emil Lehmann. Die Zeitschrift »Der Vortrupp« gehört wie der »Dürerbund« und der »Kunstwart« Ferdinand Avenarius’ zur gebildeten Reformbewegung des Deutschen Reichs vor dem ersten Weltkrieg und der frühen Weimarer Republik.14 Der »Vortrupp« sah sich als antiparteilich und überparteilich, hatte aber eine stark politische Ausrichtung. Es ging dem »Vortrupp« darum, durch die Veröffentlichungen und den 1912 gegründeten Vortrupp-Bund Einfluss auf die Gesetzgebung und »rassenhygienische« Ausrichtung des Staates zu erlangen.15 Dabei grenzte sich der »Vortrupp« von mystizistischen völkischen Strömungen und dem philosophischen und ökonomischen Materialismus ab. Ziel war vielmehr ein praktischer bzw. praktizierter Idealismus, also eine neue Sittlichkeit.16 Dieses Ziel sollte durch die Bekämpfung von Alkoholismus, Lasterhaftigkeit und der damit verbundenen Degeneration erzielt werden. Nikotin und Alkohol wurden als gefährlichste Nervengifte mit verheerenden Folgen für Individuum und Gesellschaft eingestuft. Insbesondere der Alkohol führe zur Verrohung von Körper und Sittlichkeit. Da die propagierte neue Sittlichkeit über die Modifizierung bzw. der Optimierung des Körpers geschehen sollte, ist es als strategische Absicht zu betrachten, dass das Deckblatt junge Männer mit nacktem Oberkörper und festem Blick abbildet. Der Historiker George Mosse 12 Sievers: Antialkoholismus (Anm. 10), hier S. 32. 13 Vgl. Ulrich Linse : Der Vortrupp (1912–1921). Ein lebensreformerisches Organ des fortschrittlich-liberalen Konservatismus, in: Michel Grunewald, Uwe Puschner (Hg.): Le milieu intellectuel consevateur en Allemagne, sa presse et ses r8seux (1890–1960)/ Das konservative Intellektuellenmilieu, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Berne 2003, S. 377–406, hier S. 378. 14 »Der Harringa war von Ferdinand Avenarius’ Dürerbund herausgegeben worden und der Vortrupp verschmolz schließlich im April 1921 mit dem von Avenarius herausgegebenen Kunstwart: Anfang und Ende des Vortrupps sind also durch die Einbettung in diesen Sektor der damaligen kulturellen Gebildeten-Reformbewegung markiert«; Linse: Vortrupp (Anm. 13), hier S. 378. 15 Vgl. Ulrich Linse: »Wir sträuben uns auch ein wenig gegen fanatische Reformer«: Jugendbewegter Lebensstil oder lebensreformerische Jugenderziehung? Am Beispiel der AlkoholFrage im Wandervogel und in der Freideutschen Jugend, in: Ulrich Herrmann (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit…«. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim u. a. 2006, S. 205–231. 16 Popert: Krieger (Anm. 7), S. 45–62.
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entdeckt hier eine Spiegelung des Ideals nordischer Schönheit.17 Der »Vortrupp« und seine Autoren wurden insbesondere in der Jugendbewegung rezipiert, wobei »Harringa« und »Lukanga« eine große Rolle einnehmen. Die starke Resonanz innerhalb des Wandervogels und anderer Jugendvereinigungen, aber auch der Erfolg des »Helmut Harringa« zeigen, dass der zivilisationskritische Diskurs um die Rassenhygiene, also der Kampf gegen Degeneration und die damit verbundene Erhöhung des Deutschtums, aber auch des allgemeinen Menschentums und der Gesundheit nicht nur von einzelnen lebensreformerischen Gruppierungen geführt wurden, sondern vielmehr als gesamtgesellschaftlicher Topos zu betrachten ist. Es kann also von einer allgemeinen Beunruhigung gesprochen werden, wobei die Rettung bzw. das Heil in der Optimierung des gesellschaftlichen und individuellen Körpers gesehen wurde. Der 1912 aus Leservereinigungen entstandene Deutsche Vortrupp Bund (DVB) verstand sich als Avantgarde der Lebensreformbewegung. Die vom Vortrupp-Bund und der Zeitschrift propagierte »Rassenhygiene« bedeutete eine lebensreformerische Ertüchtigungsarbeit.18 Das Ziel war es, jeden »Volksgenossen« gesünder, tüchtiger und willensstärker zu machen, und dadurch zukünftigen Generationen bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Die Jugend spielte dabei eine wichtige Rolle für die Erreichung dieser Ziele. Der »Vortrupp« versuchte deshalb, sein Programm und seine Ziele in der Jugend zu verbreiten. Die Jugendbewegten, also die erwachte Jugend, wurden vom »Vortrupp« als integraler Teil der Lebensreform, dem Werden und Strebenden betrachtet. Die Jugendbewegung wurde vom »Vortrupp« unterstützt, weil sie als Teil und Avantgarde einer allgemeinen Lebensreform betrachtet wurden. Deshalb wurde der Bund Mitinitiator des Freideutschen Jugendtages 1913. Doch scheiterte der »Vortrupp« daran, die freideutsche Jugend für sich einzunehmen, denn den alten »Reformphilistern« wurde schon in den Marburger Beschlüssen 1914 eine Absage erteilt. Für die Jugendbewegten wurde Selbsterziehung in jugendlicher Gemeinschaft zum primären Ziel und nicht das Reformprogramm im Sinne des »Vortrupps«. Durch die Trennung von der freideutschen Bewegung sah sich der Vortrupp-Bund dazu veranlasst, eine eigene Vortrupp-Jugend zu initiieren.19 Aufgrund des Krieges scheiterte aber dies. Auch wenn die Jugend nicht gewonnen werden konnte, ist dies nicht als Absage an den vom »Vortrupp« propagierten Idealen zu werten.
17 George L. Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die Völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus. Königstein/Ts. 1979, hier S. 117. 18 Vgl. Linse: Reformer (Anm.15), S. 223. 19 Lotte Behnke, J. Dürbeck, Walter Groothof, Hassebrauk, Hans Paasche, Albert Richter : Wie die Vortrupp-Jugend denkt (Aus der Aussprache auf dem 1. Deutschen Vortrupp-Tage nach dem Berichte »Auf Fichtes Bahnen«), in: Vortrupp-Jugend. Monatliche Beilage zum »Vortrupp«, 1915, Nr. 1, S. 5–6.
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Hierfür spricht die durchgehende Bewunderung für Paasche, aber auch die verbreitete und anhaltende Lektüre »Harringas«. Es ist zu betonen, dass der »Vortrupp« gewissermaßen als atypisch für die Lebensreform betrachtet werden kann. Nach Jost Hermand waren die meisten der Lebensreformer »entweder naiv gläubige Idealisten oder spinnerte Außenseiter, die sich kaum oder gar nicht bewusst waren, welche Konsequenzen ihre Anschauungen in der politischen Praxis einmal haben könnten.«20. Meines Erachtens können der »Vortrupp«, und insbesondere Hans Paasche als Mitherausgeber der Zeitschrift, als relative Ausnahmen betrachtet werden. Paasche, insbesondere nach seinem Ausscheiden aus dem »Vortrupp« und damit seine Beendigung der Herausgeberschaft – der »Vortrupp« und Popert in deren Opportunismus wurden ihm zu nationalistisch –, ist als einer der wenigen »eindeutig sozialbewusste[n] Realisten, denen es in ihrer antiwilhelminischen Gesinnung vor allem um eine Abkehr vom Hurrapatriotismus und industriellen Fortschrittswahn ging«21 zu betrachten. Doch trotz aller Faktizität und allem Realismus in seiner Kritik besaß Paasche auch etwas Hoffnungsvolles, Utopisches. Für Paasche war ausschlaggebend, dass die in der Lebensreform formulierte Absage an den Materialismus und die geforderte »gesunde Lebensführung«, also der Verzicht auf Fleisch und Nervengifte, primär Alkohol und Nikotin, zu einer neuen Welt mit mehr Menschlichkeit und Nächstenliebe führen sollte. In dieser neuen Welt sollten sämtliche Lebewesen als schützenswert betrachtet werden.22 Das gewünschte Resultat, eine gelebte Menschlichkeit und Nächstenliebe, findet sich auch bei Popert. Aus diesem Grund grenzt sich Popert 1912 in seinem Konzept der Rassenhygiene explizit von eugenischen Überlegungen zur Ausmerzung unerwünschten Lebens ab. Wie Paasche die Lebensreform so sieht Popert sein Konzept der Rassenhygiene als Teil einer allgemeinen Lebensreform bzw. der biopolitischen individuellen und gesellschaftlichen »Aufartung«, als gelebtes Christentum und als Menschlichkeit. Die »Raubtiereugenik«, also die Ausmerze der Kranken und Schwachen, widerspricht nach Popert dem Gebot der christlichen Nächstenliebe. Ziel der Rassenhygiene dürfe nicht die Ausmerze sein, sondern das Emporentwickeln, so dass die »Schwachen in der Menschheit […] stark werden«23 Trotz der genannten relativen Atypik des »Vortrupps« und der Herausgeber, sowohl Popert als auch Paasche, ist die von Popert gemachte Unterscheidung 20 Hermand: Lebensreformbewegung (Anm. 5), S. 61f. 21 Ebd. 22 Vgl. Hans Paasche: Der Gedanke der Lebensreform, in: Paasche: Sinn (Anm. 2), S. 130–139, hier S. 139. 23 Hermann Popert: Jesus Christus, in: Der Vortrupp. Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit, 1912, 1. Jg., Nr. 24, S. 737–741, hier S. 741.
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zwischen krank und gesund bzw. stark und schwach typisch für den lebensreformerischen Körperdiskurs. Auch Hans Paasche, der sich nach dem ersten Weltkrieg vom Lebensreformer zum Revolutionär wandelte und schon während des Weltkrieges den Pazifismus als sein Hauptanliegen betrachtete, und u. a. auch deshalb für die Konterrevolution suspekt und deswegen auf brutale Weise ermordet wurde, ist insbesondere mit seinen früheren Schriften im Vortrupp Teil des oben skizzierten Diskurses um Gesundheit: Von Paasche selbst wissen wir, dass er überzeugter Abstinenzler, Nichtraucher und Vegetarier war. Außerdem war er begeisterter Sportler. Es gab kaum eine Gelegenheit, bei der er nicht seine körperliche Fitness demonstrierte.24 Er, der das gewünschte Ideal vorlebte, versuchte mit seinen Aufsätzen im Vortrupp ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der individuellen und kollektiven Lebensreform zu schaffen. Auch propagierte er konkrete Mittel und Wege, also Techniken der Selbstreform. Darunter fiel nicht nur eine vegetarische Lebensweise, sondern auch sportliche Betätigung, vorzugsweise im Freien. Das prominenteste Werk und das mit der nachhaltigsten Wirkung ist aber der »Lukanga«. Beim »Lukanga« handelt es sich um insgesamt neun Briefe. Sechs davon wurden zwischen 1912 und 1913 im Vortrupp veröffentlicht. 1921 wurden sie posthum erstmals als Buch herausgegeben. In seinen satirischen Briefen beschreibt Paasche in der Person eines ostafrikanischen Forschungsreisenden die Deutschen, die Wasungu. Fiktive Reiseberichte, die distanziert und oftmals mit satirischem Unterton die eigene Gesellschaft beschreiben und kritisieren, besitzen spätestens mit Montesquieus »Lettres Persanes« eine Tradition in Europa. Montesquieus »Persische Briefe« gelten als Vorlage für Paasches Werk, doch konnte Paasche auch Hölderlin und dessen Hyperion als Vorbild nehmen bzw. hatte ihn gelesen.25 Paasche kritisiert aus der Sicht des Afrikaners die westliche Zivilisation und eigentlich alles, was diese ausmacht, außer der Musik, die den Afrikaner daran zweifeln lässt, ob das harsche Urteil über die Deutschen in diesem Punkt zu relativieren sei. Als Lebensreformer kritisiert Paasche die moderne Gesellschaft, ihre Produktionsweise, ihren Fortschrittsglauben und ihre ungesunde Lebensführung. Der deutschen Gesellschaft stellt er den Afrikaner entgegen, der aus einer Gesellschaft kommt, die eine natürlichere, naturverbundene und gesündere Lebensführung besitzt. In den verschiedenen Briefen spricht Paasche Phänomene deutscher Körperkultur an, die er als kritisch empfindet. Paasche beschreibt unter anderem die Mode. Ein Merkmal der von dem Ethnografen Lukanga beschriebenen Mode ist, dass sie kranke Menschen gesund aussehen lasse. In der Mode spiele die Bequemlichkeit keine große Rolle, sondern vielmehr der Schein. In Kleidung gut auszusehen, sei das primäre 24 Vgl. Otto Wanderer (d. i. Otto Buchinger): Paasche-Buch, Hamburg 1921. 25 Hans Paasche: Meine Lebenslauf, in: Paasche: Sinn (Anm. 2), S. 54–76, hier S. 75.
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Ziel. Aufgrund des äußeren Scheins sei es nicht mehr nötig, den Inhalt der Kleider zu formen: »Die Kleider der Männer werden so gemacht, daß jeder schwache ebenso aussieht wie ein sehniger Mann, und daß kein Mann den Wunsch hat, seinen Körper zu verbessern oder sich davor schützt den Leib zu entstellen: die Kleider verdecken jede Schwäche. Selbst die Frauen sehen bei der Wahl der Männer nicht auf die Schönheit und Kraft des Körpers, sondern auf die Form und den Wert der Kleider und des Hutes.«26
Des Weiteren mache es die Mode nicht nur unnötig sondern auch unmöglich, sich sportlich zu betätigen: »[…] [U]nd weil sie am nächsten Tage dieselben Kleider anziehen wollen, dürfen sie nicht allzusehr schwitzen. Deshalb und um ihre Kleider zu schonen, müssen sie langsam gehen. Laufen ist nur den Kindern erlaubt. Die Erwachsenen laufen nie, weil sie aber immer Eile haben, gehen sie auch nicht: sie fahren. Durch den Mangel an Bewegung verändert sich ihr Körper so sehr, daß sie sich nackt nicht mehr zeigen könnten, selbst wenn es Sitte wäre, ohne Kleider zu gehen, und viele Männer sehen aus wie gemästete Hunde, oder wie die Flußpferde von Ukonse.«27
Schuhe sind ein anderes Modeutensil, das von Paasche in seinem fiktiven Reisebericht beschrieben wird. Das Tragen der Schuhe führe zur Deformation der Füße. Es ist aber vor allem das Korsett, das er kritisiert. Paasche ist der Meinung, dass die Frau dadurch schwach gehalten würde. »Das Leibgerüst ist so eingerichtet, daß die Frau nicht vollständig atmen kann. Der Leib wird an der Stelle, wo er sich ausdehnen soll, fest zusammengehalten, und ein Teil der Lunge fault innen und stirbt, weil er gehindert wird zu leben. Es fehlt ihr nämlich der tiefe Atem. Infolgedessen kann die Frau nicht laufen und keine Bewegung ausführen. Deshalb verkümmert das Fleisch unter dem Gerüst, und der Körper wird oben und unten furchtbar dick, was die Wasungu schön finden. Schon im jungfräulichen Alter wird der Leib der Mädchen eingeschnürt, weil man fürchtet, sie könnten zu lange gesund bleiben. Der beabsichtige Erfolg tritt auch ein: die meisten Frauen sind frühzeitig krank und hinfällig, und mit einer gewissen Schadenfreude sprechen die Männer dann von dem ›schwachen Geschlecht‹.«28
Die Kritik am Korsett stellt einen Allgemeinplatz in der Lebensreform dar. Der damals gängigen Damenmode und insbesondere dem Korsett wurden von den verschiedensten lebensreformerischen Autor_innen degenerative und krankmachende Eigenschaften zugeschrieben. Auffallend ist, dass vor allem die Da-
26 Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, hg. von Franziskus Hähnel mit einem Nachwort von Iring Fetscher, Bremen 1998, S. 26. 27 Ebd., S. 26f. 28 Ebd., S. 35.
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menmode einen großen Teil in deren Debatten um Kleidungsreform einnimmt.29 Über den weiblichen Körper als komplementär zum männlichen wird versucht, das Programm der Gesundung voranzutreiben. Der Befreiung vom Korsett als Symbol der Unterdrückung gesunder, weiblicher Eigenschaften sollte unter anderem bei Paasche und Popert die politische Emanzipation der Frau folgen. Wie gesagt, unterstützte der »Vortrupp« die Frauenbewegung. Für Popert stand fest, dass sich die politische Partizipation der Frau durch das aktive und passive Wahlrecht positiv auf die Gesundung des Volkes ausüben werde. Eine nur von Männern dominierte Politik war für Popert unvernünftig, da die weiblichen Perspektiven außer Acht gelassen würden. Er erhoffte sich, dass wenn Frauen eine aktive Rolle in der Politik einnehmen würden, bestimmte, von ihm als weiblich bzw. mütterlich konnotierte politische Ziele mehr Geltung finden würden. Dies waren Kinderschutz, Kampf gegen den Alkohol und vor allem die notwendige besondere Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen in der Industrie. Für ihn war der »Massenerwerb« von Frauen eine unumstößliche Realität. Eine weibliche Politik würde aber dazu führen, dass der Erwerb von Frauen so gestaltet bzw. reformiert würde, dass die Frau ihrer natürlichen Bestimmung folgen könne, nämlich Mutter zu sein.30 Auch Paasche sieht in der politischen Teilhabe der Frau eine Möglichkeit zur Verbesserung der weiblichen und gesamtgesellschaftlichen Situation. Er warnt aber davor, dass, wenn Frauen an politischer Bedeutung gewinnen, diese »Realpolitik« betreiben könnten und dadurch nicht für die »Gesundung« des Volkes arbeiten würden. Er fordert insbesondere die Frauenbewegung dazu auf, die Politik in den Dienst der Lebensreform zu stellen, anstatt sie wie die männliche »Realpolitik« als Interessenspolitik zu betreiben.31 Paasche kritisiert des Weiteren die falsche und ungesunde Ernährung.32 Sowohl die Beschaffenheit als auch die Produktion und der Verbrauch der Nahrung werden von Lukanka Mukara beschrieben und kritisch hinterfragt. Als überzeugter Vegetarier reibt sich Paasche am übermäßigen Verzehr seiner deutschen Zeitgenossen von Fleisch und Wurstwaren. Auch beschreibt er die Mast von Schweinen, die die Tiere krank machen würde. Die Deutschen, so lässt Paasche seinen Afrikaner Lukanga es ausdrücken, würden sich aber auch selbst mästen. Er ist überzeugt, dass die Deutschen anstatt richtig zu essen, vielmehr das Essen einfach nur schlucken würden. Essen in Deutschland hat für Paasche schon perverse Züge. Paasche lässt Mukara die Art und Weise, wie die Wasungu essen, 29 Vgl. Astrid Ackermann: Kleidung, Sexualität und politische Partizipation in der Lebensreformbewegung, in: Cluet: Lebensreform (Anm. 3), S. 161–182, hier S. 171. 30 Vgl. Hermann Popert: Der »Vortrupp« und die Frauenbewegung, in: Der Vortrupp. Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit, 1912, 1. Jg., Nr. 18, S. 545–560, hier S. 551ff. 31 Hans Paasche: Der reine Teint, in: Vortrupp (Anm. 30), Nr. 7, S. 193–198, hier S. 194f. 32 Vgl. Paasche: Forschungsreise (Anm. 26), S. 48ff.
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als unnatürlich erscheinen. Die sprachliche Unterscheidung zwischen dem tierischen Fressen und dem menschlichen Essen, die Paasches Lukanga Mukara auf seiner fiktiven Reise vorfindet, erscheint diesem als verwirrend und auch falsch. Das Äsen und Wiederkauen der Tiere sei natürlicher als das gierige Schlucken der Nahrung und deshalb auch besser. Paasche war davon überzeugt, dass eine gesunde Ernährung von einer veränderten Achtsamkeit beim Essen begleitet wird. Die Esskultur der Deutschen mündet für Paasche und seine Figur Lukanga Mukara in Völlerei. Diese Völlerei führe zu Übergewicht. Obgleich satirisch überspitzt, lässt Paasche Lukanga Mukara nicht nur radikal die Frage nach dem Nutzen der Übergewichtigen in der Gesellschaft stellen, sondern pathologisiert sie: »Es sind unter den Wasungu viele, die besonders starke Mast betreiben, und unter jeder Arbeitsgemeinschaft findet sich ein bestimmter Teil solcher Mästlinge. Aber, obwohl sie alles tun, um möglichst schnell unfähig zu werden, Waffen zu führen und gegen den Feind zu gehen, verlieren sie doch keins der Bürgerrechte, und wenn ich einem solchen zur Mast aufgestellten Krieger sage, daß in Kitara nur der die vollen Ehrenrechte des Staatsbürgers habe, der im Schnelllauf Gewisses leiste, dann schluckt er nur noch mehr.«33
An mehreren Stellen des Lukanga kritisiert Paasche den Alkoholkonsum und Rausch. Ganz im Sinne des lebensreformerischen Körperdenkens führe der Konsum von Nervengiften zu einer Verrohung. Dabei prägt Paasche den Begriff des »Nikarnalken«. Ein »Nikarnalke ist ein Karnivore, der Niktotin raucht und Alkohol einnimmt. Und dadurch weniger schlank, weniger klug und weniger schön wird, als er sein könnte.«34 In seiner Beschreibung des Tabakrauchens geht Paasche nicht nur auf die tatsächlichen körperlichen Schäden für den einzelnen und die Gesellschaft ein, sondern kritisiert auch die Tabakindustrie, ihre Zulieferer und Zweigindustrien. Insbesondere in deren Profitgier sieht Paasche das größte Hindernis für ein absolutes Rauchverbot. Außerdem sieht er im Staat bzw. in der politischen Elite zu wenig Willen, ein absolutes Rauchverbot durchzusetzen, da sie abhängig von dem Wohlwollen der Industriellen und der Einnahmen durch die Tabaksteuern sei.35 Es ist also auch die Elite, die schädigend auf das Volk wirke. Paasche wendet sich gegen Profitgier und einem falschen Elitegedanken. Die Kritik an der Elite ist für eine Abhandlung über das Körperdenken wichtig, weil der Elite wirtschaftlich und politisch krankhafte und gesundheitsschädliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Es sind also Ungesunde und Körperschädigende, die für Paasche viel zu viel Macht besitzen. Es ist nicht nur der politische und wirtschaftliche Einfluss, den Paasche kritisiert, 33 Ebd., S. 52. 34 Wanderer : Paasche-Buch (Anm. 24), S. 10. 35 Vgl. Paasche: Forschungsreise (Anm. 26), S. 79ff.
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sondern auch der kulturelle. Herrschaftsrituale und Ehrvorstellungen der Obrigkeit werden als verrohend und degenerierend betrachtet.36 Poperts »Lukanga« ist der Friese »Helmut Harringa«. Er ist ein jugendlicher und energischer Held. Im Unterschied zu Lukanga ist Harringa kein satirisch beobachtender Charakter, sondern vielmehr Protagonist, der zum Handeln auffordert, nämlich zum Kampf gegen den Alkohol. Bei der Lektüre wird schnell klar, dass Paasches universelle Lebensreform sich von Poperts Konzept der Lebensreform unterscheidet. Wie schon erläutert ermöglichte der Erfolg des »Helmut Harringa« die Gründung des »Vortrupps«. Das Erscheinen des Buches in mehreren Auflagen lief parallel und zeitlich darüber hinaus zum Erscheinen der Zeitschrift. Aus diesem Grund muss das Körperdenken Poperts im »Vortrupp« und im Roman als Gleiches gesehen werden. Hierfür spricht, dass keine wirkliche Revision des im Roman vertretenden Körperbilds Poperts bekannt ist. Das Buch ist ein Episodenroman, der die Entwicklung des Protagonisten von einem idealistischen jungen Mann zu einem engagierten Kämpfer gegen den Alkohol in den Jahren 1903 bis 1907 beschreibt. Das im Harringa gezeichnete Körperbild wird schon im ersten Kapitel deutlich. Körper werden von Popert stereotyp dargestellt. Rassenzugehörigkeiten werden über den Phänotyp markiert und nicht wertneutral gegenübergestellt. Das Buch beginnt damit, dass der junge Helmut Harringa beigeordneter Richter bei der Verhandlung gegen den jungen Inselfriesen Boy Wingertsen ist. Den Vorsitz in der Verhandlung führt Richter Sydow. Der junge Inselfriese ist der Unterschlagung angeklagt. Nur Harringa setzt sich für den Angeklagten ein, da er von dessen Unschuld überzeugt ist. Seiner Meinung nach kann ein Friese ein solches Verbrechen nicht begehen. Sydow hingegen möchte so schnell wie möglich den Fall zu Ende bringen. Es scheint, dass es dem Richter egal ist, ob der Angeklagte tatsächlich schuldig oder unschuldig ist. Harringa wird als germanisch gekennzeichnet. Der Richter hingegen wird als slawisch markiert. Aufgrund seines germanischen Blutes fühlt Harringa gerechter und ist deshalb von der Unschuld überzeugt.37 Harringa verkörpert das nordische Rassenideal. Er wird als von hohem Wuchs, blond, langschädlig beschrieben. Auch seine Frau verkörpert dieses Ideal. Frauen kommen im Roman aber nur als Randfiguren vor. Sie werden auf ihre Rolle als Unterstützerinnen und Mütter bzw. als gefährdende Prostituierte reduziert. Auch Popert kritisiert die Elite. Ähnlich wie Paasche ist er davon überzeugt, dass sie mitverantwortlich für die Degeneration ist. Im Roman wirft Popert den wirtschaftlich führenden Kreisen der Hamburger Bürgerschaft eine moralische 36 Vgl. ebd., S. 68ff. 37 Vgl. Hermann Popert: Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit, Dresden 1925 [1910], S. 9.
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Doppelbödigkeit vor. Alkoholismus wird von unterschiedlichen Vertretern der führenden Schichten als Problem der breiten proletarischen Massen erkannt, doch wird der eigene Alkoholkonsum nicht kritisch betrachtet. Harringas Alkoholabstinenz wird von diesen sogar als unmännlich und sein Streben nach Idealen als ungesund beschrieben.38 Popert prangert ferner an, dass Nichtdeutsche und Ungesunde Macht über Deutsche und Gesunde besitzen und sie gegen diese anwenden. Dieser Missstand wird unter anderem durch die Figur Sydows, aber auch durch die Indifferenz der Vertreter der führenden Schichten zum Alkohol deutlich gemacht. Als roter Faden zieht sich der Kampf gegen den Alkohol durch den gesamten Text. Alkohol und Rausch werden von Popert als gefährlich betrachtet. Vor dem Rausch und dessen Folgen ist nach Popert fast niemand sicher. Harringas Bruder, der dessen äußerliches und sittliches Ebenbild ist, wird zum Alkohol verführt. Betrunken geht dieser zu einer Prostituierten und steckt sich mit der Syphilis an. Daraufhin bringt er sich um, weil er nicht mit der Schande leben kann und auch weil er keine Gefahr für andere sein will.39 Poperts Roman ist aber nicht eine bloße Aufzählung von solchen Verfallsgeschichten. Bis auf eine weitere Stelle beschäftigt er sich nicht direkt mit den schädlichen Folgen des Alkohols. Vielmehr steht der Kampf gegen den Alkohol im Mittelpunkt des Romans. Harringa wird an mehreren Stellen als jugendlich und energisch beschrieben. Er verkörpert das Ideal, das auf dem Titelblatt des Vortrupps zu sehen ist. Dahinter steht aber auch ein Konzept, dass jung besser sei als alt. Doch bleibt, dass das Junge aufgrund des Alkohols bedroht ist. Wie in der Episode über Harringas Bruders deutlich wird, gilt es, die Jugend mit der propagierten Alkoholabstinenz vor dem körperlichen und sittlichen Verfall zu schützen und das gesundende Potential nicht zu vergeuden. Die Vermeidung von Giften wie Alkohol ist eine Forderung, die die Texte Paasches ebenfalls auszeichnet. Auch Paasche sieht in der Vermeidung von Alkohol und Nikotin, ebenso wie in der vegetarischen Lebensweise eine Möglichkeit der ideellen Verbesserung der Gesellschaft und des Individuums, aber auch der Prävention von Erkrankungen. Für beide Autoren ist es nicht nur besser gesund zu sein, sondern überhaupt nicht krank zu werden, deshalb auch die Abwehr Lukanga Mukaras, die Körperkultur der von ihm beschriebenen Europäer anzuerkennen. Für ihn habe diese im großen Ganzen nichts wahrhaft Menschliches, also auch nichts Natürliches.40 Paasche trennte sich 1916 vom »Vortrupp« und beendete seine Mitherausgeberschaft der Zeitschrift. Ihm wurde, wie schon erwähnt, die Zeitschrift zu nationalistisch. Für Paasche hat der 38 Vgl. ebd., S. 205ff. 39 Vgl. ebd., S. 170ff. 40 Vgl. Paasche: Forschungsreise (Anm. 26), S. 33.
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»Vortrupp« im Dienst der »Schuldigen gestanden und […] geholfen den Völkerhaß zu schüren«.41 Poperts nationalistische Haltung und seine Versuche, sich als Pazifisten zu stilisieren, griff Paasche scharf an.42 Der Bruch der beiden wurde durch den Weltkrieg und der Frage nach der Kriegsschuld ausgelöst. Doch war der Bruch meines Erachtens schon früher angelegt, nämlich in der gewissermaßen unterschiedlichen Auffassung von Lebensreform. Poperts Konzept – und dies zeigen seine Germanophilie, sein Antislawismus und Antiasianismus, die im Harringa deutlich werden –, war von Beginn an ein deutschnationales Programm. Paasches Konzept hingegen, auch wenn er in Teilen deutschnational bzw. kollektivistisch argumentiert, war ein mehr oder weniger auf die ganze Menschheit zielendes.43 Die Dichotomisierung und die daraus folgende qualitative Bewertung von »Deutsch« und »Nichtdeutsch« wurde für Paasche im Zuge des Ersten Weltkriegs in hohem Grade problematisch, war aber kennzeichnend für Poperts Konzept der Lebensreform. Für Paasche stand nicht unbedingt fest, dass deutsch gleich gesund sein sollte: Ein Afrikaner, Lukanga Mukara, ist es, der gesünder und natürlicher lebt als die beschriebenen Deutschen. Die zivilisationskritische Haltung ist bei beiden Autoren angelegt. Daraus resultiert eine gemeinschaftliche Kritik an der damals modernen Körperkultur. Sowohl Paasche als auch Popert bedienen sich der Gegensatzpaare gesund/krank und männlich/weiblich. Zwar sind die beiden keine Antifeministen, wie andere Lebensreformer44, doch werden sowohl körperliche als auch psychische Eigenschaften den Geschlechtern zugeordnet. Die Frau muss mütterlich und unschuldig bleiben. Sie soll nicht die Vorurteile der Männer übernehmen, wie Paasche es ausgedrückt hat. Die Frauenmode mache krank, deshalb müsse die Frau die Kleidung verändern, so dass sie neben dem Mann ihre natürlichen Aufgaben erfüllen könne. Paasche und Popert sehen die Prävention von Erkrankung als ein gesellschaftliches und individuelles Muss. Das ist nicht nur die Pflicht eines Einzelnen, sondern auch die Pflicht der Politik. Diese werde aber von der herrschenden Elite nicht wahrgenommen. Gesundheit ist nicht nur in einem medizinischen Sinne besser, sondern wird im »Vortrupp« und in der Lebensreform im Allgemeinen moralisch aufgeladen. In der Forderung zur Gesundung und der Wahrnehmung der vermeintlich natürlichen Geschlechterrollen ist, trotz positiver Eugenik, da nicht auf Ausmerze angelegt, implizit doch die Möglichkeit des Ausschlusses bzw. der Diskriminierung vorhanden, da qualitative Normen gesetzt werden.
41 Hans Paasche: Nationalistische Pazifisten (Herbst 1919), in: Paasche: Sinn (Anm. 2), S. 209–216, hier S. 210. 42 Vgl. ebd., S. 211. 43 Vgl. Paasche: Gedanke (Anm. 22). 44 Vgl. Ackermann: Kleidung (Anm. 29), S. 169.
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Zum Engagement des Verlegers Eugen Diederichs: Volkskunde, Jugendbewegung und Körperkultur
Zu Beginn der zwanziger Jahre skizzierte Eugen Diederichs folgendes Bild von den Sonnenwendfeiern, die er seit rund fünfzehn Jahren ausrichtete: »Wie eine Sonnenwende zu vertiefen ist, darüber können keine Vorschriften gemacht werden, es muß nur der Rahmen möglichst weit gespannt werden, damit sich der Geist der Gemeinschaft auswirken kann. Wir haben außer unseren Spielen, Volkstänzen und Liedern es mit Märchenerzählen, Gedichtelesen und Einzeltänzerinnen, z. B. aus Loheland, versucht. Das eine Mal auch mit einigen halbnackten Ringkämpfern, die im langsamen Ringen die Bewegungsschönheit des männlichen Körpers dartun sollten.«1
In seiner Schilderung führt er genau diejenigen Aspekte an, die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen: Seine Sonnwendfeiern waren Versuche der Vergemeinschaftung im Fest, für die der Verleger die Jugend, genauer den mitwirkenden Serakreis, als wesentlich ansah. Inwiefern waren die hier angesprochenen neuartigen Körperpraktiken für ihn von Belang? Und welche Bedeutung maß er Volkslied, Tanz und Märchen zu? Unter den Schlagworten Volkskunde, Jugendbewegung und Körperkultur möchte ich der Frage nachgehen, welche Ziele Diederichs als Förderer und Verleger der Lebensreformbewegungen verfolgte.
Volkskunde im Kontext der Kulturerneuerung Im Jahr 1912 hat Diederichs sich als »neuen Typus von Verleger« beschrieben, der zwischen »augenblicklicher Mode und dauerndem Entwicklungswert« unterscheide; mit seiner Bücherproduktion setze er sich »bewußt kulturschaffend«2 ein. Den Kulturverleger Diederichs würden wir heute als Netzwerker 1 Eugen Diederichs: Thüringer Sonnwendfeiern (15. Mai 1921), in: Blätter der Volkshochschule Thüringen.,Reprint: Bd. 1: März 1919 bis März 1925, hg. von Martha Friedenthal-Haase und Elisabeth Meilhammer, Hildesheim u. a. 1999, S. 182f., hier S. 183. 2 Eugen Diederichs: Der Verleger als Organisator, in: Ulf Diederichs (Hg.): Eugen Diederichs.
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bezeichnen, der die wilhelminische Kultur weiterentwickeln und letzten Endes erneuern wollte. Aus diesem Grund verlegte und förderte er das breite Spektrum der Lebensreformbewegungen wie auch die Volkskunde. Sein Engagement für diese junge Disziplin, für die Jugend- wie auch die Körperkulturbewegung hängen, wie die Äußerung über die Sonnwendfeiern nahelegt, eng zusammen.
Diederichs verstand sich als treibende Kraft und Gestalter einer Kulturbewegung, die er sowohl mit dem Edieren von Büchern, in denen er entsprechendes innovatives Potenzial sah, als auch mit praktischen Beispielen voranzubringen gedachte. Seine Ideen formulierte er immer wieder auch in Annotationen und Bewerbungen der Verlagserzeugnisse, in Verlagsverzeichnissen und AlmanaSelbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, Düsseldorf u. a. 1967, S. 36–41, hier S. 38. Und weiter ebd.: »Er sammelt die Kräfte, die in Vereinzelung der Lebensentwicklung durch die Kultur dienen […] Er regt die geeigneten Schriftsteller an, bestimmte Themata zu bearbeiten und Ideen zu popularisieren.«
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chen mit programmatischen Titeln wie »Wege zu deutscher Kultur« aus dem Jahr 1908, »Die Kulturbewegung Deutschlands im Jahre 1913« oder »Wille und Gestaltung. Ein Almanach auf das Jahr 1921«. Den »Eugen Diederichs Verlag« hatte er im Jahr 1896 während einer Italienreise in Florenz gegründet.3 Nach dem Ende der Reise ließ er sich in der Buchhandelsstadt Leipzig nieder. Im Jahr 1904 zog er mit seinem Unternehmen ins thüringische Jena, also aus der sächsischen Metropole in die »Provinz«. Ganz provinziell war Jena als Universitätsstadt und Industriestandort zwar nicht, aber Diederichs hat das als Grund für den Standortwechsel angegeben: ganz im lebensreformerischen Sinne trat er die Flucht aus der Großstadt an. Die Motivation des Ortswechsels und seine kulturellen Experimente hat Meike G. Werner untersucht; Diederichs’ vielfältige Bestrebungen nationalkultureller Identitätsstiftung deutete sie als Korrekturversuche einer großstädtischen Moderne-Hegemonie.4 So können auch Rückgriffe auf die Manifestationen einer angenommenen »Volkskultur« gedeutet werden. Wie für viele bürgerliche Intellektuelle der Zeit waren auch für ihn das Ländliche, die dörfliche Gesellschaft und die Äußerungen des »Volkes« positiv konnotiert. In ihnen erblickte er Potenzial für eine zukünftige Entwicklung, und insbesondere »Quellen«, aus denen er schöpfen konnte und wollte. Darin besteht ein Anknüpfungspunkt zur jungen Wissenschaft Volkskunde, die sich dem sogenannten einfachen Volk und dessen kulturellen Äußerungen zuwendete. Die Historiografie der Volkskunde sieht die Anfänge der Disziplin sowohl in der utilitaristisch orientierten Spätaufklärung, die Erkenntnisse über »Land und Leute« zur Optimierung von Wirtschafts- und Lebensweise sammelte, wie auch in der Epoche der Romantik, in welcher die geistigen Äußerungen des Volkes interessierten, in erster Linie die sogenannte »Volkspoesie«: Johann Gottfried Herder begann mit dem Sammeln und Edieren von Volksliedern, die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten und veröffentlichten Märchen und Sagen. Diederichs rekurrierte hierauf. Als Verleger der Neuromantik suchte er Wissenschaftler, die Märchen- und Sagenbände zusammenstellen, welche in eigens geschaffenen Buchreihen publiziert werden sollten. Auch historische Interessen wollte er bedienen: Zwölf reich bebilderte »Monographien zur deutschen Kulturgeschichte« (1899–1905), in denen Stände und Berufe behandelt wurden, erschienen mit dem Anspruch auf Schaffung einer nationalen Kultur. In einem Verlagsprospekt bewarb Diederichs die Reihe als »nationales Werk«: »Einer Zeit, die noch keine ihr eigene Kultur hat [gemeint 3 Vgl. zu allen Aspekten des Verlages Irmgard Heidler : Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930) (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 8), Wiesbaden 1998; Ulf Diederichs: Eugen Diederichs und sein Verlag. Bibliographie und Buchgeschichte 1896 bis 1930, Göttingen 2014. 4 Vgl. Meike G. Werner : Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de SiHcle Jena, Göttingen 2003.
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ist der Beginn des 20. Jahrhunderts, C. N.] und ihrer doch dringend bedarf, wird der Spiegel älterer Epochen deutschen Wesens entgegengehalten.«5 Im Zeichen von Kulturentwicklung und Kulturerneuerung standen auch die Buchserien mit sogenannter Volksdichtung: Kurz vor dem Ersten Weltkrieg startete die Reihe »Die deutschen Volksbücher«. Große Bedeutung für die volkskundliche Erzählforschung kam den Reihen »Die Märchen der Weltliteratur« (1912ff.) sowie dem »Deutsche Sagenschatz« (1917–1944) zu. Mit den Märcheneditionen – in den zwanziger Jahren folgte die Reihe »Atlantis: die Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas« von Leo Frobenius – war Diederichs international ausgerichtet, die Sagenreihe, 1927 umbenannt in »Stammeskunde deutscher Landschaften«, richtete sich auf das nationale narrative Erbe. Regionale Sagensammlungen wie die Böhmerwald-Sagen von Gustav Jungbauer, Schlesische Sagen von Will-Erich Peuckert, Sächsische Sagen von Friedrich Sieber gehörten dazu. Diese Volkskundler waren auch Autoren von populärwissenschaftlichen Bänden der Reihe »Deutsche Volkheit«, einem Massenbuchprojekt, das rund achtzig Titel umfasste, die zwischen 1925 und 1931 erschienen. Eugen Diederichs und sein Herausgeber Paul Zaunert sahen sich in der »Nachfolge Jacob Grimms«, wie sie programmatisch verkündeten. Zur Verfügung gestellt wurde volkskundliches und historisches Wissen zum Zwecke des »nation building«.6 Was Diederichs unter »Volk« verstand, können wir einem Verlagsverzeichnis entnehmen, in dem er für die Volksbuch-Reihe warb. Demnach seien die frühneuzeitlichen Volksbücher diejenigen Bücher, »die das Volk, d. h. alle damals noch durch eine gemeinsame Kultur ohne Standesunterschiede verbundenen Deutschen lasen und vorlasen.«7 Die Interpretamente Volk und Volkskultur indizieren, dass der Verleger wie viele seiner Zeitgenossen auf der Suche nach einer als authentisch verstandenen, vorbildhaften Welt gewesen ist, die mit Industrialisierung, Mechanisierung und Modernisierung nun verloren schien. Diese Sichtweise führte dazu, dass »Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt«8 besonders geschätzt wurde. Diederichs schrieb ihr wegweisende 5 Die deutsche Kulturbewegung im Jahre 1913. Ein Verzeichnis der Neuerscheinungen des Verlages Eugen Diederichs, Jena 1913, S. 15. Vgl. auch Christina Niem: Eugen Diederichs und die Volkskunde. Ein Verleger und seine Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 10), Münster u. a. 2015, S. 70–72. 6 Vgl. Christina Niem: Volkwerdung durch Mythos und Geschichte? Nationalkulturelle Bestrebungen des Verlegers Eugen Diederichs in der Zwischenkriegszeit, in: Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Lust am Mythos. Kulturwissenschaftliche Neuzugänge zu einem populären Phänomen (Zürcher Schriften zur Erzählforschung und Narratologie 1), Marburg 2015, S. 114–122; zur Reihe »Deutsche Volkheit« vgl. Niem: Diederichs (Anm. 5), S. 331–366. 7 Kulturbewegung (Anm. 5), S. 11. 8 So der Titel von Anita Bagus: Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt. Zum Institutionalisierungsprozeß wissenschaftlicher Volkskunde im wilhelminischen Kaiserreich am
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Qualitäten zu. Mit der Edition von Märchen- und Sagentexten intendierte er, »Kraftquellen« zur Verfügung zu stellen, aus denen die Zeitgenossen schöpfen sollten, um so Kultur zu revitalisieren und zu erneuern: Seinem Selbstverständnis nach machte er »Vergangenes durch neue Ausgaben wieder lebendig.«9 Nebenbei bot er zahlreichen volkskundlich Tätigen über Jahrzehnte hinweg Publikationsforen und förderte dadurch die Disziplin, die noch nicht an Universitäten etabliert war, während der Phasen ihrer Paradigmatisierung. Ganz konkret unterstützte Diederichs die Akademisierung des Fachs, indem er einen Lehrauftrag für thüringische Volkskunde an der Universität Jena finanzierte, den Hans Naumann von 1920 bis 1922 wahrnahm. Ein solches Wissenschaftssponsoring war damals ungewöhnlich. In dieser Zeit publizierte Naumann, der Germanist mit volkskundlichen Interessen, seine zwei für das Fach wichtigen Schriften: »Primitive Gemeinschaftskultur« im Jahr 1921 im »Diederichs Verlag« und 1922 die »Grundzüge der deutschen Volkskunde« bei »Quelle und Meyer«. Sowohl Diederichs als auch Naumann war eine praktische Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse wichtig, beide sahen im Laientheaterspiel ein geeignetes Instrument dazu. Eine solche »angewandte Volkskunde« äußerte sich bei Naumann in der Unterstützung einer studentischen »Vereinigung für praktische Volkskunde«, die das Ziel verfolgte, auf dem Land zu wirken und dort ländliche Feste wie Kirchweih oder das Erntedankfest mit Volkslied und -spiel auszugestalten. Aus dieser Vereinigung wiederum ging eine studentische Wanderbühne unter Führung Naumanns hervor, die angewandte Volkskunde als Beitrag zu einer Erneuerung der Kultur betrieb.10 Und genau das machte auch Diederichs mit dem Serakreis, denn neben dem Kerngeschäft des Verlegens und Verkaufs von Büchern betätigte er sich ganz praktisch und baute dabei auf die Jugend, um eine neue Kultur der Geselligkeit zu etablieren.
Jugendbewegung: Serakreis und Sonnwendfeiern Laut eigener Angabe begann der Verleger im Jahr 1904, Naturfeste auszurichten, Feste im Freien, die allmählich mit immer mehr Elementen angereichert wurden. Neben Volkslied und Reigentanz gehörte Theaterspiel von Laien dazu wie die Aufführung eines Stücks in thüringischer Mundart durch ansässige Bauern. Ein solches Herauslösen »volkskultureller« Aktivitäten aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang bezeichnet die Volkskunde als Folklorismus. Hans Moser, der Beispiel der Hessischen Vereinigung für Volkskunde (Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen 54), Gießen 2005. 9 Diederichs: Verleger (Anm. 2), S. 38. 10 Vgl. Niem: Diederichs (Anm. 5), S. 300–304.
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den Begriff prägte, meinte damit etwa Brauchhandlungen, die verändert in einem neuen Zusammenhang, aber mit dem Anspruch, echt und zudem uralt zu sein, präsentiert werden.11 Dies gilt für Diederichs’ Sonnwendfeier – »die Sommersonnenwende, das alte germanische Naturfest«12, so seine Einschätzung, die er komplett neu kreierte und inszenierte. 1908 lud er die Jenaer Freistudentenschaft ein, mitzuwirken. Daraus entwickelte sich der Serakreis, der den ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner mitorganisierte und mit Tanzaufführungen und Theaterspiel gestaltete. Diederichs ließ zu diesem Anlass eine Fahne mit goldenem Sera-Schriftzug entwerfen.13 Er verlegte die Schrift zur Jahrhundertfeier. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Serakreis auf seinem Zenit, ein Jahr später zogen zahlreiche Mitglieder in den Krieg. Den gefallenen Freunden wurde 1919 eine »Gedächtnissonnenwende« gewidmet und ein Privatdruck mit Briefen der 19 namentlich Genannten zusammengestellt, unter ihnen auch Karl Brügmann, ein »Führer« des Kreises und Wandervogel, der gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Wilhelm Rittinghaus Volkslieder gesammelt und in zwei »Westfälischen Liederblättern« publiziert hatte. Mit diesen schmalen Broschüren gedachten die beiden Studenten, alte Volkslieder zu revitalisieren, um sie der Wandervogelbewegung zur Verfügung zu stellen und deren Liedrepertoire zu erweitern. Zugleich gingen sie damit ihren wissenschaftlichen Neigungen nach und weckten sogar das Interesse der akademischen Volkskunde.14 Die Sonnwendfeier mit den jungen Erwachsenen des Serakreises als wichtigsten Akteuren war um 1908 etabliert. Über diese Feste ist einiges aus zeitgenössischen Quellen zu erfahren, etwa aus dem »Jenaischen Sonnwend-Almanach« aus dem Jahr 1913, den »Sonnwendbriefen« von 1914 wie auch aus den Erinnerungen des späteren Reformpädagogen Wilhelm Flitner, der dem Kreis 11 Vgl. Hans Moser : Vom Folklorismus in unserer Zeit, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1962, 58. Jg., S. 177–209. 12 Diederichs: Sonnwendfeiern (Anm. 1), S. 182. Dass »die Germanen« diesen Brauch gepflegt haben, lässt sich nicht belegen. Vgl. Gunther Hirschfelder : Mittsommer, Sonnenwende und Johannisfeuer im Rheinland zwischen Tradition und Inszenierung, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde, 2005, 50. Jg., S. 101–140. 13 Sie war zuletzt bei der Ausstellung »Aufbruch der Jugend« zu sehen, vgl. zur Serafahne im Katalog S. 251 sowie Susanne Rappe-Weber : Kranich, Lilie, Rune und Kreuz. Gestaltung und Gebrauch der Fahnen in der deutschen Jugendbewegung, in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, 26. September bis 19. Januar 2014), Nürnberg 2013, S. 73–81. 14 Vgl. Christina Niem: »Wir haben das Volkslied zum Träger unserer Stimmung gemacht.« Wissenschaftliche Neuromantik im Umkreis des Verlegers Eugen Diederichs, in: Michael Simon, Wolfgang Seidenspinner, Christina Niem (Hg.): Episteme der Romantik. Volkskundliche Erkundungen, Münster, New York 2014 (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 8), S. 151–175.
Zum Engagement des Verlegers Eugen Diederichs
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angehörte.15 Diederichs organisierte sein Sonnwendfest und lud dazu Verlagsautoren, Jenaer Universitätsprofessoren samt Gattinnen sowie Künstler und Intellektuelle ein. Seiner Meinung nach sollte es dabei keine Zuschauer, sondern nur aktive Teilnehmer geben. Vorbild und Akteur war »die Jugend«. Gefeiert wurde im Tautenburger Forst, einem Waldstück oberhalb der Saale, den Dornburger Schlössern gegenüber gelegen, nicht weit von Jena entfernt. Festelemente waren Gesang, genauer das Singen von Volksliedern, Reigentanz und Theaterspiel, bei Dunkelheit wurde ein großes Feuer entzündet, das umtanzt wurde.
15 Zum Serakreis ist inzwischen viel publiziert worden, besonders von Meike G. Werner, zuletzt Freundschaft, Briefe, Sera-Kreis. Rudolf Carnap und Wilhelm Flitner. Die Geschichte einer Freundschaft in Briefen, in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen (Formen der Erinnerung 58), Göttingen 2015, S. 105–132.
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Die Wirkungsabsicht, die der Verleger mit den Sonnwendfeiern verfolgte, kann mit dem Theatralitätsmodell gut herausgearbeitet werden, einem Analyseinstrument, das die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte den Kulturwissenschaften zur Verfügung gestellt hat. Als Dimensionen ihres Theatralitätsmodells benennt sie mit Inszenierung den zeichenhaften Aspekt von Kultur, die dezidierte Wirkungsabsicht, mit Korporalität bzw. Verkörperung den physischen Aspekt und mit Wahrnehmung das Registrieren von Inszenierung und Verkörperung durch ein Publikum. Das Zusammenwirken der drei Dimensionen ergibt die »Performance«.16 Eine solche boten mit ihren Aktivitäten Diederichs und der Serakreis. Sie zielten auf Erneuerung – in Bezug auf jugendbewegte Vergemeinschaftung, auf Geselligkeitsformen, die in der freien Natur stattfanden. Diederichs schlug sogar vor, seine Sonnwendfeier als Nationalfeiertag der Deutschen zu etablieren und dadurch den Sedantag zu ersetzen.17 Er wollte Beispiele geben und sichtbar wirken. So choreografierte und inszenierte er die Auftritte der jungen Frauen und Männer, er unterstützte sie beim Einüben von als volkstümlich erachteten Reigentänzen, sie sangen Volkslieder und verkörperten geradezu den Reformwillen. In Wilhelm Flitners Erinnerungen kann man diese auf Wirkung abzielende Inszenierung durch den Verleger nachverfolgen; hier sei beispielhaft nur auf die Kleidung eingegangen, denn sie steht mit der Kleidungsreformbewegung in Verbindung und betrifft Körperlichkeit und Körperkultur. Geradezu paradigmatisch spiegelt die Kleidung des Serakreises die Verbindung von Alt und Neu mit den verschiedenen Bedeutungsebenen wider. Aus diesem Grund soll eine längere Sequenz wiedergegeben werden, denn sie gewährt Einblick in den Aufführungscharakter der Sonnwendfeier : »Ob die schwedische Nationalflagge den nordischen Gästen zuliebe aufgezogen wurde oder ob sie für Diederichs sonst einen Symbolwert hatte, wußten wir nicht. Es ist wahrscheinlich; denn er selbst erschien in der Festtracht eines schwedischen Bauern mit Pluderhosen, gesticktem Gürtel und einem weißen Mantel mit roter Randstickerei, eine Zipfelmütze auf dem Kopf. Für die Seraleute waren Schauben (kurze cape-artige Mäntelchen) in vielerlei Farben und Barette angefertigt; die Mädchen hatten sie im Hase-Garten geschneidert, die Stoffe hatte Diederichs besorgt. Es entstand so für die Burschen eine Festtracht, die halb an Minnesänger und halb an fahrende Scholaren erinnerte: kurze Hosen, Sandalen und ein weißes Jägerhemd mit Schillerkragen, dazu die einfarbige Schaube als Mäntelchen und das zugehörige Barett. Die Mädchen hatten sich eine Tracht entwickelt, die wir als ›Serakleider‹ bezeichneten: lange Gewänder, hoch gegürtet, bunt oder in heller Seide, an die Gewänder der Frauenreform, des Jugendstils, aber auch des klassizistischen Empire erinnernd. Sie waren kleidsam und 16 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen 2001, S. 269–290. 17 Vgl. Niem: Diederichs (Anm. 5), S. 83f.
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für freie Bewegung geeignet. Es gab aber auch die bayerische Dirndltracht und schwedische Bauernfestkleider dazwischen.«18
Die Kleidung der Jugendlichen und natürlich auch die des Verlegers Eugen Diederichs hatte unverkennbar zeichenhaften Charakter. Dass die Seraleute in ihrer Gewandung, die sie anlässlich von Festen und »Vagantenfahrten« trugen, Aufsehen erregten, wird in den Erinnerungen von Flitner und Diederichs thematisiert. Die Akteure demonstrierten mit ihrer Kleidung die Herausgehobenheit aus dem Alltag, sie grenzten sich von den normalen Bürgern ab, aber auch von den korporierten Studenten.19 Die Kleidung der jungen Männer orientierte sich an der des Wandervogels (kurze Hosen, Hemd mit Schillerkragen), die der jungen Frauen orientierte sich an der Reformkleidung und war zum Teil selbst gefertigt. Auch das oft geäußerte Interesse am Mittelalter (gemeint ist eher die Frühe Neuzeit) drückte sich in der Kleidung ebenso aus wie in der Wahl der Lieder, Tänze und Theaterstücke. Dabei sorgte Diederichs für eine gewisse Professionalisierung, indem er Schauben und Barette eigens anfertigen ließ. Seine Passion für den »Norden« und alles »Germanische« drückte er durch das Tragen einer bäuerlichen, schwedischen Tracht aus. Dieses folkloristische Gebaren indizierte aber zugleich die romantische bzw. neuromantische Hinwendung zum Einfachen, zum »Volk«. Eine Inszenierung im Sinne des Theatralitätsmodells, also die Erzeugung von Bedeutungen mit der Absicht, Neues zu realisieren, wird deutlich erkennbar. Die selbst gefertigten Kleider erfüllten mehrere Funktionen: zum einen entsprach das eigenhändige Herstellen dem Ideal der Selbsttätigkeit, zum anderen konnten die jungen Frauen ihre Kleidung nach ihren Vorstellungen entwerfen und ausführen, ihnen geeignet erscheinende Stoffe wählen, sie funktional gestalten und nach ihrem Geschmack verzieren. Erwünscht war, so Margret Arends aus dem Serakreis, »ein Kleid, das uns leicht und lustig machte zum Tanzen«, denn »wir Mädchen glaubten die alten Tänze am schönsten zu tanzen im Kleide des Bauernmädchens, im Mieder und Rock.«20 Die jungen Frauen bevorzugten Gewänder aus einem Leinenstoff, den sie mit »den wundervollen Stickereien der Alten«21 verzierten, und die sie dadurch in ihren Augen aufwerteten. Beim Schneidern der Gewänder orientierten sie sich also einerseits am Alten, andererseits aber auch an den Idealen der Reformkleidung. Die Kleider wurden den Bedürfnissen des Körpers angepasst und evozierten damit ein doppeltes Gefühl 18 Wilhelm Flitner : Erinnerungen 1889–1945 (Gesammelte Schriften 11), Paderborn u. a. 1986, S. 136f. 19 Mitglieder des Serakreises waren zugleich in der Freien Studentenschaft aktiv, vgl. zur Neuorientierung der akademischen Jugend: Werner : Moderne (Anm. 4), S. 237–275. 20 Margret Arends: Praktische Vorschläge für Schauben und dergleichen, in: Sonnwendbriefe, Jena 1914, S. 21f. 21 Ebd.
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von Freiheit: Befreiung des weiblichen Körpers von den Zwängen des Korsetts, in der Hinwendung zu Stoff, Schnitt und Dekor des bäuerlichen Dirndlkleids aber auch Befreiung von der zeitgenössischen bürgerlichen Mode. Die Serakleidung ist unter dem Aspekt der Inszenierung als zeichenhaft und bedeutungstragend herausgestellt worden, sie kann als Symbol oder Indikator22 dienen und tut es hier. In kulturanthropologisch-volkskundlicher Sicht wird Kleidung als Objektivation, als Träger von Ideen, Vorstellungen und Wertsystemen verstanden, eng verbunden damit sind Fragen der Körperlichkeit.23 In diesem Zusammenhang ist die Kleidung der Mädchen und jungen Frauen des Kreises zu betrachten. Flitner betonte in seinen Erinnerungen, dass der Serakreis eine neue Lebensart repräsentiert habe, zu der auch eine Bejahung der Leiblichkeit des Menschen gehörte.24 Seine Charakterisierung der Schwestern Helene und Elisabeth Czapski verdeutlicht einerseits eine bewusste Wahrnehmung der körperlichen Erscheinung des anderen Geschlechts, andererseits einen bewussten Umgang der Frauen mit ihrem Körper : Helene, »schwarzhaarig und mit südländischem Profil. Mit ihrem scharfen Verstand und heftigen Temperament war sie die auffallende, bezaubernd im Gespräch; lebenssprühend, auch wenn sie mit einem tiefgrünen wehenden Schleier, einen Rosenkranz im Haar, den Berghang hinabsprang. Dann ihre jüngere Schwester Elisabeth, hellen Haares und strahlenden Auges […]. Beide Schwestern trugen stets festliche Kleider, die sie sich selbst geschneidert und bestickt hatten.«25 Ganz selbstbewusst traten sie auf, unkonventionell »mit offenem Haar«, auch zu Pferde, »die Mädchen im Herrensitz« – »da waren die Jenaer Philister teils empört und teils bezaubert«.26 An der von Flitner überlieferten Reaktion der Bürger kann sowohl der emanzipatorische Aspekt eines solchen Kleidungsverhaltens als auch sein Protestcharakter abgelesen werden. In Bezug auf Wandervogelmädchen hat Marion Grob herausgearbeitet, was mit Kleidung und Haartracht zum Ausdruck gebracht werden sollte. Waren diese zunächst konventionell mit Hut und hochgesteckten Haaren unterwegs, legten sie sich allmählich mit einem neuen Kleidungsstil auch andere Frisuren zu, indem sie die Haare zu Schnecken rollten, locker geflochtene Zöpfe herunterhängen ließen oder das Haar gar offen trugen.27 Geschlechterrollen wurden auf physischer Ebene neu verhandelt, die Emanzipation der Jugend ging einher mit der Neudefinition des Körpers. 22 Vgl. Helge Gerndt: Kleidung als Indikator kultureller Prozesse. Eine Problemskizze, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 1974, 20. Jg., S. 81–92. 23 Vgl. Gabriele Mentges: Für eine Kulturanthropologie des Textilen. Einige Überlegungen, in: dies. (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen, Berlin 2005, S. 11–56. 24 Vgl. Flitner : Erinnerungen (Anm. 18), S. 154f. 25 Ebd., S. 133f. Wilhelm Flitner und Elisabeth Czapski heirateten 1917. 26 Ebd., S. 137. 27 Vgl. Marion Grob: Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen in Deutschland im
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Körperkultur: Gymnastik und Tanz Mit Paul Schultze-Naumburgs Schrift über die »Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung« von 1901 und Jeannie Watts 1903 erschienenem Werk über das »Zukunftskleid der Frau« lagen im Diederichs Verlag wegweisende Schriften zum Thema vor. Die Kleidungsreform28 zählt neben der Freikörperkultur und den neuen Tanz- und Gymnastikbewegungen zur Körperkulturbewegung. Auch auf diesen Gebieten wirkte Diederichs. Als Mitbegründer des Deutschen Werkbundes förderte er Künstler wie Peter Behrens und Hermann Obrist, verlegerisch betreute er das gesamte Spektrum der Reformbewegungen und publizierte in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts 124 Titel dazu.29 Den Auftakt machte er mit der Arts-and-Crafts-Bewegung, indem er eine Werkausgabe von John Ruskin veröffentlichte. Anschließend erschienen Schultze-Naumburgs »Häusliche Kunstpflege« sowie mit der Kultur des weiblichen Körpers ein weit verbreitetes und einflussreiches Werk, das mehrfach neu aufgelegt wurde.30 Der Autor stellte rückblickend fest, die dort geäußerten Überlegungen seien »von der Zeit vollständig in die Wirklichkeit übersetzt worden, ein Erfolg, den ich mir vor 25 Jahren nicht hätte träumen lassen, denn damals stand die ganze Welt in erbitterter Abwehr gegen die vorgetragenen Ideen, die heute einem jeden selbstverständlich geworden zu sein scheinen.«31 Neben der Jugendbewegung – er verlegte sowohl Hans Blüher als auch Elisabeth Busse-Wilson sowie das Werk zur Urburschenschaft des 23-jährigen Studenten Max Hodann32 – setzte Diederichs sich für die Belange der Reformpädagogik ein. Mit Gustav Wyneken war er sehr gut bekannt und publizierte dessen »Schule und Jugendkultur« sowie das Wickersdorfer Jahrbuch. Die einzelnen Bewegungen der Lebensreform überschneiden einander ; das machte sich
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20. Jahrhundert am Beispiel des Wandervogels und der Studentenbewegung (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 47), Münster 1985, S. 112–118. Vgl. dazu Karen Ellwanger, Elisabeth Meyer-Renschhausen: Kleidungsreform, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 87–102; vgl. zu den Kleidungsreformdebatten auch Astrid Ackermann: Kleidung, Sexualität und politische Partizipation in der Lebensreformbewegung, in: Marc Cluet, Catherine Repussard (Hg.): »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht / La dynamique sociale de l’impuissance politique, Tübingen 2013, S. 161–182. Vgl. Erich Viehöfer : Der Verleger als Organisator. Eugen Diederichs und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1988. Er zählt alle lebensreformerischen Werke auf, die im Verlag erschienen, und dazu die Auflagenhöhen, die in Bezug auf die Rezeption interessant sind. Nach Viehöfer : Verleger (Anm. 29), S. 126f. wurden insgesamt 16.222 Exemplare verkauft. Im Zeichen des Löwen: für Eugen Diederichs zum LX. Jahr am XXII. Juni MCMXXVII, Leipzig 1927, S. 98. Zu Hodann vgl. den Beitrag von Karl Braun in diesem Band. Die Urburschenschaft als Jugendbewegung erschien 1917, Hodann gab den Band gemeinsam mit Walther Koch heraus.
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auch in den Verlagskatalogen bemerkbar, wo Diederichs seine Publikationen bewarb. In einem Abschnitt »Zur Jugend- und Persönlichkeitsentwicklung« äußerte er sich über eine Schrift des späteren Wirtschafts- und Sozialökonomen und religiösen Sozialisten Eduard Heimann von 1913. Der Verleger stellte fest, dass »die heutige Jugend, die mit Mädchen zusammen studiert und kameradschaftlich mit ihnen verkehrt, anders über ihre sexuelle Reinheit denkt als die frühere Generation, [das] zeigte bereits die von einem Heidelberger Studenten stammende Schrift: Heimann, ›Das Sexualproblem der Jugend.‹ Die neue Generation wandert, turnt, reitet oder treibt sonstigen Sport. Das, was sie über ihren Körper wissen muß (nicht zu verwechseln mit Anleitungen zum Training), kam in geradezu idealer Anschaulichkeit aus Frankreich durch Lagranges ›Physiologie der Leibesübungen‹ zu uns herüber [Diederichs Verlag 1912]. Wir haben in Deutschland diesem Buch kaum etwas Gleichwertiges zur Seite zu setzen, denn es verbindet Wissenschaftlichkeit mit leichtfüßiger Darstellungsweise. Auf diesem Buch beruhen die Regenerationsbestrebungen der französischen Jugend, die gleich der unseren wandert und Körperkultur treibt.«33
Mit seinen Bemerkungen führt er verschiedene reformerische Felder zusammen: Jugend, der Umgang mit Sexualität, damit verbunden Körperbewusstsein und körperliche Ertüchtigung. Dabei hat er mit der aus England importierten Idee des Sports so gut wie nichts zu tun, und auch mit der Turnbewegung, die nach den Befreiungskriegen von Friedrich Ludwig Jahn initiiert worden war, konnte Diederichs sich nicht anfreunden. Etwa hundert Jahre nach Jahn war es vielmehr ein Kulturtransfer aus den Vereinigten Staaten von Amerika, der von Lebensreformern aufgenommen wurde: die neue Gymnastik. Wie sich die Körperkulturbewegung, gespeist durch die Ideen der Lebensreform, während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zu einer dritten Säule der Leibeserziehungen neben Turnen und Sport formiert hat, konnte Bernd WedemeyerKolwe in seiner Studie über den »neuen Menschen« zeigen. Das breite Spektrum der Bewegungen subsumiert er den Ordnungskategorien Rhythmus, Reinkarnation, Licht und Luft sowie Kraft und Schönheit. Die zahlreichen Akteure und Schulen, die Eugen Diederichs förderte, finden sich ebenso wie der Verweis auf die Bedeutung des Verlegers für die Entwicklung.34 Nicht die herkömmlichen Leibesübungen, sondern vielmehr eine Kultur der Anmut favorisierte Diederichs.35 Schon 1903 hatte er Isadora Duncans Vorlesung »Der Tanz der Zukunft« (im englischen Original und in deutscher Übersetzung) verlegt. Die schmale Schrift, in der die Amerikanerin sich gegen das klassische 33 Zur Neuorientierung der deutschen Kultur nach dem Kriege. Richtlinien in Gestalt eines Bücher-Verzeichnisses des Verlages Eugen Diederichs, Jena 1915/16, S. 40f. 34 Vgl. Bernd Wedemeyer-Kolwe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. 35 Vgl. Viehöfer : Verleger (Anm. 29), S. 28.
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Ballett wandte und eine Rückkehr zur Natur propagierte, verkaufte sich gut. Ihr Ideal einer freien Bewegung des Körpers im Tanz orientierte sich am Vorbild der griechischen Antike. Damit leitete sie eine neue Tanzbewegung ein, deren Ideen Diederichs mitverbreitete. Um praktisch zu wirken, gründeten Isadora und ihre Schwester Elisabeth 1904 eine Schule in Berlin, diese Tanzschule wurde von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein nach Darmstadt eingeladen und auf der Marienhöhe angesiedelt.36 An der Eröffnung 1911 nahm Diederichs teil. Auf der ebenfalls in Darmstadt gelegenen Mathildenhöhe hatte der Großherzog 1899 die Künstlerkolonie begründet. Auch hier gab es Verbindungen zum Verlag, etwa durch Peter Behrens und dessen Schrift »Feste des Lebens und der Kunst«, die im Jahr 1900 erschienen war. In der Gartenstadt Hellerau bei Dresden erlebte Diederichs eine Aufführung des Musikpädagogen Pmile Jaques-Dalcroze, der Musik durch den Körper sichtbar machen und in Bewegung umsetzen wollte. Diese neuartige Körperarbeit in Form der rhythmischen Gymnastik lehrte Jaques-Dalcroze ab 1910 in Hellerau, seine Ideen popularisierte er im Jahrbuch »Der Rhythmus«, das im »Diederichs Verlag« erschien. Zu seinen Schülerinnen gehörte Marie Wiegmann, die bald als Mary Wigman den Ausdruckstanz international bekannt machen sollte. Den Künstlernamen hatte ihr Rudolf von Laban gegeben, der als Lehrer und Theoretiker die Körperarbeit beim Tanz in den Vordergrund stellte, während die Musik in den Hintergrund trat. Laban und seine Schülerin Wigman prägten die Entwicklung des modernen Tanzes; Labans »›Weltanschauung des Tanzes‹ als Ausdrucksform menschlicher Körper-Geist-Seele-Einheit gewann in unterschiedlichen Akzentuierungen eine hohe Bedeutung für die Tanz- und Körperkultur-Szene der 20er und 30er Jahre.«37 Ab 1913 führte er Sommerkurse für »Bewegungskunst, Wortkunst, Tonkunst« auf dem Monte Verit/ bei Ascona durch. Im dortigen lebensreformerischen Ambiente entwickelte Wigman sich entscheidend weiter. Zu Beginn der zwanziger Jahre stand sie mit Diederichs in Kontakt, ihre Schrift »Die sieben Tänze des Lebens« erschien 1921, ein Jahr später noch ein kurzer Beitrag in der Zeitschrift »Die Tat«.38 Im selben Heft äußerte Laban Gedanken über den Tanz und seine Bedeutung für eine reformierte Festkultur.39 Damit lag er gewiss auf Diederichs’ Linie; zur Sonnwendfeier 36 Vgl. Hedwig Müller : Tanz der Natur. Lebensreform und Tanz, in: Kai Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 329–334, hier S. 329ff. 37 Gabriele Brandstetter : Ausdruckstanz, in: Kerbs, Reulecke: Handbuch (Anm. 28), S. 451– 463, hier S. 455. 38 Mary Wigman: Tanz, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur, 1922, 13. Jg., H. 11, S. 863–865. 39 Rudolf von Laban: Festwille und Festkultur, in: Tat (Anm. 38), S. 846–848, hier S. 847. Ebd., S. 845ff. rezensierte er Hans Brandenburgs »Der moderne Tanz«.
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1926 lud dieser die Laban’schen »Bewegungschöre« ein,40 bei denen junge Männer rhythmische Gymnastikübungen ohne musikalische Begleitung vorführten. Mit der Kulturzeitschrift »Die Tat«41 bot Diedrichs ein Artikulationsmedium, in welchem neue Ideen unterschiedlichster Art präsentiert wurden, darunter auch immer wieder Beiträge zu Aspekten der Körperkultur. Diesem Thema widmete sich das Februarheft des Jahres 1922. Verantwortlich für dieses TatSonderheft zeichnete Rudolf Bode, ein weiterer Schüler von Jaques-Dalcroze, der 1911 die Bode-Schule für rhythmische Gymnastik in München eingerichtet hatte. Er war auch in Jena tätig, wo er 1922 den »Bodebund für Körpererziehung« gründete und sein System in Kursen an der neu gegründeten – von Diedrichs mitinitiierten – Volkshochschule verbreitete. Die VHS Jena trug zur Popularisierung der neuen Gymnastik bei, auf Initiative von Diedrichs betätigte sich dort auch Laban.42 Zu Beginn der zwanziger Jahre publizierte Bode zwei Werke im »Diederichs Verlag«: »Der Rhythmus und seine Bedeutung für die Erziehung« sowie »Rhythmus und Körpererziehung«. Mehrere Beiträge von ihm erschienen in der »Tat«, deren damaliger Untertitel »Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur« einmal mehr Diederichs’ Bestreben explizit zum Ausdruck bringt. In dieser Tat-Ausgabe versammelte Bode neun längere Beiträge zu Tanz, Körper- und Festkultur, ferner eine Reihe von kürzeren Beiträgen zu diesen Themen sowie in einer Rubrik »Kulturpolitischer Arbeitsbericht« Informationen zu den zeitgenössischen »Schulen für Körperkultur« wie die DalcrozeSchule, die Bode-Schule in München, Labans Tanzspielgruppe, den Mensendieck-Bund sowie die Werkschule von Leo Merz in Stuttgart. Am Ende des Heftes folgen Werbe-Anzeigen, auch hier werden Schulen – etwa Dora Menzlers Zentral-Institut für neuzeitliche Körperschulung oder die Elisabeth Duncan Schule für körperliche und wissenschaftliche Erziehung – sowie Publikationen beworben. Die neuen Bewegungslehren fanden im Verlauf der zwanziger Jahre weite Verbreitung. 1925 existierten z. B. Bode-Schulen, in denen dieses Gymnastik-System unterrichtet wurde, in 26 Städten.43 Wedemeyer-Kolwe stellte in 40 Vgl. Viehöfer : Verleger (Anm. 29), S. 32. Vgl. zu den Bewegungschören Rudolf von Laban: Gymnastik und Tanz, Oldenburg 1926. Sein Werk »Choreographie« erschien 1926 bei Diederichs. 41 Vgl. zu dieser Zeitschrift Edith Hanke, Gangolf Hübinger : Von der »Tat«-Gemeinde zum »Tat«-Kreis. Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 299–334; Mariano Pulliero: Une modernit8 explosive. La revue Die Tat dans les renouveaux religieux, culturel et politiques de l’Allemagne d’avant 1914–1918 (Religions en perspectives 22), GenHve 2008. 42 Vgl. Bettina Irina Reimers: Die Neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933 (Geschichte der Erwachsenenbildung 16), Essen 2003. 43 Vgl. Wedemeyer-Kolwe: Mensch (Anm. 34), S. 48.
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seiner Untersuchung heraus, dass von vielen Protagonisten in der Folgezeit »völkische Tendenzen« ausgingen, vor allem »von den Rhythmikern Mary Wigman, Rudolf Bode und Rudolf von Laban«.44 Das korrespondiert letzten Endes mit der Entwicklung des Verlages, der im Verlauf der Weimarer Republik mehr und mehr ein »deutsches Gesicht« zeigte.45 Welchen Anteil daran Diederichs, der 1930 verstarb, im Hinblick auf die Körperkulturbewegung hatte, muss noch genauer untersucht werden. Abschließend werfe ich einen Blick auf die Freikörperkultur, der Diederichs zurückhaltend begegnete.46 In einem kurzen Beitrag, in welchem er sich Gedanken über das Nacktbaden von Jugendlichen auf Wanderfahrten machte, betonte er die geistig-religiöse Bedeutung. Er stellte fest, dass in der Jugendbewegung das Rousseau’sche Naturgefühl erwacht sei, und konstatierte: »Es steckt in dem Verhältnis der neuen Jugend zu ihrem Körper einesteils diesseitiges Griechentum in dem Streben nach Ausgeglichenheit, anderenteils eine aus religiösem Grundgefühl heraufwachsende metaphysische Sehnsucht.«47 Was die Jugend bewege, sei »der Glaube an die Wandlung im Menschen durch die Kraft der Idee und des geistigen Erlebnisses. Es ist etwas Schönes um diesen Glauben, und die ältere Generation sollte alles tun, um diesen Glauben nicht zu zerstören.«48 Eine solche Beobachtung bringt die idealistisch-religiöse Einstellung des Verlegers zum Ausdruck, ein Sendungsbewusstsein, das ihm schon zu Lebzeiten attestiert wurde.49 Wie ist nun Diederichs’ Bedeutung einzuschätzen? Er war mit zahlreichen Protagonisten der Lebensreform und damit der Körperkulturbewegungen in Kontakt und gewann viele von ihnen als Autoren. Die halbnackten Ringkämpfer, welche »die Bewegungsschönheit des männlichen Körpers« zeigen sollten, blieben als Darsteller bei den Sonnwendfeiern die Ausnahme, während er vielmehr »Einzeltänzerinnen, z. B. aus Loheland«50 einlud und zu Auftritten animierte. Die »Loheland-Schule für Gymnastik, Landbau und Handwerk« in der 44 Ebd., S. 115. Vgl. zu Laban S. 102–104, zu Bode S. 98–102, 414f. Bode trat früh der NSDAP bei und hatte später eine leitende Funktion auf Burg Neuhaus in einer Schule des »Reichsnährstandes«. Vgl. neuerdings Olivier Hanse: Rudolf Bode entre pessimisme culturel et engagement politique, in: Cluet: Lebensreform (Anm. 28), S. 183–207. 45 So der Titel des Jubiläumsalmanachs: Das deutsche Gesicht. Ein Weg zur Zukunft. Zum XXX. Jahr des Verlages Eugen Diederichs in Jena, Jena 1926. 46 Vgl. Viehöfer : Verleger (Anm. 29), S. 34ff. 47 Eugen Diederichs: Natürliche Einstellung zum menschlichen Körper, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur, 1922, XIII. Jg., H. 12, S. 961–963, hier S. 962. 48 Ebd., S. 963. 49 Vgl. z. B. Justus H. Ulbricht: Massenfern und klassenlos oder: »Wir brauchen eine Brüderschaft im Geiste, die schweigend wirkt«. Die Organisation der Gebildeten im Geiste des Eugen Diederichs Verlags, in: Richard Faber, Christine Holste (Hg.): Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, S. 384–401. 50 Diederichs: Sonnwendfeiern (Anm. 1), S. 183.
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Rhön verband die Körperkultur- mit der Siedlungsbewegung und erfuhr nicht nur ideelle, sondern auch finanzielle Unterstützung durch den Verleger.51 Mehrfach lud er Ausdruckstänzerinnen zu seinem Sonnwendfest und zu Aufführungen nach Jena ein.52 Diederichs förderte den Ausdruckstanz, er bewunderte die Tänzerinnen und integrierte sie in sein Streben nach Kulturentwicklung und -erneuerung durch Anschaulichkeit und »Tat«. Er war unstrittig ein Förderer verschiedener Lebensreformbewegungen, insbesondere von Tanz und neuer Gymnastik. Als Mentor der Jugendbewegung trat er besonders vor dem Ersten Weltkrieg in Erscheinung, später konzentrierte sich der Verleger auf die Förderung des sogenannten Jungbuchhandels. Auch in Bezug auf die Wissenschaft Volkskunde sehe ich ihn als Anreger und Impulsgeber, dabei handelte er unter idealistisch-neuromantischer Prämisse und verfolgte vor allem mit seiner Publikationstätigkeit eine Überwindung der Kluft zwischen Bildungsbürgern und »Volk«. Die Buchreihen mit Märchen und Sagen sollten »Kraftquellen« zur Verfügung stellen, aus denen die Zeitgenossen schöpfen sollten. Die Manifestationen einer vermeintlichen Volkskultur wie Märchenerzählen, Volksliedsingen, Reigentanz und Feuerbrauch amalgamierte er mit den neuen Körperpraktiken, vor allem dem Ausdruckstanz. Rückgriff und Revitalisierung sollten Neues schaffen, eine neuartige Kultur der Geselligkeit. Die Jugend verstand er als konstitutiv, sie schien ihm zu folgen, etwa bezüglich ihrer Kleidung, in der traditionelle mit Reformkleidung verbunden wurde. Gemeinsam mit ihr wollte er beispielhaft wirken: mit Sonnwendfeiern oder dem 1913 auf den Saalewiesen unterhalb der Rudelsburg veranstalteten Werkbundfest mit über tausend Teilnehmern. Nicht zuletzt aber war Diederichs Unternehmer, der ökonomisch dachte und Profit erwirtschaften wollte. Schriften von Menschen zu verlegen, deren Ideen den zeitgenössischen Diskurs bestimmten, gehörte zum ureigensten Geschäft des Verlegers. Mit den gefragten Persönlichkeiten seiner Zeit war er im Gespräch, erhob selbst seine Stimme im Diskurs während dreieinhalb Jahrzehnten, bot Publikationsforen und agierte als Multiplikator auf den hier angesprochenen Gebieten – und darüber hinaus.
51 Diederichs stiftete 10.000 Mark, so Viehöfer : Verleger (Anm. 29), S. 31. 52 Vgl. Werner : Moderne (Anm. 4), S. 113, S. 123, vgl. Viehöfer : Verleger (Anm. 29), S. 34f.: Eva Deinhardt, Clothilde von Derp, Sent M’Ahesa, Grete Wiesenthal.
Meret Fehlmann
Zwischen nostalgischer Sehnsucht und matriarchalen Gesellschaftsentwürfen. Bachofen-Rezeption in Lebensreform und Jugendbewegung
Als 1861 Johann Jakob Bachofens (1815–1887) Buch mit dem langen Titel »Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur« erschien, konnte wohl niemand ahnen, dass es sich dabei um eines der wirkmächtigsten Bücher des 19. Jahrhunderts handeln würde. Die vielschichtige und bis heute andauernde Rezeption des Werkes hat zahlreiche Weltanschauungen beeinflusst und Bachofens Vorstellungen zum Mutterrecht haben spätestens in den 1970er Jahren mit der zweiten Frauenbewegung Eingang ins Allgemeinwissen gefunden.1 Die folgenden Seiten befassen sich mit der Rezeption Johann Jakob Bachofens und seines Werkes »Das Mutterrecht« – wie ich des Weiteren der Einfachheit halber das Buch künftig nennen werde – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dabei geht es um Debatten um die Herkunft und das Verständnis von Familie sowie um das Verhältnis der Geschlechter zueinander, gemeint sind damit auch Fragen der Sexualität, und nicht zuletzt sind mit dem Matriarchatsdiskurs religiöse Aspekte verbunden. Um dieses breite, ja disparate Feld besser verstehen zu können, werde ich in einem ersten Teil auf Johann Jakob Bachofen und seinen Beitrag zur Entwicklung des Matriarchatsdiskurses eingehen. Der zweite Teil wird sich der vielstimmigen Matriarchats- und Bachofenrezeption innerhalb der Lebensreform und Jugendbewegung zuwenden, wobei mein Augenmerk auf die vier Themenkreise Ursprung der Familie und Gesellschaft, Sexualität respektive Partnerwahl, Stellung der »unehelichen« Mutter und ihres Kindes sowie Religiosität gerichtet ist.
1 Der vorliegende Aufsatz basiert über weite Teile auf Überlegungen und Erkenntnissen aus meiner Dissertation »Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments« (Zürich 2011), insbes. die Kapitel zu Bachofen, Lebensreform, erster Frauenbewegung und völkischer Bewegung sind zu nennen.
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Bachofen und »Das Mutterrecht« Johann Jakob Bachofen leitet in »Das Mutterrecht« eine Theorie über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ab, als Basis dienen ihm antike Berichte über mutterrechtliche Zustände bei fremden Ethnien. So gelangt er zu der Überzeugung, dass die mutterrechtliche Gesellschaftsordnung einer Kulturstufe entspreche, die alle Ethnien im Laufe ihrer Entwicklung durchlaufen haben. Dem Mutterrecht komme also universeller Charakter zu. Bei Bachofen charakterisiert sich die Entwicklung der Gesellschaft und der Familie durch eine Dreistufenabfolge: »Wie auf die Periode des Mutterrechts die Herrschaft der Paternität folgt, so geht jener eine Zeit des regellosen Hetärismus voran.«2 Die Gesellschaftsentwicklung läuft über die Stufe Hetärismus zum Mutterrecht und dann zum Vaterrecht. Für ihn stehen die ersten beiden Stufen unter der Herrschaft des Stofflichen, während das Vaterrecht dem Geistigen zugeordnet ist. Den einzelnen Entwicklungsstadien seines Modells ordnet Bachofen unterschiedliche Frauentypen zu. Die erste Stufe des Hetärismus verkörpert die sexuell verfügbare Frau: »Auf der tiefsten Stufe des Daseins zeigt der Mensch neben völlig freier Geschlechtsmischung auch Öffentlichkeit der Begattung. Gleich dem Tiere befriedigt er den Trieb der Natur ohne dauernde Verbindung mit einem Weibe und vor aller Augen.«3 Die Überwindung dieser lustgetriebenen, tierischen Lebensweise schreibt er den Frauen zu, die so den Weg Richtung Zivilisation und Überwindung des Stofflichen beschritten haben: »In dieser Verbindung stellt sich die Begründung der Gynaikokratie als ein Fortschritt des Menschengeschlechts zur Gesittung dar. Sie erscheint als eine Emanzipation aus den Banden des rohsinnlichen tierischen Lebens.«4 Während der Übergangsphase vom Hetärismus zu der von den Frauen initiierten Gynaikokratie, die Monogamie und Kult der Mutterschaft einführt, erscheinen »die männerfeindlichen, männertötenden, kriegerischen Jungfrauen«5. Das Auftreten der Amazonen deutet Bachofen als überspannte Reaktion des weiblichen Geschlechts auf die entwürdigenden Lebensbedingungen im Hetärismus. In seiner Sicht haben die Frauen damit ihre angestammten Rollen als Sexualobjekt und Mutter verlassen und maßen sich mit dem Griff nach den Waffen an, wie Männer zu sein. In Wahrheit warten sie aber nur auf die Befreiung durch den Mann, um ihrer so genannten »natürlichen« Bestimmung als Mutter nachzukommen, was ebenso der Rolle der Frau im Vaterrecht entspricht. Die Frau als Mutter ist in Gynaikokratie wie Vaterrecht das vorherrschende Weib2 Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Frankfurt a. M. 1982 [1861], S. 29. 3 Ebd., S. 77. 4 Ebd., S. 92f. 5 Ebd., S. 63.
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lichkeitsmodell. Alle weiblichen Gestalten in »Das Mutterrecht« sind männlichen Sehnsüchten und Ängsten entsprungen. Die Hetäre ist das sexuelle Wunschbild der stets verfügbaren Frau. Die männerfeindliche Amazone verkörpert ein Angstbild und die Mutter ist die sexuell neutralisierte Frau.6 Bachofen geht von einem starken Dualismus, ja einem Widerstreit der Geschlechter aus. Die Frau gilt ihm als Verkörperung des Stofflichen, so imaginiert er Weiblichkeit als konstante Bedrohung des Geistigen.7 Sein Frauenbild ist charakterisiert von der vom bürgerlichen Zeitalter propagierten, strikten Dichotomie der Geschlechter. Diese Geschlechterdichotomie war aber bereits zum Zeitpunkt der Niederschrift von einer Erosion betroffen. So sieht Bachofen das geistige Prinzip – verkörpert durch das Vaterrecht – zunehmend in Gefahr durch die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts (wie Urbanisierung, Industrialisierung und als deren Begleiterscheinung Arbeiter- und Frauenbewegung). Aus diesem Grund lässt sich »Das Mutterrecht« auch als eine Sammlung von Argumenten gegen die weibliche Emanzipation lesen, die Bachofen als Verfallserscheinung gilt. Seiner Auffassung nach verläuft das Vorwärtsgehen nicht reibungslos, sondern beständig lauere die Gefahr der Regression in frühere Stufen.8
Zu Johann Jakob Bachofen und dem Terminus Matriarchat Schließen möchte ich diesen ersten Teil mit einigen Worten zum Vater des »Matriarchats«, wenn denn das Matriarchat überhaupt einen Vater benötigt: Johann Jakob Bachofen entstammte einer reichen Basler Patrizierfamilie. Sein früh ausgeprägtes Interesse an der Antike bewog ihn, 1834 ein Studium der klassischen Philologie und Geschichte an der Universität Basel aufzunehmen. 1836 wechselte er zur Jurisprudenz und wurde 1839 zum Doktor beider Rechte in Basel.9 1841 – mit 26 Jahren – wurde er ebenda Professor für römisches Recht. Nach nur zwei Jahren legte er seine Professur nieder. Das beträchtliche Familienvermögen erlaubte ihm, sich fortan seinen geschichtsphilosophischen Träumereien zu widmen.10 Bei der Lektüre von »Das Mutterrecht« fällt auf, dass 6 Vgl. ebd., S. 63–150. 7 Hartmut Zinser: Mythos des Mutterrechts. Verhandlungen von drei aktuellen Theorien des Geschlechterkampfs, Münster 1996, S. 12f. 8 Zinser : Mythos (Anm. 7), S. 13, 16; Andreas Cesena: Johann Jakob Bachofens Geschichtsdeutung. Eine Untersuchung ihrer geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, Basel 1983, S. 61. 9 Karl Meuli: J. J. Bachofen und sein Mutterrecht (Nachwort), Basel 1948, S. 1014; Cesena: Bachofen (Anm. 8), S. 19–26, Philipp Sarasin: Basel – Zur Sozialgeschichte der Stadt Bachofens, in: Barbara Huber-Greub (Hg.): Johann Jakob Bachofen (1815–1887), Basel 1987, S. 28–39. 10 Cesena: Bachofen (Anm. 8), S. 67; Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens
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Bachofen das Wort Matriarchat nie benutzt. Er verwendet Begriffe wie Muttertum, Mutterrecht oder Gynaikokratie. Diese Begriffe selbst wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert synonym und ohne scharfe Bedeutungstrennungen nebeneinander verwendet.11 Bachofen kann nicht vom Matriarchat sprechen, denn es handelt sich dabei um einen im deutschen Sprachraum in den 1880er und 1890er Jahren aufgekommenen Neologismus.12 Matriarchat besteht aus dem Lateinischen Mater (Mutter) und der griechischen Wurzel archein (Herrschaft). Dieser seinen Siegeszug bald antretende Neologismus ist ein Synonym des griechischen Begriffes Gynaikokratie, der bereits ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. nachweisbar ist.13 Bei Bachofen bezeichnet Gynaikokratie die Herrschaft der Frau in der Familie und im Staate, das alleinige Erbrecht der Töchter sowie das Recht der Frau in der Partnerwahl: »Die Gynaikokratie schließt in sich das Recht des Weibes, ihren Mann selbst zu wählen. […] Das Weib wählt sich den Mann, über den sie in der Ehe zu herrschen berufen ist. […] Die Herrschaft des Weibes beginnt mit ihrer eigenen Wahl. Die Frau wirbt, nicht der Mann.«14 Diese der Frau zugestandene Freiheit sowie damit einhergehend wohl ein gewisses Maß an sexueller Selbstbestimmung scheinen bei Bachofen charakteristischer Teil der Gynaikokratie zu sein. Diese Elemente bilden zentrale Punkte der matriarchalen Mythologie des 20. Jahrhunderts. Eine Gesellschaft, in denen es Frauen zusteht, ihren Partner frei zu wählen, ist anschlussfähig an Ziele der Lebensreform und Jugendbewegung, die sich zumindest in Teilen für die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie eine Neugestaltung dieses Verhältnisses einsetzte. Bachofen lässt sich in die Tradition der Modernitätskritik einordnen. »Das Mutterrecht« ist eine Reaktion auf gesellschafts- und sozialpolitische Fragen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich zu manifestieren begannen – darunter die Emanzipation der Frau. »Das Mutterrecht« liest sich mit Gewinn als rückwärtsgewandte Sehnsucht eines reichen Patriziers, der sich vor dem Zeitalter des Kapitalismus und seinen Konsequenzen fürchtet – gewissermaßen ein verspäteter Romantiker, der das Stoffliche und Irrationale feiert, es aber sicher und abgeschlossen in der fernen Vergangenheit weiß. Der Sehn-
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Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften vor der Entstehung staatlicher Herrschaft, Frankfurt a. M. 1980, S. 9f.; Hermann Levin Goldschmidt: Johann Jakob Bachofens Revolution gegen den Fortschritt, Zürich 1987, S. 7. Peter Davies: The Bourgeois Family in the Matriarchy Debate around 1900, in: Christine Kanz, Frank Krause (Hg.): Zwischen Demontage und Sakralisierung. Revisionen des Familienmodells in der europäischen Moderne (1880–1945), Würzburg 2015, S. 23–38, hier S. 24. Z. B. Beate Wagner-Hasel: Matriarchat, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, hg. v. R. W. Brednich, Bd. 9, Berlin 1999, Sp. 407–415, hier Sp. 407. Wesel: Mythos (Anm. 10), S. 38. Bachofen: Mutterrecht (Anm. 2), S. 233.
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suchtscharakter drückt sich auch in der Beschreibung der Welt der Gynaikokratie aus, der er eine Melancholie und vergangene Größe zubilligt. Diese Untertöne machen »Das Mutterrecht« bis heute interessant. Bachofen lässt aber keine Zweifel aufkommen, dass für ihn der Abschluss und die Krönung der Entwicklung der Menschheit im durch die Vorherrschaft des Geistes geadelten Vaterrechtes kulminiert: »Der Sieg des Mannes liegt in dem rein geistigen Prinzip.«15 Die Vorherrschaft des Mannes und des Geistigen war nur möglich durch die Überwindung des Mutterrechts.
Bachofenrezeption um die Jahrhundertwende Stieß »Das Mutterrecht« bei seinem Erscheinen 1861 eher auf Unverständnis und Kritik, konnte Bachofen in den 1870er Jahren noch eine erste Rezeptionswelle seines »Mutterrechts« erleben. Bereits um 1900 hat die Rede vom Matriarchat in unterschiedlichen Kreisen eine Heimat gefunden. Die größte Wirkung hatten dabei wohl die Vorstellungen des kulturellen Evolutionismus über die Entstehung der Familie und der Gesellschaft. Auf die Primordialität der Mutter-KindBindung bauten seine Exponenten ihre Spekulationen über die Entstehung der Institutionen Familie und Gesellschaft auf. Sie entwarfen unter Einbezug ethnologischer Schriften ein ähnliches Bild der Entstehung der Gesellschaft wie Bachofen einige Jahre zuvor. Wobei sie die Schritte einer allgemeinen Promiskuität, hin zu einer Polygamie in männlicher und weiblicher Ausprägung und schließlich den Übergang zur Einehe vorsahen. Die meisten von ihnen verstanden die monogame Bindung als Klimax der Entwicklung. Solche Ideen wurden in diversen Wissenschaftsdisziplinen rezipiert und weitergeschrieben, darunter Religionswissenschaft, Archäologie oder Volkskunde. Eine erste Rezeption matriarchalen Gedankenguts setzte in den 1880er Jahren in sozialen Bewegungen ein. Die Vorstellung, dass die Mutter-Kind-Bindung Grundlage aller sozialer Entwicklungen sei und die Familienform Stadien durchlaufen habe, griffen sie dankbar auf. An vorderster Linie ist der Sozialismus zu nennen, die Schriften von Friedrich Engels »Über den Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staates« (1884) und August Bebels »Die Frau und der Sozialismus« (1879)16 spielen dabei eine prägende Rolle. Jedoch kannte bereits der Frühsozialismus eine Bachofen vorangehende Tradition visionärer Gesellschaftsentwürfe zur Aufwertung der Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft – 15 Bachofen: Mutterrecht (Anm. 2), S. 318. 16 Wobei Bebel in der Erstausgabe keine matriarchale Vergangenheit ausmalte, sondern die Frühzeit der menschlichen Gesellschaft allein durch das Recht des Stärkeren geprägt ansah, vgl. Fehlmann: Rede (Anm. 1), S. 266–270.
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erinnert sei in dem Zusammenhang an utopische Schriften aus dem Kreise des Fourierismus und Saint-Simonismus.17 Auch die erste Frauenbewegung fand im Matriarchat ein anzustrebendes Modell. Insbesondere in den angelsächsischen Ländern umarmte die Frauenbewegung die Vorstellungen des kulturellen Evolutionismus, was die ursprüngliche matriarchale Sozialorganisation der Gesellschaft anging. In Kontinentaleuropa war der Rückbezug etwas zaghafter und teilweise machte sich eine Kritik matriarchaler Begeisterung als Eskapismus und deshalb letztlich hinderlich für die weibliche Emanzipation breit.18 Im deutschsprachigen Raum blieb Bachofen Dreh- und Angelpunkt für die Weiterentwicklung der Matriarchatsdebatte, insbesondere durch die um 1900 erfolgte Wiederentdeckung seines »Mutterrechts«. Die 1897 erfolgte Neuausgabe des »Mutterrechts« erleichterte diese Rezeption. Die erneute Beschäftigung mit Bachofen ging stark von dem als »Münchner Kosmiker« oder auch »Kosmische Runde« bekannten Künstlerkreis aus. Der Sexualreformer Paul Krische (1878–1956), der zusammen mit seiner Frau Maria Krische (geb. Reinicke, 1880–1945) in den 1920er Jahren eine Studie über die Mutterrechtsgesellschaft verfasste, lässt verlauten: »Durch sie ist für das Werk von Bachofen, das längst auch in seiner Auflage von 1897 vergriffen ist, ein derartiges Interesse wachgerufen, dass es zu den begehrtesten Liebhaberstücken des Büchermarktes zählt und bereits einen Preis von über hundert Mark erreicht hat.«19 Die Rezeption durch die »Kosmiker« steht im Zusammenhang mit ihrer Faszination für vorchristliche, chthonische Religiosität. In Kombination mit der verbreiteten Nietzsche-Lektüre resultierten daraus ein antichristlicher Impetus und eine Neigung zu Neuheidentum in unterschiedlicher Ausprägung.20 Die Begeisterung für das Ursprüngliche und das Urmütterliche nahm einen Aufschwung, begleitet von einer Ablehnung sowohl des Vaterrechts als auch der Ehe, die als überholte gesellschaftliche Instanzen galten, dabei handelt es sich um eine Rezeption gegen die Intention Bachofens. Die bedeutendere Bachofen-Rezeption im deutschsprachigen Raum setzte dann in den 1920er Jahren ein, die zahlreiche Neuauflagen seiner Werke – nicht mehr nur des »Mutterrechts« – sahen.21 Was nun Lebensreform und Jugendbewegung betrifft, bleibt zu fragen, in welchem Rahmen eine Rezeption Bachofens und des Matriarchatsgedankens 17 Vgl. hierzu z. B. Elke Kleinau: Die freie Frau. Soziale Utopien des frühen 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1987; Vincent Geoghegan: Utopianism and Marxism, Oxford 2008; Fehlmann: Rede (Anm. 1), S. 57–60, S. 254–260. 18 Vgl. Fehlmann: Rede (Anm. 1), S. 285–320. 19 Paul Krische, Maria Krische: Das Rätsel der Mutterrechtsgesellschaft, München 1927, S. 3. 20 Yahya Elsaghe: Einleitung, in: Johann Jakob Bachofen. Mutterrecht und Urreligion, Stuttgart 2015, S. IX–LXV, hier S. XLIX. 21 Elsaghe: Einleitung (Anm. 20), S. LIIf.
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stattgefunden hat. Wie so oft fällt die Antwort auf komplexe Fragen nicht eindeutig aus. Lebensreform und Jugendbewegung sind nicht homogene Bewegungen, sondern weisen eine Vielzahl an Ausrichtungen auf, so dass sowohl das Matriarchat als auch die Schrift Bachofens auf unterschiedliche Weisen rezipiert wurden. Die Beschäftigung mit dem Matriarchat reicht von Begeisterung, ein Modell für die Umgestaltung der Gesellschaft gefunden zu haben, zu Desinteresse hin zu Ablehnung einer Vision einer weiblich geprägten Vorzeit.
Ursprung der Familie und Gesellschaft Die Lebensreform bemühte sich, die Gesellschaft und die Geschlechterverhältnisse auf eine neue Basis zu stellen So diente in gewissen lebensreformerischen Kreise das Matriarchat und die Schrift Bachofens als eine Art Modell zur Neugestaltung der Gesellschaft, in der die Rolle der Frau gestärkt und die patriarchale Familie nicht das einzige Familienmodell ist. Dieser positive Bezug auf das Matriarchat darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es auch Opposition gegen die Vorstellung einer matriarchalen Vergangenheit gab. Deutlich wird die Ablehnung des Matriarchats vor allem in Teilen der bündisch geprägten Jugendbewegung, die eine Ablehnung des Weiblichen, das als das Andere fungierte, kannte. Deren Vision einer idealisierten und damit ebenfalls entzeitlichten Vergangenheit betonte das Kämpferische und bot sich jungen Männern zur Identifikation an. Diese Orientierung wurde auch durch die Männerbundtheorie von Hans Blüher (1888–1955) gestützt. In verschiedenen Schriften22 arbeitete Blüher ab den 1910er Jahren die Bedeutung der homoerotischen Libido als Antrieb und Ursprung der Männerbünde heraus. Diese verstand er als Ausgangspunkt der Gesellschaft und Ordnung. Die Männerbund-Ideologie kann als Gegenreaktion auf die damaligen Verhältnisse verstanden werden und auf die vielfach konstatierte Schwächung der Position des Mannes, insbesondere im Nachgang des Ersten Weltkriegs.23 Entsprechende Theorien über die Bedeutung der Männerbünde für die Entstehung der Gesellschaft blieben nicht unwidersprochen. Sophie Rogge-Börner (1878–1955), eine völkische Feministin, verurteilte die Männerbundtheorien als fremdrassisch, patriarchal und jüdisch-orientalisch sowie als Ausdruck des
22 Bspw. Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen (1912) oder: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (2 Bände, 1917/1919). 23 Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 216f.; Ulrich Linse: Geschlechtsnot der Jugend. Über Jugendbewegung und Sexualität, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 245–309, hier S. 267.
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vorherrschenden gesellschaftlichen Verfalls.24 In »Zurück zum Mutterrecht« (1932), einer Kritik an Ernst Bergmanns (1881–1945) »Muttergeist und Erkenntnisgeist« (1932) macht sie sich für ein anderes Geschlechterverhältnis stark: »Wir trüben und verunreinigen den Brunnen, aus dem es einzig strömt: die Familie. Auf dem Dreiecksgefüge ruht sie: Mutter, Vater, Kinder. Wer eine der drei Seiten herausbricht, zerstört das Gefüge und wiederum die Grundharmonie.«25 Dieses Zitat zeigt sie nicht als Anhängerin des Matriarchats, sondern vielmehr der Vorstellung einer ursprünglich germanischen Gleichberechtigung der Geschlechter. Zugleich war sie beeinflusst von der Pendeltheorie der Reformpädagogin Mathilde Vaerting (1884–1977).26 Hierbei handelt es sich eigentlich um eine unwahrscheinliche Rezeptionsgeschichte, solche sind aber in der Geschichte des Matriarchatsgedankens weit verbreitet. Vaerting macht sich in »Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib« (1921) für die Gleichberechtigung der Geschlechter stark: »Wir dürfen also von der Gleichberechtigung der Geschlechter erwarten, dass sie langsam aber sicher die künstliche sexuelle Differenzierung der eingeschlechtlichen Vorherrschaft abbaut und dafür der individuellen Eigenart und, soweit eine geschlechtliche Eigenart angeboren vorhanden ist, größere Entwicklungsmöglichkeit schafft.«27
Vaerting geht von einer Pendelbewegung der wechselnden Unterdrückung eines Geschlechts aus. Dazwischen liegen Perioden der Gleichberechtigung, die es zu fördern und zu halten gelte. Die Zwischenkriegszeit sieht Vaerting als eine solche Zeit der sich anbahnenden Gleichberechtigung der Geschlechter, die sich gerade auch um Bereich der Sexualität ausdrückt.
24 Zur Kritik an Männerbundtheorien Blüher’scher Prägung siehe Rogge-Börners Schrift: An geweihtem Brunnen (Weimar 1928), bes. S. 13–17. Ilse Korotin: Am Muttergeist soll die Welt genesen. Philosophische Dispositionen zum Frauenbild im Nationalsozialismus, Wien 1992, S. 111. Zu Sophie Rogge-Börner z. B. Eva-Maria Ziege: Sophie Rogge-Börner – Wegbereiterin der Nazidiktatur und völkische Sektiererin im Abseits, in: Kirsten Heinsohn, Barbara Vogel, Ulrike Weckel (Hg.): Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M. Campus 1997, S. 44–77. 25 Sophie Rogge-Börner : Zurück zum Mutterrecht?, Leipzig 1932, S. 40. 26 Zu Vaerting vgl. Theresa Wobbe: Mathilde Vaerting (1884–1977), in: Barbara Hahn (Hg.): Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salom8 bis Hannah Arendt, München 1994, S. 123–135. 27 Mathilde Vaerting: Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib, Bd. 1: Die weibliche Eigenart im Männerstaat und die männliche Eigenart im Frauenstaat, Karlsruhe 1921, S. 137.
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Sexualität Ab der Jahrhundertwende war die Suche nach einer neuen Sexualethik in fortschrittlichen Kreisen ein Thema. Diese Bemühungen wiesen oftmals eine Nähe zu Sexualpädagogik und Mutterschutz auf. Jedoch ist diese neue Sexualethik in der Regel kein Lob einer frei gelebten Sexualität oder gar einer wilden Promiskuität, sondern die Bemühungen gehen dahin, eine jugendliche Sexualabstinenz für beide Geschlechter zu initiieren. Dieses Askese-Element wurde auch innerhalb Teilen der Jugendbewegung gefördert.28 Insbesondere die bürgerliche Jugendbewegung versuchte, ein neues Verhältnis der Geschlechter zu entwickeln, das zu einem gleichberechtigteren Zusammensein führen sollte. Dabei gewann die Vorstellung der Reinheit – beider Geschlechter – an Gewicht.29 Einen ganz anderen Ansatz verfolgte das kleine, tendenziell anarchistisch geprägte Lager, das die Sexualität aus den Zwängen der Gesellschaft befreien wollte. Vor allem diese Kreise erachteten das Matriarchat mit seinen Zuschreibungen als stofflich und sinnlich als lohnendes Gesellschaftsmodell. In dem Zusammenhang kommt auch die entstehende Psychoanalyse ins Spiel. Zum Zeitpunkt ihres Entstehens wurde die Psychoanalyse von einer Mehrheit der bürgerlichen Gesellschaft als unanständig abgelehnt – u. a. wegen ihres Beharrens auf der frühkindlichen Sexualität als Schlüssel zu späteren Neurosen. Das Verstoßen gegen die bürgerliche Moral erklärt den Reiz, den die Psychoanalyse damals auf alternative Kreise – darunter auch die Lebensreform – ausübte.30 Ihre Vermittlung in bohHmehafte Kreise war meist an einige wenige Figuren geknüpft. Eine solche Vermittlerfunktion hatte Otto Gross (1877–1920) inne, der eben nicht nur solche mutterrechtlich-utopische Visionen einer neuen Kultur auf dem Papier entwarf, sondern die von ihm propagierten Ideen, die auf eine Auflösung der (klassischen) Kleinfamilie hinarbeiteten, gleich selbst vorlebte. So unterhielt er gleichzeitig Beziehungen zu verschiedenen Frauen, mit denen er teilweise auch Kinder zeugte, und seine Frau lebte mit seiner Billigung mit einem anderen Mann zusammen.31 Gross’ Theorien drehen sich um einen mutterrechtlichen Urzustand und dessen Ablösung durch das Patriarchat und belegen so den Einfluss der Bach28 Linse: Geschlechtsnot (Anm. 23), S. 252ff. 29 Ebd., S. 257–263. 30 Christine Kanz: Zurück zu den Müttern? Zu den kulturtheoretischen und literarischen Diskussionen über Familie Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Gudrun Cyprian, Marianne Heimbach-Steins (Hg.): Familienbilder. Interdisziplinäre Sondierungen, Opladen 2003, S. 87–99, hier S. 88. 31 Emanuel Hurwitz: Otto Gross – von der Psychoanalyse zum Paradies, in: Harald Szeemann (Hg.): Monte Verit/ – Berg der Wahrheit, o. O. 1978, S. 107–116, hier S. 112 und ders.: Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung, Frankfurt a. M. 1988 [1979], S. 112–125, hier S. 117.
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ofenrezeption in verschiedensten Kreisen um den vorletzten Jahrhundertwechsel.32 In den 1910er Jahren hält Gross in mehreren Artikeln seine Visionen einer matriarchalen Vorzeit der Menschheit fest. Den Weg zur Wiedererlangung dieses verlorenen Paradieses sieht er in einer Stärkung der Frauen als Mütter sowie in einer frei gelebten Sexualität: »Das Mutterrecht hat für sexuelles Geschehen keine Schranken und Normen, keine Moral und keine Kontrolle. Es kennt nicht den Begriff der Vaterschaft und rechnet nicht mit ihrer Konstatierbarkeit in irgend einem einzelnen Fall. Es nimmt die Mutterschaft als größte, der Gesellschaft selbst als legitimen Rechtsvertreterin der kommenden Geschlechter dargebrachte Leistung an und überträgt auf die Gesellschaft alle Pflicht, die materielle Gegenleistung aufzubringen […].«33
Er lobt den permissiven Charakter des Mutterrechts gerade im sexuellen Bereich und optiert für eine Verantwortlichkeit der Gesellschaft, respektive des Staates für die finanziellen Aspekte der »Kinderaufzucht«. Für Gross hat die Befreiung aus den Zwängen der bürgerlichen, vaterrechtlichen Familien durch die Frauen zu erfolgen. Die nach ihm aber auch Schuld an dieser Entwicklung tragen, denn sie hätten sich in grauer Vorzeit mit bürgerlicher Vertragsmoral angesteckt und sich von der Bindung an einen Mann eine bessere Versorgung für sich und ihren Nachwuchs versprochen.34
Stellung der Frau und ihres Kindes Die Frage nach der »Finanzierung« von Mutterschaft ist mit der Frage nach der Stellung der Frau in der Gesellschaft verwoben. Frauenbewegung und andere Teile der Lebensreform setzten sich für die Emanzipation der Frau ein, die durch ein verändertes Familienleben und Berufstätigkeit erfolgen sollte. Gleichzeitig war die Berufstätigkeit der Frau beständiger Denunziation ausgesetzt. Neben der Konkurrenz für die männlichen Arbeitnehmer wurden auch soziale Befürchtungen laut, dass die berufstätige Frau ihrer Aufgabe als Hausfrau und Mutter nicht mehr gewachsen sei, dass sie weniger und kränkere Kinder gebäre oder sich ganz der Mutterschaft verschließe. Diese Ängste verweisen auf den Zusammenhang mit pronatalistischen Bestrebungen, die ab 1900 mit eugenischen 32 Martin Green: Else und Frieda. Die Richthofen-Schwestern, Berlin 1974, S. 59; Hurwitz: Gross (Anm. 31), S. 114, ders.: Paradies-Sucher (Anm. 31), S. 71, 78–81; Rolf Mader : Wahnsinn im Sinne des Gesetzes. Otto Gross: Eine Liaison von Psychoanalyse und BohHme, in: Helmut Bauer, Elisabeth Tworek (Hg.): Schwabing. Kunst und Leben um 1900, München 1998, S. 199–211, hier S. 207ff. 33 Otto Gross: Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik, in: Sowjet, 1919, 2. Jg., S. 12–27, hier S. 20. 34 Vgl. ebd., S. 20f.
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Überlegungen ergänzt wurden. Es stand nicht mehr die Anzahl des Nachwuchses im Zentrum, sondern dessen Gesundheit, die nur verantwortungsbewusstes elterliches Verhalten gewährleistet. Eugenische Bemühungen verbanden sich mit Sorgen um den sozialen Fortschritt der Familie und damit der Gesellschaft. Aus eugenischen Kreisen kam durchaus die Forderung nach ökonomischer Unabhängigkeit der Frau, damit sie sich in ihrer Partnerwahl nicht von finanziellen Aspekten leiten lasse, sondern den Mann, der für guten, gesunden Nachwuchs sorgen könne, erwähle.35 Mit solchen Forderungen bestand auch eine Anschlussfähigkeit an Ziele der ersten Frauenbewegung, die teilweise auch überzeugte Eugenikerinnen in ihren Reihen hatte. Für eine Reform der sexuellen Ethik setzte sich der 1904 gegründete »Bund für Mutterschutz« ein. Er kritisierte die herrschende Doppelmoral, die ausschließlich von der Frau Keuschheit forderte, und sah eine in geregelten Bahnen ausgelebte Sexualität beider Geschlechter als wichtig für die Gesamtentwicklung der Persönlichkeit an. Jedoch fand auch hier die höchste Erfüllung der Liebe ihren Ausdruck in der Elternschaft.36 Dazu gehörte ein neues Modell von selbstgewählter Mutterschaft unabhängig vom Zivilstand der Mutter. Diese neue Ethik sorgte für Aufmerksamkeit und Widerhall in der Öffentlichkeit, wobei die Radikalität dieser Forderungen gerade in Bezug auf eine erfüllte, weibliche Sexualität weite Kreise abschreckte.37 Dabei wollte der Bund den veränderten, sozialen, ökonomischen und reproduktiven Mustern Rechnung zollen und so die eklatantesten Benachteiligungen der »unehelichen« Kinder beseitigen. Die rechtlichen und sozialen Benachteiligungen der außerehelich geborenen Kinder fasst dieser – zeitlich zwar etwas später entstandene – Beitrag »Sexuelle und soziale Frage« von Ewy Lang aus der Zeitschrift »Der Funke. Blätter aus der Jugendbewegung« vom Herbst 1928 treffend zusammen: »Uneheliche Mutterschaft: Die herrschende Moral nennt sie unsittlich. Ihre gesetzliche Gleichstellung mit der ehelichen wird durch wiedersprechende Gesetze umgestossen. Die Beurteilung der Vater- und Mutterpflichten geschieht unter dem Gesichtspunkt der Geldverwaltung. Der Mutter fallen alle Pflichten zu, die Rechte werden ihr durch Einsetzen eines Vormundes vorenthalten. Dazu kommt die Verachtung durch die Moral35 Ann Taylor Allen: Mothers of the New Generation. Adele Schreiber, Helene Stöcker, and the Evolution of a German Idea of Motherhood, 1900–1914, in: Signs, 1985, 10. Jg., S. 418–438, hier S. 419f. 36 Wobei im Zusammenhang mit dem »Bund für Mutterschutz« besser von Mutterschaft, statt Elternschaft die Rede sein sollte, denn die Rolle des Mannes als Vater war mit/nach dem Akt der Zeugung mehr oder weniger beendet Allen: Mothers (Anm. 35), S. 427f., und dies.: Feminism and Motherhood in Western Europe (1890–1970). The Maternal Dilemma, New York 2005, S. 32f. 37 Gabriele Frohnhaus: Feminismus und Mutterschaft. Eine Analyse theoretischer Konzepte und der Mütterbewegung in Deutschland, Weinheim 1994, S. 99ff.
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anschauung der Umwelt. Dieser Belastung erliegen viele Mütter und die Sterblichkeitsziffern zeigen die wirkliche Stellung der unehelichen Kinder.«38
Außerehelich geborene Kinder galten als nicht mit dem Vater verwandt und somit vom Erbe ausgeschlossen, die Mutter musste für sie aufkommen. In Anbetracht der schlechteren Entlohnung der Frauen und der fehlenden Mutterschutzbestimmungen wiesen unehelich geborene Kinder eine wesentlich höhere Sterblichkeitsrate auf.39 Ein Gründungsmitglied des »Bundes für Mutterschutz« war Ruth Br8 (1862–1911, i. d. Dichterin Elisabeth Bouness), in »Staatskinder oder Mutterrecht? Versuch zur Erlösung aus dem sexuellen und wirtschaftlichen Elend« (1904) stimmt sie einen Lobgesang auf das Mutterrecht an. Darin verlangt sie nach einer Umgestaltung der Familienstruktur : »Rückkehr zum Mutterrecht hieße demnach nicht weiter atomisieren oder gar die Mutter isolieren […], sondern es hieße im Gegenteil: sozialisieren! Die vaterrechtliche zweiatomige Einzelehe hat zur Genüge ihre Untauglichkeit als Gesellschaftseinrichtung erweisen.«40 So legt dieser Text Zeugnis ab für die lebhaft geführte Diskussion über den Ursprung der Familie, die in matriarchalen Strukturen vermutet wurde. Br8s Text enthält Elemente einer matriarchalen Utopie, wenn sie die Familie einem radikalen Umbau unterziehen will und mit dem Lob des Glückes der unverheirateten Mutterschaft schließt: »Nein, die neue Frau, die zum Bewusstsein ihres Menschentums erwacht ist, die ›reif zur Liebe geworden ist‹, – die liebt und lebt, wenn das Herz und das Blut glüht. […] Und ihr Kind, das in Licht und Luft und Liebe empfangene, das hält sie jauchzend und lachend dem Herrgott entgegen, nicht ›als sündige, gefallene Mutter‹, sondern in der strahlenden Schöpferwonne ihres jungen, gesegneten Leibes.«41
38 Ewy Lang: Sexuelle und soziale Frage, in: Der Funke. Blätter aus der Jugendbewegung, 1928, 2. Jg., S. 157f. Die Oktober-November-Ausgabe 1928 von »Der Funke« war der sexuellen Frage gewidmet. Die meisten Beiträge kritisieren die vorherrschende Doppelmoral als ungesund und ungenügend für die Alltagspraxis, sie nehmen immer wieder auch Themen auf, die mit dem Matriarchatsdiskurs eng verwoben sind – bei dem Thema auch wenig verwunderlich – ohne jedoch das Wort Matriarchat oder Mutterrecht selbst je zu erwähnen. 39 Allen: Mothers (Anm. 35), S. 419–426. 40 Ruth Br8 (Elisabeth Bouness): Staatskinder oder Mutterrecht? Versuche zur Erlösung aus dem sexuellen und wirtschaftlichen Elend (1904), in: Marielouise Janssen-Jurreit (Hg.): Frauen und Sexualmoral, Frankfurt a. M. 1986, S. 95–100, hier S. 97f. 41 Ebd., S. 99.
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Suche nach einer anderen Form der Religiosität Galt um 1900 die Mutter mit ihrem Kind als Urform der Familie, so lässt sich auch die Vorstellung nachweisen, dass diese Dyade den Ausgangspunkt der Religion bilde. Religiosität ist ebenfalls ein wichtiges Thema in Lebensreform und Jugendbewegung, die nach alternativen Formen der Religion und Spiritualität suchten. Spätestens um die Jahrhundertwende war die Vorstellung, dass den monotheistischen Religionen ein Kult einer erdverbundenen, chthonischen Muttergottheit voranging, zum Allgemeinwissen geworden, wobei eine Nähe zwischen weiblicher Fruchtbarkeit und derjenigen der Natur postuliert wurde.42 Bereits bei Bachofen findet sich dieser Nexus, denn die Stufe des Muttertums ist für ihn mit der chthonischen, der erdverbundenen, ursprünglichen Religion der Großen Mutter verbunden. So erstaunt es nicht, dass andere Religionsentwürfe in der Matriarchatsrezeption zum Tragen kamen. Diese reichen von der Begeisterung für östliche Spiritualität hin zur (vermeintlichen) Rückbesinnung auf Göttinnen der eigenen Vorgeschichte. In dem Zusammenhang möchte ich »Magna Mater« der völkischen Publizistin Lenore Kühn (1878–1955) erwähnen, die dem deutschgläubigen Spektrum zuzurechnen ist.43 Darin macht sie sich für die Wiederkehr der Großen Göttin stark: »Es ist an der Zeit, dass das Bild der Großen Mutter wieder am Horizont des Lebens aufgerichtet wird, damit es schützend und schattend all jene tröstet, die in den grellen Tag hineingestellt sind. Denn es gibt schon viele, die ihr Haupt an das Knie der nächtlichen Mutter lehnen wollen und das Gesicht in ihrem Schoss verbergen.«44 Das Buch von 1928 behandelt in einem ersten Teil die Sehnsüchte der heutigen Menschen nach der Großen Mutter, während der zweite Teil den Kult der Großen Mutter inszeniert. Es geht um die konkrete Umsetzung einer naturverbundenen Spiritualität, denn die Rezitale und Gebete folgen dem Jahres- und Lebenslauf. Dieser Aufbau des Buches mit seiner theoretischen Herleitung der Dringlichkeit des Zurückfindens zur Magna Mater und dem zweiten, praktischen Teil zeigt, dass es Lenore Kühn um die Ausgestaltung einer spezifischen, als weiblich zu verstehenden Spiritualität ging. Dennoch zeigen Anrufungen wie »Mutter, heiligster Schoss«45, dass auf die alten Genderzuschreibungen gebaut wird.
42 Rosemary Ruether Radford: Goddesses and the Divine Feminine. A Western Religious History, Berkeley 2005, S. 261. 43 Zu Kühn z. B. Ina Schmidt: Geschlechterpolitik, Religion, Nationalismus und Antisemitismus im Leben der Publizistin und Philosophin Lenore Kühn, in: Recherches germaniques, 2002, Bd. 32, S. 69–84. 44 Lenore Kühn: Magna Mater, Jena 1928, S. 3. 45 Ebd., S. 86.
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Abschließende Gedanken All diese Einblicke in ein verzetteltes Feld haben gezeigt, dass die deutschsprachige Matriarchatsdebatte immer auch eine Form der Rezeption von Bachofens Text ist, selbst wenn er von weiteren Texten aus anderen Traditionen ergänzt und gestützt wird. Dass Bachofen immer wieder als Urtext für die Matriarchatsdebatte rezipiert wird, hat auch mit seinen durchaus poetisch und nostalgisch zu nennenden Formulierungen zu tun, mit denen er seine Visionen des vergangenen Mutterrechts schildert: »Dasjenige Verhältnis, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend […] zum Ausgangspunkt dient, ist der Zauber des Muttertums, der inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird. In der Pflege der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine liebende Sorge über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle Erfindungsgabe, die sein Geist besitzt, auf die Erhaltung und Verschönerung fremden Daseins richten.«46
So wird Bachofens »Mutterrecht« bis in die Gegenwart hinein von verschiedenen Kreisen mit den unterschiedlichsten Bestrebungen bemüht. Die kurzen Schlaglichter haben gezeigt, dass die Beschäftigung mit Bachofen oftmals eine Rezeption gegen seine Intention ist. Zwar feiert auch Bachofen das Irrationale, das Andere und das Weibliche, das er aber in einer weit entfernten Vergangenheit quasi unschädlich gemacht sieht. Seine Epigonen und Epigoninnen verstehen dieses Lob des Anderen, Stofflichen, Weiblichen und Mütterlichen teilweise als Modell mit gesellschaftsutopischem Potential für die Zukunft, nachdem sie ihre Gesellschaftsentwürfe ausrichten wollen. Als kontinuierliches Element des Matriarchatsdiskurses lassen sich verklärende Deutungen von Weiblichkeit und Mütterlichkeit ausmachen, die von allen Seiten – jugendbewegt, lebensreformerisch, völkisch und auch frauenrechtlerisch – mit unterschiedlichen Intentionen bedient werden.47
46 Bachofen: Mutterrecht (Anm. 2), S. 12. 47 Kanz: Zurück (Anm. 30), S. 88.
Gabriele Guerra
Führung und Befreiung des Körpers. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1920
Als Gustav Wyneken 1913 seinen »Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde« veröffentlichte, waren seit der Gründung dieser Institution in dem kleinen thüringischen Dorf Wickersdorf sieben Jahre vergangen. Die Schulgründung hatte damals Aufsehen erregt und wurde schnell erfolgreich, auch nachdem Wyneken infolge mehrerer Skandale sein Amt ablegen musste. Das Büchlein Wynekens stellt trotz seiner Kürze einen guten Ansatzpunkt zu kritischen Reflexionen dar, zunächst über die kulturellen Bedingungen und die reformpädagogischen Leistungen der Freien Schulgemeinde, dann aber auch über die philosophischen und erziehungswissenschaftlichen Prämissen des Denkens Gustav Wynekens. In diesen Reflexionen Wynekens wird deutlich, inwiefern diese appellativen Aufforderungen zur Sinnstiftung seiner Anstalt biopolitische Tendenzen innehaben. Die Freien Schulen, wie Wyneken 1914 in einem anderen Text schreibt, sollten »einen bestimmten geistigen Lebensstil finden und verwirklichen«1. Auf die daraus resultierende Frage, wie konkret und auf welchem theoretischen Grund dieser geistige Lebensstil zu verwirklichen wäre, hatte Wyneken in dem vorherigen Jahr in seinem Büchlein über die Freie Schulgemeinde schon geantwortet: »Der Mensch ist das Geschöpf, das aus der Hand der Natur in die Hand des Geistes übergangen ist. […] Die Entwicklung der Menschheit war nur in sehr geringem Maße noch eine biologische, im wesentlichen aber eine geistige«2, schreibt er in seinem »Gedankenkreis«. Damit ist der für Wyneken zentrale Begriff des Geistes gefallen, der sein Denken in einem breiteren Kontext der deutschen Kultur um die Jahrhundertwende einordnet und dabei scheinbar keine Spur biopolitischer Ansatzpunkte zeigt: Der Geist und nur der Geist sei es, der über die Neubestimmung des Menschen entscheide, jenseits jeglicher Bio1 Gustav Wyneken: Die Aufgabe der freien Schulen, in: ders.: Der Kampf für die Jugend. Gesammelte Aufsätze, Jena 1919 [1914], S. 5–12, hier S. 10. 2 Gustav Wyneken: Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde, in: ders.: Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Kleine Schriften, Jena 2006 [1913], S. 34–35.
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Gabriele Guerra
logisierung bzw. positivistischer Systematisierung des Lebens. Und doch, in Hinblick auf die Reflexionen Wynekens, halte ich es für angemessen, auch bei ihm von biopolitischen Hintergründen zu sprechen. Dies ist möglich vor dem Hintergrund, wie Leben und Geist in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf zusammen gedacht und einer totalen Kontrolle unterzogen wurden. Der Kontrollcharakter dieser pädagogischen Institution liegt aber nicht vordergründig in der strengen Disziplinierung der Körper und der Seelen der jungen Schüler, sondern vielmehr in dem exzentrischen Charakter der Erziehungsprozesse, die Wyneken schildert. Ich verweise dafür auf den kanadischen Soziologen Erving Goffman und seine Modellierung der »totalen Institution«. Ihm zufolge gibt es soziale Einrichtungen, »in denen regelmäßig eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird«3 und die einen allumfassenden, die Außenwelt ausschließenden, ja letztlich totalisierenden Charakter aufweisen. Unter diesen Einrichtungen nennt er fünf Untergruppierungen, die jeweils durch die Zielsetzung unterschieden werden. Altersheime, Waisenhäuser, Sanatorien sind zwar totale Institutionen, doch deren Zielsetzung ist auf die Fürsorge harmloser und hilfebedürftiger, also unselbständiger Menschen ausgerichtet. Goffmann unterscheidet sie in gefährliche und harmlose Hilfebedürftige. Zu den Institutionen, die sich um Hilfebedürftige, die als Gefahr betrachtet werden, kümmern, gehören beispielsweise forensische Psychiatrien. Die Zielsetzung von Konzentrationslagern oder Zuchthäusern ist letzthin der Schutz der Gesellschaft. Im Gegensatz zu den Institutionen der zweiten Gruppe dienen sie nicht primär dem Wohl der abgesonderten Personen. Kasernen und Internate sind für Goffman Institutionen, die durch »bestimmte, arbeitsähnliche Aufgaben« gekennzeichnet sind. Des Weiteren dienen bestimmte totale Institutionen, wie Abteien, Kloster, Konvente und dergleichen als »Zufluchtsorte von der Welt«4. Diesem Modell zufolge könnte also Wickersdorf als eine »totale Institution« bezeichnet werden, als eine Einrichtung nämlich, die zwischen der vierten und der fünften Typologie Goffmans liegt. Dies impliziert, dass die Freie Schulgemeinde auf eine vollständige Neuorientierung des Lebens der Schüler zielt, die wiederum auf der Zentralität des Geistes im bildungsbürgerlichen Sinn aufzubauen ist; eine Zentralität, die unter der strengen Kontrolle der Lehrer und Pädagogen steht. Geist, Jugend, Kultur sind bei Wyneken Synonyme einer alternativen Grundbestimmung, die den jungen Menschen prägen muss. Diese Grundbestimmung soll wiederum nach Wyneken Sigel eines allgemeineren Selbstverständnisses sein, demnach die Menschheit eine neue, ja »kosmische Bedeutung«
3 Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1972, S. 11. 4 Ebd., S. 16.
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gewinnt. Sie soll nun »Gehirn der Welt«, »Sitz des Weltbewußtseins« sein.5 Der Neue Mensch, der in der Freien Schulgemeinde gebildet wird, ist ein geistiger. Und es liegt auf der Hand, Wynekens Projekt damit als ein reformpädagogisches Projekt in die damaligen lebensreformerischen Tendenzen der Zeit einzuordnen, das nach ganzheitlicher Neugestaltung strebte. Dementgegen möchte ich hier aber auch vor allem betonen, dass Wynekens Ansatz von beidem, der Reformpädagogik und der Lebensreform, abzugrenzen ist, denn er hat sich in Bezug auf seine Ideen immer geweigert, von Reformpädagogik oder noch allgemeiner von Lebensreform zu sprechen. Und doch scheinen die zeitgenössischen Denkbewegungen den erzieherischen Denkstrukturen Wynekens sehr ähnlich zu sein. Aus dem Geist des Geistes entsteht also eine imperative Lebensbejahung, die die Neue Freie Jugend kennzeichnen soll. Kultur ist für Wyneken ein »Reich des Geistes« für eine Jugend, »die noch nicht moralisch verbogen ist durch den Daseinskampf, noch nicht eingespannt in soziale Egoismen und Lügen, die ihrem Wesen nach immer nach dem Letzten, Unbedingten trachtet; ihr ist diese Ethik und Religiosität des absoluten Idealismus, des Heroismus angemessen«.6 Mit dieser pathosgeladenen Rhetorik artikuliert Wyneken seine pädagogische Politik, und zwar dort, wo die Jugend einen echten geistigen Staat bilden soll, einen Staat im Staate, oder noch besser : eine geistige Gemeinschaft am Rande der damals herrschenden Staats- und Familiengebilde. Diese Gemeinschaft hat ihre Dimension in dem Geist der Jugend zu finden. Und dieser Geist der Jugend bedeutete für Wyneken den Gipfel einer Menschheitsgeschichte, die nichts Biologisches oder Natürliches mehr innehat. Deswegen empfand es Wyneken als notwendig, dass die Jungen die Welt des Alltagslebens, der Nervosität und der Entfremdung der Großstadt verlassen, sowohl im räumlichen als auch im geistigen Sinn. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf geht nämlich entstehungsgeschichtlich einerseits auf die romantische Tradition des Rückzugs in eine spiritualisierte Natur zurück, andererseits auf eine geistige Sezession des Jahrhunderts, das von Beginn an viele mystische Strömungen der europäischen Kultur charakterisiert hat (man denke an die pietistischen »Collegia pietatis«). Und in der Tat: Das Gemeinschaftsleben in Wickersdorf lässt sich nach Wyneken auf ein historisches Organisationsbeispiel zurückführen, das des klösterlichen Ordens, aus dem die Freie Schulgemeinde »die Formen ihres Gemeinschaftslebens« herleiten muss. »Ein Orden ist kein Zweckverband«, sagt Wyneken, »sondern eine Lebensgemeinschaft. Sein inneres Gesetz ist ein bestimmter Stil. Stil ist die Gestaltgewinnung des Geistes in einer Gemeinschaft«.7 Religionssoziologisch gesprochen lässt sich die Freie Schulgemeinde als eine totale Insti5 Wyneken: Gedankenkreis (Anm. 2), S. 35. 6 Ebd., S. 36f. 7 Ebd., S. 47.
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tution verstehen, in der die Autorität des Charismas, des herrschenden Geistes, gemeinschaftsstiftend wirkt: »In einer Gesellschaft wie der Freien Schulgemeinde gibt es nur eine Autorität, nur ein Recht auf Anerkennung: das der geistigen Leistung. Das Charisma entscheidet«.8 Wickersdorf konstituiert sich also wie eine pneumatische Gemeinschaft, in der das Charisma als Bindeglied zwischen dem religiösen und dem erzieherischen Charakter fungiert. Der Träger eines solchen Charismas ist selbstverständlich der Pädagoge, der sich im Zentrum einer Dialektik zwischen Freiheit und Leben bewegt. Denn das Leben ist nur in Wickersdorf frei, die Freiheit ist nur dort lebendig. Beide Begriffe verkörpert der Pädagoge selbst und vermittelt sie den jungen Schülern. Wie Wyneken 1906 in dem Programm der neu gegründeten Schulgemeinde schreibt, ist »das Hauptgewicht der pädagogischen Arbeit auf die Bildung des Zöglings zu legen«.9 Sein pädagogisches Credo liegt also in einer Umwertung des Erziehungsprozesses, weil der Junge dabei nicht mehr Objekt, sondern Subjekt der Pädagogik werden soll. Dennoch ist diese Reformpädagogik Wynekens ohne eine Führungsrolle, ohne seine zielstrebige Führung kaum denkbar. (Sie sollte eigentlich mehr Wert auf den abstrakten Geist legen als auf die konkreten pädagogischen Techniken). Eigentlich verkörpert Wyneken exemplarisch jenen »Willenspädagogen«, von dem der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner Studie über die Anthropotechnik in einem anderen Kontext spricht.10 Sloterdijk leiht sich den bekannten Schlussvers aus Rainer Maria Rilkes Gedicht über das archaische Torso Apollos »Du musst dein Leben ändern« aus, um die Entwicklungsgeschichte jener Anthropotechniken zu schildern, die ein Bild des Neuen Menschen herstellen müssen. Er rekurriert dabei auf die Metaphorik des Aufsteigens und der Akrobatik. Innerhalb dieser breiten, von Nietzsche stark geprägten Denkkonstellation findet Sloterdijk in der Geschichte der frühmodernen und modernen Disziplinierung die Zentralität der Schuleinrichtungen wieder : »Es sind nicht die Gefängnisse und die Orte unterdrückerischer Überwachung«, schreibt er in Polemik mit Michel Foucault, »sondern die oft strengen Schulen und Hochschulen der Neuzeit, daneben auch die Werkstätten der Handwerker und die Ateliers der Künstler, in denen die wesentliche Human-Orthopädie der Moderne praktiziert wird, sprich die Formung der Jugend nach den Maßstäben christlich-humanistischer Disziplin. Das eigentliche Ziel des Aufbruchs ins Zeitalter der Künste 8 Ebd., S. 48. 9 Zit. in: Ulrich Hermann: Das Prinzip Wickersdorf. Freie Schulgemeinde als »Burg der Jugend« und Jugendkultur durch »Dienst am Geist«. Wickersdorf – eine konkrete Utopie, in: Archiv der deutschen Jugendbewegung, NF 3/2006, S. 41–67, hier S. 45 (Hervorhebung im Original). Der Aufsatz enthält auch viele Textauszüge aus Wynekens Schriften. 10 Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009, S. 92.
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und Techniken ist die Heranbildung immer neuer Generationen von Virtuosen«.11 Die Virtuosen, von denen hier Sloterdijk in Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Moderne als Komplex von sozusagen Disziplinierungspraktikanten spricht, werden in den lebensreformerisch geprägten Schulgemeinden zu echten »Athleten des Geistes«, die den Körper wie die Seele parallel trainieren müssen, um eine richtige Position in der Welt zu haben und somit eine neue Leistung zu erreichen (Es wird in Wickersdorf genau so viel Wert auf Sport gelegt, wie auf Theater oder auf die klassischen Bildungsfächer). Die moderne Pädagogik ist also eine Orthopädie, ein Zusammensein von erzieherischen Praktiken zur Erzielung des korrekten Gangs des Jungen und zur Beseitigung von dessen evtl. Fehlbildungen. Buchstäblich gemeint: Es geht dabei um das Aufrecht-Sein (orthjs) in der Kindererziehung (paide'a), aber in einem geänderten, eben lebensreformerischen Sinn. Indem also Wyneken für eine geistige Bildung bzw. erhabene Kultur der Jugend plädiert, versteht er eine solche Bildung als Gesamterziehung des Jungen, d. h. als eine totale pädagogische Orthopädie, die durch das systematische Ineinandergehen von Kunst und Religion (d. h. durch ein religiöses Verständnis der Kunst) den Neuen Mensch gestalten soll. Eine solche Dialektik zwischen Kultur und Jugend, zwischen Kunst und Religion, artikuliert außerdem ein weiteres Wechselverhältnis zwischen »Lösung und Befreiung des Körpers«, wie Wyneken selbst sagt, und dessen »Wiederzusammenfassung«, »Konzentration und Beherrschung«, die eine erneuerte Körperkultur somit stiftet.12 Wenn wir nun von einer biopolitisch geprägten Grundbestimmung bei Wynekens Ansatz sprechen, geht dies auf Wynekens Konzept der Freien Schulgemeinde als Organismus zurück, der »selbst Leben« ist, wie er 1922 schreibt: »Dem Leben zu einer neuen Selbstentfaltung zu verhelfen, das ist der Sinn der Freien Schulgemeinde. Diese neue Selbstentfaltung des Lebens heißt Jugend«.13 Trotz seiner Äußerungen über die Zentralität des Geistes, die jegliche biologistische oder sozialpositivistische Tendenz in der Reformpädagogik verweigert, teilt Wyneken die Semantik seiner Zeit zur Symbolik des Lebens, die auch politisch ist, indem sie sich als gemeinschaftsstiftend und zukunftsträchtig, ja utopisch stilisiert. Die Lebensreform – und damit auch die lebensreformerischen Komponenten des Denkens Wynekens – bilden in der Zeit um die Jahrhundertwende eine reichhaltige Fundgrube für ein biopolitisches Arsenal, insofern das Leben eine neue philosophische Zentralität einnimmt, die auch den Körper ändern muss. Organologisch ist außerdem diese biopolitische Lebensreform, weil sie das Leben in einen harmonischen, d. h. diskursiv strukturierten, in das 11 Ebd., S. 497. 12 Gustav Wyneken: Wickersdorf, Lauenburg (Elbe) 1922, S. 89. 13 Ebd., S. 15.
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Leben integrierten Zusammenhang stellt. Wyneken konzipiert seine Schulgemeinde explizit als einen Organismus, in dem das Leben selbst in seiner Entwicklung, in seiner Prozessualität erfasst wird. Prozessualität des Lebens bedeutet bei Wyneken Entwicklung eines pädagogischen Prozesses, durch den der Schüler eine geistige Haltung einnimmt, die auch den Körper ändern will, eine totale geistige Haltung also. Von Reformpädagogik – ein Begriff, den Wyneken wie gesagt immer zu meiden gepflegt hat14 – kann man hier nur sprechen, weil Pädagogik bei ihm nur buchstäblich als Er-Ziehung des Jungen gilt und somit einen Anspruch auf die Totalität des jungen Individuums für sich reklamiert: Wyneken entwirft also eine geistige Orthopädie, die der Junge in das echte Leben führen muss. Diese Forderung nach geistiger Totalität ist wie gesagt philosophisch, weil sie auf Plato einerseits, auf Kant und auf Hegel andererseits zurückzuführen ist (über die beiden deutschen Philosophen hatte Wyneken seine Dissertation geschrieben): Von Plato übernimmt Wyneken die Idee einer formgebenden Form für das Leben, von Kant die Idee eines moralischen Sollens, das das menschliche Handeln orientieren muss; und von Hegel die Idee einer Transzendenz des Geistes, die die Geschichte gründet. Die Pädagogik Wynekens ist also eine geisteszentrierte Pädagogik mit festen Wurzeln in der philosophischen Tradition. Diese Pädagogik betrifft das gesamte Leben; und sie gilt auch als Politikum, da seine Schulgemeinde nicht nur reformpädagogisch, sondern auch grundlegend lebensreformerisch ist. Die gesamte Existenz des jungen Menschen, wie sie von Wyneken in der Freien Schulgemeinde geschildert wird, soll Geist und Körper radikal ändern, gegen die herrschenden Tendenzen der Zeit. »Du musst dein Leben ändern«: Das zugrundeliegende Motto Rilkes, das nach Sloterdijk zur Konstituierung eines Neuen Menschen, einer neuen Anthropotechnik gelten kann,15 scheint also auch für Wyneken treffend zu sein. Dieses Motto dient nämlich in der Zeit um die Jahrhundertwende als Pathosformel – um das mit Aby Warburg auszudrücken –, als pathetischer Aufruf zu einer neuen geistigen und körperlichen Verfassung. Diese Verfassung wird wiederum von Wyneken als eine Macht angesehen: eine Macht des Erziehers über die Schüler, eine Biomacht im Sinne Foucaults, der eben von Biomacht als Unterwerfung der Körper gesprochen hat.16 Die von Wynekens ist aber auch eine Biomacht inso14 Vgl. z. B. ebd., S. 21. 15 Hier geht es nicht darum, die effektive Wirkungsmacht Sloterdijks in dessen literaturwissenschaftlicher Analyse Rilkes zu betrachten, sondern die anthropologische und kulturelle Denkstruktur nachzuvollziehen, die der Autor in dieser Studie für die Zeit um die Jahrhundertwende artikuliert. 16 Die Biomacht verkörpert nach Foucault »verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerung«; Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 167.
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fern, als sie die Macht der Schüler über sich selbst darstellt. Die Schüler müssen nach Wyneken jenen Komplex von körperlichen Praktiken und geistigen Übungen verwirklichen und verinnerlichen, die der erziehende Führer ihnen zeigt. »Wir wollen die sich selbst erziehende, von jugendlichem Geist erfüllte Gemeinschaft der Jugend mit ihren erwachsenen Helfern, Lehrern und Führern. Wohl halten wir eine gewisse Isolierung der Jugend für nötig, ein eigenes Jugendreich, eine Stätte des Eigenlebens der Jugend, wie sie die bürgerliche Familie und Gesellschaft ihr nicht bieten kann. Aber wir wollen die Jugend dort nicht ihrem eigenen Schicksal und ihren unzureichenden eigenen Kräften überlassen«17, deklamiert Wyneken. Die von ihm hier erwähnten Helfer, Lehrer und Führer müssen als eine aufsteigende rhetorische Klimax verstanden werden: Was von den Helfern bis zu den Führern wächst, ist deren politische Bedeutung. Wickersdorf versinnbildlicht eine Biomacht, sowohl im externen (die geistige Macht der Erzieher über die Schüler) als auch im internen bzw. internalisierten Sinn (die Macht der Schüler, ihr eigenes Leben neuzugestalten). Wickersdorf ist also eine Gemeinschaft, die durch das harmonische Wechselverhältnis von Biomächten zwischen Lehrern und Schülern in Sachen Biomacht verwirklicht wird. Und tatsächlich wird Wickersdorf von Wyneken als »eine Wikingergründung« stilisiert, »entstanden als die Ansiedelung eines Führers mit seiner Gefolgschaft«.18 Der kulturpolitische Komplex Führer/Gefolgschaft hat in dieser Zeit Hochkonjunktur, genauso wie die parallele Dialektik zwischen Herrschaft und Dienst, die auch die literarischen Kreise der Jahrhundertwende und der Ästhetischen Moderne durchkreuzt. Dies zeigt sich paradigmatisch bei Stefan George und seinem Kreis (»Herrschaft und Dienst« ist der Titel eines Aufsatzes, den der Hauptschüler Georges, Friedrich Wolters, 1909 zur Huldigung seines Meisters schrieb). Die somit konstituierte geistige Gemeinschaft ist zentriert auf Führer und Gefolgschaft, auf Herrschen und Dienen und geht damit auf eine mittelalterliche Gemeinschaftsform zurück. Es herrscht nämlich eine politische Obrigkeitsformel, in der der Führer als Denkfigur eine zentrale Rolle einnimmt. Dadurch wird auch seine Gefolgschaft politisch. »Die Menge wird erst Volk, wenn sie folgt; von diesem Augenblicke an bekommt sie Seele und gleicht dem Adam Michelangelos, der den halbschlaffen Arm Gottvater entgegenstreckt, um den göttlichen Funken zu empfangen. Welche Menge von Menschen also immer den Drang fühlt, Volk zu werden und den Adel solcher Gemeinsamkeit zu verspüren, bedarf hierzu des führenden Mannes«19. So schreibt 1924 Hans Blüher in seinem Aufsatz »Führer und Volk in der Jugendbewegung«, in dem er ein metaphysisches, also sozusagen ein philosophisch verfassendes Wechselverhältnis 17 Wyneken: Wickersdorf (Anm. 12), S. 47. 18 Ebd., S. 54. 19 Hans Blüher : Führer und Volk in der Jugendbewegung, Jena 1924, S. 3.
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zwischen Führer und Volk betont. Blüher war damals sehr bekannt als erster Historiker der Jugendbewegung, von Thomas Mann und anderen viel gelesen und genossen. Er bekannte sich auch als großer Bewunderer Wynekens (der seinerseits aber Blühers kulturpolitische Stellungnahmen scharf kritisierte).20 Blüher war aber nicht nur Geschichtsschreiber der Jugendbewegung. Er war vor allem der Haupttheoretiker einer männerbündischen Gemeinschaft als einer geschlechtsbezogenen sozialen Bindung.21 Jede echte soziale Konstruktion sollte nach Blüher rein männlich sein (»Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft« heißt ein weiteres erfolgreiches Buch von ihm, das als Bibel eines jugendbewegten Männerbundes stark rezipiert wurde). Demnach existiere jede echte männliche Gemeinschaft nur, wenn sie durch eine positive Beziehung zwischen Eros und Geist einerseits, zwischen dem Führer und seiner Gefolgschaft andererseits artikuliert würde. »Das Volk wird dadurch Volk, daß ein Führer es erwählt, und nur der Teil der Menge gerät zum Volk, in den dieser Wahlakt eindringt.«22 Tatsächlich kulminiert die Analyse Blühers in der Figur von Gustav Wyneken, der dem Autor zufolge der einzige Mann in der Jugendbewegung ist, »der alle Fragwürdigkeiten des jugendlichen Lebens in schöpferischer Weise beherrscht und der dazu geboren ist, Führer zu sein.«23 Wickersdorf ist nun wohl keine männerbündische, die Frauen ausschließende Gemeinschaft – und das ist, nebenbei gesagt, gerade der Aspekt, den Wyneken in Blühers Theorie ablehnt (neben dem Antisemitismus Blühers). Im Gegenteil betont Wyneken stolz in seinen Schriften, dass Wickersdorf auch Mädchen aufnimmt. Anfangs der zwanziger Jahre bildeten sie etwa ein Drittel der gesamten Schülerbevölkerung.24 Doch scheinen die Mädchen in der Schulgemeinde eine Nebenrolle zu spielen, denn Wyneken bezeugt deutlich seine, auf die Antike zurückgehende Neigung zum pädagogischen, homoerotischen Eros. Die Skandale, die seine Tätigkeit in Wickersdorf lebenslang charakterisiert haben, stellen einen Beweis dafür dar, dass Wyneken zumindest auf einer geistigen Ebene seine pädagogische Aufgabe als eine griechisch-klassische Beziehung zwischen einem Erast8s und einem Erjmenos konzipierte, zwischen einem älteren Liebenden und einem jüngeren, in das Leben einzuweihenden Geliebten.25 20 Dabei soll darauf hingewiesen werden, dass eine kritische Edition des Briefwechsels zwischen Blüher und Wyneken höchst wünschenswert wäre. 21 Zu Hans Blüher vgl. Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln u. a. 2008. 22 Blüher : Führer (Anm. 19), S. 4. 23 Ebd., S. 29. 24 Vgl. Wyneken: Wickersdorf (Anm. 12), S. 55f. 25 Eine päderastische Beziehung zwischen Lehrer und Jüngling im Sinne der Antike lässt sich bei Wyneken sehr gut nachspuren, allerdings aber als Zeichen eines eher geistbezogenen Verhältnisses. Vgl. dazu Thijs Massen: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Hamburg 2016 [1988], S. 74ff.
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Mir scheint es uninteressant, nicht nur unmöglich, eine definitive Antwort auf die Frage nach der effektiven Homosexualität Wynekens zu finden;26 viel produktiver ist es, von seinem »pädagogischen Eros« zu sprechen, der seine leidenschaftliche Tätigkeit als Erzieher charakterisiert; von einem diskursiven Konstrukt nämlich, in dem sich die Grenzen zwischen Geist und Körper, Objekt und Subjekt der Erziehung, Praxis und Metaphysik systematisch verwischen. Die körperliche Liebe wird von Wyneken durch die Figur des pädagogischen Eros stetig zum Symbol umgewandelt und die Erziehung wird somit zur Anthropotechnik, also zur Politik der Menschengestaltung mit den Waffen des Geistes im Leben. Zwar hat Wyneken immer betont, auch anlässlich der Prozesse gegen ihn, dass in der Freien Schulgemeinde eine Gleichstellung zwischen Lehrern und Schülern herrschte, die dortige Zentralität des Geistes aber setzte die Notwendigkeit voraus, dass die Schüler nur durch den Lehrer ihren Eintritt in die Geisteswelt verwirklichen konnten. Geistige Formung der Jugend heißt bei Wyneken immer Führung, sowohl im persönlichen als auch im theoretischen Sinn. Das ist auch Biopolitik bei Wyneken: nämlich die stetige Überlappung der privaten Dimension seiner erzieherischen Leidenschaft und der gemeinschaftsstiftenden Aspekte seines pädagogischen Engagements. Eine solche Überlappung hat aber eine interessante und eine gefährliche Konsequenz zugleich. Die interessante ist, dass dieses diskursive Konstrukt ein Unikum in der Reformpädagogik darstellt: Wyneken stellt die Rolle des Geistes in seiner philosophischen Bedeutung so vollständig und integriert dar, dass er gar nicht mehr als Reformpädagoge erscheint, der seine Theorien praktisch anwendet. Die gefährliche Konsequenz dabei ist die biopolitische Dimension dieses Konstrukts. Private, allgemein-»päderastische« Neigungen zum erziehenden Knaben und geistesorientiertes Streben nach einer höheren, totalen Menschengestalt bilden bei Wyneken einen undurchsichtigen Komplex, in dem Wyneken selbst – der Pädagoge als Führer der befreiten und somit neu gefassten Jugend – der einzige echte gemeinsame Nenner ist. Deswegen ist sein kulturpolitisches Programm, »dem Geist zu dienen« – wie er selber sich ausdrückt – untrennbar von seinem Führungsanspruch: weil beide Parolen – der Dienst zum Geist und die Führung und Formung der Jugend – sich in der politischen und pädagogischen Organisation um das Leben kreuzen. So möchte ich zum Schluss einen Autor zitieren, der zu Wyneken ein ambivalentes Verhältnis hatte und daher exemplarisch für die Wirkung Wynekens auf die Jugend der Zeit steht: Zuerst bewunderte er ihn sehr, später, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs und infolge der kriegerischen Stellungnahmen Wynekens, 26 Ausführliche Informationen über die Prozesse, deren Entwicklung und Ergebnisse in Massen: Eros (Anm. 25).
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nahm er polemischen Abstand von ihm. Gemeint ist Walter Benjamin, der nie in Wickersdorf gewesen ist, aber in Haubinda, ebenso in Thüringen gelegen, wo er das Landerziehungsheim besuchte und Wyneken kennenlernte.27 Am 9. März 1915 schrieb er an Wyneken, der am 25. November 1914 eine flammende Rede gehalten hatte, in der er den Krieg als Bewährungsprobe, als extreme Aufopferung der Jugend für den Geist bezeichnet hatte. In seinem Abschiedsbrief betont der junge Benjamin den Abstand von diesem Wyneken, die fortbestehende Treue aber zu dem Mann, der »mich als erster in das Leben des Geistes führte«. In diesem Wyneken sieht Benjamin jemanden, der »lebendige Menschen bindet«; dank ihm habe er erfahren dürfen, »was Führung ist«. Hier pointiert Benjamin tatsächlich das Politikum in Wynekens Führung der Jugend in das Leben des Geistes und zwar dorthin, wo eine Gemeinschaft entsteht; eine Gemeinschaft, die sich nach Benjamin im Rekurs auf Wyneken jenseits jeglichen »Kampfes der Geschlechter« befinden soll. In dem Brief erwähnt er dabei einige Worte von ihm: »Hier in der Jugend, wo sie [Knaben und Mädchen] noch Menschen im edlen Sinn des Wortes sein dürfen, sollen sie auch einmal die Menschheit realisiert gesehen haben. Dieses große, unersetzliche Erlebnis zu gewähren, ist der eigentliche Sinn der gemeinsamen Erziehung«.28 Und gemeinsame Erziehung, »Koedukation«, hatte Benjamin schon 1911 als »das Hohe Ziel« der Freien Schulgemeinde genannt in einem kurzen Aufsatz über Wickersdorf, den er in der Zeitschrift »Der Anfang« unter dem Pseudonym »Ardor« veröffentlichte. Nach Benjamin fordert das Programm der Freien Schulgemeinde nun dreierlei: »physisch und geistig gesunde Schüler, taktvolle, einflußreiche Lehrer und zwischen beiden rückhaltlose Offenheit«.29 Dass die Führung der reformpädagogischen Lehrer nach Benjamin gleichzeitig taktvoll und einflussreich sein muss, bezeugt seine Auffassung, wonach die Führungsidee keine Rolle im Sinne Blühers (und letztlich auch Wynekens) spielt, da zwischen Schülern und Lehrern eine »rückhaltlose Offenheit« herrschen muss. Ob diese Offenheit und diese harmonische Zirkulation des Geistes zwischen Erziehern und Schülern in der 27 Zu der Beziehung zwischen Wyneken und Benjamin findet man interessante Impulse und ausführliche Rekonstruktionen, auch zum Weiterforschen nützlich, in: Johannes Steizinger : Revolte, Eros und Sprache. Walter Benjamins ›Metaphysik der Jugend‹, Berlin 2013 und in dem noch unveröffentlichten Beitrag Georg Doerrs zur Stefan-George-Tagung, die 2016 in Bingen stattgefunden hat: ›Läuterung des Samens‹ – Gustav Wyneken und Stefan George als geistige Führer des jungen Walter Benjamin. Dafür, dass ich diesen Aufsatz vor der Publikation lesen konnte, sei hier dem Autor gedankt. 28 Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. I: 1910–1918, Frankfurt a. M. 1995, S. 263f. Schon 1912 hatte Benjamin in einem Brief vom 21.11. an Ludwig Strauß enthusiastisch gesagt: »Der Gedanke der Jugend, wie Wickersdorf ihn verkörpert, stellt für mich den Maßstab, den ich vor Augen habe« (ebd., S. 76). 29 Walter Benjamin: Die Freie Schulgemeinde, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VII/1, Frankfurt a. M. 1989, S. 13.
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Freien Schulgemeinde tatsächlich existierten, mag bestritten werden, denn Wyneken geriet oft in Streit mit seinen Mitarbeitern, wollte nur seine eigenen Ideen propagieren und sah sich schließlich als exemplarischer Vertreter eines elitären Erziehungsmodells, in dem die sublimierende, also die allgeistige Kraft des Erotischen herrschte: eine autoritätszentriete Lehrer-Jüngling-Beziehung nämlich, die die biopolitische Potenz des Eros gestalten sollte. Woran aber die Utopie Wickersdorf scheiterte, waren nicht die Streite oder die Skandale, sondern es war die konstitutive Mischung von Freiheit und Obrigkeit (die Jugend muss eine geistige Führung haben, um frei zu sein). Diese Mischung ist schließlich dieselbe jener biopolitischen Moderne, in der Disziplinierungs- und Befreiungspraktiken die Körper und die Seelen zugleich dominieren: »Du mußt dein Leben ändern.«
Felix Linzner
»Gegen Sumpf und Fäulnis – leuchtender Menschheitsmorgen«. Zur Konzeption der Ausstellung
Sonderausstellungen, die sich des Themenspektrums der Archivtagung auf Burg Ludwigstein annehmen, sind zu einem festen Bestandteil jener Veranstaltungsreihe geworden. Jugendbewegung und Lebensreform als »Avantgarden der Biopolitik« zu begreifen und zu diskutieren, macht die Konzeption zu einer herausfordernden Aufgabe. So nähert sich die Ausstellung einem Thema, das sich aus abstrakten Ängsten, biologistischen Denkweisen und den veränderten Lebensbedingungen der Moderne, die als fundamental bedrohend wahrgenommen wurden, speist. Ein einleitender Zugang wurde in der künstlerischen Auseinandersetzung mit den angesprochenen Faktoren gewählt. Ausgewählte Werke aus Robert Budzinskis (1874–1955) Sammelmappe »Antlitz der Menschheit«1 dienen der Illustration. Dabei handelt es sich um die Sicht eines Künstlers, der durch die Jugendbewegung geprägt war. Budzinski stand dem Wandervogel nahe und war Sprecher der aus der Jugendbewegung hervorgegangenen Norddeutschen Künstlergilde. Ein Zitat Budzinskis war es auch, das der Ausstellung ihren Namen gab.2 Im weiteren Verlauf werden die historische Einordnung und die entsprechenden Rahmenbedingungen illustriert. Der Fokus liegt auf der Jugend- und Reformbewegung. Exemplarisch beleuchten Plakate und Objekte unterschiedliche Akteure und Gruppen, die alle auch in den Beiträgen dieses Bandes zu finden sind. Sie sind durchaus als Fließtext zu lesen. Die Ausstellung spannt den Rahmen allerdings bis in die heutige Zeit und fragt nicht nur nach den historischen Wechselwirkungen zwischen Jugend- und Reformbewegung im Kri1 Robert Budzinski: Antlitz der Menschheit (lose, 21 Drucke), Leipzig 1921 (AdJb, K 2 Nr. 182). 2 Robert Budzinski zitiert nach Benno Hafeneger : Jugendbilder: Zwischen Hoffnung, Kontrolle, Erziehung und Dialog, Opladen 1995, S. 9: »Wir können uns der Erkenntnis freuen, daß die Seele stärker als je am Werke ist, daß sie mit neuem Mute sich aus dem Materialismus, der Dingkultur ihren leuchtenden Weg bahnt, daß wir nicht verlorengehen im Sumpf und der Fäulnis absterbender Kulturen, sondern vertrauend auf ihre eigene Kraft einem leuchtenden Menschheitsmorgen entgegengehen.«
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sendiskurs der Moderne. Sie verweist auf die Spuren, die sich in einer breiten Produktpalette der Reformhäuser, in Naturarznei, Kleidung und Kosmetik findet, aber auch in der Reformpädagogik und in der Ernährung. Lebensreformerische Konzepte, wie Nachhaltigkeit und vegane Ernährung sind Teil eines Lifestyles geworden, der den Pathos und die ideologische Motivation der Bewegung weitestgehend verloren hat. Dabei zeigen sich Kontinuitäten auch im Zeitschriftenwesen. Das Magazin des Vegetarierbundes Deutschland e. V. erscheint mittlerweile seit über 100 Jahren. Zeitschriften geben einen Einblick in die Vielzahl lebensreformerischer Gruppen. Diese kaum systematisch erschlossenen Quellen wurden exemplarisch auf Drehtafeln berücksichtigt und zeigen Deckblätter einzelner Hefte. Rückseitig befindet sich ein Text, der die Zeitschriften und die jeweiligen Inhalte historisch und thematisch einordnen.
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Vom Pfadfinderbund zur »Organisation der Selbstorganisierten«. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre
Die Revolte von »1968« und die sozialen Bewegungen, die sich in ihrem Gefolge in der westdeutschen Gesellschaft entwickelten, standen in einem von Ambivalenzen gekennzeichneten Spannungsverhältnis zu etablierten Verbänden, Organisationen und Institutionen. In den Gewerkschaften etwa sorgten die Lehrlingsproteste zwischen 1968 und 1972 einerseits für neue Impulse, beispielsweise hinsichtlich der Entwicklung offener Formen von Jugendarbeit, andererseits waren die Beziehungen zwischen älteren Funktionären und aufbegehrenden Jugendlichen von Konflikten und harten Auseinandersetzungen geprägt.1 Ähnliches gilt für die Kirchen, in denen sich die neuen Ideen und Praxen ebenfalls bemerkbar machten.2 Das Verhältnis zwischen neu entstehenden sozialen Bewegungen und etablierten Verbänden soll im Folgenden am Beispiel des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP) und seiner Rolle in der Jugendzentrumsbewegung untersucht werden. Der Begriff »Jugendzentrumsbewegung« bezeichnet die seit 1970/71 in hunderten westdeutschen Städten und Gemeinden gegründeten Initiativgruppen Jugendlicher, die sich auf lokaler Ebene für die Einrichtung eines selbstverwalteten Jugendzentrums (JZ) einsetzten.3 Der BDP gehört zu den Jugendverbänden, in denen die jugendliche »Unruhe« der späten 1960er Jahre die nachhaltigsten Spuren hinterließ. Dabei kam dem BDP insofern eine Sonderrolle zu, als er – im Unterschied etwa zur Gewerkschaftsjugend oder kirchlichen 1 Vgl. Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 56), Göttingen 2016; David Templin: »Lehrzeit – keine Leerzeit!«. Die Lehrlingsbewegung in Hamburg 1968–1972 (Hamburger Zeitspuren 9), Hamburg/München 2011. 2 Vgl. Klaus Fitschen u. a. (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte B 52), Göttingen 2011. 3 Vgl. David Templin: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 52), Göttingen 2015. Der folgende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines bislang unveröffentlichten Kapitels meiner Dissertation.
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Jugendgruppen – keine Erwachsenenorganisation besaß. Der Verband löste sich um 1970 weitgehend von seinen scoutistischen und bündischen Wurzeln, um sich als linke, marxistisch orientierte Jugendorganisation neu zu erfinden. Im Folgenden wird die allmähliche Öffnung des Bundes gegenüber der Jugendzentrumsbewegung und seine zunehmend bedeutsamer werdende Rolle innerhalb dieser dargestellt, die schließlich weniger die Bewegung als vielmehr den Verband selbst verändern sollte.
Öffnung unter Vorbehalten 1949 als interkonfessioneller Pfadfinderbund gegründet, stand der Bund Deutscher Pfadfinder in der Tradition der deutschen Jugendbewegung wie des internationalen Pfadfindertums. Bereits in den 1960er Jahren etablierte sich im Bund aber eine »neue Linie« pfadfinderischer Erziehung, die eine Hinwendung zu Pädagogik und (politischer) Bildung mit sich brachte sowie erste Experimente mit offener Clubarbeit.4 Mit dem Entstehen von APO und Studentenbewegung hielt 1967 die zeitgenössische »Unruhe der Jugend« auch Einzug im BDP: Eine Kritik an der traditionellen Pfadfinder-Erziehung wurde ebenso laut wie Rufe nach dem Abbau autoritärer Strukturen. Viele Protagonisten dieses Linksrucks im Verband hatten ein Studium der Pädagogik oder Sozialwissenschaften hinter sich, und manche waren hauptamtlich in der Jugendarbeit tätig. Zwischen 1967 und 1970 kam es zu einer scharfen Polarisierung zwischen dem linken Flügel und liberalen und konservativen Kräften, die sich der zunehmenden Politisierung widersetzten. Der Konflikt endete 1971/72 mit der Spaltung und der Gründung des Bundes der Pfadfinder e.V. (BdP) durch den unterlegenen Flügel.5 In seiner Plattform vom Dezember 1971 bekannte sich der BDP zu einem Selbstverständnis als linker Jugendverband und betonte in Abkehr von der bisherigen »politischen Neutralität«: »Jugendarbeit muß sich […] politisch engagieren, d. h. Partei ergreifen für die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche der BRD, für die Ausweitung der Rechte Jugendlicher in Familie, 4 Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945–1970), in: ders., Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 67–81; Johann P. Moyzes: Die »Neue Linie« – zum Wandel der »Pfadfinderpädagogik« im Bund Deutscher Pfadfinder, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, NF 6/2009, S. 124–164; Klaus Körber : Der BDP als Vorläufer der »68er«?, in: ebd., S. 165–177. 5 Aus BdP-Sicht: Reinhard Schmoeckel: Strategie einer Unterwanderung. Vom Pfadfinderbund zur revolutionären Zelle – Die »Umfunktionierung« des Bundes Deutscher Pfadfinder als Lehrbeispiel (Geschichte und Staat 226/227), München/Wien 1979, S. 67–73, S. 185ff.
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Schule und Beruf.«6 Die Praxis des neuen BDP, der sich von traditionellen Pfadfindernormen und -kluft gelöst hatte, war in den frühen 1970er Jahren einerseits von Theoriezirkeln und marxistischer Schulung geprägt, andererseits vom Versuch politischer Arbeit mit Schüler- und Lehrlingsgruppen.7 Um nach der Spaltung neue Kräfte zu bündeln, gründete der Bund im Dezember 1972 gemeinsam mit dem vor allem in Hamburg präsenten Ring Bündischer Jugend (RBJ) den Bund Demokratischer Jugend (BDJ).8 Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde im BDP die Orientierung auf die offene Jugendarbeit betont und eine Zusammenarbeit mit autonomen Initiativen Jugendlicher ins Auge gefasst. Auf einem Strategieseminar im November 1972 versuchte die BDP-Bundeszentrale die Bedeutung der neuen Bewegung einzuschätzen. Auf der einen Seite erblickte man in den Jugendzentren »Oppositionskristallisationspunkte«, andererseits wurde deren fehlende Kommunikation und Perspektive kritisiert. Die Bundeszentrale einigte sich darauf, die »Marktlücke« Jugendzentren »erst mal gründlich« zu analysieren, »bevor entschieden wird, ob wir uns da voll engagieren«.9 Nur zweieinhalb Wochen später erklärte allerdings ein Vertreter des Bundes in der Jugendsendung Jour fix in der ARD: »Unter dem Einfluss der Schüler- und Studentenbewegung […] sind unsere Gruppen dazu übergegangen, neue Arbeitsformen zu finden. Sie sind beispielsweise übergegangen zu Formen der offenen Arbeit, das heißt sie haben Jugendclubs und Jugendzentren gebildet, oder sie haben Schülergruppen aufgebaut […] Wir haben vor, im Rahmen dieses Dachverbandes [BDJ] gerade mit solchen autonomen Gruppen wie Jugendzentren zusammenzuarbeiten, um diese wichtige Initiative von Jugendlichen über diesen Dachverband zu stärken.«10 Der BDP begann 1973, sich auf Bundesebene in die Jugendzentrumsbewegung einzubringen. Dieses Engagement erfolgte zunächst vor allem über Publikationen, die Beteiligung an Initiativen in einzelnen Orten sowie über Bildungsarbeit. Seit 1973 gab der BDP eine Broschürenreihe im DinA5-Format unter dem Titel »Materialien für eine demokratische Jugendarbeit« heraus. Bereits die zweite 6 Ebd., S. 195f. 7 Axel Hübner, Rolf Klatta, Herbert Swoboda (Hg.): Straßen sind wie Flüsse zu überqueren. Ein Lesebuch zur Geschichte des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP), Frankfurt a. M. 1981, S. 370. 8 Ebd., S. 375f.; Schmoeckel: Strategie (Anm. 5), S. 197–199. Der RBJ entwickelte sich in dieser Zeit de facto zur Vorfeldorganisation des Kommunistischen Bundes (Michael Steffen: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991, Berlin u. a. 2002, S. 56–58). 9 Protokoll Strategieseminar BDP-Bundeszentrale in Kronberg vom 18.–22.11.72, 29. 11. 1972, in: Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (im Folgenden: HIS), SBe 435/S1, BDJ-Aufbau. 10 Manuskript Jour fix 8, 08. 12. 1972, in: Historisches Archiv des Südwestrundfunks, FS Nachmittagsprogramm, 29/01089. Zu Jour fix vgl. Templin: Freizeit (Anm. 3), S. 169–184.
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Ausgabe widmete sich dem Thema »Jugendzentren«. 1974 erschien »Politik in Jugendzentren« und 1976 »Praxis in Jugendzentren«.11 Die Redaktion der ersten beiden dieser Hefte lag bei Jürgen Fiege und Rainer Huthmann. In den »Materialien« skizzierten BDP-Vertreter ihre Einschätzung der Bewegung, analysierten lokale Konflikte und versuchten politische Orientierungshilfen zu leisten.
Die Analysen des BDP waren in diesen Jahren stark von marxistischen Deutungs- und Argumentationsmustern geprägt. Formuliert wurden sie von den »68ern« im Bund wie Jürgen Fiege, Diethelm Damm oder Benno Hafeneger, die im Bereich der Bildungs- und Jugendarbeit aktiv waren und dort neue Konzepte emanzipatorischer Jugendarbeit zu entwickeln versuchten. Jürgen Fiege (Jg. 1942), seit Mitte der 1950er Jahre im BDP aktiv, trat 1973 mit 31 Jahren eine Stelle als hauptamtlicher Bildungsreferent im Bund an, die er bis 1978 ausübte. Diethelm Damm war von 1971 bis 1975 als Bildungsreferent für den Hessischen Jugendring tätig.12 In ihren Texten vertraten diese Aktivisten eine »pessimis11 Bund Deutscher Pfadfinder (Hg.): Jugendzentren (Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit 2/3), Frankfurt a. M. 1973; ders. (Hg.): Politik in Jugendzentren (Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit 12), Frankfurt a. M. 1974; ders. (Hg.): Praxis in Jugendzentren (Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit 16), Frankfurt a. M. 1976. 12 Interview Verfasser mit Jürgen Fiege, Bremen, 05. 02. 2011; Templin: Freizeit (Anm. 3), S. 150–153, 269f.
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tische« Einschätzung der Bewegung. Zwar organisierten sich Jugendliche massenhaft in Initiativen, dennoch hätten diese einen »ambivalenten Charakter«: »Zunächst erfüllen Jugendzentren eine fortschrittliche, reformkapitalistische Funktion, indem sie eine Marktlücke füllen, zur Reproduktion und besseren Verwertung der Ware Arbeitskraft beitragen, also auf Nebenwidersprüche im kapitalistischen System reagieren.«13 Aufgrund ihrer Fokussierung auf den Freizeitbereich laufe die Bewegung, so Fiege und Hafeneger 1974, Gefahr, vom Staat vereinnahmt und befriedet zu werden. Die beiden BDP-ler sprachen deshalb von einem »eher systemstabilisierenden als systemüberwindenden Charakter der JZ-Bewegung«14 und klassifizierten diese als »schwach«: »Einzelne spektakuläre Erfolge oder […] militante Kampfformen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die JZ-Bewegung insgesamt sowohl vom Ansatz als auch in der Praxis nicht die Spitze der fortschrittlichen politischen Bewegung bildet.«15 Verbesserte Freizeitbedingungen führten nämlich nicht zu grundsätzlichen Verbesserungen der Lage der Jugendlichen, die vielmehr im »antagonistischen Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital« ihre Wurzel habe.16 Der Jugendzentrumsbewegung fehle aber jede politische Stoßrichtung, die über den Wunsch nach eigenen Räumen hinausgehe: »Die Fixierung an den Raum, die Form JZ, der Wunsch nach ›Freizeit ohne Kontrollen‹ wird zum Fetisch, der eine längerfristige politische Perspektive erschwert oder gar verunmöglicht.«17 Ein Jugendzentrum dürfe kein Selbstzweck sein, sondern müsse Ausgangspunkt politischer Aktivitäten werden, die sich auf die Probleme Jugendlicher in den sogenannten Existenzbereichen Arbeit, Schule, Familie und Wohnen beziehe. Orientierungspunkte blieben dabei – auch hier zeigte sich die marxistische Ausrichtung des BDP – die »Arbeiterklasse« und die »Klassenauseinandersetzungen«.18 Letztlich gelte es, die reformistische Ausrichtung der Initiativen zu überwinden und sie für den »antikapitalistischen Kampf« zu gewinnen.19 Ausgehend von dieser Analyse und Zielbestimmung einer Arbeit im JZ-Bereich sah man die Aufgaben des BDP in »organisatorische[n] Hilfen«, aber vor allem in politischer Bildung. Über Seminare sollte politische Theorie vermittelt und der »Zusammenhang zwischen Jugendzentrumsbewegung und kapitalisti13 BDP: Jugendzentren (Anm. 11), S. 3. Als »Hauptwiderspruch« galt im klassisch marxistischen Denken das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, das sich in der Produktionssphäre artikuliere. 14 BDP: Politik (Anm. 11), S. 5. Vgl. Jürgen Fiege, Benno Hafeneger : Anpassung oder Rebellion? Tendenzen in der JZ-Bewegung, in: päd.extra, 15. 11. 1974, Nr. 22/74, S. 9–20. 15 BDP: Politik (Anm. 11), S. 7f. 16 Ebd., S. 6. 17 Ebd., S. 9. 18 Ebd. 19 BDP: Jugendzentren (Anm. 11), S. 3.
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schem System« verdeutlicht werden.20 Gleichzeitig sollte der BDP seine eigene politische Perspektive in den Zentren und Initiativen propagieren. Lokale BDPGruppen sollten in diesen »sozialistische Fraktionsarbeit« leisten.21 Im Idealfall führe das zur Organisierung Jugendlicher im Bund, die bislang wenig erfolgreich gewesen sei. Jugendzentren und andere Initiativgruppen hätten den BDP vielmehr als »Milchkuh oder Dienstleistungsbetrieb« behandelt.22 Mit einer stärkeren politischen, antikapitalistischen Profilierung sollte diese Situation überwunden und links orientierte Jugendliche für den Bund gewonnen werden.
Seminare, Bildungsurlaub, Zeltlager: Angebote an die Initiativgruppen Die programmatische Orientierung des BDP war also zu Beginn seines Engagements in Sachen Jugendzentren geprägt von einer marxistischen Analyse, die eine gewisse Distanz gegenüber der als reformistisch verdächtigten »Freizeitbewegung« implizierte. Was folgte daraus aber nun für die politische und pädagogische Praxis des Bundes? Vereinzelt hatten sich lokale BDP-Gruppen bereits seit 1970/71 in die Bewegung eingebracht, doch ein massives Engagement des Verbandes setzte erst 1973 ein. Auf bundes- und landesweiter Ebene erfolgte dies – neben der Herausgabe von Publikationen – in erster Linie über politische Bildungsarbeit in Form von Seminaren und Bildungsurlaub sowie die Organisierung von Zeltlagern und Freizeiten. Als staatlich bezuschusster Jugendverband war der BDP in der Lage, JZ-Gruppen seine Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Neben hauptamtlichen Referent/innen verfügte er über den Jugendhof Bessunger Forst bei Darmstadt und über einen 1975 unter dem Namen »Jugend & Politik« reaktivierten Verlag.23 Der Jugendhof war in Form eines eigenen Vereins organisiert, personell aber eng mit dem BDP verflochten. Auf einer Fläche von 18.000 qm umfasste er vier Gebäude mit etwa 70 Betten und sechs Seminarräumen.24 Mit seinen Seminarangeboten stieß der BDP auf erhebliches Interesse unter Jugendzentrumsaktivist/innen. An einem ersten landesweiten JZ-Seminar im 20 21 22 23 24
Ebd., S. 7f. BDP: Politik (Anm. 11), S. 15. BDP: Jugendzentren (Anm. 11), S. 9f. Hübner u. a.: Straßen (Anm. 7), S. 464, 534f. Der Hessische Landbote. Provinzzeitung der Jugendzentren im hessischen Lande und Umlande, 1977, Nr. 2, S. 4, in: International Institute of Social History, ID-Archiv (im Folgenden: IISG/ID), ZK 46463; vgl. Veranstaltungsprogramm 1976 des Bundes Demokratischer Jugend/ BDP Hessen, in: Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (im Folgenden: FZH), 14–9, 01.
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hessischen Kronberg, das der Bund 1973 in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Jugendring und dem Landesjugendamt organisiert hatte, nahmen 80 Vertreter/innen von Initiativgruppen teil. Neben lokalen Erfahrungsberichten wurden die Möglichkeiten der Durchsetzung von Jugendzentren und deren konzeptionelle Ausgestaltung erörtert.25 In den folgenden Jahren boten insbesondere die Landesverbände in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zahlreiche Seminare zur Jugendzentrumsthematik an. Bei einem Seminar im Bessunger Forst im Dezember 1974 stellten die BDP-Aktiven ihre in den »Materialien«-Heften entwickelte Programmatik zur Diskussion. Für das Seminar waren Jugendliche aus der ganzen Bundesrepublik, von Bremen bis Nürnberg, angereist. Diskutiert wurde über die unterschiedlichen Interessen von Lehrlingen und Schüler/innen, die Bestimmung sozialistischer Politik in Jugendzentren und die Rolle von Sozialarbeiter/innen.26 1975 und 1976 wurde das Seminarprogramm – insbesondere im Landesverband Hessen, der zur Hochburg der JZAktivitäten des BDP geworden war – weiter ausgebaut. 1976 bot man vier Wochen- und fünf Wochenendseminare zum Thema im Bessunger Forst an, sowie zwei Schulungsseminare, die sich explizit an die »fortschrittlichen Jugendzentrums-Gruppen« richteten, mit denen eine sozialistische Fraktionsarbeit koordiniert werden sollte.27 Verstärkt wurde bei diesen Seminaren auch mit neuen Medien, etwa Videofilm, gearbeitet. Über die Seminare kamen Jugendliche mit dem Verband in Kontakt, denen der BDP zuvor unbekannt bzw. »ein Buch mit sieben Siegeln« gewesen war.28 Aus dem hessischen Frankenberg berichteten JZAktivist/innen, vom BDP veranstaltete Seminare hätten ihnen »immer ein paar neue Impulse und neuen Mut gegeben«.29 Nachdem 1974 in Hessen der Bildungsurlaub eingeführt worden war, nutzte der Verband diese Möglichkeit, um politische Bildung für Jugendliche, die bereits im Berufsleben standen, anzubieten. 1975 führte der BDP Hessen drei Bildungsurlaube für JZ-Gruppen durch, 1978 waren es bereits zehn.30 In einem Artikel für die Zeitschrift des Hessischen Jugendrings zog Dagmar Straube für 25 Bundeszentrale BDP/BDJ an Landeszentralteams, 14. 11. 1973, in: HIS, SBe 435/S1, BDJAufbau; BDP LV Hessen, Protokoll des Jugendzentrumsseminars am 03./04. 02. 1973 in Kronberg, in: Archiv der deutschen Jugendbewegung (im Folgenden: AdJb), A 202, 881. 26 Protokoll des Jugendzentrums-Seminars, veranstaltet vom BDP/BDJ vom 13.–15. 12. 1974 im Jugendhof Bessunger Forst, in: AdJb, A 202, 881. 27 Veranstaltungsprogramm 1976 des Bundes Demokratischer Jugend/BDP Hessen, in: FZH, 14–9, 01. Im Juli 1977 sprach der Landesvorstand von ca. 120 Wochenend- und ca. 50 Wochenseminaren, die er von 1973 bis 1976 mit Jugendlichen aus JZ-Initiativen durchgeführt habe (Pressemitteilung BDP Landesverband Hessen, 12. 07. 1977, in: FZH, 14–9, 04). 28 BDP: Jugendzentren (Anm. 11), S. 10. Zu Erfahrungen Jugendlicher aus dem Bremer Umland mit dem Bund siehe BDP: Praxis (Anm. 11), S. 14f. 29 Der Hessische Landbote, April 1977, Nr. 1, S. 10, in: FZH, 14–9, 56, 05. 30 Mitteilungen BDJ-Initiative Südhessen, Mai 1976, Nr. 17, S. 2f., in: AdJb, A 202, 900; Der Hessische Landbote, Dezember 1978, Nr. 7, S. 4, in: IISG/ID, ZK 46463.
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den BDP ein Resümee eines Bildungsurlaubs. Adressat solcher Veranstaltungen sei, so Straube, weder der einzelne Jugendliche noch die Gesamtheit aller Besucher/innen, sondern die Gruppe der Aktiven als »Trägerin dessen, was im Jugendzentrum stattfindet«.31 Das Ziel, die im Seminar erarbeiteten Projekte auch für die Alltagsarbeit in den Zentren nutzbar zu machen, sei allerdings nicht erreicht worden: »Die relativ lockere Arbeit von fünf Tagen konnte nicht die Anstöße geben, die den insgesamt frustrierenden Jugendzentrumsalltag überleben.«32 Nichtsdestotrotz wertete Straube die Veranstaltung als Erfolg, da eine Aktivierung berufstätiger Jugendlicher für politische Diskussionen gelungen sei. 1978 organisierte der Verband politische Bildungsurlaube auch ins Ausland, u. a. zur besetzten Uhrenfabrik LIP im französischen BesanÅon und zur alternativen Freistadt Christiania in Kopenhagen.33 Neben seiner Bildungsarbeit richtete der BDP Freizeitveranstaltungen für Jugendliche aus den Zentren und Initiativen aus, die an traditionelle PfadfinderAktivitäten anknüpften. Die wichtigste Rolle spielten dabei Zeltlager, die Landesverbände des Bundes am Pfingstwochenende veranstalteten. Die Landesverbände Bremen/Niedersachsen34 und Hessen stellten diese Pfingstlager seit Mitte der 1970er Jahre in den Kontext der JZ-Bewegung, der sie als Orte des Zusammenkommens und des gemeinsamen Erfahrungsaustausches dienten. Bereits 1974 hatten sich Jugendliche aus Initiativen an einem BDP-Lager im niedersächsischen Bruchhausen-Vilsen beteiligt.35 In einer Auswertung des Pfingstlagers im folgenden Jahr fragte sich der Landesverband, ob das Lager den einzelnen Gruppen »bei ihrer Problembewältigung geholfen« und inwieweit es deren Zusammenarbeit befördert habe. Zwar sei – gemäß der BDP-Programmatik – das Verhältnis der Jugendlichen zu den »Existenzbereichen« diskutiert worden, solche Arbeitsgruppen hätten aber nur einen Teil der Jugendlichen angesprochen. Nachgedacht werden müsse deshalb über eine stärkere »Aufhebung der Trennung von politischer Arbeit und Freizeit«, beispielsweise in Form von kulturellen Aktivitäten wie politischem Theater, Singen oder »Solidaritätsfußball«.36 Im folgenden Jahr gelang es, das Zeltlager in Zusammenarbeit mit einem Koordinationskreis Bremer JZ-Initiativen zu organisieren. Auf dem Flugblatt für das Lager reichten sich »BDP« und »SJZ« symbolisch die Hände.37 In einer 31 32 33 34
Hessische Jugend. Zeitschrift des hessischen Jugendrings, 3–4/1975, S. 6, in: AdJb, A 202, 978. Ebd., S. 7. Der Hessische Landbote, Dezember 1978, Nr. 7, S. 4–10, in: IISG/ID, ZK 46463. Im Dezember 1975 wurden beide Landesverbände zusammengelegt, die »JZ-Arbeit« wurde dabei zu einem Schwerpunkt künftiger Aktivitäten erklärt: Hausmitteilungen BDP im BDJ, Februar 1976, Nr. 1, in: Hübner u. a.: Straßen (Anm. 7), S. 488f. 35 BDP: Praxis (Anm. 11), S. 14f. 36 Pfingstlagereinschätzung des BDP/BDJ, Bremen, 26. 06. 1975, in: FZH, 14–9, 01. 37 Flugblatt »Pfingstlager« von Bremer Jugendzentrumsbewegung und BDP zum 04. 06. 1976,
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eigenen Einladung hatten drei Bremer Initiativgruppen ihre Ziele und Ideen für das Lager hervorgehoben: »das gesamte Lager wird so sein, als ob wir uns in einem großen Jugendzentrum befinden und eine Menge Aktivitäten erproben und durchführen. Darum wird es auch ein großes Lagerfestival geben, auf dem alle Jugendinitiativen ihre Theaterstücke und Lieder vorführen […] Außerdem gibt es ein Sportfest, Lagerfeuer und Erholung. Auch werden wir in politischen Arbeitsgruppen die Probleme anpacken, die die Jugend heute besonders bein: Privatarchiv Eberhard Kögel, Kernen (im Folgenden: PA Kögel), KB Neustadt. »SJZ« stand für »Selbstverwaltete Jugendzentren«.
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treffen. Dabei werden wir nach neuen Formen suchen, Freizeit und Politik miteinander zu verbinden.«38 Als temporär geschaffener Raum jugendlicher Vergemeinschaftung unter linksalternativen Vorzeichen sollte das Lager eine Fusion aus Erholung, alternativer Freizeit und politischer Reflektion bieten. 1976 fand auch in Hessen das erste vom BDP in Zusammenarbeit mit JZGruppen organisierte Pfingstcamp statt. Mit über 300 jugendlichen Teilnehmer/ innen aus rund 30 hessischen Initiativgruppen wurde es aus Sicht der Veranstalter/innen zu einem vollen Erfolg. Das Zusammentreffen hätte der Bewegung im Land neue Impulse gebracht, hob der hauptamtliche Bildungsreferent des BDP-Landesverbandes, Wolfgang Hätscher, hervor. Er wies auf die verstärkten Kontakte hin, die sich in der Folge zwischen den Gruppen entwickelt hätten, aber auch auf die »dufte Stimmung«, die beim Zeltlager geherrscht habe: »die vielen neuen Eindrücke und Anregungen verleiteten viele – auch mich – dazu, in eine Euphorie zu verfallen, daß es mit der JZ-Bewegung wieder aufwärts geht […].«39 Hätschers Bericht macht deutlich, wie die vom BDP organisierten Zeltlager die Vernetzung der Jugendzentrumsbewegung beförderten und eine Basis für den gemeinsamen Austausch, aber auch Gemeinschaftsgefühle und die Entwicklung neuer Perspektiven im Bereich alternativer Projekte schufen. Auch in der Auswertung des Lagers im folgenden Jahr wurde das kollektive Erlebnis, »das Massenfeeling«, als positive Erfahrung hervorgehoben.40 Mit der Organisierung von Zeltlagern, Seminaren und Bildungsurlauben hatte der BDP als Verband seine Ressourcen eingesetzt, um die Vernetzung unter den Jugendzentrumsinitiativen zu befördern. Die Funktion entsprechender Angebote reichte dabei von der Vermittlung von praktischem Wissen über den Erfahrungsaustausch bis zum kollektiven Erlebnis und alternativer Vergemeinschaftung. Dabei wird deutlich, dass sich die jugendlichen Aktivist/innen immer stärker als Teil eines sich herausbildenden linksalternativen Milieus begriffen, das sich über die Jugendhäuser auch in der westdeutschen »Provinz« ausbreitete.41
38 Einladung Jugendclub Seehausen Hasenbühren, Jugendinitiative Neustadt, Jugendzentrum Hoherkamp zum »Jugendzentrums-Pfingsttreffen« vom 04.–07. 06. 1976, in: AdJb, A 202, 899. 39 Der Hessische Landbote, Juli 1977, Nr. 2, S. 4, in: IISG/ID, ZK 46463. 40 Ebd., S. 6. 41 Vgl. Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014; Templin: Freizeit (Anm. 3), S. 325–334.
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Der BDP als Koordinationsinstanz in der Bewegung Der Bund Deutscher Pfadfinder stellte mit der Organisation von Seminaren und Freizeiten aber nicht nur den Rahmen für einen möglichen Austausch der Initiativgruppen, sondern er förderte auch aktiv den Vernetzungsprozess und übernahm in einzelnen Bundesländern die Funktion einer Koordinationsstelle. Nachdem in den Anfangsjahren der Jugendzentrumsbewegung vor allem zwei Fernsehsendungen eine vernetzende Rolle zugefallen war, konstituierte sich 1971 in Neustadt an der Weinstraße ein Koordinationsbüro für Initiativgruppen der Jugendzentrumsbewegung e.V., das allerdings eng mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) verbunden war und vom BDP wie von anderen parteiungebundenen oder linksalternativ orientierten Teilen der Bewegung abgelehnt wurde. Diese Aktivist/innen begannen stattdessen mit dem Aufbau regionaler und landesweiter Strukturen, die von eher informellen Vernetzungstreffen bis zu fester strukturierten Dachverbänden oder Koordinationsbüros reichten. Seit Mitte der 1970er Jahre kam es zu einer Ausbreitung solcher Strukturen, bundesweit bildeten sich an die 50 regionale Zusammenschlüsse.42 Der BDP hatte sein Augenmerk früh auf die Bedeutung überregionaler Koordination gerichtet. Bereits im »Materialien«-Heft vom Oktober 1973 wurde betont, eines der Hauptprobleme der Bewegung liege darin, dass »die meisten Jugendzentren und Initiativgruppen bisher lokal borniert waren und die Notwendigkeit einer überregionalen Kommunikation und Organisation nicht einsahen«.43 Die ersten praktischen Versuche, dies zu ändern, unternahm der BDP Ende 1974. Zum Jugendpolitischen Forum – einer bundesweiten Konferenz linker Sozialarbeiter/innen, die als Alternative zum Deutschen Jugendhilfetag ins Leben gerufen wurde – mobilisierte der Bund Aktivist/innen aus JZ-Initiativen und organisierte dafür den Arbeitsschwerpunkt »Freizeitsituation und Selbstorganisation von Jugendlichen«.44 Auf einem Seminar des Bundes im Bessunger Forst wurde im Dezember 1974 konkret über regionale und überregionale Zusammenarbeit diskutiert, insbesondere über die Idee einer landesweiten Zeitung. Eine solche Zeitung könnte gleichzeitig »Mittel der effektiven Öffentlichkeitsarbeit« sein, ein Diskussionsforum bieten und eine »politische Einheit der Jugendzentrumsbewegung« herstellen.45 Angesichts der noch wenig 42 Ebd., S. 516–561. 43 BDP: Jugendzentren (Anm. 11), S. 10. 44 Flugblatt »Warum der Bund Demokratischer Jugend/BDP am Jupofo teilnimmt und welche Ziele er damit verfolgt«, [1974], PA Kögel, Überregionale Zusammenschlüsse + Treffen; Rundbrief Initiative Jugendpolitisches Forum, Nr. 2, [November 1974], in: ebd. Vgl. Templin: Freizeit (Anm. 3), S. 167. 45 Protokoll des Jugendzentrums-Seminars, veranstaltet vom BDP/BDJ vom 13.-15. 12. 1974 im Jugendhof Bessunger Forst, in: AdJb, A 202, 881.
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ausgeprägten Organisationsstrukturen wurde der Vorschlag aber als unrealistisch eingeschätzt. In Nordrhein-Westfalen hatte der BDP 1974 bereits die Funktion einer Koordinationsstelle übernommen.46 In Niedersachsen kam es im Anschluss an das Pfingstlager im Juni 1975 zu einem Treffen mit Gruppen der Elbe-Ems-Region, in der es u. a. um die Frage ging: »Was erwarten die JZ vom BDP, was kann der BDP leisten?« Anhand eines Grundsatzpapiers des hessischen BDP diskutierte man mögliche Verbindungslinien zwischen Freizeit und politischer Arbeit und traf konkrete Absprachen für die weitere Zusammenarbeit. Dem BDP wurde dabei die Aufgabe einer Koordinationsstelle zugewiesen, er sollte aktuelle Nachrichten aus den Initiativen aufnehmen und gesammelt weiterverschicken.47 In Hessen begann der BDPAnfang 1976, stärker koordinierend zu wirken. Das lag u. a. darin begründet, dass Wolfgang Hätscher nun als Bildungsreferent für den Landesverband arbeitete. Hätscher hatte sich zuvor im Jugendhaus Dudenhofen engagiert und kam von der Jugendzentrumsbewegung zum BDP.48 An die Seite der Seminar- und Freizeitangebote trat ein »Jugendzentrums-Arbeitskreis« im BDP-Landesverband, der sowohl Verbandsmitglieder wie Aktive aus den Zentren und Initiativen umfasste. Dem Ziel des BDP, »auf der Basis der Reformismuskritik Kerngruppen zu bilden« und an den Verband heranzuführen,49 versuchte der Arbeitskreis näherzukommen, indem er zu einem »Treffen linker Juze-Gruppen« einlud. Angesprochen werden sollten Gruppen, die die politischen Ansätze des BDP teilten: »Wir halten nichts von einer rein technischen Koordinierung und verfolgen auch nicht den Anspruch möglichst alle Jugendzentren zusammenzufassen. Stattdessen meinen wir, daß es vielleicht am sinnvollsten ist, zunächst einmal die Gruppen zusammenzubringen, die von ihrem Anspruch her vergleichbare politische Ziele […] verfolgen.« In der Absicht, nur die »am weitesten vorangeschrittenen« Gruppen um sich zu sammeln,50 kam eine sozialistische Avantgarde-Vorstellung zum Ausdruck, die für die Linke der frühen 1970er Jahre nicht untypisch war. In den folgenden Monaten kamen in diesem Arbeitskreis mehrere Jugend46 Info Koordinationsbüro der JZ und Initiativen Ostwestfalen-Lippe, 15. 01. 1974, in: FZH, 14–9, 61, 01. 47 Einladung G. Jader (BDP) zur Jugendzentrumstagung, 19. 06. 1975, in: FZH, 14–9, 01 (Zitat); Protokoll BDP Bremen der JZ-Tagung vom 29.06.75, 11. 07. 1975, in: ebd. 48 Gert Engel: BDP und Jugendzentren, in: Diethelm Damm, Horst Mekelburg (Hg.): Selbstbestimmen macht Spaß. Neues aus einem ungewöhnlichen Jugendverband, Frankfurt a. M. [1981], S. 109–116, hier S. 110; Der Hessische Landbote, Juli 1977, Nr. 2, S. 4, in: IISG/ID, ZK 46463. 49 Programm für die weitere Arbeit der Südhessen-Initiative, undatiert, in: Hübner u. a.: Straßen (Anm. 7), S. 414–416, hier S. 414. 50 Einladung BDP im BDJ zu einem Treffen linker Juze-Gruppen, 09. 12. 1975, in: AdJb, A 202, 881 (Hervorhebung im Original unterstrichen).
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zentrumsgruppen aus Hessen zusammen. In der Diskussion darüber, wie eine landesweite Arbeit aussehen könnte, wurden von ihnen Ansprüche wie Erfahrungs- und Informationsaustausch, »Koordination« zu aktuellen Anlässen, inhaltliche Diskussionen über praktische Probleme und die »Entwicklung einer gemeinsamen Taktik« formuliert.51 Manch einer Initiative musste allerdings erst einmal erklärt werden, »wer oder was der BDP eigentlich ist«.52 Während die BDP-Vertreter/innen in diesem Kreis auf eine verbindliche und kontinuierliche Teilnahme pochten, äußerten die Jugendlichen Befürchtungen vor einer »Elitebildung« und Abkoppelung von der Basis vor Ort.53 Im Frühjahr 1976 versuchte Hätscher in einem Thesenpapier die Aufgaben des Arbeitskreises zu umreißen. Die Arbeit dürfe weder von »den subjektiven Bedürfnissen und Interessen der mehr oder weniger unverbindlich anwesenden Teilnehmer« – womit die Jugendlichen gemeint waren – noch allein vom BDP dominiert werden.54 Vielmehr müsse man »langfristig eine gemeinsame politische Plattform erarbeiten«, die eine sozialistische Praxis im Freizeitbereich zum Ziel habe. Neben der Förderung von Selbstorganisation und dem Ausbau der Kommunikation zwischen den Gruppen fungierte »die theoretische Vereinheitlichung« als Leitbild der Jugendzentrumsarbeit des hessischen BDP.55 Der Anspruch, primär sozialistisch orientierte JZ-Gruppen anzusprechen und auf eine politische »Vereinheitlichung« hinzuarbeiten, wich im Laufe des Jahres 1976 einer strömungsübergreifenden landesweiten Koordinationsarbeit. Auf dem Pfingstlager hatte der Arbeitskreis diskutiert, den Aufbau regionaler Jugendzentrums-Arbeitskreise anzustreben, die auf überregionaler Ebene von »BDP/BDJ Büros« koordiniert werden sollten.56 Eine überregionale Organisation dürfe, so Hätschers Überlegungen nach dem Pfingstlager, nicht zum Selbstzweck werden, sondern müsse von Basisnähe geprägt sein.57 Im Konflikt zwischen dem bundesweit agierenden, DKP-nahen Koordinationsbüro und den auf Autonomie orientierten Regionalzusammenschlüssen nahmen die BDP-Aktivist/innen um Hätscher die Position letzterer ein – und entfernten sich damit schrittweise von eigenen Avantgarde-Vorstellungen: »Hier kann der BDP/BDJ eine Rolle spielen: nicht die eines Koordinationsbüros / la Neustadt, sondern z. B. durch die Koordination lokaler und regionaler Aktivitäten und Zentren auf gemeinsamen 51 52 53 54
Protokoll Jugendzentrumsarbeitskreis vom 28. 01. 1976, in: AdJb, A 202, 900. Protokoll Jugendzentrums-Arbeitskreis vom 10. 02. 1976, in: AdJb, A 202, 900. Ebd. Thesenpapier zu Aufgaben des JZ-Arbeitskreises im BDP/BDJ, [März/April 1976], in: AdJb, A 202, 900. 55 Ebd. 56 JZ-Info. Zeitung unterfränkischer Jugendzentren u. -initiativen, [Juli 1976], S. 8f., in: AdJb, A 202, 896. 57 Wolfgang [Hätscher]: Überlegungen zur überregionalen zusammenarbeit von bdp/bdj und jugendzentrumsgruppen, Juli 1976, in: AdJb, A 202, 900.
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Seminaren, durch den Aufbau eines Info-Systems, durch Aktivierung und Weiterentwicklung von Erfahrungen, durch Koordination überregionaler Solidaritätsaktionen usw.«58 Eine Zentralisierung wurde nun explizit abgelehnt. Koordination könne nur den Anspruch beinhalten, »die Ungleichzeitigkeiten zwischen den lokalen Kämpfen und Initiativen aufzuheben« bzw. abzubauen, etwa über die Bereitstellung von Erfahrung und Infrastruktur.59 Seit Herbst 1976 versuchte der Landesverband regionale Vernetzungsstrukturen aufzubauen, u. a. für Nord- und Südhessen.60 Die Ansätze zur Zusam58 Schreiben Wolfgang Hätscher (BDP im BDJ), 13. 08. 1976, in: AdJb, A 202, 900. 59 Wolfgang Hätscher : Überlegungen zur regionalen und überregionalen Koordination von Basisinitiativen, undatiert [ca. 1976], in: AdJb, A 202, 900. 60 Schreiben Jugendclub Korbach e. V., [September 1976], in: AdJb, A 202, 899; Berichte aus Jugendzentren und Jugendzentrumsinitiativen aus Nordhessen vom 04./05. 09. 1976, in: AdJb, A 202, 900; Arbeitsbereich Jugendzentren im BDP/BDJ Landesverband Hessen: Protokoll des JZ-Südhessen-Seminars vom 26./27. 03. 1977, in: ebd.
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menarbeit blieben aber zunächst »noch sehr lose und zufällig«, wie man selbst konstatierte.61 Eine weitere Station beim Ausbau der Vernetzung bildete im Dezember 1976 ein Jugendzentrumspressefest in Dreihausen, zu dem der BDP einlud und auf dem er seine Vorstellungen landesweiter Koordination präsentierte. Neben dem bereits zwei Jahre zuvor diskutierten Vorschlag einer überregionalen Zeitung wurde die Idee einer hauptamtlichen Stelle ins Spiel gebracht, »wo alle Informationen zusammengeführt und ausgetauscht werden, wo man konkrete Hilfen und Anregungen bekommen könnte«.62 Praktisch realisiert wurde in den folgenden Monaten nur die Zeitung, die seit April 1977 unter dem Namen »Der Hessische Landbote« erschien. Sie informierte eineinhalb Jahre lang über neueste Entwicklungen in den Jugendzentren, behandelte aber auch Themen wie Atomkraft oder Alternativprojekte. Das Selbstverständnis der Redaktion sah vor, das Heft zu einem »Sprachrohr der in der Provinz arbeitenden Gruppen« zu machen, womit es in den Kontext einer alternativen »Provinzarbeit« gestellt wurde.63 Vertrieben und finanziert wurde die Zeitung vom BDP, an Redaktion und Mitarbeit waren aber weitere JZ-Aktive beteiligt. Im Juli 1977 konnte die Redaktion daher zufrieden konstatieren, dass »die Vorstellung, über den BDP die hessenweite Zusammenarbeit der Jugendzentren zu organisieren immer mehr gestalt [sic!] an[nimmt]«.64 Seit 1977 firmierte der BDP-Landesverband als offizielle Kontakt- und Koordinationsadresse für die Jugendzentrumsbewegung im hessischen Raum. Anfang des Jahres bestanden Kontakte zu rund 100 Zentren und Initiativen. Der BDP organisierte auch das erste Landestreffen hessischer Regionalzusammenschlüsse, das vom 3. bis 5. Februar 1978 im Jugendhof Bessunger Forst stattfand.65 Nur vereinzelt hatte es zuvor Kritik von Initiativen an der Rolle des BDP gegeben. So griff der Jugendclub Mellnau im »Hessischen Landboten« den angeblichen Vertretungsanspruch des Bundes an: »Es gibt und es gab in der Vergangenheit Gruppen, die behaupten, sie seien eine Vertretung aller JZ einzelner 61 Rundbrief BDP/BDJ Landesverband Hessen, Koordinationsgruppe Jugendzentren, 27. 11. 1976, in: AdJb, A 202, 900. 62 Protokoll der AG 5 (Bedeutung demokratischer Basisorganisation) am 04. 12. 1976 in Dreihausen, 10. 12. 1976, in: AdJb, A 202, 900. Vgl. Einladung Koordinationsgruppe Jugendzentren des BDP/BDJ LV Hessen, 12. 10. 1976, in: ebd.; Albert Herrenknecht, Wolfgang Hätscher, Stefan Koospal (Hg.): Träume, Hoffnungen, Kämpfe… Ein Lesebuch zur Jugendzentrumsbewegung, Frankfurt a. M. 1977, S. 108. 63 Der Hessische Landbote, Juli 1977, Nr. 2, S. 2, in: IISG/ID, ZK 46463. Der Name der Zeitung lehnte sich an eine Flugschrift Georg Büchners von 1834 an. Zur alternativen »Provinzarbeit« vgl. Templin: Freizeit (Anm. 3), S. 574–581. 64 Der Hessische Landbote, Juli 1977, Nr. 2, S. 3, in: IISG/ID, ZK 46463. 65 ID. Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, Nr. 176, 07. 05. 1977, S. 9; Papier »Arbeitsbereich Jugendzentrum im BDP«, undatiert [ca. 1980], in: AdJb, A 202, 888; Regional-Rundbrief der Jugendzentren und Jugendinitiativen im Hessenland, [Januar 1978], in: FZH, 14–9, 56, 05.
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Länder oder des gesamten Bundesgebietes. Wie die das machen ist sehr einfach. Man holt sich z. B. ein Jugendzentrum aus Nordhessen, eins aus Südhessen, […] setzt sich mit ein paar Vertretern hin, theoretisiert ein bischen [sic!] über die JZBewegung, vielleicht macht man noch eine ›hessenweite Zeitung‹ und schon fühlt man sich als Vertreter der hessischen Jugendzentren. Jeder vernünftige Mensch sieht, dass das natürlich Humbug ist«.66 Solche Stimmen blieben jedoch minoritär. Im Spektrum der alternativ-undogmatisch orientierten und auf (über)regionaler Ebene agierenden Jugendzentrumsaktivist/innen war der BDP ein anerkannter Kooperationspartner geworden. Eine ähnliche Rolle wie dem BDP in Hessen kam in anderen Bundesländern anderen Organisationen zu, in Baden-Württemberg etwa den Jungdemokraten.67
Umstrittene Abkehr vom Avantgarde-Anspruch Die Hinwendung des BDP zur Koordinationsarbeit für die Bewegung war verbunden mit der tendenziellen Abkehr von einer strikten marxistischen Programmatik, Schulungskonzepten und der Orientierung auf den Aufbau sozialistischer Fraktionen – hin zur Rolle des Verbandes als Unterstützer von Selbstorganisation und offenem Erfahrungsaustausch. Das spiegelte sich auch in den theoretischen Debatten wider, die Aktivisten des BDP über die Jugendzentrumsbewegung führten. In einem Artikel in der »Hessischen Jugend« vom Mai 1975 stellte Rainer Huthmann fest, dass sich in der Auseinandersetzung des Verbandes mit der Bewegung zwei Phasen abgelöst hätten, »wobei in der ersten das Analyse-Interesse, in der zweiten das Praxis-Interesse überwog«. Huthmann betonte, dass die Einschätzung der Bewegung durch den Bund »eine der am wenigsten euphorischen« gewesen sei, da man die Wende zum Freizeitbereich »als einen Rückschritt« gegenüber den vorherigen Schüler- und Lehrlingsbewegungen empfunden habe. Nichtsdestotrotz könne man als Verband soziale Bewegungen nicht voluntaristisch hervorbringen, sondern sie lediglich unterstützen oder beeinflussen.68 Vor dem Hintergrund allgemeiner Krisenerscheinungen in der Bewegung beschäftigte sich der BDP seit Mitte der 1970er Jahre verstärkt mit Alltagsproblemen in Jugendzentren. Im November 1976 brachte der Bund sein 16. »Materialien«-Heft heraus, das sich dem Thema »Praxis in Jugendzentren« widmete. Untersucht werden sollte »die alltägliche Praxis« in den Häusern, aber auch 66 Der Hessische Landbote, Juli 1977, Nr. 2, S. 8, in: IISG/ID, ZK 46463. 67 Templin: Freizeit (Anm. 3), S. 402, 522. 68 Rainer Huthmann: Der Jugendzentrumsbewegung eine Perspektive geben, in: Hessische Jugend, 5–6/1975, S. 20–22.
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»Lernprozesse« und Probleme der lokalen Arbeit: »Das Hauptproblem der JZ-Bewegung nach Erkämpfung eines Hauses […] ist, mit welchen Mitteln Klassenbewußtsein, die Herausbildung von Gegenidentität ohne unmittelbare Kampfsituation vorbereitet werden kann. Wie kann der Alltag so weit politisiert werden, daß Voraussetzungen für weitere Kämpfe geschaffen werden«.69 Ein halbes Jahr später erklärte Jürgen Fiege in der Zeitschrift »päd.extra Sozialarbeit«, nicht ein Konzept zur »Politisierung« Jugendlicher, sondern die Verknüpfung von Freizeit, Alltag und Politik müsse im Mittelpunkt »selbstbestimmter und selbstorganisierter Freizeitgestaltung« stehen.70 Damit entfernte er sich implizit von früheren – u. a. von ihm selbst formulierten – Konzepten sozialistischer Fraktionsarbeit. Mit dieser tendenziellen Abkehr von einer theoretisch entwickelten, aber als zu dogmatisch empfundenen marxistischen Politisierungskonzeption waren nicht alle im BDP einverstanden. Im hessischen Landesverband eskalierte 1976/ 77 der Richtungsstreit. Vorausgegangen war eine verbandsinterne Polarisierung zwischen einer »Ortsgruppen-« und einer »Bildungsarbeiterfraktion«, wie der Arbeitsbereich Jugendzentren die Kontrahenten bezeichnete: »Die Aktivisten der ›Ortsgruppen-Fraktion‹ sind nach dem Scheitern ihrer JZ-Arbeit im Jugendzentrum Eschborn Funktionäre des BDP geworden. Sie sind ehemalige JZAktivisten, die sich durch ihre politische Praxis von der Mehrheit der Besucher im JZ Eschborn abgehoben haben und ihre Organisierung im BDP als qualitativen Fortschritt begreifen. Sie wollen die JZ-Bewegung auf die ›Existenzbereiche‹ Schule und Betrieb orientieren und propagieren den massenhaften Aufbau von Ortsgruppen des BDP als politische Gruppen im JZ und Wohnort. […] Die ›Bildungsarbeiterfraktion‹ besteht aus einigen Leuten, die in verschiedenen Institutionen Bildungsarbeit machen […] bzw. Sozialarbeit studieren, bzw. durch Erfahrungen in der Schülerbewegung ein differenzierteres Organisationsverständnis haben; die Durchführung der Verbandsaktivitäten […] wird ausschließlich von ihnen geleistet.«71 Der Konflikt zwischen diesen »Fraktionen« entzündete sich primär an der Frage, ob der BDP mit »einer richtigen Linie an eine diffuse Basis« herantreten oder sich an der »vorhandenen Bewegung und deren Bewußtseins- und Erfahrungsstand orientieren« solle.72 Für letzteres – also eine stärker undogmatische, an den subjektiven Bedürfnissen der Jugendlichen in den Zentren ausgerichtete Herangehensweise – setzten sich die »Bildungsarbeiter« um Hätscher ein. Sie 69 BDP: Praxis (Anm. 11), S. 6. Vgl. Flugblatt BDP [Hessen] »Die Entwicklung der Jugendzentrumsbewegung aus unserer Sicht«, [ca. August 1975], in: AdJb, A 202, 889. 70 Jürgen Fiege: Freizeit, ohne den Alltag zu vergessen, in: päd.extra Sozialarbeit, Juni 1977, S. 8–10. 71 Info BDP/BDJ Hessen Arbeitsbereich Jugendzentren, 17. 02. 1977, in: AdJb, A 202, 907. 72 Ebd.
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versuchten ihre Position im Verband zu stärken, indem sie Jugendzentrumsinitiativen, mit denen sie enger zusammenarbeiteten, zu Verbandssitzungen mobilisierten.73 Im Oktober 1976 spitzte sich die Auseinandersetzung an der Frage zu, wie viel Einfluss Jugendliche aus assoziierten Initiativgruppen, die nicht BDP-Mitglieder waren, auf Inhalte und Finanzen des Bundes haben sollten. Die geplanten Seminare und Freizeiten für Jugendzentren wurden zwar bewilligt, beschlossen wurde aber auch, dass auf Mitgliederversammlungen des BDP nur offizielle Mitglieder stimmberechtigt seien.74 Aus Protest gegen diese Vorstandsentscheidung trat der zweite Landesvorsitzende, Rolf Klatta, im Dezember zurück. Er kritisierte den Ausschluss selbstorganisierter Initiativen, zog Parallelen zu »kommunistischen Parteisekten« und betonte: »Sich am Verband an sich zu orientieren geht nicht, läßt alles kaputtgehen, das wissen wir in Hessen genug.«75 Der erste Landesvorsitzende, Rolf Hansmann, legte daraufhin ein Papier vor, in dem er sich von »›Unpolitischen‹ und ›Chaoten‹ in der JZ-Bewegung« distanzierte.76 Dennoch gelang es zunächst einen Kompromiss auszuhandeln, der vorsah, dass JZ-Gruppen in den Bund eintreten und auch Delegierte für die nächste Landeskonferenz stellen sollten. Als im Januar 1977 aufgrund mangelnder Mitgliederzahlen die Förderungswürdigkeit des Verbandes in Gefahr geraten war, gelang es der »Bildungsarbeiterfraktion« Initiativen zu mobilisieren, die sich bei den Jugendämtern offiziell als BDP-Gruppen meldeten und so dazu beitrugen, die weitere Förderung sicherzustellen. Im Februar ging die Auseinandersetzung jedoch weiter. Die Vorstandsfraktion um Hansmann tagte in geheimen Sitzungen und verweigerte auf der Landesdelegiertenversammlung einem Teil der Delegierten die Stimmberechtigung. In einem Rundschreiben wurde der Streit vom Arbeitsbereich Jugendzentren verbandsintern und gegenüber den Initiativgruppen öffentlich gemacht.77 Im Sommer 1977 eskalierte der Konflikt vollends. Die Fraktion um Hansmann arbeitete mittlerweile eng mit den Marxisten-Leninisten Deutschlands (MLD) zusammen, einer politischen Gruppe, die maoistische mit rechten und natio73 Vgl. Rundschreiben BDP/BDJ Landesverband Hessen, Koordinationsgruppe Jugendzentren, 10. 11. 1976, in: AdJb, A 202, 900. 74 Info BDP/BDJ Hessen Arbeitsbereich Jugendzentren, 17. 02. 1977, in: AdJb, A 202, 907. 75 Rolf Klatta: Wer baut den BDJ auf ? Stellungnahme des 2. Landesvorsitzenden, [Dezember 1976], in: AdJb, A 202, 900 (Hervorhebung im Original unterstrichen). 76 Info BDP/BDJ Hessen Arbeitsbereich Jugendzentren, 17. 02. 1977, in: AdJb, A 202, 907. 77 Ebd. Im Gefolge des Konflikts forderte das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit vom BDP einen Nachweis über 3.000 Mitglieder sowie die Anerkennung der Förderungswürdigkeit in mindestens fünf Ländern. Der BDP erklärte, insgesamt ca. 27.000 Mitglieder zu haben. Hierunter fielen laut Satzung von 1970 allerdings auch Jugendliche, die sich an Aktivitäten beteiligten, ohne dem BDP formell beigetreten zu sein (Hübner u. a.: Straßen [Anm. 7], S. 442–451).
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nalistischen Ideen verknüpfte.78 Gemeinsam mit dem Bundesvorsitzenden Christian Gugler veröffentlichte Hansmann eine Presseerklärung zur Landesdelegiertenkonferenz am 3. Juli, in der beide behaupteten: »Der BDP wird durch das ›Sozialistische Büro‹ unterwandert. Er steht vor der Entscheidung –, demokratischer, pluralistischer Pfadfinderverband oder linksradikaler Chaotenclub, der sich auf die Seite der […] DKP schlägt […] Ihnen geht es nicht um den Aufbau eines starken, selbständigen Jugendverbandes, sondern um den BDP als ›rote Melkkuh‹.«79 Auf der Delegiertenkonferenz wurde beschlossen, Hätscher und weitere Aktive der »Bildungsarbeiter-Fraktion« aus dem Verband auszuschließen. Daraufhin suspendierten Herbert Schröder und Rolf Struckmeyer, der zweite und dritte Bundesvorsitzende, den gesamten hessischen Landesvorstand. Die These einer »Unterwanderung« wiesen sie als absurde Verleumdung und Diffamierung zurück; vielmehr sei es der Landesvorstand um Hansmann, der eng mit der maoistischen MLD zusammenarbeite und deren Positionen als solche des BDP ausgebe.80 In der Folge gingen beide Parteien juristisch gegeneinander vor. Einen Schlusspunkt setzte erst die Bundesdelegiertenversammlung im September, auf der die MLD-Fraktion aus dem Verband ausgeschlossen wurde.81
»Organisation der Selbstorganisierten«: Prägungen durch die Bewegung So bizarr diese Auseinandersetzung anmuten mag, verweist sie doch auf das Spannungsfeld, in dem sich der BDP bewegte – zwischen einem politisierten Jugendverband, in dem sich die in der westdeutschen Linken geführten Debatten und auch Verirrungen niederschlugen, und der Öffnung gegenüber den informellen, auf den Freizeitbereich fokussierten Jugendinitiativen. Diese seit 1973 betriebene und 1976 vor allem in Hessen forcierte Öffnung war allerdings auch Ausdruck der Schwäche des Bundes. So begründete Hätscher die verstärkte Zusammenarbeit mit den Initiativgruppen damit, dass die Existenz des BDP gefährdet sei, die »Mitgliedermassen« fehlten und das »Überleben des Verban78 Gerd Langguth: Protestbewegung. Entwicklung – Niedergang – Renaissance. Die Neue Linke seit 1968 (Bibliothek Wissenschaft und Politik 30), Köln 1983, S. 122–124; vgl. Axel Hübner: MLer gegen Pfadfinder, in: Links, Nr. 91, September 1977, S. 5–6. 79 JW-Informationsdienst, Nr. 5, 05. 07. 1977, S. 1f., in: FZH, 14–9, 04. 80 Ebd., S. 1–4. Vgl. Pressemitteilung BDP Landesverband Hessen, 12. 07. 1977, in: FZH, 14–9, 04. 81 Mitteilungen BDP/BDJ Hessen, 12. 7. 1977, in: FZH, 14–9, 04; Der Hessische Landbote, Nr. 3, November 1977, S. 21, in: IISG/ID, ZK 46463; Thing, 1–2/1978, S. 9–11; Schmoeckel: Strategie (Anm. 5), S. 202f.
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des« davon abhänge, »inwieweit er in einer Bewegung Rückhalt findet«.82 In der Phase von 1973 bis 1976 schwankte der BDP zwischen dem Anspruch, gewissermaßen als sozialistische Avantgarde die Jugendzentrumsbewegung zu politisieren und diese vom Freizeitbereich weg auf die Felder Schule und Betrieb zu orientieren, und einer Rolle als unterstützender Verband, der Selbstorganisationsansätze förderte und die subjektiven Erfahrungen der Jugendlichen ernst nahm. Diese Öffnung kam nicht nur in Form von »Dienstleistungen« wie Seminarangeboten oder Koordinierungsarbeit den Jugendzentrumsinitiativen zugute, sondern veränderte auch den BDP selbst. So stellten BDP-Aktive auf einem Seminar im Bessunger Forst im Juni 1978 fest, dass sie »alle über unsere Arbeit in Jugendzentren zum BDP« gekommen seien.83 Das Selbstverständnis, das diese Jugendlichen formulierten, hatte nur noch wenig mit den marxistischen Argumentationsmustern der frühen 1970er Jahre gemeinsam: »Wir wollen keine Stellvertreterpolitik machen, d. h. für andere bestimmen, was für sie gut und richtig ist, keine politischen Ziele von oben vorgeben sondern Leute unterstützen […], die anfangen, ihr Leben gemeinsam nach eigenen Interessen zu organisieren […]. Wir sehen im BDP hauptsächlich ein Instrument, worüber man Leute aus anderen JZ kennenlernen, Erfahrungen austauschen und Ideen für die Alltagsarbeit im JZ entwickeln kann.«84 Die allgemeine Entwicklung in der Linken, vom marxistisch orientierten Organisationsaufbau hin zum diffuseren Kosmos eines linksalternativen Milieus, spiegelte sich auch im BDP wider. In einem Selbstverständnispapier vom Februar 1979 konstatierte der hessische BDP, dass die Zusammenarbeit mit den Initiativen »den Charakter und die Arbeitsweise« des Landesverbandes geprägt hätte und Jugendzentrumsaktive inzwischen die Mehrheit in den Verbandsgremien stellten. Der BDP sei insofern zu einer »Organisation der Nicht- bzw. Selbstorganisierten« geworden.85 Auch wenn der BDP im Zuge seiner Arbeit mit JZ-Gruppen neue Mitglieder gewann, blieb er für den Großteil der Jugendlichen in den Zentren eine unbekannte Größe. Im erwähnten Seminar war man sich einig, dass er »für die meisten JZBesucher keine Bedeutung mehr hat, ihnen auch einfach nicht bekannt ist«.86 Das aktive Engagement in der Bewegung hatte zu einer Revitalisierung des Ver82 Wolfgang Hätscher : Überlegungen zur regionalen und überregionalen Koordination von Basisinitiativen, undatiert [ca. 1976], in: AdJb, A 202, 900. Axel Hübner betonte, dass der BDP Hessen zeitweise »nur noch aus Hauptamtlichen und Seminaren« bestand (Hübner u. a.: Straßen (Amm. 7), S. 373). 83 Der Hessische Landbote, (ca. Juni 1978, Nr. 6), S. 11, in: IISG/ID, ZK 46463. 84 Ebd. 85 Selbstverständnispapier des BDP/BDJ, LV Hessen, Februar 1979, in: Hübner u. a.: Straßen (Anm. 7), S. 528–534, hier S. 528. 86 Der Hessische Landbote, [ca. Juni 1978, Nr. 6], S. 12, in: IISG/ID, ZK 46463.
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bandes geführt, massenhafte Mitgliederzuwächse waren aber offenbar ausgeblieben. In Hessen hatte der JZ-Aktivismus um 1978 bereits seine Hochphase überschritten. In der Auswertung des Pfingstlagers beklagte man sich vor allem über die Passivität und Konsumhaltung der teilnehmenden Jugendlichen, die die »Organisier[er]ei« – und damit den »Frust« – einem kleinen Vorbereitungskreis überlassen hätten.87 Die landesweite Kooperation und Koordination geriet zunehmend in eine Krise. Eine Jugendzentrumsbewegung – so hieß es im »Hessischen Landboten« im Dezember 1978 – gebe es »in der bisherigen Form« nicht mehr.88 Im folgenden Jahr wurde die Zeitung, die sich in den letzten Ausgaben in Richtung Alternativprojekte neu zu orientieren versucht hatte, eingestellt. Gleichzeitig hatte der BDP begonnen, sich stärker auf andere Themen wie die Anti-AKW-Bewegung zu konzentrieren. Mit dem Ausscheiden Hätschers, über den die landesweite Koordinationsarbeit primär gelaufen war, im Herbst 1979 musste sich der Landesverband neu aufstellen. In wütenden Schreiben beklagten sich Aktivisten aus der bundesweiten JZ-Koordination 1980 beim BDP Hessen, dass Kontakte »völlig abgerissen« seien, »nicht mal mehr die minimalste Basis« für eine Zusammenarbeit bestehe und diese sowieso »die größte Scheiße« sei.89 Der Nachfolger Hätschers auf der Stelle des Bildungsreferenten, Gert Engel, versuchte in seinem Antwortschreiben die Lage zu erklären. Neben dem Ausscheiden Hätschers habe sich »die Jugendzentrumsszenerie« in Hessen verändert, alte Zusammenhänge hätten sich aufgelöst, persönliche Kontakte seien abgerissen. Zwar seien auch neue Initiativgruppen entstanden, diese müssten allerdings »erst mal ein neues Verhältnis zum BDP entwickeln«.90 Die personelle Zäsur 1979 bedeutete allerdings nicht das Ende der Jugendzentrumsarbeit des Verbandes. Gert Engel knüpfte Kontakte zu den neuen Initiativgruppen und versuchte, einen »kontinuierlicheren Zusammenhang zwischen den einzelnen Zentren herzustellen«.91 1981/82 engagierte er sich auch auf der bundesweiten Ebene, u. a. durch seine Beteiligung an den Bundestreffen der JZ-Regionalzusammenschlüsse und der von diesen herausgegebenen Broschüren-Reihe »Selbsthilfematerialien«.92 Auch der BDP Bremen/Niedersachsen be87 Ebd., S. 10. 88 Der Hessische Landbote, Dezember 1978, Nr. 7, S. 3, in: IISG/ID, ZK 46463. 89 Albert Herrenknecht an liebe Freunde in Hessen, 13. 06. 1980, in: AdJb, A 202, 904; Tiedeke Heilmann an BDP/BDJ-Landesverband Hessen, 23. 06. 1980, in: FZH, 14–9, 14. 90 Gert [Engel] (BDP LV Hessen) an Tiedeke Heilmann, 26. 06. 1980, in: FZH, 14–9, 14. Vgl. Achim Schröder an Albert [Herrenknecht], 02. 07. 1980, in: AdJb, A 202, 904, der betonte, dass die bisherige Arbeit stark auf »persönlichen Bindungen und Bezügen« beruht habe. 91 Gert [Engel] an Martina, 19. 09. 1980, in: AdJb, A 202, 904. Vgl. seine Korrespondenz mit JZGruppen in: ebd. 92 Gert [Engel] an Tiedeke Heilmann, 22. 10. 1981, in: AdJb, A 202, 904; Gert [Engel] an Tiedeke Heilmann, 03. 05. 1982, in: FZH, 14–9, 21.
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teiligte sich zwischen 1980 und 1982 an der landesweiten JZ-Koordination und organisierte gemeinsam mit anderen Organisationen die ersten Landestreffen selbstverwalteter Jugendzentren in Niedersachsen.93 In dem 1981 vom BDP herausgegebenen Buch »Selbstbestimmen macht Spaß« zog Engel ein Resümee der bisherigen Arbeit mit selbstverwalteten Jugendzentren und skizzierte mögliche Perspektiven. Angesichts einer gewissen Entpolitisierung könne »nicht mehr die überregionale Koordinierung der JUZInitiativen das primäre Ziel unserer Arbeit sein«; vielmehr müssten die Initiativen vor Ort stärker in ihren unterschiedlichen Kontexten gestärkt werden. Die bisherige, stark durch einzelne Personen getragene Politik wurde selbstkritisch hinterfragt. Der BDP müsse für Jugendliche transparenter werden, stärker ein eigenes Profil entwickeln und sich weniger »als Dienstleistungsinstitution denn als solidarischer Lebenszusammenhang« begreifen.94
Fazit Als Jugendverband, der im Anschluss an die 68er-Revolte einen linken Politisierungsprozess durchlaufen und sich neuen sozialen Bewegungen gegenüber geöffnet hatte, spielte der Bund Deutscher Pfadfinder für die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre eine wichtige Rolle. Als eine Art »Dienstleister« stellte er Infrastruktur zur Verfügung, organisierte Seminare und Freizeiten für die Initiativgruppen und geriet dadurch mehr und mehr in eine koordinierende Funktion. Diese Rolle beschränkte sich allerdings auf einzelne Landesverbände, insbesondere in Hessen und Bremen/Niedersachsen war der BDP stark in der Bewegung aktiv. Die sozialistische Politisierung und Orientierung auf soziale Kämpfe in Schule und Betrieb, die vor allem die »68er-Generation« im BDP über Broschüren und politische Bildung in der Bewegung zu verankern suchte, blieb dagegen nur bedingt erfolgreich. Mit dem Engagement in der Jugendzentrumsbewegung verschob sich zum einen die programmatische Ausrichtung des Bundes von einer marxistischen Orientierung hin zur Öffnung für Selbstorganisierungsansätze. Zum anderen vollzog sich ein Wandel in seiner Mitgliedschaft, der Verband gewann aktive Jugendliche aus Jugendzentrumsinitiativen und alternativen Projekten als neue Mitglieder. Das Beispiel des BDP zeigt, wie sich ein Pfadfinderbund im »roten Jahrzehnt« der 1970er Jahre in einen linken 93 Info BDP/BDJ Landesverband Bremen/Niedersachsen, Nr. 2/1980, S. 29f., in: FZH, 14–9, 14; Tiedeke Heilmann u. a. an alle Aktivisten und Interessenten in den selbstverwalteten Jugendzentren in Niedersachsen, 20. 02. 1981, in: FZH, 14–9, 17; handschriftliches Papier BDP/ BDJ, [Mai 1981], in: FZH, 14–9, 18; Fragebogen BDP LV Bremen/Niedersachsen und AG SPAK, 28. 04. 1982, in: FZH, 14–9, 21. 94 Engel: BDP (Anm. 48), S. 114.
Vom Pfadfinderbund zur »Organisation der Selbstorganisierten«
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Jugendverband transformierte, der zwischen eigenständigem Profil und Bewegungsbezug schwankte. Für die Jugendzentrumsbewegung macht ein Blick auf den BDP deutlich, dass einzelne Jugendverbände und Organisationen, die einen linken Politisierungsprozess durchlaufen hatten, in der (über)regionalen Vernetzung der Zentren eine wichtige Rolle einnahmen – sofern sie den Primat der »Selbstorganisation« anerkannten und mehr oder weniger erfolgreich Vorstellungen und Praxen des sich ausbreitenden linksalternativen Milieus in ihre Arbeit integrierten.
Abbildungsnachweis S. 184: Titelseite zu »Praxis in Jugendzentren«; Bund Deutscher Pfadfinder (Hg.): Praxis in Jugendzentren (Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit 16), Frankfurt a. M. 1976. S. 189: Flugblatt »Pfingstlager« von Bremer Jugendzentrumsbewegung und BDP zum 04. 06. 1976, Quelle: Privatarchiv Eberhard Kögel, Kernen. S. 194: Titelseite von: Der Hessische Landbote, Juli 1977, Nr. 2, S. 2, Quelle: IISG/ID, ZK 46463.
Werkstatt
Frauke Schneemann, Anne-Christine Weßler
Vierter Workshop zur Jugendbewegungsforschung*
Vom 22. bis 24. April 2016 fand auf der Burg Ludwigstein der vierte Workshop zur Jugendbewegungsforschung statt, der auch in diesem Jahr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen versammelte. Der Workshop wird seit 2013 vom Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), dessen wissenschaftlichem Beirat, der Jugendbildungsstätte Ludwigstein sowie der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung unterstützt und ist Produkt eines Netzwerks junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das sich vor dem Hintergrund der vielfältigen Forschungsprojekte stets verändert und erweitert. Innerhalb dieses eigenständigen Netzwerks soll auch über den Rahmen des Workshops hinaus der interdisziplinäre Austausch zwischen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern im Bereich der Jugendbewegungsforschung gefördert und bewahrt werden. Unter der Organisation von Frauke Schneemann (Göttingen) und Anne-Christine Weßler (Leipzig) bot sich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Gelegenheit, ihre Forschungsprojekte in einem interdisziplinären wie teils internationalen Rahmen zu präsentieren und zu diskutieren. Eröffnet wurde der Workshop von Indre Cuplinskas (Alberta), die einen Einblick in den Forschungsstand ihrer im Entstehen begriffenen Monographie über Formen des modernen Katholizismus gab. In ihrer transnational angelegten Studie fokussiert sie sich hierbei auf drei katholische Studierendenorganisationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – »Quickborn« in Deutschland, »Ateitis« in Litauen und »The Association Catholique de la Jeunesse canadienne-franÅaise« in Französisch-Kanada. Im Mittelpunkt stehen Aushandlungsprozesse innerhalb der Bewegungen, die folgende Bereiche der modern concerns miteinschließen: Natur, Körper, Geschlecht, Jugend, Geschichte, Nation und neue Regeln für die katholische Laienbewegung. * Dieser Beitrag wurde online veröffentlicht: Tagungsbericht: Vierter Workshop zur Jugendbewegungsforschung, 22. 04. 2016–24. 04. 2016 Witzenhausen, in: H-Soz-Kult, 05. 11. 2016, .
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Frauke Schneemann, Anne-Christine Weßler
Gastreferent Wolfgang Braungart (Bielefeld) definierte in seinem Vortrag die Begriffe »Ritual« und »Mythos« als grundlegende Formen »kultureller Artikulation«, welche sich in verschiedenen Künsten wie Tanz, Musik, Theater, Architektur, Literatur und Bildende Kunst manifestieren. »Ritual« und »Mythos« haben für die Jugendbewegung eine große Bedeutung. So entstehen die Rituale der Jugendbewegung in deren eigenen kommunikativen Prozessen in freier Selbstbestimmung (Meißner-Formel), dies jedoch im Rekurs auf symbolisches und mythisches Material der Kultur. Dies ist letztendlich der gemeinschaftlichen und kommunikativen Herstellung von Sinn dienlich. Johann Thun (Lyon/ Leipzig) stellte seinen Aufsatz »Der Bund und die Bünde« vor, welcher im von Thorsten Carstensen und Marcel Schmid herausgegebenen Band »Die Literatur der Lebensreform« erschienen ist. Er erläuterte zunächst die »Wahlverwandtschaft«, die in Form von historischen, soziologischen und ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen der Jugendbewegung und Stefan George und seinem Kreis bestehen. Dazu zählen etwa die Ablehnung bestimmter Aspekte der modernen Welt (Industrialisierung, »Vermassung«, …), der beiden gemeinsame Rekurs auf den »Pädagogischen Eros« und die starke Betonung von Form und Treue, welche sowohl für George als auch für die Jugendbewegung in ihrer bündischen Phase charakteristisch ist. Thun legte anhand von einigen Beispielen dar, dass sich die George-Rezeption nicht nur auf konservative oder rechte Bünde beschränkte, sondern als ein überbündisches Phänomen aufgefasst werden kann. Der zweite Teil seines Vortrages befasste sich mit zwei Bünden, in denen die Figur des Dichters von zentraler Bedeutung war : dem neuhumanistischen Bund »Südlegion« um Rudi Pallas (1907–1952) und dem deutsch-jüdischen Bund »Werkleute« um Hermann Gerson (1908–1989). Hierdurch gewährte er einen Einblick in das breite Spektrum der George-Rezeption innerhalb der Jugendbewegung und machte auf einige Aspekte zum Problemfeld »Literatur und Jugendbewegung« aufmerksam. Rebecca Gudat (München) präsentierte einen Teilaspekt ihrer Dissertation, in der sie in literatur- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive den »Pädagogischen Eros« und grenzüberschreitende Lehrer-Schüler-Beziehungen im Spiegel der Literatur untersucht. Insbesondere zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in der Reform- und Landerziehungsheimpädagogik sowie in der sich konstituierenden Homosexuellenbewegung erfuhr das auf Platon und die griechische Knabenliebe zurückreichende, männlich konnotierte und äußerst problematische Bildungsmodell eine neue Renaissance, die ihren Niederschlag auch in zahlreichen literarischen Texten gefunden hat. Gudat vertritt dabei die These, dass diese Texte nicht nur einen spezifischen Einblick in Praxen reformpädagogischer Nähe- und Distanzierungsregulierung liefern können, sondern aufgrund ihrer größeren moralischen Autonomie auch in Phantasmen und prekäre Zuschreibungen, die häufig mit dem diffusen Begriff des »Pädago-
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gischen Eros« verbunden waren. Schließlich wurde der »Pädagogische Eros« wiederholt als Deckideologie für sexuelle Gewalt an Heranwachsenden enttarnt. Gudat fragt deshalb, welche ambivalente Haltung zwischen pädagogischer Tendenzliteratur und impliziter Kritik, literarischer Decouvrierung und Verschleierung die zeitgenössische Belletristik sowohl gegenüber dem pädagogischen Eros, als auch daraus resultierender Grenzüberschreitung eingenommen hat. Philip Lehar (Innsbruck) präsentierte, aufbauend auf seiner 2013 veröffentlichten Diplomarbeit und seiner Arbeit im Pfadfinderarchiv Tirol, Biographien und biographischen Skizzen österreichischer Pfadfinderführer und -funktionäre, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren und zum Teil dort ermordet wurden. Zentral sind hierbei die Lebensgeschichten von Karl Prochazka, Ing. Hans Singer, Maximilian Kellner, Johann Ringer, Fritz Toffler und Dr. Fritz Ungar, die momentan gesammelt und in einen zeit- und gesellschaftsgeschichtlichen Kontext eingebettet werden. Zudem gelte es, die Frage zu klären, ob die Verfolgung der Betroffenen primär aufgrund ihres Engagements in der Jugendarbeit oder aus anderen Gründen erfolgte. Somit soll das Forschungsprojekt vor allem einen Beitrag zur Erinnerungskultur der österreichischen Pfadfinderbewegung leisten. Beim Dissertationsprojekt von Frauke Schneemann (Göttingen) steht die deutsche Pfadfinderbewegung und ihre Einbettung in internationale Vernetzungsprozesse zwischen 1945–1980 im Mittelpunkt. Das diskursanalytisch angelegte Dissertationsprojekt untersucht zum einen auf einer »nationalen Ebene« Identitätsbildungs- und Vergemeinschaftungsprozesse innerhalb der deutschen interkonfessionellen Pfadfinderszene auf männlicher (Bund Deutscher Pfadfinder) sowie weiblicher (Bund Deutscher Pfadfinderinnen) Seite, somit folglich auch deren Identifikations-und Repräsentationsmöglichkeiten als deutsche Pfadfinderbünde. Zu fragen ist hierbei, ob nach der Fusion der beiden Verbände in den 1970er Jahren Veränderungen im Selbstverständnis und der Arbeitsweise auftraten. Zum anderen sollen auf der »internationalen Ebene« beide deutschen Bünde in das globale Gefüge der Weltpfadfinderschaft eingebettet werden. Bedeutsam sind hierbei sowohl Kommunikationsprozesse mit beiden PfadfinderWeltverbänden, welche Exklusions- und Integrationsmechanismen offenlegen sollen, als auch Mittel performativer Repräsentation unter anderem in Form der Teilnahme an »Jamborees«, internationalen Pfadfindergroßlagern. Ausgehend von der Betrachtung der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Wandervogel-Bewegung mit seiner vorgeblich unpolitischen Haltung und der Ausrichtung auf Wanderschaft, Natur und Musizieren, beschäftigt sich die Arbeit von Franziska Meier (Heidelberg) mit der Praxis des gemeinsamen Musizierens innerhalb der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Jugendmusikbewegung und Bündischen Jugend sowie deren Akteuren. Im Hinblick auf seine
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Funktion als identitätsstiftendes Element der Jugendbewegung, untersucht Meier das Liedgut auf die Konstruktion von »Heimat«, »Volk«, »Nation«, und »Deutschtum«, um aufzuzeigen, wie sich Wahrnehmungen, Begriffsdefinitionen und der Rückgriff auf historische Personen, Orte und Ereignisse in der Bündischen Jugend beschreiben lassen. Meier vertritt die These, dass Musik einen Teil der Realität abbildet und dass sie von zeitgenössischen Vorstellungen, Idealen und Lebenszielen geprägt ist. Vor diesem Hintergrund untersucht sie das Liedgut mit Blick auf prägende Akteure der Jugendmusikbewegung, das von ihnen ausgehende Netzwerk sowie die Praxis des Musizierens insbesondere den politisierenden und ideologischen Einfluss von Musik in einer sich durch Musizieren definierenden Gruppe wie der Bündischen Jugend. Ziel des Dissertationsprojekts von Anne Göpel (Hildesheim) ist es zum einen, ein (nord-)europäisches Netzwerk bündischer Gruppierungen aufzuzeigen, die das Gedankengut einer sogenannten »Konservativen Revolution« vertraten. Deren Vertreter richteten sich vor allem gegen Folgen des Liberalismus im Sinne von Individualismus, Kapitalismus, Materialismus und letztendlich gegen die Regierungsform der parlamentarischen Demokratie selbst. Zum anderen soll untersucht werden, inwieweit jene konservativen Ideenkonstrukte Einzug in das transnationale Netzwerk fanden und auf soziale Praxen übertragen wurden. Zentrum des Netzwerkes bildet hierbei der britische rural revivalist Rolf Gardiner, der sich für die Reanimation traditioneller »ländlicher Werte« in Großbritannien einsetzte. Somit war er Verfechter und entscheidende Triebkraft der ökologischen Landwirtschaft in Großbritannien. Nicht zuletzt Gardiners umfangreiche Kontakte zur Deutschen Freischar, aber auch zum damaligen preußischen Bildungsminister Carl Heinrich Becker sollen eine Grundlage der Untersuchungen darstellen. Sandra Funck (Göttingen) präsentierte den Entwicklungsstand ihrer Masterarbeit, in deren Rahmen sie die Schülerbewegung als soziale Bewegung am Beispiel der Stadt Göttingen untersucht. Bereits zu Beginn des Jahres 1967 hatten sich in Göttingen verhältnismäßig früh Initiativen aus dem schulischen Umfeld entwickelt, die sich gegen das Elternhaus sowie mangelnde Demokratisierung innerhalb des bundesrepublikanischen Schulwesens auflehnten. Inspiriert durch die studentische Bewegung trat der im Februar 1967 gegründete »Unabhängige Sozialistische Schülerbund« (USSB) für eine Demokratisierung von Gesellschaft und Schule sowie die Mitentscheidung bei allen schulischen Angelegenheiten ein und übte deutliche Kritik an den mangelnden Befugnissen der traditionellen Schülermitverwaltung (SMV). Zwar fanden die Schülerinnen und Schüler in den Reihen des SDS Unterstützung, verstanden sich jedoch bewusst als unabhängig und gründeten im selben Monat das »Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler« (AUSS) in Frankfurt, das bis 1968 etwa 3000 Mitglieder unter seinem Dach versammelte und sich aktiv an den Protesten
Vierter Workshop zur Jugendbewegungsforschung
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des Jahres 1968 beteiligte, bevor es sich ein Jahr später auflöste. Unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zeichnet Sandra Funck die Schülerbewegung als soziale Bewegung im Raum Göttingen nach und widmet sich dabei ihren Mitgliedern, Programmatik, Praktiken, dem Verhältnis zur Studentenbewegung bzw. zur Universität Göttingen, der Schülerbewegung als politischem Lernort sowie dem schulischem Umfeld und Elternhaus. Michael Kubacki (Marburg) befasste sich im letzten Beitrag des Workshops mit dem Thema seiner Bachelorarbeit, dem Freundeskreis der Artamanen (1964–2001). Jener Verein ehemaliger Siedler ist auf den 1926 formal gegründeten Bund Artam e.V. zurückzuführen, der wiederum der Völkischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit (1924–1935) zuzurechnen ist. Neben einem Abriss der Geschichte der Artamanen in der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus warf Kubacki am Beispiel ausgewählter Selbstzeugnisse und -darstellungen aus den Anfangsjahren die Frage auf, welches Verständnis der Freundeskreises von der eigenen Vergangenheit hatte und wie die Idee einer bäuerlich-autarken Gemeinschaft in die bundesrepublikanische Gesellschaft getragen werden sollte. Den Schwerpunkt der Abschlussdiskussion bildete vor allem die Frage nach einer thematischen Erweiterung des Workshopkonzepts. Es wäre zu überlegen, ob die Präsentation der Forschungsprojekte zukünftig durch Vorträge über methodische und theoretische Aspekte ergänzt werden könnte. Denkbar wäre beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem »Gemeinschafts-« und dem »Identitäts-« Begriff und deren mögliche Anwendung auf Bereiche der Jugendbewegungsforschung. Somit könnten zusätzliche Anregungen und Denkanstöße für weitere Forschungsvorhaben oder die Modifikation bereits bestehender Projekte geliefert werden.
Anne Göpel
Gab es eine konservativ-revolutionäre Jugendbewegung? Britische und deutsche Jugendbünde zwischen den Kriegen
Der Zusammenhang von Teilen der bündischen Jugendbewegung und der so genannten »Konservativen Revolution« ist zuerst 1949 von Armin Mohler in dessen Dissertation hergestellt worden. In seinem viel rezipierten und nicht minder umstrittenen1 Handbuch »Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932« werden insbesondere die Deutsche Freischar, die Artamanen sowie die Adler und Falken der Konservativen Revolution zugeordnet.2 Mohler beschreibt die genannten Gruppen als soziale Strömungen oder Bewegungen, die Ideen von neuen Wegen des Zusammenlebens nicht nur gedanklich vorgestellt, sondern praktiziert haben. Die kollektiven Ideen der konservativen Jugendströmungen wurden von Mohler ideologisch als »Feinde« des Liberalismus positioniert, d. h. in radikaler Opposition zu Prinzipien wie Individualismus, kapitalistischem oder materialistischem Gewinnstreben und zu parlamentarischer Demokratie. Insofern wurde damit der Ausdruck der »Konservativen Revolution« als Gegenbegriff zu den Idealen der Französischen Revolution und der an sie anschließenden politischen Systeme eingeführt. Im hier vorgestellten Dissertationsvorhaben soll Mohlers affirmative Skizzierung des »Konservativ Revolutionären« als Ausgangspunkt kritisch rekonstruiert und zum Einstieg in eine Untersuchung der Entwicklungen konservativer bis radikaler Bünde in der Weimarer Republik und Großbritannien genutzt werden. Das in sich schon widersinnig scheinende Wortpaar der »Konservativen Revolution« wird dabei als faktische historische Konstruktion verstanden, die als Suchraster dient, um Zusammenhänge und Netzwerke von verschiedenen Gruppen zu identifizieren, die die Strömungen in den Jugendbewegungen der beiden europäischen Nationalgesellschaften gemeinsam aufweisen. 1 Prominent hier vor allem die Arbeiten Stefan Breuers, z. B. ders.: Die konservative Revolution – Kritik eines Mythos, in: Politische Vierteljahresschrift, 1990, 31. Jg., H. 4, S. 585–607. Außerdem ders.: Anatomie der Konservativen Revolution, 2., durchges. u. korr. Aufl. Darmstadt 1995. 2 Vgl. Armin Mohler : Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 4. Aufl. Darmstadt1994, S. 153–161.
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Anne Göpel
Dass ähnliche Gegenbewegungen zu Liberalismus und parlamentarischer Demokratie wie in der Weimarer Republik auch bei den Konservativen in Großbritannien zu finden waren, zeigt beispielsweise Bernhard Dietz’ Artikel »Gab es eine ›Konservative Revolution‹ in Großbritannien?«3. Nicht zu verwechseln mit faschistischen Strömungen der Zwischenkriegszeit, formierte sich hier unter den jungen Intellektuellen ein neokonservatives Gedankengut in Abgrenzung zur bestehenden Konservativen Partei, das dem Denken von Zeitgenossen in der Weimarer Republik ähnlich und teilweise von ihnen inspiriert war4. Sie selbst bezeichneten sich als »counter revolutionaries« oder »the real revolutionaries of the present age«.5 Nur nebenbei zieht auch Richard Moore-Colyer diesen Schluss: »Many of these movements yearned for fresh air ; for a conservative revolution.«6 Er spricht dabei sowohl von britischen als auch anderen europäischen Jugendbewegungen, speziell jenen in Deutschland »which had evolved in response to the hypocrisy, artificialty and materialism divined by many younger people to be gnawing at the vitals of society«7. Es geht also auch hier um eine Art Gegenrevolution zu bestehenden modernen Gesellschaftsstrukturen mit ihrer Scheinheiligkeit, ihrer Künstlichkeit und ihrem Materialismus, verwirklicht durch die Jugend, die für Aufbruch und Neubeginn steht. Als eine zentrale Person innerhalb eines »konservativ-revolutionären« Netzwerkes von Teilen der europäischen Jugend jener Jahre kann der Brite Henry Rolf Gardiner angesehen werden. Er wurde 1902 in London geboren und ist somit der Nachkriegsgeneration zuzuordnen.8 Bereits von Kindesbeinen an quasi »jugendbewegt«, war er Mitglied bei den englischen Boyscouts, fand später zum Bund Kibbo Kift unter John Hargrave und brachte zudem während seiner Studienzeit in Cambridge das Magazin »Youth« heraus. In den zwanziger Jahren bemühte sich Gardiner (auch wegen seiner Freundschaft zum preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker sowie führenden Persönlichkeiten der deutschen Jugendbewegung wie Georg Götsch und Ernst Buske) darum, ein 3 Bernhard Dietz: Gab es eine »Konservative Revolution« in Großbritannien? Rechtsintellektuelle am Rande der Konservativen Partei 1929–1933, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2006, Bd. 54, S. 607–638. 4 Hervorzuheben ist hier der Nachdruck des Artikels von Wilhelm Stapels: The Coming Conservative Revolution, in: English Review, Juli 1931, S. 172. 5 Vgl. Dietz: Revolution (Anm. 3), S. 612, zit. nach: Charles Petrie: Foreign Affairs, in: English Review, Oktober 1932, S. 410. 6 Richard Moore-Colyer: A Northern Federation? Henry Rolf Gardiner and British and European Youth, in: Paedagogica Historica, 2003, Bd. 39, H. 3, S. 306–324, S. 307 [Hervorhebung durch die Verf.]. 7 Moore-Colyer: Federation (Anm. 6), S. 306. 8 Vgl. zur Generationenzuweisung bspw. Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987.
Britische und deutsche Jugendbünde zwischen den Kriegen
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nordeuropäisches Netzwerk ähnlich denkender Jugendbünde zu formieren. Rolf Gardiner selbst ist in der Vergangenheit eher zwiespältig betrachtet worden. Zum einen hat er sich im Laufe seines Lebens große Verdienste um den nachhaltigen Landbau gemacht,9 zum anderen sind ihm gerade für die Zeit um den Zweiten Weltkrieg »Umtriebe« vorgeworfen worden, sich mit Faschisten und Nationalsozialisten in Großbritannien und dem Deutschen Reich zu umgeben, weshalb er als (Neo-)Nazi bezeichnet und gemieden worden ist.10 Der Austausch mit der deutschen Jugendbewegung, allen voran Teilen der Deutschen Freischar, fand Ende der 1920er Jahre vor allem über gegenseitige Besuche mit Sing- und Tanzveranstaltungen, z. B. im »Musikheim« in Frankfurt/ Oder, aber auch die Organisation von Arbeitslagern in Schlesien oder auf Gardiners Farm im englischen Dorset statt. Dass es sich bei ihm um eine wichtige und zentrale Figur im internationalen Austausch von Jugendbewegungen handelt, hat bereits Laqueur festgestellt, der Gardiner für den »treibende[n] Geist bei dem Austausch deutscher und englischer Jugendlicher in den zwanziger und dreißiger Jahren«11 hielt. Was Gardiner an der deutschen Jugendbewegung so fesselte, scheint ganz zentral der Gedanke des »Bundes« an sich zu sein als »a kinship based on common experiences, common forms, common hopes, but not dogmatic, and not propagandist«12. Der Bund selbst wird hierbei elitär verstanden, und ist »soil«13, also Boden, auf dem der Einzelne in der Gemeinschaft erwachsen kann. Die Bedeutung des »Bundes« als Kategorie, wie sie zeitgenössisch im Aufsatz von Herman Schmalenbach14 bereits dargestellt worden war, kommt hier zum Tragen; es soll dabei neben den einzelnen miteinander in Kontakt stehenden Bünden sozusagen ein nordeuropäischer Bund aus Gleichgesinnten entstehen. Deshalb spielen die Gardiner umgebenden Netzwerke und sein Versuch, seine Ideologie in einem nordeuropäischen Verbund zu verwirklichen, eine übergeordnete Rolle. Während zur Untersuchung der dargestellten Problematik zunächst ein generationstheoretischer Ansatz verfolgt worden ist, haben sich im 9 So wurde er 1971 für sein Werk mit der Lenn8-Medaille geehrt. Vgl. Hinrich Jantzen: Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 1 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung 12), Frankfurt a. M. 1972, S. 77–83. 10 Vgl. Dan Stone: Rolf Gardiner : An honorary Nazi?, in: Matthew Jefferies, Mike Tyldesley (Hg.): Rolf Gardiner. Folk, Nature and Culture in Interwar Britain, Ashgate 2011, S. 151–168. Ebenso Moore-Colyer : Federation (Anm. 6). 11 Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Studienausgabe, Köln 1978, S. 268. 12 Rolf Gardiner : World without end. British politics and the younger generation, London 1932, S. 38, zit. nach Jefferies, Tyldesley : Gardiner (Anm. 10), S. 12. 13 Ebd. 14 Herman Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaft, 1922, Bd. 1, S. 35–105.
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Anne Göpel
Laufe der Recherchen netzwerktheoretische Ansätze15 zur Analyse vor allem seiner verschriftlichten Kommunikation als sinnvoller methodischer Ausgangspunkt aufgedrängt. So kann man aus seinen Briefen diverse Orte, an denen er sich während seiner zahlreichen Reisen aufgehalten hat, entnehmen; außerdem nennt er sehr viele Namen von Personen, mit denen er sich umgeben hat oder mit denen er in Kontakt stand.16 Dieser Form der Untersuchung kommt zugute, dass Rolf Gardiner zahlreiche Briefkontakte pflegte und viele dieser Schriftstücke im Archiv der deutschen Jugendbewegung und in der Cambridge University Library, Department of Manuscripts and University Archive erhalten und einzusehen sind. Mithilfe dieses Materials soll das Netzwerk aus Personen und vor allem den sie verbindenden Ideen identifiziert werden, um ideengeschichtliche und ideologische Gemeinsamkeiten von Teilen der deutschen bündischen und der englischen Jugendbewegung aufzuzeigen. Ob sich die These eines »konservativ-revolutionären« Überbaus dieser Ideen aufrechthalten lässt, soll im weiteren Verlauf der Bearbeitung beantwortet werden.
15 Vgl. Jan Arendt Fuhse: Soziale Netzwerke. Konzepte und Forschungsmethoden, Konstanz 2016. 16 Beispielsweise sei hier auf seinen jahrelang andauernden Briefkontakt mit Carl Heinrich Becker verwiesen; Archiv der deutschen Jugendbewegung, N 44, Nrn. 12–15, 37.
Johann Thun
Aspekte der George-Rezeption innerhalb der deutschen Jugendbewegung
Walter Laqueur, der mit seiner 1962 erschienenen Abhandlung »Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie« eine kritische Bestandsaufnahme der Bewegung vorlegte, attestiert derselben in ihrer Gesamtheit zwar wenig literarisches Innovationstalent, betont jedoch das Interesse, welches die wandernden Bürgersöhne und -töchter der Literatur entgegenbrachten: »Die Wandervögel hatten keine großen literarischen Ambitionen, doch unter dem Einfluß der Studenten in der Freideutschen Jugend dominierten nach und nach die führenden Schriftsteller und Dichter in der Jugendbewegung: Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, Rilke und Hermann Hesse, Spittler und Trakl […].«1 Selbst wenn man Laqueur darin recht geben will, dass die Jugendbewegung qualitativ wenig Bleibendes im Bereich der Literatur hervorgebracht hat, fällt bei der Lektüre der Schriften aus diesem Umfeld sofort ins Auge, dass hier vor allem die Dichtung einen konstitutiven Referenzpunkt für das eigene Selbstverständnis gebildet hat. Zum Corpus der Publikationen der Jugendbewegung gehören – neben den zahlreichen Grundsatztexten und Positionspapieren, in denen versucht wurde, Fragen der Weltanschauung, der Politik und des bündischen Selbstverständnisses zu beantworten – die Bereiche Lied, Fahrtenbuch und Autobiografie, welche zusammen wohl die eigentlich literarische Produktion der Bünde und Gruppen bilden. Die Gattungen Autobiografie und Fahrtenbücher sind dabei retrospektiv konstituiert und dienen vor allem der Darstellung und Evokation des gemeinsam Erlebten der Dabeigewesenen. Anders verhält es sich mit dem von jeder Gruppe gepflegten Liedgut. Hier ging es nicht nur um das Sammeln von Volksliedern, durch welche man den Anschluss an die romantische Tradition ausdrücken wollte. Das gemeinsame Singen von Liedern diente gleichzeitig der Her- und Darstellung des eigenen Zusammenhaltes und der Konstruktion einer Gruppenidentität, welche nicht nur gegen die als feindlich empfundene kapitalistische Industriewelt, sondern auch gegen die Konkurrenz der zahlreichen anderen Bünde behauptet und verteidigt werden musste. 1 Walter Laqueur: Die Deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1978, S. 61.
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Johann Thun
Hier soll jedoch nur auf einige Aspekte des Einflusses eingegangen werden, den der Dichter Stefan George auf diese Kreise ausgeübt hat. Der 1914 erschienene Gedichtband »Der Stern des Bundes«, der laut George nur für die »freunde des engern bezirks« gedacht war und eigentlich »noch jahrelang ein geheimnis hätte bleiben können«,2 erwies sich, gerade durch seinen elitären Anspruch und seine semantische Offenheit, als für die Bündische Jugend von zentraler Wichtigkeit. Ob George im Gedicht »Nun wachs ich mit dir rückwärts in die jahre« den »geist der heiligen jugend unserer volks«3 beschwor, in »Wägt die gefahr für kostbar bild und blatt« die konservative Vater-Generation, deren »art« der Bewahrung »ganz verfall«4 sei, schalt, eine »bergesfeier«5 evoziert (bei der manch einer vielleicht an das Meißnertreffen gedacht hat) oder einen »neuen adel«6 zu erkennen glaubte – fast in jedem Gedicht dieses Bandes konnten die Jugendlichen Schlüsselwörter finden, die zum eigenen Selbstverständnis passten. Dass die Lektüre von George dabei wirklich ein gesamt-bündisches Phänomen war (und sich nicht auf rechte oder konservative Bünde beschränkte), wird bei der Sichtung der Quellen deutlich. So ist etwa durch den Schriftsteller und Widerstandskämpfer Heinrich Wolfgang Horn, der unter dem Pseudonym Wolfgang Cordan publizierte, folgende Anekdote über ein Treffen kommunistischer, sozialistischer und anarchistischer Bünde am Üdersee (nördlich von Berlin) überliefert: »Bei unserm Sonnenwendfeuer auf dem Anarchistenhügel geschah etwas Merkwürdiges. Als das Reisig aufloderte, trat ein junger Mann im blauen Hemd der Sozialisten aus dem Kreis und sprach Georges Gedicht: ›wer je die flamme umschritt / bleibe der flamme trabant.‹ George am Üdersee! Unerwarteteres konnte schwerlich geschehen […] Wir gerieten in langwierige Diskussionen, denn der junge Mann verwarf Brechts Dreigroschentexte, wie er sagte, als zynisch und forderte von der Dichtung Reinigung der Seele, Hinleitung zu Schönheit […] Zu dem Jungen gehörte ein Mädchen, das viele Verse aus dem Jahr der Seele auswendig wusste.«7
Das Poem »Wer je die flamme umschritt…« gehört unzweifelhaft zu den meistzitierten George-Gedichten innerhalb der Jugendbewegung. Sowohl durch das Lesen selbst als auch durch den vorgetragenen Inhalt konnte eine Einheit der Leser evoziert werden, die ihre Zusammengehörigkeit durch der »mitte gesetz« zu einem gemeinsamen Zentrum (»der flamme«) beschwuren. Dadurch wurde die Bewahrung von Treue thematisiert, der sich eine durch Alter und Zeitum2 Zitat aus der »Vorrede« in: Stefan George: Der Stern des Bundes (Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 8, hg. v. der Stefan George-Stiftung), Stuttgart 2011, S. 5. 3 George: Stern (Anm. 2), S. 15. 4 Ebd., S. 35. 5 Ebd., S. 74. 6 Ebd., S. 85. 7 Wolfgang Cordan: Die Matte. Autobiografische Aufzeichnungen, Hamburg 2003, S. 65f.
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stände fragile Gruppe von Adoleszenten immer wieder versichern musste. Beispielhaft kann anhand des humanistisch geprägten Bundes Südlegion und an des aus der jüdischen Jugendbewegung kommenden Bundes Die Werkleute exemplarisch die große Bandbreite der George-Rezeption von bündischen Jugendlichen beobachtet werden. Der im Gesamtpanorama der Jugendbewegung zwar periphere, aber dennoch stilistisch und kulturell recht einflussreiche Jungenbund Südlegion ging 1932 aus dem Berliner Tahoe-Ring hervor, welcher sich wiederum aus der Ringgemeinschaft Deutscher Pfandfinder gebildet hatte.8 Zu den Gründern und Führern des Bundes gehörte, neben Heinz Schierer und Kurd Lähn, der 1907 in Berlin geborene, spätere Arzt Rudi Pallas. Schon der Name der Gruppe deutet darauf hin, dass man sich hier, der starken Betonung des rein »Nordischen« der meisten anderen Bünde entgegen, auf den Süden, die Antike und das humanistische Bildungsideal beziehen wollte. Deutlich wird die ideologische Ausrichtung des Bundes in der von Kurd Lähn geschriebenen Abhandlung »Von der geistigen Heimat deutscher Jugend«,9 welche 1933 erschien und als eine Art Positionspapier der Südlegion angesehen werden kann. In humanistischer Tradition stehend, beruft sich Lähn schon im Vorwort auf »Heraklit, Goethe und Hölderlin«10 und erwähnt die zum George-Kreis gehörenden Schriftsteller und Historiker Ernst Bertram und Ernst Kantorowicz,11 die mit ihren Büchern über Nietzsche und Friedrich II., den Staufer, ausgiebig zitiert werden. Es wird deutlich, dass es dem Autor dieses »weder politisch noch antipolitisch[en]«12 Textes um die Frage nach der »geistigen heimat«13 (des Bundes) geht. Diese Heimat wird in der Sehnsuchtswelt »süden« verortet, bzw. es wird diese – ganz georgisch – dort gesehen, wo es zu einem Kontakt zwischen dem schweifenden »nordmenschen« und dem »süden« gekommen ist: »das sehnen und verzehren nach dem süden ist deutsch, nordisch und wird germanisches seelengeschick bleiben. Es erscheint, als ob das ungenügen an der nordischen heimat und das anklagen und verleugnen der heimatlichen götter und erde typisch für den nordmenschen ist und dass dieser immer den vielleicht kürzestem umweg über den süden wählen muss, um zu einem neuen heimatgefühl und zu einem besseren und tieferen Deutschtum zu gelangen«.14
8 Vgl. Arno Klönne: »eine ›geistige‹ heimat deutscher jugend«. rudi pallas und die ›südlegion‹, in: puls. Dokumentationsschrift der Jugendbewegung, 1986, Heft 13, S. 6–8, hier S. 6. 9 Kurd Lähn: Von der geistigen Heimat deutscher Jugend, Plauen 1933. 10 Ebd., S. 5. 11 Ebd. 12 Lähn: Heimat (Anm. 9), S. 6. 13 Ebd. Kleinschreibung im Original, wahrscheinlich auch eine Referenz an Georges notorische Kleinschreibung. 14 Ebd., S. 22f. »Deutschtum« ist im Original großgeschrieben.
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Johann Thun
Das Beispiel der Werkleute setzt freilich andere Akzente. Georges Verhältnis zum Judentum blieb – trotz der zahlreichen jüdischen Kreismitglieder15 – stets ambivalent.16 Ebenso umstritten war die sogenannte »Judenfrage« in der deutschen Jugendbewegung. Hier waren antisemitische Einstellungen zwar nicht die Regel, aber dennoch keine Seltenheit. Aufgrund des in den 1930er Jahren immer virulenter werdenden Antisemitismus, der sich auch in der Jugendbewegung widerspiegelte, kam es zur Gründung von jüdischen Bünden, die ebenfalls eine eigene Identität zu finden suchten. Der von Hermann (Menachem) Gerson (1908–1989) gegründete deutsch-jüdische Bund Werkleute ist hierbei besonders interessant, da George für Gerson und seine Gefolgsleute eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat. Aus den Zeugnissen von Mitgliedern dieser Gruppe, welche der Band »Die rettende Kraft der Utopie«17 versammelt, geht hervor, dass das Lesen von George-Gedichten auch hier zum bündischen Selbstverständnis gehörte. So macht etwa das darin enthaltene Zeugnis von Moni Alon deutlich, dass kein Widerspruch darin gesehen wurde, George neben marxistischen und psychoanalytischen Autoren zu lesen: »In der Jugendbewegung kam ich in Berührung mit Psychoanalyse, mit Marxismus und mit politischen Diskussionen, zum Beispiel über Stalin und Trotzki, und wer recht hat und wer nicht recht hat. Aber ich kam auch in Berührung mit Rilke, George, mit neuer Literatur in Deutschland.«18
Diese eklektizistische Tendenz – Marx neben George – ist für die Jugendbewegung im Grunde nicht ungewöhnlich. Die Werkleute, die aus dem Bund Kameraden – Deutsch-jüdischer Wanderbund hervorgingen, beriefen sich gleichzeitig auf den Sozialismus, die Schriften Martin Bubers und auf George. Von besonderer Wichtigkeit ist der Dichter für Gerson gewesen. Dieser sah dabei keinen Widerspruch zwischen den libertär-sozialistischen Ideen Bubers und Georges ausgeprägtem Elitismus. Gerade dieser »geistige Aristokratismus« scheint das Postulat gewesen zu sein, welches Gerson stark fasziniert hat. Die Berufung auf das georgische Ethos steht auch bei den Werkleuten für die oben erwähnte Suche der Bünde nach »Form« und »Haltung«, durch welche man gleichzeitig innere Geschlossenheit und Abgrenzung nach »Außen« signalisieren wollte. Der Wandel des Selbstverständnisses innerhalb der Jugendbewegung (von den 15 So kam neben Karl Wolfskehl, Ernst Kantorowicz, Friedrich Gundolf, Edgar Salin, Berthold Vallentin und Ernst Morwitz, um nur die Prominentesten zu nennen, auch der zum Gott erhobene Maximilian Kronberger aus einer jüdischen Familie. 16 Vgl. Gert Mattenklott, Michael Philipp, Julius H. Schoeps (Hg.): »Verkannte brüder«? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration, Hildesheim u. a. 2001. 17 Walter B. Godenschweger, Fritz Vilmar : Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden gründen den Kibbuz Hasorea, Frankfurt a. M. 1990. 18 Ebd., S. 50.
Aspekte der George-Rezeption innerhalb der deutschen Jugendbewegung
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freiheitlich orientierten Wandervögeln zu den straff organisierten »Bünden«) wird bei Gerson beispielhaft deutlich, der auch in seinen Bemerkungen aus dem Gedankenkreis »Autorität«19 Georges »Ein wissen gleich für alle heißt betrug«20 zitiert und gegen radikal-demokratisches Denken sowie die »allgemeine Gleichheit« polemisiert: »Im Innersten sind die Menschen nicht gleich. Demokratie hat im Gebiet des Geistig-seelischen keinen rechtmäßigen Raum.«21 Obwohl die Werkleute anfangs kein zionistischer Bund waren, wurde, unter der Ägide Bubers und bedingt durch die Zeitumstände in Deutschland, der Zionismus allmählich zur bestimmenden Zentralidee der Gruppe. 1934 verließ Gerson mit einigen Werkleuten das nationalsozialistische Deutschland in Richtung Palästina und gründete den in der Nähe der Küste liegenden Kibbuz Hasorea (hebräisch für : »der Sämann«). Unter dem Eindruck der dort vorgefundenen Wirklichkeit und den Mühen des »Siedlerlebens« scheint aber die Bedeutung von George für die Gruppe schließlich in den Hintergrund gerückt zu sein.22
19 Hermann Menachem Gerson: Bündische Erziehung, in: Werkleute. Bund Jüdischer Jugend (Hg.): Vom Werden des Kreises, Berlin 1934, S. 14. 20 George: Stern (Anm. 2), S. 95. 21 Gerson: Erziehung (Anm. 19), S. 14. 22 Dieser Text bietet einen kurzen Ausschnitt aus meinem während des Werkstattgesprächs gehaltenen Vortrag. Zur Vertiefung vgl.: Johann Thun: Der Bund und die Bünde. Stefan George und die Deutsche Jugendbewegung, in: Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreform, Bielefeld 2016, S. 87–105.
Philipp Lehar
16378, 16379 … Wer steckt hinter den Häftlingsnummern? Österreichische Häftlinge des KZ Dachau aus der Pfadfinderbewegung
Die Pfadfinderbewegung kann sowohl weltweit als auch in Österreich auf eine lange Geschichte zurückblicken. Die Weltorganisation WOSM empfiehlt ihren Mitgliedsverbänden daher die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.1 In Österreich ist die Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Organisation, besonders in der Zeit des Nationalsozialismus, in den letzten Jahren generell zur vielfältigen Praxis geworden.2 Der Österreichische Pfadfinderbund begann damit bereits in den 1950er Jahren. Neuere Forschungen zur NS-Zeit schließen oft an die Erinnerungsarbeit der Überlebenden an und ergänzen deren Recherchen. Nach dem sogenannten »Anschluss« im Frühjahr 1938 wurden beide Mitgliedsverbände des Boy Scout International Bureau, dem Vorläufer von WOSM, der interkonfessionelle Österreichischen Pfadfinderbund (ÖPB) und das katholische Österreichischen Pfadfinderkorps St. Georg (ÖPK St. Georg) verboten. Führungspersönlichkeiten wurden inhaftiert und Eigentum beschlagnahmt. In beiden Verbänden gab es sowohl Anhänger des Nationalsozialismus als auch Opfer. Vor allem aus dem ÖPB emigrierten über 800 großteils jüdische Mitglieder. Führungspersönlichkeiten beider Verbände wurden in »Schutzhaft« genommen. Verbandspolitisch hatten beide Organisationen bis zum Verbot hinter der Bewegung für ein unabhängiges Österreich gestanden. Bundesfeldmeister Willi Teuber und sein Bruder Emmerich verfassten im März 1938 einen Aufruf, bei der angesetzten Volksbefragung für ein unabhängiges Österreich zu stimmen.3 In der Verbotszeit blieben einzelne Freundeskreise intakt, und be1 WOSM: Scout Boom Comm. Training Manual, Genf 2008, S. 26–29. 2 Vgl. z. B. Bernadette Mayrhofer, Fritz Trümpi: Orchestrierte Vertreibung. Unerwünschte Wiener Philharmoniker. Verfolgung, Ermordung und Exil, Wien 2014; Jakob Rosenberg, Georg Spitaler : Grün-weiß unterm Hakenkreuz. Der Sportklub Rapid im Nationalsozialismus (1938–1945), Wien 2011; Deutscher Alpenverein, Österreichischer Alpenverein, Alpenverein Südtirol (Hg.): Berg Heil! Alpenverein und Bergsteigen 1918–1945, Köln u. a. 2011. 3 Willi Teuber, Emmerich Teuber : Der Österreichische Pfadfinderbund zur Volksbefragung, 1938, in: Archiv des ÖPB, Wien.
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Philipp Lehar
sonders im Schutz der Bergwelt und der Kirche konnte verschiedenenorts die Pfadfinderarbeit fortgesetzt werden. »Beim Einmarsch der alliierten Truppen in Tirol hörte der Zwang des Nationalsozialismus auf und die durch 7 Jahre lange Unterdrückung schwer gehemmte Erziehungstätigkeit nahm sofort unter den alten Führern ihren Fortgang.«4 Die gemeinsame Erfahrung in der Haft überbrückte anfangs oft die Gegensätze zwischen den alten Verbänden der Ersten Republik, wie folgendes Zitat aus einem Brief zeigt: »Dann war kurz darauf die Wahl des LFM und waren wir überrascht, wieder nicht beigezogen worden zu sein. Es wurde Pol. Ob. Lt. Ringer sen. ein alter Georgler und KZ-ler gewählt. Ich verstehe mich mit ihm recht gut, er macht einen neutralen Eindruck und hat mir gleich geholfen, die Erler Gruppe auf die Füsse [sic!] zu bringen […]«.5 Gemeinsam schritten Pfadfinderführer zum Wiederaufbau der Pfadfinderei in der Alpenrepublik. Der Kontakt zu den Pfadfinderfreunden im Exil wurde aufgenommen und eine Festfeier zur Wiedergründung mit einer Ehrung der »Naziopfer unserer Bewegung«6 geplant. Der gemeinsame Aufbauwille brach spätestens 1948/49 in sich zusammen. 1950 gab es wieder zwei große Pfadfinderverbände in Österreich. Diesmal erlaubte das Boy Scout International Bureau nur noch einen Mitgliedsverband pro Land. Die Namen und Schicksale der NS-Opfer waren in der breiten Masse der Pfadfinder und im Schrifttum der »Pfadfinder Österreichs« (PÖ) bald vergessen. Im wiedergegründeten ÖPB bemühte sich der KZ-Überlebende und Bundesfeldmeister Karl Prochazka um die Erinnerung an die Vertriebenen und Ermordeten. Er und einige seiner Weggefährten pflegten Korrespondenz mit ehemaligen ÖPB-Mitgliedern in aller Welt. Im Aufnahmeantrag für den ÖPB wurde nach Zugehörigkeit zur NSDAP und ihren Gliederungen sowie Verfolgungserfahrungen gefragt.7 Trotz dieser Bemühungen gab es auch bei den PÖ und im ÖPB ehemalige Nationalsozialisten, so z. B. den ehemaligen Leiter der Gilwellkurse in Österreich, Leopold Zimmermann, dem die Freimaurerloge in Wien wegen Engagements für die NSDAP die weitere Zugehörigkeit verweigert hatte.8 In den Ausbildungsschriften finden sich über die Jahre 1938 bis 1945 meist nur kurze Sätze, z. B. »1938 werden alle Pfadfinder- und Pfadfinderin4 Fridolin Dörrer : Über die Arbeit der Katholischen Jugend 1938–1945 und deren Unterdrückung durch den Nationalsozialismus, insbesondere der St. Georgspfadfinder, 15. 08. 1945, in: Pfadfinderarchiv Tirol, Best. Pfadfinder in Tirol 1938–1945. 5 Brief Max Kellner an Karl Prochazka, 11. 03. 1946, Archiv des ÖPB. 6 Brief Karl Prochazka, 10. 06. 1946, Archiv des ÖPB. 7 ÖPB: Beitrittserklärung anlässlich des Neuaufbaues des Österreichischen Pfadfinderbundes, Pfadfinderarchiv Tirol, Best. ÖPB. 8 Günter K. Kodek: Unsere Bausteine sind die Menschen. Die Mitglieder der Wiener Freimaurer-Logen 1869–1938, Wien 2009, S. 394.
Österreichische Häftlinge des KZ Dachau aus der Pfadfinderbewegung
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nenorganisationen in Österreich nach Anschluss an das Deutsche Reich aufgelöst. Viele Führer und Führerinnen werden von den nationalsozialistischen Machthabern wegen ihrer Gesinnung verfolgt, noch viel mehr kommen während des Zweiten Weltkriegs an der Front oder in den zerstörten Städten um.«9 Die Opfer bleiben anonym, jüdische Mitglieder und Sympathisanten sowie Mitglieder der NSDAP werden nicht berücksichtigt. Zu einer Änderung kam es 1988, als Franz Merzl aufbauend auf Interviews und eigenen Erinnerungen die Publikation »Pfadfinder 1938. Mitgelaufen? Angepasst? Verfolgt?« herausgab. Die PPÖ druckten diese 2008 mit einem Vorwort von Elisabeth Boeckl-Klamper vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes erneut. Die Historikerin regte in ihrem Vorwort weitere Forschungen an. Besonders forderte sie zu einer Recherche nach Dokumenten außerhalb der Pfadfinderbewegung und einer Auseinandersetzung mit den in Konzentrationslagern Ermordeten und Vertriebenen auf.10 Der Verfasser hat sich diesen Aufruf zu Herzen genommen und in seiner 2013 veröffentlichten Diplomarbeit mit der Frage nach Inklusion und Exklusion der jüdischen Mitglieder in der österreichischen Pfadfinderbewegung zwischen 1930 und 1970 befasst.11 Seit dieser Zeit setzt er sich mit Lebensgeschichten von Vertriebenen, Verfolgten aber auch NSDAP Mitgliedern aus der österreichischen Pfadfinderbewegung auseinander.12 2014 startete er Recherchen zu den, in Konzentrationslagern inhaftierten und ermordeten österreichischen Pfadfindern. Nach Archivrecherchen in Österreich und Dachau können Ergebnisse zu Karl »Dadi« Prochazka (1902–1990), Max Kellner (1896–1980), Ing. Hans »Baczi« Singer (1905–1943), Fritz Toffler (1881–1938), Johann Ringer (1887– 1960) und Dr. Fritz Ungar (1912–1943) präsentiert werden. Ein Besuch im Archiv der Gedenkstätte Dachau klärte die Fragen nach den Häftlingskategorien und Religionsbekenntnissen. Prochazka, Kellner, Singer, Toffler und Ungar wurden gemeinsam im Juni 1938 aus Wien nach Dachau deportiert. Prochazka und Kellner wurden als »Arier« von den jüdischen Schutzhäftlingen getrennt. Prochazka und Kellner lebten als »Politische« in Baracken mit österreichischen und deutschen Politi9 PPÖ (Hg.): Unterwegs. Handbuch für Späher und Guides, Wien 1979, S. 12f. 10 Elisabeth Klamper : Vorwort, in: PPÖ (Hg.): PfadfinderInnen in Österreich 1938. Mitgelaufen? Angepasst? Verfolgt?, Wien 2007, S. 5–18. 11 Philipp Lehar : Integration und Ausgrenzung in der Pfadfinderbewegung am Beispiel Österreichs im Umgang mit jüdischen Mitbürgern im Zeitraum 1930–1970, Baunach 2013. 12 Vgl. Philipp Lehar : Pfadfinden als Brücke. Eine Untersuchung zur Emigration und der Erinnerungskultur in der österreichischen Pfadfinderbewegung , in: Wilfried Breyvogel (Hg.): Pfadfinderische Beziehungsformen und Interaktionsstile. Vom Scoutismus über die bündische Zeit bis zur Missbrauchsdebatte, S. 101–114, demnächst auch: ders.: Österreichische Pfadfinder/innen in der Emigration, in: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und Widerstands, 2017, 34. Jg, Nr. 1 (in Vorbereitung).
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Philipp Lehar
kern wie Dr. Kurt Schumacher, Franz Olah und Felix Hurdes. Beide wurden 1940 entlassen. Prochazka fand in Wien eine Anstellung in der Mineralölindustrie. Kellner konnte auf Fürsprache eines Pfadfinderfreundes, der SA- und NSDAPMitglied war, bei der Bildstelle des Gaues Tirol-Vorarlberg ein Arbeitsverhältnis beginnen, wurde 1941 Parteianwärter und schließlich Parteigenosse. Toffler, einer der ersten Pfadfinderführer Österreichs, starb bereits 1938 in Buchenwald, Singer und Ungar kamen 1943 in Auschwitz um. Die drei als Juden Kategorisierten erlebten das Kriegsende nicht. Johann Ringer, Funktionär der Georgspfadfinder aus Innsbruck, wurde im Mai 1938 wegen seiner Tätigkeit als Polizeibeamter im Austrofaschismus und des damit verbundenen Einsatzes gegen den Nationalsozialismus nach Dachau deportiert. Er überlebte und wurde aus der Schutzhaft entlassen. Die drei Überlebenden waren maßgeblich an der Reorganisation nach 1945 beteiligt. Für sie stellen sich Fragen für die Zeit nach 1945: Wie gingen sie nach 1945 mit den Erfahrungen als politische Häftlinge um? Konnten sie nach ihrer Entlassung ihre Berufslaufbahn fortsetzen? Pflegten sie ein Netzwerk mit ehemaligen Mithäftlingen oder engagierten sie sich in Häftlingsorganisationen? Für Prochazka gibt es deutliche Hinweise in diese Richtung. War seine Berufung in den Jugendbeirat im Unterrichtsministerium 1946 auf Verbindungen zu seinem KZ-Kameraden und Unterrichtsminister Felix Hurdes zurückzuführen? Kann sein langjähriges Engagement im Österreichischen Bundesjugendring und als Präsident des Österreichischen Jugendherbergsverbandes als Einsatz für ein Miteinander über weltanschauliche Grenzen hinweg im Sinne des »Geistes der Lagerstraße«13 verstanden werden? Kellner saß als ehemaliger KZ-Häftling und späteres NSDAP-Mitglied nach 1945 zwischen allen Stühlen. Wie gingen er, die Behörden und Opferorganisationen mit dieser Situation um?
13 Wolfgang Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938–1945, Wien 2008, S. 200ff.
Rezensionen
Jürgen Reulecke
Katja Gäbler, Fabian Wehner: Nachbeben. Begegnungen mit deutschen Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts, Berlin: Verlag Duncker & Humblot 2015, 344 S., 24 Fotos, ISBN 978-3-428-14826-4, 29,90 E
Seit nun schon fast zwei Jahrzehnten ist in bemerkenswerter Breite ein gesellschaftsgeschichtlich-psychohistorisches Problemfeld in den Blick sowohl einiger Wissenschaftszweige als vor allem aber auch vieler persönlich betroffener Zeitzeugen gekommen, das eine Fülle von Reaktionen und Initiativen hervorgerufen hat: Gemeint sind die unterschiedlichen generationenspezifischen Erfahrungen mit den krassen Ereignissen des 20. Jahrhunderts und deren unter Umständen viele Lebensläufe prägende Weitergabe an die Nachkommen. In den letzten Jahren waren es zunehmend und in spezifischer Weise Angehörige der so genannten »Kriegsenkelgeneration«, die Fragen in dieser Richtung gestellt haben, also die etwa seit den 1970er Jahren geborenen Kinder der im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgewachsenen »Kriegskinder«-Eltern, geboren im Lauf der 1930er bis in die zweite Hälfte der 1940er Jahre. Von Angehörigen dieser Kriegskindergeneration und in jüngster Zeit auch der Kriegsenkelgeneration ist inzwischen eine ständig wachsende Zahl von Publikationen sowohl wissenschaftlicher als auch autobiografischer und biografischer Art auf den Markt gekommen. Die beiden Autoren des hier vorzustellenden Buches mit dem bereits bemerkenswerten Titel »Nachbeben« gehören zur Kriegsenkelgeneration, haben in Heidelberg unter anderem Geschichte studiert und – intensiv dort beraten vor allem von der Germanistikprofessorin Anja Lohenstein-Reichmann – im Rahmen eines Projekts mit dem Titel »Reden. Unbedingt!« in den Jahren 2010 bis 2015 insgesamt vierundzwanzig Personen (fünf Frauen und neunzehn Männer) interviewt. Diese wurden gebeten, ausführlich über ihre Erfahrungen in den drei Stufen Kindheit, Jugend und Reife zu berichten, d. h. »ihr Gewordensein zu erzählen und ihre Identität erzählend herzustellen« (S. 13) – wissend, dass solche »Zeitzeugenberichte« keine objektive »historische Wahrheit« liefern, sondern die jeweilige subjektive »Ich-Perspektive« präsentieren würden. Nach einem persönlichen Vorwort der beiden Autoren und einem kurzen Prolog mit dem Titel »Das Beben und das Nachbeben« folgen eine längere Einführung, in der es – ausgehend von konkreten Beispielen – vor allem um die
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Jürgen Reulecke
grundsätzlichen Fragen danach geht, »was wir erinnern«, »wie wir erinnern« und »was wir vergessen«, und ausführliche Hinweise in Richtung auf ein »Weiterleben und Weitergeben«, insbesondere bezogen auf erlittene Traumata. In den anschließenden drei umfangreichen Hauptkapiteln des Buches werden – in identischer Reihenfolge und zum Teil mit einem Foto versehen – die Erzählungen der befragten Personen zunächst über ihre Kindheit, im zweiten Kapitel dann über ihre Jugend und schließlich über ihre Reife zum Teil recht ausführlich zitiert. Angehörige von drei Altersgruppen waren es, die sich geäußert haben: Von den vierundzwanzig interviewten Personen waren vier noch in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geboren worden; neun waren in den Jahren vom Kriegsende bis 1933 zur Welt gekommen, und zehn gehören zu den Kriegskindern bzw. den unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs Geborenen. Eine weitere Person entstammte dem Jahr 1953. Als eine Art Fazit kommen die beiden Autoren zum Schluss dann noch einmal auf ihr Wortspiel »Vom Beben und Nachbeben« zurück, jetzt exemplarisch im Kontext der besonders eindrucksvollen Lebensgeschichte einer der interviewten Frauen, geboren 1926. Anmerkungen mit Hinweisen auf einschlägige Veröffentlichungen, Zitate aus der vorliegenden Literatur zum Thema oder ein Literaturverzeichnis haben Katja Gäbler und Fabian Wehner allerdings in ihr Buch nicht eingefügt – es ging ihnen offenbar ausschließlich um die interviewten Personen, um die Interviews und um ihre eigenen Erfahrungen im Umgang damit. Die hier präsentierten Lebenserzählungen der vierundzwanzig interviewten Personen – meist der bildungsbürgerlichen Mittelschicht zugehörig, aber auch mehrere Angehörige von adeligen Familien, darunter ein katholischer Abt – sind durchgängig eindrucksvoll und liefern eine Fülle von spannenden Hinweisen auf das individuelle Umgehen z. B. mit den frühkindlichen Erfahrungen des Aufwachsens und der Jugendzeit in den unterschiedlichen Epochen (zum Teil ohne Vater) – dies in der NS-Zeit, in der Kriegs- und Nachkriegszeit, bei Flucht und Vertreibung und unter den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik und der DDR seit den 1950er Jahren auf dem Weg in den Erwachsenenzustand. Die durchgängig gut lesbaren Texte fordern den Leser geradezu dazu heraus, sich je nach dem aktuellen Alter und eigenen Erinnerungspotential vergleichend in die Geschichte zu stellen, wie es die interviewten Personen aufgrund der Anregungen der beiden Interviewer getan haben. Die entsprechenden Impulse sind immens vielfältig. Um nur einen Bereich kurz anzusprechen: In den Erzählungen zum Themenbereich Jugend spielen die prägenden Zugehörigkeiten zu Jugendgruppen und das Engagement in der Jugendarbeit in den verschiedenen Epochen eine häufig angesprochene Rolle, so z. B. im Jungvolk der HJ, im BDM, im »Reichsarbeitsdienst«, in Flakhelfergruppen kurz vor Kriegsende, dann im CVJM, während des Studiums in einer Burschenschaft, in der DDR in der FDJ, im Westen in der Studentenbewegung um 1968 im SDS
Nachbeben
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usw. Oft sind es auch einzelne besonders herausfordernde Erlebnisse mit lebensprägenden Folgen, z. B. im militärisch-soldatischen, im politischen und religiösen Bereich, die in spannender Weise erzählt worden sind und einen anregenden Blick auf die jeweiligen Zeitumstände vermitteln. Dass in den Erzählungen jedoch »die verschiedenen Ideologien und Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger ungefiltert« (S. 33) auftauchen – darüber waren sich die beiden Autoren von vorn herein klar. Ihr Appell, dieses mit Blick auf ihr Buch aushalten zu können, lässt sich zu dem grundsätzlichen Appell verallgemeinern, dass man auf eine solche Weise – Stichwort »Empathie« – mit den in den letzten Jahren in vielfältiger Weise auf den Markt gebrachten »Zeitzeugenberichten« über die persönlichen Erfahrungen mit den zum Teil krassen Ereignissen des 20. Jahrhundert umgehen sollte. Reflexionen über einen solchen Appell dürften ebenfalls ein »Nachbeben« auslösen, welches zu reflektieren in ganz konkreter Form das Werk von Katja Gäbler und Fabian Wehner beim Leser anzuregen vermag!
Jürgen Reulecke
Wolfram Wette: Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914 (Geschichte & Frieden 38), Bremen: Donat Verlag 2017, 640 S., 504 Abb., ISBN 978-3-943425-31-4, 24,80 E
Wolfram Wette, in der Schwäbischen Jungenschaft Peter Rohlands geprägt und viele Jahre als Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg tätig, dort auch seit 1998 apl. Professor an der Universität greift mit dem Titel »Ernstfall Frieden« für die umfangreiche Edition von insgesamt sechsundzwanzig seiner Aufsätze ein Zitat des Bundespräsidenten Gustav Heinemann aus einer Rede auf, die dieser am 1. Juli 1969 im Bundestag gehalten hat. Ihm sei – so Heinemann – in der Schule des Kaiserreichs noch beigebracht worden, dass Krieg der Ernstfall sei; nun müsse es darum gehen, den Frieden als Ernstfall in den Mittelpunkt der Politik zu stellen, denn »hinter dem Frieden (gebe) es keine Existenz mehr« (S. 9). Heinemann unterstützte in der Folgezeit nachdrücklich eine Friedens- und Konfliktforschung, die dann 1984 unter Mitwirkung von Wolfram Wette unter anderem zur Gründung eines bis heute vielfältig aktiven Arbeitskreises Historische Friedensforschung führte. Mit seinem Buch hat Wette ausführlich das »Politikmodell Ernstfall Frieden« erläutern, in die Geschichte stellen und mit dem Ziel einer nachdrücklichen öffentlichen Beachtung präsentieren wollen. Seine Einleitung, ausgehend von der provozierenden Frage, ob das Motto »Ernstfall Frieden« eventuell letztlich nur eine »Vision für Sonntagsreden« sei, beginnt mit Informationen über die Entstehung und bisherige Entwicklung einer Historischen Friedensforschung, betont anschließend die Aufgaben einer friedenshistorischen Analyse und die Notwendigkeit, Antworten darauf zu finden, was seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland bisher »in friedenspolitischer Hinsicht gelernt« worden ist und wie bzw. aus welchen Gründen »welche politischen und gesellschaftlichen Kräfte sich einem solchen Lernprozess ganz oder teilweise verschlossen haben« (S. 14). In anregender Weise benennt Wette dann in seiner Einleitung noch knapp einige Kernthesen in Richtung Beantwortung dieser Fragen, bezogen auf jene fünf Phasen der deutschen Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis hin zur »Berliner Republik«, die anschließend in den fünf chronologisch vorgehenden Hauptkapiteln seiner Edition detailliert behandelt werden. Einer seiner Aufsätze darin, der sich damals – Titel »Drückebergerei
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Jürgen Reulecke
oder Friedfertigkeit?« – unmittelbar auf das aktuelle Verhalten in Deutschland zum Golf-Krieg 1991 bezog, stammt aus dem Jahre 1993, alle übrigen aus den zurückliegenden fünfzehn Jahren, vor allem aus den Jahren 2011 bis 2015. Auch wenn es sich dabei weitestgehend um detailreiche historische Analysen handelt, spielen dabei doch immer wieder auch aktuelle Beurteilungen eine Rolle. Die sieben Texte des ersten Blocks kreisen vor allem um die Frage, warum der Erste Weltkrieg nicht verhindert wurde und um die Diskussion der Kriegsschuldfrage bis heute. Im nächsten Block sind es fünf Beiträge, in denen Wette vor allem erläutert, warum es trotz eines entstehenden Pazifismus in der Weimarer Republik »keinen Abschied vom Schwertglauben« gegeben habe. Um die Kriegslügen in der Zeit des Nationalsozialismus kreisen die drei Aufsätze des dritten Blocks, ehe dann im vierten Block in vier Beiträgen deutsche Friedeninitiativen seit 1945, ausgehend z. B. von Martin Niemöller, behandelt werden, aber auch gesellschaftliche Differenzen eine Rolle spielen, bezogen etwa auf das »historisch belastete Verhältnis von Gewerkschaften und Bundeswehr«. Die auf die Berliner Republik ausgerichtete abschließende Kernfrage, ob die zentrale Lehre »Nie wieder Krieg!« inzwischen ihre Verbindlichkeit zu verlieren beginne, bestimmt dann die sieben Aufsätze des letzten Blocks. Das Fazit von Wettes Blick auf die seiner Meinung nach durchaus belastbaren friedenspolitischen Qualitäten im Denken und in der Mentalität großer Teile der deutschen Gesellschaft läuft jedoch schließlich darauf hinaus, dass niemand wissen könne, wie belastbar diese Qualitäten letztlich seien. Deshalb betont er nachdrücklich, dass das Politikmodell »Ernstfall Frieden« heute keineswegs ausgedient habe, »sondern auch zukünftig die große Lehre aus der deutschen Vergangenheit bleiben« müsse (S. 23). Eindrucksvoll und immens umsichtig, so lässt sich wohl Wolfram Wettes umfangreiche und facettenreiche Publikation – die übrigens infolge der intensiven Unterstützung durch den Verleger Helmut Donat mit über fünfhundert Illustrationen ausgestattet worden ist und zudem einen mehr als vierzig Seiten umfassenden Anmerkungsapparat sowie ein umfangreiches Personenregister enthält – abschließend einschätzen. So ist mit dieser Aufsatzsammlung des engagierten Friedensforschers Wette eine Fülle von Argumenten vorgestellt worden, das Thema »Ernstfall Frieden« nicht nur historisch-abständig zu betrachten, sondern in vielfacher Hinsicht als einen nachdrücklichen Anstoß für aktuelle Strategien eines friedlichen Zusammenlebens zu verstehen.
Jürgen Reulecke
Fritz Redlich: Hitler – Diagnose des destruktiven Propheten, mit einem Vorwort von Norbert Frei, Gießen: PsychosozialVerlag 2016, 469 S., ISBN 978-3-8379-2580-7, 49,90 E
Die Zahl der vorliegenden Biographien Hitlers ist zwar inzwischen beträchtlich, und weitere sind zur Zeit noch in Bearbeitung, doch ist Fritz Redlichs Versuch, eine »Diagnose« dieses »destruktiven Propheten« zu verfassen, ein – das zeigt bereits der Titel – bemerkenswert eigenwilliger und innovativer Versuch, sich dem Geisteszustand und Handeln des egomanischen Diktators Hitler aus psychologisch-medizinischer Sicht zu nähern. Fritz Redlich (1910–2004), 1938 als junger Österreicher jüdischer Herkunft aus Wien in die USA emigriert und später nach einem Studium der Psychologie und Medizin Professor zunächst an der Yale Universität, dann der Universität von Kalifornien geworden, war dort einer der maßgeblichen Initiatoren einer amerikanischen Sozialpsychiatrie. Ab Frühjahr 1985 hat er dann damit begonnen – ausgehend von Recherchen im Institut für Zeitgeschichte in München –, sich der Person Hitlers in Form einer »Pathographie« (= Analyse der psychischen Folgen von Erkrankungen) anzunähern. Seine intensiven Recherchen und vielen Funde bisher kaum beachteter Unterlagen von Medizinern, die Hitler bis zu dessen Tod untersucht und behandelt hatten, führten dann 1998 zu einer umfangreichen Publikation seiner Forschungsergebnisse zunächst in den USA, 2002 dann zu einer ersten deutschen Ausgabe in Wien, versehen mit einem Vorwort des Historikers Norbert Frei, und 2016 zu einer durchgesehenen erneuten Publikation im Gießener Psychosozial-Verlag. Das immens detailreiche Werk von Redlich besteht aus zwei Hauptteilen: Im ersten Teil mit dem Titel »Das Leben Adolf Hitlers von der Geburt bis zu seinem Tod« geht es in sieben Unterkapiteln um Hitlers insbesondere auch mentale und psychische Entwicklung von seiner Kindheit über seine Erfahrungen in Wien, in München und im Ersten Weltkrieg sowie seinen politischen Aufstieg bis hin zu seiner Funktion als »Führer«, Reichskanzler und »Kriegsherr«. Dabei geht es nicht nur um die vielen bereits gut bekannten politischen und sozialgeschichtlichen Fakten seiner Laufbahn, sondern auch um psychologisch-psychohistorische Besonderheiten in seiner Pubertät und Adoleszenz, um seine Beziehung zu Frauen und sein Sexualleben, das angeblich von einer sexuellen Perversion
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Jürgen Reulecke
bestimmt war, und um frühe Krankheiten seit Mitte der dreißiger Jahre sowie seinen Umgang mit Ärzten bzw. seiner Suche nach einem »Leibarzt«, den er dann 1936 in dem aus Hessen stammenden Mediziner Theodor Morell fand. Auch z. B. Hitlers Essgewohnheiten, seine Zahnprobleme und Magenbeschwerden werden geschildert. Dieser erste Teil des Buches endet (nach einer ausführlichen Darstellung der damaligen politischen und militärischen Verhältnisse sowie Hitlers persönlichen Erlebnissen in der Kriegsphase) mit einem ausführlichen Unterkapitel unter dem Titel »Hitlers Krankheiten, Verletzungen und sein Selbstmord«. Hier geht es um vier Phasen seit Ende der 1930er Jahre und – aufgrund der Auswertung der erhalten gebliebenen Tagebücher des Leibarztes Morell und von Äußerungen weiterer damaliger Beobachter Hitlers – um eine höchst detailreiche Beschreibung von Hitlers erheblichen Gesundheitsproblemen bis hin zu den auch körperlichen Einzelheiten seines Selbstmords am 30. April 1945. Den bis Mitte des Buches von Redlich breit dargestellten äußeren Umständen des Hitler’schen Lebenslaufs mit besonderer Berücksichtigung seiner Gesundheitsverhältnisse hat der Autor noch einen umfangreichen zweiten Teil angefügt, der den Titel »Berichte, Kommentare und Interpretationen« trägt – bestehend einerseits aus detailreichen medizinischen Befunden, andererseits aus einem ebenfalls ausführlichen psychopathologischen Profil Hitlers, dem dann noch einige Anhänge folgen: z. B. eine Chronologie aller Krankheiten und Behandlungen Hitlers seit seiner Geburt, Protokolle über die Augenuntersuchungen Hitlers von Morell im Jahre 1944 sowie die Ergebnisse wichtiger Laboruntersuchungen und »elektrokardiographische Befunde« von August 1941 bis Dezember 1944. Auf vielen Seiten erörtert Redlich die große Zahl von Erkrankungen Hitlers von den Herz-Kreislauf- und Verdauungsproblemen über eine »vermutliche Syphilis« bis hin zu einem »Parkinson-Syndrom«. Eine Drogenabhängigkeit Hitlers spielt dabei ebenso eine Rolle wie der »ungeheure Appetit auf Süßspeisen« dieses massiven Gegners von Alkohol und Nikotin. Auch die rückblickende Einschätzung der Ärzte Hitlers, allen voran Morells, den Redlich als »Scharlatan« beurteilt, der »mehr Wissen vortäuschte, als er hatte« (S. 298), wird umsichtig vorgestellt. Ebenso ausführlich wie der medizinische Befund fällt die psychopathologische Interpretation von Hitler aus, dies entlang einer detaillierten Beschreibung der »Meilensteine, Wendepunkte und Krisen« in seinem Leben, ehe anschließend eine Vielzahl von Beurteilungen folgt. Um nur einige der Stichworte zu nennen: Hyperaktivität, Wissenslücken, Intelligenz und Gedächtnis, Aggressivität und Selbstzerstörung und Passivität, Sexualität, Angst und Phobien, Wahnvorstellungen, Narzissmus – dies alles auch mit Blick auf Hitlers »Ansichten über Jesus«, »Vulgärdarwinismus« und fünf Entwicklungsphasen seines Antisemitismus seit seiner Linzer Zeit. Die zusammenfassende »Diagnose« von Redlich lautet schließlich, dass Hitler ein »destruktiver und paranoider Prophet« gewesen sei (S. 406).
Hitler – Diagnose des destruktiven Propheten
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Kann man aufgrund der nachweisbaren, in Redlichs Untersuchung breit vorgestellten politischen »Paranoia« und auch der suchtfördernden Folgen seines Arzneimittelmissbrauchs Hitler überhaupt für seine Verbrechen verantwortlich erklären, so lautet die provozierende Frage des Verfassers zum Schluss seiner Darstellung. Dass »nicht der geringste Zweifel an seiner politischen Verantwortung und Verantwortungsfähigkeit für die monströsen Verbrechen« besteht, betont Redlich immer wieder nachdrücklich, wie Norbert Frei in seinem Vorwort bestätigt: Hitler sei kein »perverser Wahnsinniger« gewesen; er habe – so Redlich – gewusst, »was er tat, und er tat es mit Stolz und Enthusiasmus« (S. XIII, s. auch S. 301 und S. 410f.). Das ist das Fazit von Fritz Redlichs immens vielschichtiger, fakten- und detailreicher Analyse des »destruktiven Propheten« Hitler aus einer vor allem medizinisch-psychologischen Sicht.
Ulrich Linse
Horst-Rüdiger Jarck: Otto Bennemann (1903–2003). Von Milieu, Widerstand und politischer Verantwortung, Braunschweig: Johann Heinrich Meyer Verlag 2015, 341 S., ISBN 978-3-926701-88-6, 19,90 E
Da die deutsche Jugendbewegung eben gerade keine Einbahnstraße zur nationalsozialistischen Hitlerjugend war, sind Biografien von durch die Jugendbewegung beeinflussten sozialistischen Politikern der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stets nicht ohne Interesse.1 Der Schlossersohn Otto Bennemann, seit seinem zwanzigsten Lebensjahr SPD-Mitglied, war eine profilierte Figur in der Geschichte der braunschweigischen und niedersächsischen Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg: 1948 bis 1952 und 1954 bis 1959 amtierte er als Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig, 1947 bis 1974 war er Mitglied des Niedersächsischen Landtages, 1959 bis 1967 niedersächsischer Innenminister erst unter Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf und dann unter Georg Diederichs. Mit dem Geist der Jugendbewegung kam der Volksschüler Bennemann erstmals während seiner kaufmännischen Lehre (Beginn 1917) und seiner folgenden Tätigkeit als Industriekaufmann (»Handlungsgehilfe«) durch seinen Beitritt 1921 zur Braunschweiger Jugendgruppe des Zentralverbands der Angestellten (ZdA)2 – also nicht zum antisozialistisch-antisemitischen Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband bzw. einer seiner deutsch-völkischen Jugendgruppen – in Berührung. Es ließ sich nicht belegen, ob er im Sommer des gleichen Jahres auch am Reichsjugendtag der Arbeiterjugendvereine Deutschlands in Bielefeld teilnahm. Auch wenn eine solche gewerkschaftliche Jugendgruppe aus jugendbewegter Sicht zur (erwachsenenbestimmten) Jugendpflege und nicht zur (autonomen) Jugendbewegung zählte, war sie in den zwanziger Jahren vom »freien« Lifestyle des bürgerlichen Vorkriegswandervogels erfasst worden: jugendbewegte Kluft (siehe Foto Bennemanns S. 26), sonntägliche Wanderfahrten mit Übernachten im Heuschober oder im Wald, oder der Volkstanz und Sport 1 Dies gilt umso mehr, als dass sie in Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt, Göttingen 2013, gewiss stark unterrepräsentiert sind. 2 Der ZdA (1919–1933) war dem in der Weimarer Republik gegründeten Spitzenverband der freien Angestelltengewerkschaften (Afa-Bund) angegliedert.
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gehörten dazu, aber auch der freie Diskussionsstil und die nachholende geistigpolitische Bildung: »Das war unsere Diskussionshochschule« (S. 61). Im Rückblick (aus der Perspektive des Braunschweiger Oberbürgermeisters!) kritisierte er freilich die Praxisferne ihrer wöchentlichen politischen Diskussionsabende: »Wir diskutierten über die Revolution in China oder Mexiko! […] wir diskutierten über Wittfogels Schilderungen von China.3 Aber Müllabfuhr in Braunschweig, Kanalisation und Rieselgut,4 das überließen wir [anderen]« (S. 64). Der 1922 unter dem Braunschweiger USPD-Volksbildungsminister Otte Grotewohl (man erinnert sich an ihn vor allem als späteren Vorsitzenden der SED und ersten Ministerpräsident der DDR) aus der evangelisch-lutherische Kirche ausgetretene Bennemann war dann 1923 bis 1927 Vorsitzender dieser ZdA-Jugendgruppe »als ehrenamtlicher Gewerkschaftsfunktionär, der Jugendbildungsarbeit leistete« (S. 64): »Dort begann eigentlich meine politische Arbeit« (S. 61). 1923 war dann offenbar ein entscheidendes Jahr für seine weitere politische Positionierung: Nach dem von ihm abgelehnten kommunistischen »Hamburger Aufstand« wurde er SPD-Mitglied, und seine ältere Schwester, die ihm bei diesem Schritt vorausgegangen war, führte ihn im gleichen Jahr der Braunschweiger Jungsozialistengruppe zu aufgrund der dort geführten lebendigen politischen Diskussionen. Bennemann: »[…] das war ein entscheidender Wendepunkt für meinen politischen Weg« (S. 67). Hier, wo es spannend wird, verlassen leider den Autor der Biografie seine Quellen (es scheint kaum ein Originaltext aus diesen Jugendjahren Bennemanns seine spätere Widerstandstätigkeit gegen die Nationalsozialisten und seine Flucht 1938 über die Schweiz nach England überlebt zu haben, so dass nur sehr viel spätere Interviews in den 1980er und 1990er Jahren einige Fixpunkte der Biografie benennen). Worin also bestand wohl der »Wendepunkt«? Unklar ist, ob er und seine Juso-Gruppe sich dem Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten5 annäherten, der 1923 als Reaktion auf die belgischfranzösische Ruhrbesetzung entstanden war und eine nationale und soziale Gesinnung dem marxistischen Internationalismus innerhalb des Jungsozialismus entgegensetzte. Letzterer Position, bei den Jungsozialisten vertreten durch den Hannoveraner Kreis,6 stand er jedenfalls fern. Diese Zuordnung lässt sich 3 Gemeint war wohl Karl August Wittfogel: Das erwachende China. Ein Abriß der Geschichte und der gegenwärtigen Probleme Chinas, Wien 1926. 4 Gemeint war die »Verrieselung« von städtischen Abwässern auf kommunalen »Rieselfeldern« als Form der Abwasserbeseitigung/ Abwasserreinigung und der landwirtschaftlichen Düngung. 5 Vgl. Franz Osterroth: Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten, in: Archiv für Sozialgeschichte, 1964, 4. Jg., S. 525–574. 6 Franz Lepinski: Die jungsozialistische Bewegung, ihre Geschichte und ihre Aufgaben, Berlin 1927. Der Gewerkschaftler Lepinski zählte sich selbst in diesem jungsozialistischen Spektrum zur »Mitte«.
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zumindest aus der Tatsache erschließen, dass die Braunschweiger Jungsozialistengruppe von vier Lehrern geleitet wurde,7 die unter dem Einfluss von Leonhard Nelsons an Kant orientiertem Ethischen Sozialismus standen.8 Diese vier, so Bennemann sich erinnernd, seien für ihn zu menschlichen Vorbildern, ja Freunden geworden, da sie »auf eine angenehme Weise tonangebend waren und von denen wir alle, die als etwas Jüngere da hineingekommen waren, auch viel gelernt hatten in der politischen Theorie, in der politischen Philosophie […] Es waren Menschen, die eine bessere Bildung hatten als ich, die auch in philosophischen Fragen suchten und arbeiteten und auch zu Ergebnissen gekommen waren« (S. 67f.). So wurden als mögliche Lösung des sozialen Problems die Vorschläge von Franz Oppenheimer diskutiert (S. 68), mit Hilfe von landwirtschaftlichen Siedlungsgenossenschaften das »Bodenmonopol« zu brechen.9 Aber auch Nelsons Kritik an der Demokratie scheint bei den von den Ergebnissen der Novemberrevolution enttäuschten Jugendlichen auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein und zu einer zunehmend kritischen Distanz zur Weimarer Republik geführt zu haben (S. 68). Über die Braunschweiger Leiter der Jungsozialisten kam es dann zum direkten Kontakt mit Nelsons elitären »Internationalem Jugendbund« (IJB) und zur von Nelson 1926 gegründeten antimarxistischen, antiklerikalen, antimehrheitsdemokratischen und lebensreformerischen Partei »Internationaler Sozialistischer Kampfbund« (ISK).10 Trotz oder wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses des SPDVorstands mit einer IJB-Mitgliedschaft (1925) trat Bennemann – zusammen mit anderen Jungsozialisten, mit Angehörigen der proletarischen Kinderfreunde,11 des IJB und der ZdA – der Braunschweiger Ortsgruppe des ISK bei.12 Jarck meint 7 Otto Alpers, Walter Probst, Margarete Probst und Rudolf Dießel (Jarck: Bennemann, S. 67). 8 Vgl. Udo Vorholt: Die politische Theorie Leonhard Nelsons. Eine Fallstudie zum Verhältnis von philosophisch-politischer Theorie und konkret-politischer Praxis, Baden-Baden 1998. 9 Vgl. Franz Oppenheimer : Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, 1. Aufl. Leipzig 1896. 10 Vgl. Werner Link: Die Geschichte des Internationalen Jugendbundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Meisenheim/Glan 1964; KarlHeinz Klär : Zwei Nelson-Bünde: Internationaler Jugendbund und Internationaler Sozialistischer Kampfbund im Lichte neuer Quellen, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1982, 18. Jg., S. 310–360. 11 Die sozialistische Kinderfreundebewegung mit ihrer Zeltlagerpädagogik soll 1925 von den Braunschweiger Sozialdemokraten erfunden worden sein (Jarck: Bennemann, S. 246). Siehe Friederike Wetzorke: Die Braunschweiger Kinderfreundebewegung 1924–1930. Lagerromantik und sozialistische Erziehung, Frankfurt a. M. 1992; Roland Gröschel (Hg.): Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung. Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen »Kinderfreunde« in der Weimarer Republik, Essen 2006. 12 Nach Bennemanns Erinnerung setzten sich die Mitglieder der Braunschweiger ISK-Ortsgruppe folgendermaßen zusammen: »Fast alle aus Arbeitermilieu, aber auf den Stufen zum
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jedoch: »Man kann sich diesen aktiven und nach Bildung und Verantwortung strebenden jungen Mann von gut 22 Jahren nur schwer in der Rolle des jetzt um Anerkennung und Bewährung ringenden ISK-Bewerbers auf dem Weg zum ethischen fundierten Sozialismus vorstellen […] Er fand beim ISK eine radikale, aktivistische und auf die Durchsetzung des Rechts für die Arbeiterklasse zielende Politik. Das intellektuelle Niveau sprach ihn an und, damit zusammenhängend eine intensive politische Schulungsarbeit, die seinen Bildungshunger befriedigen konnte13« (S. 81, 83). Jedenfalls springt sein Bruch mit der bisherigen frei-jugendbewegten Lebensart der Jungsozialisten ins Auge, seine nunmehrige »Bereitschaft, sich in diese straff geführte kämpferische und radikale Organisation einzubringen« (S. 82). Walther G. Oschilewski wies in einem Abschnitt über den ISK in seinem Abriss der Geschichte der Jugendbewegung der Weimarer Zeit darauf hin, dass »solche elitäre, mitunter auch sektiererische Einstellung […] mit ihren hochgesteckten Zielen auf den Einzelnen faszinierend und damit verführerisch wirkte«.14 Für Bennemann wurde die Unterwerfung unter diese autoritär geführte Organisation vielleicht auch durch die Tatsache gemildert, dass enge jungsozialistische Freunde den gleichen Schritt taten. Wie er in seinem erhaltenen (Wieder-) Aufnahmeantrag (plus »Lebensplan«) in den ISKvon 1926/1927 schrieb, sah er im ISK das »beste Mittel zur Beseitigung der Ausbeutung«. Die Erfolge der sozialistischen und kommunistischen Parteien seien hinsichtlich dieses für ihn obersten Ziels gering, und wenn auch der ISK bisher im politischen Kampf ohnmächtig sei, so hoffe er, »daß die gründliche Aufbau- und Schulungsarbeit, die augenblicklich im ISK geleistet wird, später einmal im politischen Kampf gekrönt sein wird. Mich verbindet also mit dem ISK der Wille, mitzuarbeiten im Kampf für die Verwirklichung der ausbeutungsfreien Gesellschaft […]« (S. 85). Nelsons Forderung, ethische Einsicht und eigenes Handeln müssten zusammengehen, bestärkte gewiss diesen Verwirklichungs-Sozialismus. Bennemann arbeitete erst in der Legalität, dann während des Nationalsozialismus bis zu seiner Emigration in der Illegalität im ISK an der Verwirklichung dieses Zieles.15 Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte es sich, dass die ISKler inzwischen in der Realität der Bundesrepublik angekommen waren:16
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sozialen Aufstieg: 4 Lehrer, 6 Angestellte, 7 Arbeiter, 2 Krankenschwestern« (Jarck: Bennemann, S. 80). Das Zitat im Zitat stammt aus Carsten Grabenhorst: Otto Bennemann. Beitrag zu einer politischen Biografie, Braunschweig 1991, S. 38f. Walther G. Oschilewski: Anhang II, in: Walter-Hammer-Kreis (Hg.): Junge Menschen (Auswahlband; Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung 24), Frankfurt a. M. 1981, S. 357. Vgl. Sabine Lemke-Müller : Ethik des Widerstandes. Der Kampf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1996. Walther G. Oschilewski nennt folgende ehemalige Mitglieder des IJB bzw. ISK, die nach 1945 in der sozialdemokratischen Politik bzw. in Staatsämtern eine Rolle spielten: Otto Benne-
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Einer ihrer theoretisch führenden Köpfe, Willi Eichler, 1927 Nachfolger des verstorbenen Nelson als ISK-Vorsitzender, wurde schließlich als Vorstand der Kommission zur Vorbereitung des Godesberger Programms zu einem von dessen Hauptverfassern (Godesberger Programm 1959).17 Bennemann folgte ihm auf diesem Weg und war seit 1954 Mitglied der Programmkommission (S. 259f.). Wir konnten auch an einer anderen Biografie eine ähnliche Verlaufskurve zeigen: aus dem Jungsozialismus – in dieser Biografie in der Hofgeismarer Ausprägung – führte der Weg von Walther Georg Oschilewski, nur ein Jahr jünger als Bennemann und somit ebenfalls Angehöriger der »Jahrhundertwendegeneration«, Mitte der 1920er Jahre zunächst bis in die Radikalität von Ernst Niekischs Nationalbolschewismus, um dann nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls in die Perspektive des Godesberger Programms einzumünden.18 HorstRüdiger Jarcks Biografie von Otto Bennemann zeigt also exemplarisch, wie sich die Impulse der bürgerlichen Jugendbewegung auf die sozialistische Jungarbeiterbewegung der Weimarer Zeit bereichernd auswirkten, ohne deren politisches Emanzipationsbestreben zu brechen. Bennemann selbst fand dafür die Formel, sie seien damals geprägt worden durch die »Sehnsucht nach Freiheit, Bildung, Schönheit« (S. 299). Er betonte dabei auch, dass ihn nicht Programme und Theorien in seiner politischen Entwicklung bestimmt hätten, sondern »die zuversichtliche Gläubigkeit« der Arbeiterbewegung (S. 12). Walther G. Oschilewski urteilte, der »Jung-Sozialismus« der Weimarer Republik habe unter dem Eindruck der Jugendbewegung den bisherigen »Magen-Sozialismus« des bloßen Verstandes zu einem »Kultur-Sozialismus« des »Herzens« erweitert und so die gemeinschaftsbildenden Kräfte in einem »Bund Gleichgesinnter« gestärkt.19
mann, Alfred Kubel (über seine Freundschaft mit Bennemann finden sich Details in Jarcks Bennemann-Biografie), Otto Brenner, Fritz Eberhard und Willi Eichler (Oschilewski, Anhang II (Anm. 14), S. 357). 17 Sabine Lemke-Müller : Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988. 18 Ulrich Linse: Walther G. Oschilewski (1904–1987) als sozialistischer Historiker der Jugendbewegung, in: Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.), Ludwigstein. Annäherung an die Geschichte der Burg, (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 11/2015), Göttingen 2015, S. 361–388; ders., Fluchtpunkt Godesberger Programm, MS für die Archivtagung 2017 des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein über die »Historisierung und Selbsthistorisierung der Jugendbewegung nach 1945«. 19 Oschilewski: Anhang II (Anm. 14), S. 351.
Jürgen Reulecke
Walter Sauer (Hg.): Max Himmelheber – Drei Facetten eines Lebens: Philosoph – Erfinder – Pfadfinder. Ausgewählte Schriften, Baunach: Spurbuchverlag 2016, 376 S., ISBN 978-3-88778-487-4, 29,80 E
Walter Sauer, lange Zeit einer der zentralen Akteure bei diversen überbündischen Ereignissen und seit Jahren u. a. der Geschäftsführer der Max Himmelheber-Stiftung sowie Herausgeber der Zeitschrift »Scheidewege«, hat nach einer intensiven Auseinandersetzung mit den vielen Schriften Max Himmelhebers (1904–2000) eine eindrucksvolle umfangreiche Edition geschaffen, in der er vor allem »drei Facetten eines Lebens« dieser ungewöhnlich einflussreichen, jugendbewegt geprägten Persönlichkeit umkreist und einfühlsam biografisch verortet. Es geht dabei um das philosophische Engagement Himmelhebers vor allem in Richtung Ökologie und Umwelt, um die zeitweise von ihm ausgehenden vielfältigen Anregungen bzw. Herausforderungen in Richtung jugendbewegte Prägung in der Adoleszenz und um seine Rolle als ein höchst ungewöhnlicher technischer Impulsgeber infolge einer Vielzahl aus unserem Alltagsleben »längst nicht mehr wegzudenkender Erfindungen«, so zum Beispiel die Spanplatte und der Reißverschluss, das Heftpflaster und der Kugelschreiber, Zahnpasta und Kaugummi (S. 9). Sauer liefert einleitend im ersten Teil der Publikation zunächst eine ausführliche Darstellung des »biografischen Hintergrundes« von Himmelheber, der in Karlsruhe in einer badisch-bürgerlichen Unternehmerfamilie aufgewachsen ist, in der u. a. ein ihn früh prägendes Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen eine wichtige Rolle spielte. Im Alter von zehn Jahren, also 1914, trat er zunächst in eine Pfadfindergruppe ein, wurde vor Kriegsende jedoch von einem Schulkameraden umworben, nun dem Wandervogel beizutreten. In der Folgezeit erlebte er in vielfältiger Weise die Entwicklungsstufen und unterschiedlichen Aktivitäten der entstehenden Bündischen Jugend und wurde vor allem durch die Begegnung mit dem charismatischen Schweizer Jungenbundführer Alfred Schmidt, genannt Fred, geprägt und dann dessen »zweiter Mann« in dem 1930 von diesem gegründeten recht eigenwilligen bündischen »Grauen Corps«, das zu Beginn des NS-Regimes sofort verboten wurde. Parallel dazu hatte Himmelheber an der Technischen Universität Karlsruhe Elektrotechnik studiert und wurde kurze Zeit von dem fünf Jahre älteren Fred, der Professor im Fach Physikalische
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Chemie in Basel geworden war, in Forschungsprojekte miteinbezogen, von denen eines Himmelheber auf Dauer nachhaltig geprägt hat: die Möglichkeit einer Wiederverwendung von Holzabfällen zwecks Herstellung einer der Qualität des Naturholzes zum Teil deutlich überlegenen neuen Holzart (Stichwort »Spanplatte«). Himmelhebers intensive Hinwendung zu seiner dritten »Facette«, der der Philosophie, begann in voller Breite dann zwar erst in der englischen Kriegsgefangenschaft und prägte seit 1971 die Herausgabe der Zeitschrift »Scheidewege. Vierteljahresschrift für skeptisches Denken« durch ihn, doch belegen bereits manche Äußerungen Himmelhebers aus den 1920er Jahren, dass er im jugendbewegten Umfeld, vor allem aufgrund seiner Großfahrtenerlebnisse, in intensive reflexive Verbindungen »mit dem Elementischen und den echten Triebkräften der Natur« getreten ist (S. 31). Ein Fazit dieses Blicks auf die dem Buch vorangestellte ausführliche Einleitung kann lauten: Das hier nur kurz angesprochene biografische Nebeneinander der drei prägenden »Facetten« des Lebens von Himmelheber und die von ihm maßgeblich ausgelösten vielen Aktivitäten, die bis ins hohe Alter seine immens Impuls gebende Persönlichkeit bestimmt haben, liefert in einer eindrucksvollen Weise die Basis für die psychohistorische Verortung und Interpretation der von Sauer ausgewählten und in der Edition dann abgedruckten insgesamt zwanzig kürzeren oder längeren Essays Himmelhebers. Den drei Hauptkapiteln des umfangreichen zweiten Teils »Schriften« mit den Titeln »Pfadfinder – Grundlegung und Praxis«, »Erfinder – Ingenieur und Unternehmer« und »Philosophie – Ökophilosophie und Scheidewege« ist von dem Herausgeber jeweils eine Vorbemerkung vorangestellt worden, in der er seine Auswahl begründet und die Kontexte der Entstehung der einzelnen Quellen erläutert. Am umfangreichsten ist das erste Hauptkapitel mit meist autobiografischen Texten, die zwischen 1954 und 1984 verfasst worden sind und in denen es zum einen um Himmelhebers Sicht auf die Geschichte und Wirkung der Jugendbewegung sowie die aktuelle Bedeutung jugendbewegter Erfahrungen von Jungen in ihrer Adoleszenzphase und die darauf bezogenen Aufgaben bündischer Gruppenführer geht. Zum anderen sind – Stichwort »Erfahrenes und Erdachtes« – mehrere Großfahrtenberichte z. B. über Fahrten nach Ost- und Südasien und Korsika abgedruckt, bei denen u. a. auch die damaligen Auseinandersetzungen um »Bund und Fahrt« eine Rolle spielen. Besonders umfangreich und eindrucksvoll, gewissermaßen – so Sauer – ein »bündisches Credo« (S. 52), ist dabei der Aufsatz »In der Dürre der Wüste …« aus dem Jahre 1958, der damals von Himmelheber leidenschaftlich beantwortete Kontroversen ausgelöst hat. Die fünf Beiträge des zweiten Hauptkapitels sind nicht als distanzierte Darstellungen von technischen Details zu verstehen, sondern bestehen im Wesentlichen aus persönlichen Assoziationen zum Thema Technik, beginnend mit
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Aufzeichnungen aus dem Jahre 1939 zum sog. »Homogenholz« und aus dem Jahre 1948 zur Entwicklung und Produktion von »Holzspanwerkstoffen«, ehe dann »autobiographische Notizen aus dem Jahre 1991« folgen, in denen Himmelheber rückblickend seine persönlichen Erfahrungen mit der Herstellung von Spanplatten von der Vorkriegs- bis in die Nachkriegszeit beschreibt. Überraschend in diesem Kontext ist dann jedoch ein Beitrag aus dem Jahre 1993, in dem es um die Begründung eines Patentantrags geht, eine »Lagerstätte zur Endlagerung radioaktiven Materials« zu schaffen, doch belegt der abschließende Beitrag aus dem Jahre 1984 mit dem Titel »Gedanken über Technik« Himmelhebers inzwischen intensiv betriebene Auseinandersetzung mit den Themen »Technik contra Natur« und »Grenzen der Technik«, besonders mit den Risiken der »Atomtechnik« und mit der Frage, ob es eine »wertneutrale Technik« bzw. Möglichkeiten einer »mittleren Technologie« gibt. Nach den beiden ersten Hauptkapiteln der Edition liefert das dritte Kapitel »Philosophie« sechs Beiträge zu Denkhorizonten Himmelhebers (alle der Zeitschrift »Scheidewege« von 1973 bis 1989 entnommen), die weit über die der vorherigen Quellen hinauszielen und zum einen um den Begriff der Transzendenz kreisen, zum anderen angesichts einer zunehmenden »ökologischen Weltgefahr« nach Lösungen suchen, »eine Rettung der Erde vor dem ökologischen Tod zu bewerkstelligen« (S. 236). Mit anderen Worten: Die Konfrontation von »Aggression und Selbstverwirklichung« (so der Titel des zweiten Beitrags, verfasst bereits 1973) bzw. von menschlicher Vermessenheit und von menschlichem Maß lässt sich in diesen Essays als eines der Kernthemen identifizieren, um das die von Walter Sauer ausgewählten philosophischen Texte Himmelhebers kreisen. Wirkungen der hiermit angesprochenen Grundgedanken seiner »Ökophilosophie« seien – so Sauer –, zwar heute noch unentschieden, doch sei ihre Aktualität, wenn auch nicht in allen Details »jedenfalls gegeben, heute und künftighin« (S. 237). Walter Sauer hat mit seiner Edition von ausgewählten Schriften Himmelhebers und vor allem auch durch seine Informationen zu dessen Biografie sowie dessen Prägungen und Denkhorizonten ein höchst anregendes Werk geschaffen – übrigens ergänzt durch eine komplette Bibliografie der Schriften Himmelhebers und einen Anhang mit vielen persönlichen Fotos –, ein Werk, das unter dem Oberbegriff »jugendbewegt geprägt« eine besonders bemerkenswerte und wirksame Persönlichkeit aus der jugendbewegten »Jahrhundertgeneration« des 20. Jahrhunderts einleuchtend »in die Zeit« gestellt hat.
Susanne Rappe-Weber
Christina Norwig: Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne (1951–1958) (Göttinger Studien zur Generationsforschung 21), Göttingen: Wallstein 2016, 360 S., ISBN 978-3-8353-1846-5, 36,– E Die vorliegende Studie rekonstruiert Diskurse um ein Phänomen, das sich anschaulich in vielen Details einer konkreten Situation im Sommer des Jahres 1952 widerspiegelt: da begab sich eine bündisch geprägte, gemischte Jugendgruppe unter dem Namen »Junge Schaffensgemeinschaft« auf eine sechswöchige Fahrradtour quer durch Frankreich, begleitet von einem Filmemacher, der über diese »Tour de France der Jugend« einen Film drehte. Die Gruppe, der u. a. Mitglieder der Deutschen Freischar Göttingen und des niedersächsischen Bundes Deutscher Pfadfinderinnen angehören, startete ihre Tour beim Lager der Jugend Europas an der Loreley.1 Dieses »Loreley-Treffen« war der Vorläufer der Europäischen Jugendkampagne und bildete als zentrale internationale Begegnung einen spektakulären Auftakt für die politischen Aktivitäten dieser Bewegung. Dabei kam der Förderung persönlicher interkultureller Kontakte und informeller Aktivitäten in der jungen Generation, wie sie die oben vorgestellte Jugendgruppe unternahm, besondere Bedeutung zu. Die Verf. untersucht die Voraussetzungen, Handlungsfelder und weiterreichenden Verknüpfungen dieser Kampagne anhand der Leitfrage, inwiefern sich darin das Bewusstsein einer »europäischen Generation« artikulierte. Die Akteure selbst nutzten die Rede von der »ersten europäischen Generation« ausgiebig, um damit die Ziele der Europäischen Bewegung über alle nationalen, politischen oder sozialen Unterschiede hinweg öffentlichkeitswirksam zu bekräftigen. Diese Bewegung entsprang zivilgesellschaftlichem Engagement und stellt damit ein bislang wenig beachtetes Gegengewicht zu den staatlichen und wirtschaftlichen Initiativen für eine Europäische Einigung nach 1945 dar, bei denen Jugend eher für eigene Zwecke instrumentalisiert wurde. Tatsächlich waren seit Beginn der 1950er Jahre koordinierte Jugendaktivitäten in Europa zu verzeichnen, mit denen sich eine »soziale Bewegung« artikulierte, so die Verf. Ein Beispiel stellt die Zerstörung von Grenzpfählen durch deutsche und 1 Dokumente und weitere Details aus Sicht des Filmemachers Max Ursin (1909–1997) in: Archiv der deutschen Jugendbewegung, N 18 Nr. 58.
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französische Studenten in St. Germanshof bei Weißenburg 1950 dar. »Bürgerschaftliche Bildung« und »Demokratieerziehung« waren die zentralen Ziele der Jugendkampagne, die der »Jugend der ›Stunde Null‹« nach den europaweiten Erfahrungen mit Krieg und Gewalt eine neue Identität ermöglichen sollte, in der Verständigung und Annäherung an die Stelle von Nationalismus, Militarismus, aber auch Kolonialismus und kapitalistischer Ausbeutung traten. Die Annahme, dass mit der heranwachsenden Generation ein gleichsam »natürlicher« Neuanfang möglich sei, erlaubte ein gemeinsames Agieren von verschiedenen politischen Lagern aus und das Einbeziehen der Deutschen unter Hintanstellung der eigentlichen Vergangenheitsbewältigung. Abgehoben wurde auf die Kriegserinnerung als kulturelles Gedächtnis und hinsichtlich der nationalsozialistischen Herrschaft auf die Widerstandsaktivitäten. Die Europa-Akteure kamen häufig selbst aus diesem Milieu und betonten die nationen-, partei- und klassenübergreifende Natur des Widerstands. In einem politischen Diskurs, der sich um die viersprachig erscheinende Zeitschrift »Jeune Europe« entfaltete, formulierten die Europa-Aktivisten der ersten Stunde damit eine bürgerschaftliche Vision für ein vereinigtes Europa und beschafften Fördermittel für eine europaweite Jugend-Kampagne, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1953/54 hatte, 1959 nach einer Phase der Stagnation auslief und im Grunde erst 1988 wiederbelebt wurde. Die »Jugend« sollte mit Bildungsmaßnahmen für die Demokratie und ein geeintes Europa gewonnen werden. Als Partner der Kampagne boten sich die politischen und edukativen Jugendverbände in den einzelnen Ländern an, beispielsweise die international bereits gut vernetzten sozialdemokratischen »Falken«, die mit ihren IUSYCamps ganz im Sinne der Kampagne, Begegnung und demokratisches Lernen für Deutsche und Franzosen anboten. Die organisatorische Breite erlaubte es, sich in unterschiedlicher Weise für Europa zu engagieren, wie die Falken auf Basis demokratisch-sozialistischer Werte, oder auch auf Basis einer antisowjetischen bzw. auf die Einheit des europäischen Abendlandes setzenden Ideologie. Doch es wurde auch Wert darauf gelegt, die nicht organisierten Jugendlichen zu erreichen. Einen guten Ansatzpunkt dafür bot die verbreitete Reisebegeisterung, die durch Studienreisen, Begegnungsprojekte oder Jugendlager unterstützt wurde, die sich vom bloßen Tourismus absetzen und pädagogische Begleitung anbieten sollten. Schon das Überschreiten nationaler Grenzen ohne Pass galt allgemein als Demonstration für ein grenzenloses Europa und wurde in vielen Ländern nicht geahndet. Die Verf. nutzt die ganze Bandbreite des überlieferten Schriftguts der Europäischen Jugendkampagne, um einerseits das Europa-Verständnis der Organisatoren und der jugendlichen Adressaten zu untersuchen und andererseits das spezielle Interesse der Europaaktivisten an »der Jugend« als Generationeneinheit zu dechiffrieren. Der Sichtweise der Jugendlichen nähert sie sich insbesondere
Die erste europäische Generation
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über die Auswertung eines jährlichen Aufsatzwettbewerbs, der als »Europäischer Schultag« seit 1952 in mehreren Ländern durchgeführt wurde. Darin schildern die jungen Europäer meist persönliche Begegnungen auf ihren Reisen, bei denen sich vorher bestehende Vorurteile »wie von selbst« auflösten. Wechselseitige Stereotype bildeten dabei gleichsam die »gemeinsame Sprache«, auf deren Basis für ein Europa als »Einheit in Vielfalt« votiert wurde, in dem die Unterschiede, etwa zwischen dem »kulturell hochstehenden« Frankreich und den »technisch überlegenen« Niederlanden zwar weiter bestehen bleiben, aber kein Hindernis mehr für Zusammenarbeit und Verständigung darstellen sollten. Besonders interessant sind die Beobachtungen zu den Abgrenzungen des Europa-Begriffs in geographischer Hinsicht gegenüber Nicht-Europa, in politischer Hinsicht gegenüber dem kommunistischen Osten wie auch der skeptisch beurteilten Dominanz der USA. Innerhalb Europas stellten die Diktaturen in Spanien und Portugal ein Problem dar, weniger dagegen die Einbindung der sich in Richtung Europa öffnenden Türkei. Gegenüber dem globalen Süden stehen Positionen gegen Kolonialismus und Imperialismus solchen gegenüber, die vor allem die historischen Leistungen Europas für Afrika betonen und diese fortschreiben wollen. Die Verf. schließt mit dem Fazit, dass der faktische Machtverlust Europas im Lauf der 1950er Jahre eine Vielzahl an kulturellen Europakonzepten zutage gefördert habe, »die das europäische Selbstverständnis prägten« (S. 304). Darin eingebunden war die junge Generation der Deutschen, deren Erfahrung so gedeutet wurde, dass sie selbst »das erste Opfer Hitlers« gewesen sei. Daraus erwuchs eine besondere Bereitschaft, sich als Deutsche für eine zukünftig europäische Erinnerung an Krieg und Gewalt einzusetzen, etwa durch die Neuinterpretation des Symbols »Kranzniederlegung an Soldatengräbern«, die in wechselseitigen Aktionen in Frankreich und Deutschland durchgeführt wurde. Erst im Licht der seit geraumer Zeit stärker werdenden Skepsis gegenüber der europäischen Einigung, die bis zu Ablehnung und Austritt reicht, wird die besondere Situation nach 1945 klarer erkennbar, als zur Überwindung von Feindschaft und Kriegsangst vor allem die Versöhnung der europäischen Nationen beschworen wurde, nicht nur als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, sondern im Kern als bürgerschaftlicher Diskurs- und Aktionsraum.
Rückblicke
Susanne Rappe-Weber
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016
Im zurückliegenden Jahr bildete die Weiterentwicklung der im Archiv der deutschen Jugendbewegung genutzten elektronischen Datenbanken den roten Faden für die Arbeit. Mit Jahresbeginn wurde das Modul »Nutzerverwaltung« in der Archivdatenbank »ARCINSYS« aktiviert. Seitdem können sich Interessenten im Internet vorab registrieren und dort einen Nutzungsantrag für das Archiv stellen. Die Umstellung wurde von den meisten Nutzern gut angenommen, liegen die Vorteile doch auf der Hand: der durch Anreise und Aufenthalt immer mit Aufwand verbundene Archivaufenthalt lässt sich so besser und schneller vorbereiten. Für das Archiv, das nun alle Schritte von der Bestellung über die Vorlage im Lesesaal bis zum Reponieren im Magazin elektronisch abbildet, verbessert sich vor allem die Kontrolle der Archivaliennutzung. Zudem sind die statistischen Abfragen problemlos und einheitlich. Die individuelle Beratung für einzelne Archivkunden, die Schwierigkeiten mit der Datenbank haben, ist selbstverständlich und wird sicher noch auf absehbare Zeit nötig sein. Weiterhin stand die Reorganisation der Bibliotheksdatenbank für die Buchund Zeitschriftenbestände für mehrere Monate auf der Tagesordnung. Auf der Basis eines Vertrages mit dem Hessischen Bibliotheksinformationssystem (HEBIS) in Frankfurt und dem zugehörigen Lokalsystem in Kassel wurden die Ludwigsteiner Bibliotheksdaten für Bücher und Zeitschriften im Lauf des Jahres in HEBIS eingelesen. Zudem machten sich die Archivarinnen in einer mehrwöchigen Schulungsreihe mit der Katalogisierungsnorm RDA vertraut. Der letzte Schritt wird der Aufbau eines eigenen AdJb-OPAC durch die Universitätsbibliothek Kassel sein. Zudem wurde eine zusätzliche Recherchemaske programmiert und auf der eigenen Internetseite archiv-jugendbewegung.de platziert, um die im Rahmen des DFG-Projektes digitalisierten Fotografien besser auffindbar zu machen. Eine einfache Suchfunktion nach Stichworten und die Leuchttisch-Anordnung der Recherche-Ergebnisse bieten nun einen deutlich leichteren Zugang zu den 44.500 »Bildern aus dem Wandervogelleben« des Fotografen Julius Groß.
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Susanne Rappe-Weber
Der Sicherung des wertvollen Archivgutes im Katastrophenfall dient der Abschluss einer Notfallvereinbarung zwischen 12 Kulturinstitutionen der Region im »Notfallverbund Kassel und Nordhessen«. Durch den Abschluss dieses Vertrages, den Prof. Dr. Andreas Hedwig für das Archiv der deutschen Jugendbewegung unterzeichnete, versichert sich das AdJb der kollegialen Unterstützung und stellt seinerseits Hilfe im Notfall in Aussicht. Gestärkt wird durch das gemeinsame, langfristig angelegte Vorgehen auch die dauerhafte Wahrnehmung der lokalen Notfallvorsorge. Neben diesen eher technischen Aspekten prägten die persönlichen Begegnungen bei den wissenschaftlichen Tagungen die Arbeit des Jahres: Gastgeber und (Mit-) Veranstalter war das Archiv der deutschen Jugendbewegung beim Treffen der Nachwuchswissenschaftler im Frühjahr, der Archivtagung im Herbst sowie bei einer Konferenz der »Gesellschaft für die Volkskunde der Deutschen im östlichen Europa«. Für das breite Publikum wurden die Türen zum »Tag der Archive« und zum »Tag des offenen Denkmals« weit geöffnet. Diese Veranstaltungen dienen ebenso wie Kooperationen mit externen Partnern, etwa mit dem LWL-Medienzentrum für Westfalen beim diesjährigen Archivjahrbuch oder der Stefan-George-Gesellschaft bei einer Tagung, immer dem Ziel, die Ludwigsteiner Archivbestände in aktuelle wissenschaftliche und öffentliche Debatten einzubringen und so das Interesse an historischen Jugendbewegungen und Jugendkulturen wach zu halten.
Archivstatistik 2016 Schriftliche Auskünfte
2012 259
2013 315
2014 203
2015 284
2016 294
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Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016
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Personal Bei den Stellen der Archivleiterin Dr. S. Rappe-Weber, Dipl.-Archivarin E. Hack und Archivmitarbeiterin B. Richter gab es keine Veränderungen. Als vierte Bundesfreiwillige des Archivs wurde Britta Klein aus Holzdorf/ Schwansen eingestellt, die für das Ausheben und Reponieren von Akten für die Archivnutzer zuständig ist und darüber hinaus mit Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten betraut wird. Dr. Malte Lorenzen wurde für 2 12 Monate mit der Erschließung der Jugendburgs-Akten beauftragt.
Ehrenamt, Praktikum, Werkvertrag Ehrenamtlich arbeiteten Johan P. Moyzes und Lutz Kettenring (Pfadfindergeschichte) sowie Frauke Schneemann und Anne-Christine Hamel (Workshop Jugendbewegungsforschung). Ein Praktikum absolvierten Anne Marten, Göttingen (Ordnungs- und Erschließungsarbeiten an den Beständen »Pfadfinderkorps Bonn« (1912–1962) sowie Vorlass der Pfadfinder-Künstlerin Ortrud KrügerStohlmann (*1925); Svenja Sinjen, Kiel (Erschließung der Nachlässe Claus H. Tödt (N 147), Richard und Klaus Gerke (N 172) sowie Hans-Gerd Raabe (N 88) und Michael Kubacki, Marburg (Diverse Nachlässe). Ein Werkvertrag wurde an Felix Linzner, Marburg vergeben zur Erarbeitung und Gestaltung der Ausstellung »›Gegen Sumpf und Fäulnis‹ – leuchtender Menschheitsmorgen. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien ›biologischer Aufrüstung‹«. Mit einem weiteren Werkvertrag wurde Frauke Schneemann, Göttingen zur Erschließung von Pfadfinderunterlagen der Sammlung ZAP beauftragt.
Erschließung E. Hack hat die Erschließung des Nachlasses von Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913) nach fünf Jahren Bearbeitungszeit mit mehr als 700 VZE in 95 Archivkartons abgeschlossen (N 151). Als nächsten Schwerpunkt überarbeitet sie die Nachlassverzeichnung von Hugo Höppener-Fidus (N 38), in der bislang viele Akten nur summarisch beschrieben und interessante Korrespondenzund Gesprächspartner von Fidus nicht ausgewiesen waren. Unter ihrer Anleitung haben die Bundesfreiwilligen, die Praktikant/inn/en und Werkvertragsnehmer zahlreiche Bestände erschlossen. Hervorzuheben sind die großen Fortschritte bei den Akten der Jugendburg Ludwigstein (A 211), aber auch bei dem korrespondierenden Bestand des Älterenbundes »Männertreu Hannover« (A 238).
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Susanne Rappe-Weber
B. Richter hat, da die laufende Arbeit am Bibliothekskatalog ruhte, noch nicht bearbeitete Nachlässe erschlossen, darunter die Neuerwerbungen von Wilhelm Kotzde-Kottenrodt (N 207) sowie Emmi Wohlhaupt (N 208).
Zugänge Als besonders wertvoller Zugang ist der Nachlass der Kasseler Künstlerin und Mitbegründerin des Kasseler Mädchenwandervogels Luise Danker (1889–1926) anzusehen, bestehend aus einer Truhe mit zahlreichen Handschriften, grafischen Blättern sowie einer Büste und einem Ölporträt. Die im Archiv bereits bestehende grafische Danker-Sammlung erfährt durch die persönlichen Unterlagen, auch aus dem familiären Umfeld eine wertvolle Ergänzung (N 209, 120 VZE). Noch umfangreicher und bedeutend für die völkische Richtung der bündischen Jugend ist der von der Familie überlassene Nachlass von Wilhelm Kotzde-Kottenrodt (1878–1948), einem einflussreichen Publizisten (»Die Kommenden«) und bündischen Führer (»Adler und Falken«, »Artamanen«, »Deutsche Falkenschaft«) (N 207, 22 Archivkartons). Kleinere Zugänge mit Archivunterlagen stellten u. a. folgende Überlassungen dar : Fotoalben von Gerhard Stolzenberger, einem Leipziger Jungenschaftler der 1930er Jahre (N 196, 11 VZE); Objekte des Pfadfinderhistorikers Johann P. Moyzes zur Freundschaft zwischen dem Pfadfinderstamm »Sturmvogel« in Varel mit Moskauer Pfadfindern in den 1990er Jahren; Korrespondenz von Hugo Höppener-Fidus mit seinem Drucker Hermann Elsner sowie Nachlassmaterial von Fidus’ Tochter Drude(N 38); Nachlassgut von Emmi Kloos geb. Wohlhaupt (1897–1980), Mitglied im Neulandbund (N 208, 72 VZE).
Ausstellung Bis zum 30. 09. 2016 war die Ausstellung »Der jugendbewegte Fotograf Julius Groß« in den Räumen des Archivs zu sehen. Aus Anlass der Tagung 2016 entstand unter Federführung von Felix Linzner M. A. die Ausstellung »›Gegen Sumpf und Fäulnis‹ – leuchtender Menschheitsmorgen. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien ›biologischer Aufrüstung‹« (elf Plakate, fünf Schauvitrinen, eine Installation zu den Zeitschriften der Lebensreform), die bis zum 31. 08. 2017 in den Räumen des Archivs gezeigt wurde.
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016
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Beteiligung an fremden Ausstellungen – Bergleuts Kinder – Kinder und Jugend in der Montanregion Harz; Ausstellung des Rammelsberg Museum und Besucherbergwerk, 21. 04.–30. 10. 2016 – Lebenskunst. Die Brücke und die Lebensreform; Ausstellung des Buchheim Museums Bernried, 02.–09. 10. 2016 – Von Fleischverzehr und Fleischverzicht; Wanderausstellung, LWL-Museumsamt für Westfalen, 01. 03. 2015–01. 08. 2016 – Macht der Mode. Zwischen Kaiserreich, Krieg und Republik; LVR-Industriemuseum Oberhausen, 25. 10. 2015–31. 12. 2016
Archivführungen, Seminare und Präsentationen Zahlreiche Treffen von Ehemaligengruppen der Jugendbewegung, Älteren- und Klassentreffen sowie im Einzelnen: Bundesführung des BdP (12. 02.), Heimatverein Bornhagen (21. 02.), VCP-Treffen (23. 03.), Juleica-Seminar auf der Burg (05. 05.), Tag der offenen Burgen und Schlösser (26. 06.), BdP-Gruppe (17. 09.), Rotarier Werra-Meißner (10. 11.) Archivseminar der Universität Marburg, Fachbereich Europäische Ethnologie mit 10 Teilnehmenden (Felix Linzner M. A., 06. 07.), Archivseminar für die Fortbildung im Bundesfreiwilligendienst mit 5 Teilnehmenden (26. 09.), Archivseminar der Universität Kassel, Fachbereich Erziehungswissenschaften mit 25 Teilnehmenden (Dr. Bosse, 05. 10.), Archivseminare der Jugendbildungsstätte Ludwigstein mit 80 Teilnehmenden (04. 06., 02. 07., 10. 09., 12. 11., 19. 11.), Archivseminar der Universität Kassel, Fachbereich Agrarwissenschaften, Witzenhausen mit 10 Teilnehmenden (Prof. Dr. Werner Trossbach, 28. 11.), Archivseminar der Historischen Instituts der Universität Gießen mit 15 Teilnehmenden (Prof. Dr. Anne C. Nagel, 30. 11.), Archivseminar des Internationalen Studiengangs »Erlebnispädagogik«, Universität Marburg mit 25 Teilnehmenden (Dr. Martin Lindner, 12.–14. 12.)
Tagungen und Öffentlichkeitsarbeit – Tag des offenen Archivs mit 60 Besuchern (05. 03.) – Workshop »Jugendbewegungsforschung« mit 14 Teilnehmenden (22.–24. 04.) – Tag des offenen Denkmals und Handwerkermarkt auf der Burg mit 250 Besuchern (11. 09.) – Archivtagung »Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien ›biologischer Aufrüstung‹« mit 80 Teilnehmenden (21.–23. 10.)
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Susanne Rappe-Weber
– »Bewegte Jugend im östlichen Europa. Volkskundliche Perspektiven auf unterschiedliche Ausprägungen der Jugendbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert«. Tagung des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (Freiburg) mit 40 Teilnehmenden (Dr. Tilman Kasten; Prof. Dr. Wolfgang Mezger, 14.–16. 09.)
Medien, Internet und Portale – Märchen, Mythen und der Tod. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung erschließt einen seltenen Frauennachlass, in: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine vom 22. 09. 2016 – Als die Jugend aufbrach. Neue Ausstellung im Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine vom 25. 10. 2016 – Erweiterung der Homepage www.archiv-jugendbewegung.de mit einer Recherchefunktion für den Fotografen-Nachlass »Julius Groß« – Seitenaufrufe für www.archiv-jugendbewegung.de von Dezember 2015–Dezember 2016: 10.000
Veröffentlichungen und Vorträge Barbara Stambolis, Markus Köster (Hg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 12 j 2016), Göttingen: V& R unipress 2016, 515 S. Malte Lorenzen: Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923 (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften 19), Göttingen: V& R unipress 2016, 408 S. Susanne Rappe-Weber – Zus. mit Maria Daldrup und Marco Rasch: Ein »Tagebuch in Bildern«. Julius Groß als Fotograf der Jugendbewegung und sein Nachlass im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein, in: Barbara Stambolis, Markus Köster (Hg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 12j2016), Göttingen 2016, S. 285–313 – Rezension zu dem Katalogband: Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972, Schirn Kunsthalle Frankfurt a. M. 2015 in: Nassauische Annalen. Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung, 2016, Bd. 127
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016
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– Der Hanstein – eine »Jugendburg«?, in: Geschichte und Geschichten rund um Burg Hanstein, hg. vom Heimatverein Hanstein/ Bornhagen, Bornhagen 2015, S. 55–59, auch in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 269, S. 26–30 – Ehrenmal – Denkmal – National wertvolles Kulturdenkmal – Europäisches Kulturdenkmal. Eine Perspektive für die Burg Ludwigstein im Jahr 2020, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 269, S. 4–8 – Inseln jugendbewegter Gemeinschaft in Sachsen nach 1945 zwischen politischer Vereinnahmung der Jugend und deutsch-deutschen Jugendkontakten, in: »Vom fröhlichen Wandern«. Sächsische Jugendbewegung im Zeitalter der Extreme 1900–1945, hg. von Katja Margarete Mieth, Justus H. Ulbricht und Elvira Werner, Dresden 2015, S. 323–334 – Julius Groß Online – Zur Visualisierung der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Archivnachrichten aus Hessen 2/2016, S. 48–50 – Vortrag »Something for the Girls« – Gender, Pädagogik und Koedukation in den deutschen Pfadfinderinnenbünden nach 1945 bei der Fachtagung Pfadfinden in Oberwesel (21. 02.) – Vortrag beim Workshop »Ordnen und Erschließen von privaten Sammlungen«; Seminartag der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Hessen im Hessischen Staatsarchiv in Marburg (22. 09.) – Vortrag: Freundschaft und Exklusion. Beobachtungen zur Konstruktion von Gemeinschaft im Wandervogel anhand der Fahrten- und Nestbücher im Vergleich zum George-Kreis, Stefan-George-Jahrestagung in Bingen (06. 11.)
Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2016 und Nachträge
1.
Andratschke, Thomas (Hg.): Mythos Heimat. Worpswede und die europäischen Künstlerkolonien (Ausstellung im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover), Dresden: Sandstein Verlag 2016 2. Bornstein, Heini: Von Basel bis zum Kibbuz Lehavot Habaschan. Der Lebensweg eines sozialistischen Zionisten, hg. von Heiko Haumann, Köln: Böhlau 2015 3. Brachmann, Jens: Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal. Die Geschichte der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime 1947–2012, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015 4. Braun, Karl; Linzner, Felix (Hg.): Friedenszeiten. Zum Eigensinn der Monate Januar 1913 ibs Juli 1914, Marburg: Jonas 2015 5. Buttler, Eberhard (Hg.): Werner Buttler (1907–1940). Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten, Bonn: Habelt 2014 6. Carstensen, Thorsten; Schmid, Marcel (Hg.): Die Literatur der Lebensreform, Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld: trancript 2016 7. Chare, Nicolas; Dominic, Williams: Matters of Testimony. Interpreting the Scrolls of Auschwitz, New York: Berghahn 2016, 254 S. 8. Dohmen, Matthias u. a. (Hg.): Die 1966er von Münstereifel: Zwischen »Kasten« und St. Michael – Bilanz und Rückblick auf 50 Jahre Reife, Wuppertal: Momberger 2016 9. Eckardt, Michael (Hg.): Staatsbürgerliche Erziehung in Thüringen. Die Schriftenreihe »Republik und Jugend« (1922–1923) des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung (Quellen zur Geschichte Thüringens 42), Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 2015 10. Gass, Ren8: In den frühen Tod. Das kurze Leben des Kriegsfreiwilligen Otto Braun (1897–1918), Zürich: Chronos 2014
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Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2016 und Nachträge
11. Goeb, Alexander : Die verlorene Ehre des Bartholomäus Schink. Jugendwiderstand im NS Staat und der Umgang mit den Verfolgten von 1945 bis heute. Die Kölner Edelweißpiraten, Frankfurt a. M: Brandes und Apsel 2016 12. Gottfried, Claudia u. a. (Hg.): Die Macht der Mode. Zwischen Kaiserreich, Weltkrieg und Republik (Begleitband zur Sonderausstellung)), Ratingen: LVR-Industriemuseum Textilfabrik Cromford 2015 13. Greiner, Bettina; Kramer, Alan (Hg.): Die Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution, Hamburg: Hamburger Edition 2013 14. Grill, Tobias: Volksmusik wie aus dem Bilderbüchl. Inszenierung, Rezeption und Wirkung idealistischer Konstrukte in der Lied- und Musikpflege Wastl Fanderls, München: Bayerischer Landesverein für Heimatpflege e. V. 2016 15. Heimatverein Hanstein Bornhagen (Hg.): Geschichte und Geschichten rund um Burg Hanstein, Bornhagen: Selbstverlag 2016 16. Hessisches Landesmuseum Kassel (Hg.): Mitten im Leben. Vom 19. bis ins 21. Jahrhundert (Ausstellungskatalog), Petersberg: Michael Imhof 2016 17. Heß, Romin: d.j.1.11 – ein Weg. Geschichte der deutschen autonomen Jungenschaft 1948–1990, Selbstverlag 2016 18. Hulverscheidt, Marion; Dorgathen, Hendrik (Hg.): Raus Rein. Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen, Berlin: avant Verlag 2016 19. Ingold, Niklaus: Lichtduschen. Geschichte einer Gesundheitstechnik 1890–1975, Zürich: Chronos 2015 20. Jahr, Christoph; Thiel, Jens (Hg.). Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin: Metropol 2013 21. Kämper, Dirk: Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust. Die Geschichte eines vergessenen Helden aus Deutschland, Zürich: OrellFüssli 2015 22. Killguss, Hans-Peter ; Langebach, Martin (Hg.): »Opa war in Ordnung!«. Erinnerungspolitik der extremen Rechten, Köln: Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln 2016 23. Köbel, Eberhard: Fahrtbericht 29 (Lappland), 3. erweiterte Auflage mit einem Artikel aus Atlantis (1929) und einem Nachwort von Eckard Holler, Berlin: Verlag der Jugendbewegung 2016 24. Lange-Greve, Susanne: Lebens-Spuren – Karl Rohm 1873–1948. Verleger Lebensreformer, Schwäbisch Gmünd: Einhorn Verlag 2016 25. Meixner, Shulamit: Bleibergs Entscheidung, Wien: Picus Verlag 2015 26. Mieth, Katja Margarethe; Ulbricht, Justus H.; Werner, Elvira (Hg.): »Vom fröhlichen Wandern«. Sächsische Jugendbewegung im Zeitalter der Extreme 1900–1945, Dresden: Verlag der Kunst 2015 27. Müller, Manfred: Deutsche Lieder – neu betrachtet, Wien: Österreichische Landsmannschaft 2015
Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2016 und Nachträge
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28. Niem, Christina: Eugen Diederichs und die Volkskunde. Ein Verleger und seine Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung, Münster u. a.: Waxmann Verlag 2015 29. Norwig, Christina: Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne 1951–1958, Göttingen: Wallstein 2016 30. Oelkers, Jürgen: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die »Karriere« des Gerold Becker, Weinheim u. a.: Beltz Juventa 2016 31. Polka, Annebella: The kindred of the Kibbo Kift. Intellectual Barbarians, London: Donlon 2016 32. Prause, Ursula (Hg.): Werner Helwig. Eine nachgetragene Autobiographie, Bremen: Edition Lumi8re 2014 33. Ramsbrock, Annelie; Vowinkel, Annette; Zierenberg, Malte (Hg.): Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung (Geschichte der Gegenwart 6), Göttingen: Wallstein 2016 34. Retterath, Hans-Werner (Hg.): Zugänge. Volkskundliche Archiv-Forschung zu den Deutsche im und aus dem östlichen Europa (Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa 16), Münster u. a.: Waxmann 2015 35. Ross, Catherine; Bennett, Oliver : Designing Utopia. John Hargrave and the Kibbo Kift, London: Wilson 2015 36. Ritter, Hermann u. a. (Hg.): Heute die Welt – morgen das ganze Universum. Rechtsextremismus in der deutschen Gegenwarts-Science-Fiction. ScienceFiction und rechte Populärkultur, Murnau am Staffelsee: p.machinery Michael Haitel 2016 37. Sauer, Walter : Max Himmelheber – drei Facetten eines Lebens. Philosoph – Erfinder – Pfadfinder. Ausgewählte Schriften, Baunach: Spurbuchverlag 2016 38. Schmidt, Daniel; Sturm, Michael; Livi, Massimiliano (Hg.): Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918–1933 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte 19), Essen: Klartext 2015 39. Schupke, Kai; Schreiber, Daniel J. (Hg.): Brücke und die Lebensreform (Ausstellungskatalog), Buchheim Museum: Buchheim Verlag 2016 40. Schweigmann-Greve, Kay : Kurt Löwenstein. Demokratische Erziehung und Gegenwelterfahrung (Jüdische Miniaturen 187), Berlin: Hentrich & Hentrich 2016 41. Seela, Reyk: Wanderwelten. Die Wanderbewegung in Thüringen. Ein historischer Abriss, Jena: Bussert und Stadler 2016 42. Seemann, Malwine: Karla in Schlesien 1933–1940. Eine jugendbewegte Geschichte, Oldenburg: Isensee Verlag 2015
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Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2016 und Nachträge
43. Seidel, Hans-Joachim: Hans Scholl – ein »Bündischer«. Die Scholls, die Nägeles und die d.j.1.11.; Teil I: Wie ich beim Schreiben der Biographie meines Vaters auf die Geschwister Scholl stieß. Hans Scholl – ein junger Ulmer reift zum Widerstand gegen Hitler; Teil II: Die Scholls und die Nägeles – Notizen zu einer Familienfreundschaft, Ulm: Selbstverlag 2016 44. Speitkamp, Winfried: Eschwege. Eine Stadt und der Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 81), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2015 45. Templin, David: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 52), Göttingen: Wallstein 2016 46. Vollmer, Antje: Die Neuwerkbewegung. Zwischen Jugendbewegung und religiösem Sozialismus, Freiburg: Herder 2016 47. Wachter, Clemens (Hg.): Die brisante Akte. Problembehaftete Bestände in Universitäts- und Wissenschaftsarchiven (Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V., 18. bis 20. März 2015 in Erlangen), Leipzig: Universitätsverlag 2016 48. Wurm, Helmut: Gero der Zugvogelfürst. Die private und bündische Biografie von Rolf Gehrke (Gero). Ein ungerader Weg mit einfacher Jugend, Wirren, Irrungen und Zufriedenheit in einer Lebensaufgabe, Betzdorf: Eigenverlag 2016
Wissenschaftliche Archivnutzung 2016
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
14. 15. 16. 17.
Hartmut Bartmuß, Bielefeld: Alexander Lion: Arzt, Sanitätsoffizier und Pfadfinder Jakob Bennetsen, Frederiksberg (Dänemark): Die völkisch-antisemitischen Zweige der Jugendbewegung Knut Bergbauer, Köln: Jüdische Jugendbewegung in Breslau (1912–1938) Sven Bindczeck, München: Geschichte der Burg Ludwigstein Wilfried Breyvogel, Essen: Alexander Lion, der Pfadfindergründer – ein biografischer Grundriss Anna Maria Busse Berger, Berlin: Die Beziehungen der vergleichenden Musikwissenschaft zu der Jugendmusik- und Singbewegung Simon Constantine, Oxford (Großbritannien): Beziehungen zwischen DJH und YHA (Großbritannien), 1900–1950 ˇ uplinskas, Edmonton (Kanada): Vergleichende Studie zu drei kaIndre C tholischen Jugendbewegungen, hier Quickborn Maria Daldrup, Dortmund: Jugendbewegte Biographien und Netzwerke Anna Danilina, Berlin: Völkische Siedlungsbewegung und Praktiken der Lebensreform Peter Dudek, Freigericht: Gustav Wyneken Michael Funke, Köln: Völkische Ideologien und Praxen der Jugendbewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Anne Göpel, Berlin: Die Radikalisierung der Zwischenkriegszeit. Konservatismus und Revolution in der Jugend der Weimarer Republik und Großbritanniens nach dem Ersten Weltkrieg Christoph Gollasch, Berlin: Silvio Gesell – eine Rezeptionsgeschichte Nicole Gross, Minfeld: Antiurbanismus in der Weimarer Republik Rebecca Gudat, München: Der Pädagogische Eros und literarische Formen grenzüberschreitender Lehrer-Schüler-Beziehungen Kirsti Pedersen Gurholt, Oslo (Norwegen): Wandervogel and its impact on Norwegian Friluftsliv
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Wissenschaftliche Archivnutzung 2016
18. Anne-Christine Hamel, Leipzig: Jugend zwischen Revanchismus und Integration. Die Geschichte der DJO 19. Ron Hellfritzsch, Jena: Kolonialphantasien und Siedlungspläne im deutsch besetzten Kurland 20. Cornelia Jacob, Marburg: Emil Blum, die Heimvolkshochschule Habertshof und die Neuwerkbewegung 21. Moritz Jungeblodt, Marburg: Deutsche und britische Vegetarier-Bewegungen im Ersten Weltkrieg 22. Helmut Kellershohn, Neukirchen-Vluyn: Die Deutsche Gildenschaft 23. Ulrike Koch, Potsdam: Käthe Kollwitz und ihre Freunde – ihre Beziehung zu Fritz Klatt 24. Christian Köhler, Kaiserslautern: Die fahrenden Gesellen 25. Matthias Kruse, Remscheid: Fritz Jöde (1906–1923) 26. Michael Kubacki, Marburg: Artamanenbund – Freundeskreis der Artamanen nach 1945 27. Roland Laich, Göttingen: Artamanen und Nachfolgeorganisationen 28. Alexander Lange, Leipzig: Jugendopposition in Sachsen während der NSZeit 29. Stephanie Leßel, Moers: Jugendherbergen im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 30. Martin Lindner, Marburg: Wandervogel – Jugendbewegung – Übergänge 31. Felix Linzner, Marburg: Jugendbewegung und Lebensreform 32. Franz Löbling, Weimar : Volksweise – Die »alte« Poesie der Neuen Schar 33. Joana van den Löcht, Frankfurt a. M.: Literarisierung und Umgestaltung von Ernst Jüngers Tagebüchern des Zweiten Weltkriegs 34. Malte Lorenzen, Burg: Der Arbeitskreis für deutsche Dichtung; Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 35. Hiroki Makino, Kyoto (Japan): Die Jugendmusikbewegung und Fritz Jöde 36. Franziska Meier, Heidelberg: Das Liedgut der Bündischen Jugend 37. Jörn Meyers, Marburg: Der Alt-Wandervogel-Kreis »Männertreu Hannover e. V.« 38. Daniela Müller, Berlin: Jugendbewegte Intimitäten. Die Jugendkulturbewegung 39. Katharina Nitzgen, Bremen: Das Puppenspiel im Kontext der Wandervogelbewegung 40. Ronny Noak, Jena: Politische Bildung und die Parteien der Weimarer Republik 41. Stephen Pielhoff, Wuppertal: Jugendmusikbewegung, Musikpädagogik und kommunale Bildungspolitik (1945–1968) 42. Franz Riemer, Hannover: Jugendmusikbewegung, Fritz Jöde und der Arbeitskreis Musik in der Jugend
Wissenschaftliche Archivnutzung 2016
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43. Stefan Rindlisbacher, Fribourg (Schweiz): Lebensreform in der Schweiz in den 1920er- und 1930er-Jahren 44. Jürgen Reulecke, Essen: Werner Helwig 45. Marina Sahm, Koblenz: Völkische Frauenbildung in der Weimarer Republik 46. Daniel Schmidt, Gelsenkirchen: Gelsenkirchen im Nationalsozialismus 47. Fritz Schmidt, Augsburg: Geschichte der deutschen Jugendbewegung 48. Frauke Schneemann, Göttingen: Die deutsche Pfadfinderbewegung im internationalen Kontext 1945–1980 49. Stephan Schrölkamp, Berlin: Alexander Lion, der erste Pfadfinder Deutschlands. Ein biografischer Grundriss 50. Boris Schuster, Buxtehude: Alternative, nackte Körper im Deutschland des 20. Jahrhunderts 51. Claudia Selheim, Nürnberg: Der gelenkte Blick. (Volks-) Kultur in Wanderführern, Vortrag 52. Eva-Maria Siegel, Köln: Koloniale Ordnung – Hans Paasche 53. Barbara Stambolis, Münster : Stefan George und die Jugendbewegung 54. Steffen Theilemann, Potsdam: Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend 55. Christian Volkholz, Tübingen: Der »zukünftige Menschheitsbau« – Knud Ahlborn (1888–1977) 56. Carina Webermann, Berlin: Deutsch-französische Jugendbeziehungen in der Zwischenkriegszeit am Beispiel des Sohlbergkreises 57. Stefanie Wilke, Kassel: Enno Narten
Anhang
Autorinnen und Autoren
Karl Braun, Prof. Dr., lehrt seit 2002 am Institut für Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und forscht zu spanischer Ethnologie und Kulturanthropologie, Sexualitätsgeschichte und Genderforschung sowie zur Jugendbewegung Meret Fehlmann, Dr. phil., arbeitet als wissenschaftliche Bibliothekarin und Dozentin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft – Populäre Kulturen der Universität Zürich. Ebenda Dissertation zum Thema Matriarchat, veröffentlicht 2011 als »Die Rede vom Matriarchat«. Veröffentlichungen zu moderner Artusdichtung, Matriarchat, Hexen etc. Anne Göpel M. A., Jg. 1985, studierte Soziologie, Psychologie und Medienwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Abschluss M.A. 2009, derzeit tätig im Gesundheitswesen Gabriele Guerra, Dr., Jg. 1968, lehrt Germanistik an der Universität Rom La Sapienza. Studium der Germanistik, Philosophie und Judaistik in Rom und Berlin; Promotion an der FU Berlin im Fachbereich Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Schwerpunkte in den Grenzbereichen zwischen Literaturwissenschaft, Religions- und Kulturgeschichte, insbesondere: Deutschjudentum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Literatur der Konservativen Revolution, Klassische Avantgarden am Schnittpunkt zwischen Ästhetik und Kultur sowie Kulturpolitischer Katholizismus der Weimarer Zeit Anne-Christine Hamel M. A., geb. Weßler, geb. 1985, studierte Geschichte und Germanistik, Staatsexamina für Deutsch und Geschichte, Lehrtätigkeit am Gymnasium, seit Juli 2016 Immanuel-Kant-Stipendiatin des BKM; Dissertationsvorhaben zur Jugendorganisation »DJO–Deutsche Jugend des Ostens« / »djo–Deutsche Jugend in Europa«
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Autorinnen und Autoren
Vanessa Hautmann M. A., Jg. 1990, studierte Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, Abschluss B.A. 2014, beschäftigt sich in ihrer Masterarbeit mit historischer und zeitgenössischer Impfkritik John Khairi-Taraki M. A., geb. 1982, Studium der Europäischen Ethnologie an der Philipps-Universität Marburg, seit Januar 2015 dort wissenschaftlicher Mitarbeiter ; Dissertationsvorhaben zur Körperkonstruktion in der Zeitschrift »Der Vortrupp« Philipp Lehar, Dr. phil., Jg. 1983, Historiker, Veröffentlichungen zur Lehrlingsund Jugendzentrumsbewegung sowie zur Geschichte der Hamburger Taraki Wasserwerke im Nationalsozialismus Ulrich Linse, Prof. Dr., Jg. 1939, 1992–2004 Professor für Neuere Geschichte/ Zeitgeschichte an der Hochschule München, vorher Gymnasiallehrer im Zweiten Bildungsweg; Forschungen und Veröffentlichungen besonders zur Geschichte der »alternativen« sozialen Bewegungen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Felix Linzner M. A., Jg. 1987, Lehrbeauftragter am Institut für Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft der Philipps Universität Marburg. Sein Dissertationsvorhaben befasst sich mit der völkisch rassistischen Elitekonzeption Willibald Hentschels und deren Schnittstellen zur völkischen Jugendbewegung sowie zum Siedlungswesen Christina Niem, PD Dr., geb. 1963, Studium der Volkskunde, Germanistik und Geschichte; 2012 Habilitation an der Universität Mainz, tätig im Fach Kulturanthropologie/ Volkskunde am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Forschungsschwerpunkte: Erzählkulturen und Medialität, Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde, regionale Alltagskulturforschung Uwe Puschner, Prof. Dr., geb. 1954, lehrt neuere und neueste Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und ist Mitglied des Centre d’Etudes Germaniques Interculturelles de Lorraine der Universit8 de Lorraine. Susanne Rappe-Weber, Dr., geb. 1966, Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften, 1993–1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2002 Leiterin des Archivs
Autorinnen und Autoren
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der deutschen Jugendbewegung; Arbeitsschwerpunkte: Historische Jugendforschung, hessische Regional- und Agrargeschichte Sven Reiß M. A., geb. 1980, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Europäische Ethnologie/ Volkskunde der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Dissertationsprojekt zur Päderastie in der deutschen Jugendbewegung Jürgen Reulecke, Prof. Dr., geb. 1940, 1984–2003 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen, danach bis Ende 2008 Professor für Zeitgeschichte und Sprecher des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen an der Universität Gießen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Sozialreform, sozialen Bewegungen und Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der Urbanisierung; Geschichte von Jugend und Jugendbewegungen sowie Generationengeschichte im Kontext einer allgemeinen Erfahrungsgeschichte Frauke Schneemann M. A., geb. 1989, Studium der Germanistik und Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und der Aberystwyth University, wiss. Hilfskraft im Archiv der deutschen Jugendbewegung zur Erschließung des Bestandes »Zentralarchiv der Pfadfinder«; Dissertationsprojekt zur deutschen Pfadfinderbewegung im internationalen Kontext (1945–1980) am Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen David Templin, Dr. phil., Jg. 1983, Historiker, Veröffentlichungen zur Lehrlingsund Jugendzentrumsbewegung sowie zur Geschichte der Hamburger Wasserwerke im Nationalsozialismus Johann Thun, Studium der Germanistik, Philosophie und Kulturanthropologie an den Universitäten von Marburg und Aix-Marseille, Promotion zu Friedrich Hölderlin und Ren8 Char an den Universitäten Lyon II und Leipzig, Veröffentlichungen zur Surrealismus-Rezeption, zu Hölderlin und zur Beziehung von Literatur und Mythologie