Die WissensKünste der Avantgarden: Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930 9783839435649

The art of knowing and the knowledge of art: starting with the theories of perception in the art of the early 20th centu

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German Pages 354 Year 2016

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INHALT
KAPITEL I. EINLEITUNG: DIE WISSENSKÜNSTE DER AVANTGARDEN
1. Das Wissen der Kunst
2. Die Kunst zu wissen
3. WissensKünste
KAPITEL II. DER ABSTRACT TURN ALS MISSING LINK
Exkurs: Die Wortgeschichte im ästhetisch-theoretischen Kontext
1. Abstraktion in der Kunsttheorie und der ästhetischen Praxis
1a. Abstraktion als reine Form
1b. Musik als Abstraktion
1c. Abstraktion zwischen Metaphysik und Technik
2. „Abstraktionsdrang“ und das „Rein-Künstlerische“: Worringers und Kandinskys Promotion der Abstraktion
2a. Wilhelm Worringer
2b. Wassily Kandinsky
2c. Abstraktion, ästhetisch und politisch: Neoplastizismus, Konstruktivismus, Suprematismus
2d. Medienerfahrung als Abstraktion
KAPITEL III. SINNERZEUGUNG DURCH SINNESERFAHRUNG. FÜHLEN, WAHRNEHMEN, DENKEN – AVANTGARDE ALS SUCHBEWEGUNG
1. Avantgarde als Suchbewegung – „Technik der Gefühle“
2. Abstraktion als Institutionenphänomen
3. Avantgarde als Suchbewegung – „Geysire neuer Bildwelten“
KAPITEL IV. UMKEHRUNGEN – KUNST ALS ERKENNTNIS DES ERLEBENS
1. „Kein ‚entweder-oder‘ sondern ‚und‘“ – das ‚Plus‘ oder ‚X‘ und die ‚Große Synthese‘ – Wassily Kandinskys kunsttheoretische Erörterungen
2. „Das ‚Gefühl‘ ist es, welches das ‚Hirn‘ korrigiert“
2a. Farbe im Gedankenexperiment
3. Die Empirie des Subjektiven
4. Intuition gegen Harmonie
KAPITEL V. HORS-TEXTES – QUELLEN DER SICHTBARKEIT JENSEITS DES SICHTBAREN
1. „Die Welt, das sind unsere Empfindungen, sie besteht aus unseren Empfindungen“
Exkurs: Mentale Bilder
2. Die Theorie des additionalen Elements bzw. Ergänzungselements
3. Die Theorie des erweiterten Sehens (SOR-WED)
KAPITEL VI. DENKEN ÜBERDENKEN – GEDANKENPHOTOGRAPHIE ALS GEDANKENEXPERIMENT
1. „sehen – immer sehen – immer mehr sehen“
2. „Manchmal versuchen wir ja auch, der Seele auf dem Umweg über den Körper beizukommen ...“ – Gehirn, Denken und zerebrale Bildtechniken
3. Denken ÜberDenken – das Gedankenexperiment, ikonisch
4. „Die Seele in der Silberschicht“
KAPITEL VII. EXZENTRISCHES SEHEN AVANTGARDE ALS LABORATORIUM DER WAHRNEHMUNG
1. Sehen und Denken: kinetisch
2. Exzentrisches Empfinden
3. „Ohne die Bedeutung des Films war es nicht lebendig, sondern tot“
4. „Passage der Zeit charakterisiert die Erfindung und Kreation der Form“
KAPITEL VIII. EPISTEME DER ZEICHNUNG
1. Nicolas Kaufmann und die Kulturfilmabteilung an der Ufa
2. Mediale Objektivität gegen Subjektivität des Künstlers
3. Ein Film als Darstellung der Medienkonkurrenz – ‚Die Ausbildung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen‘
KAPITEL IX. ABSTRAKTION – THE MISSING LINK
1. Positionsbestimmungen
1a. Abstraktion als Ausdruck von Unmittelbarkeit
1b. Abstraktion als Weltsprache
1c. Clement Greenbergs amerikanische Abstraktion
2. Ausblick
2a. Figuration durch Abstraktion
2b. Worringer Re-read: Gilles Deleuze und Felix Guattari
2c. Abstraktion als ‚Schlüsselphänomen‘
2d. Abstraktion als Epoché
LITERATURVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
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Die WissensKünste der Avantgarden: Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930
 9783839435649

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Sabine Flach Die WissensKünste der Avantgarden

Image | Band 97

Sabine Flach (Prof. Dr. phil.) ist Professorin für moderne und zeitgenössische Kunst an der Karl-Franzens-Universität, Graz, und Leiterin des Instituts für Kunstgeschichte. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Kunst- und Kunsttheorien des 19.-21. Jahrhunderts, Epistemologie und Methodologie der Gegenwartskunst sowie Raum-, Bild-, und Körperkonzepte in Moderne und Gegenwartskunst, als auch Ästhetiken, Aisthesis, Senses und Medien des Embodiment und Konzepte von Natur in der Gegenwartskunst.

Sabine Flach

Die WissensKünste der Avantgarden Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Vizerektorat für Forschung und Nachwuchsförderung der Karl-Franzens-Universität Graz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3564-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3564-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

KAPITEL I E INLEITUNG: DIE WISSENS KÜNSTE DER AVANTGARDEN | 9 1 Das Wissen der Kunst | 9 2 Die Kunst zu wissen | 19 3 WissensKünste | 29

KAPITEL II DER ABSTRACT TURN ALS MISSING LINK | 39 Exkurs: Die Wortgeschichte im ästhetisch-theoretischen Kontext | 44 1 Abstraktion in der Kunsttheorie und der ästhetischen Praxis | 48

1a Abstraktion als reine Form | 50 1b Musik als Abstraktion | 56 1c Abstraktion zwischen Metaphysik und Technik | 58 2 „Abstraktionsdrang“ und das „Rein-Künstlerische“: Worringers und Kandinskys Promotion der Abstraktion | 60

2a Wilhelm Worringer | 60 2b Wassily Kandinsky | 69 2c Abstraktion, ästhetisch und politisch: Neoplastizismus, Konstruktivismus, Suprematismus | 77 2d Medienerfahrung als Abstraktion | 83

KAPITEL III S INNERZEUGUNG DURCH S INNESERFAHRUNG. FÜHLEN, W AHRNEHMEN , DENKEN – AVANTGARDE ALS S UCHBEWEGUNG | 89 1 Avantgarde als Suchbewegung – „Technik der Gefühle“ | 89

2 Abstraktion als Institutionenphänomen | 95 3 Avantgarde als Suchbewegung – „Geysire neuer Bildwelten“ | 99

KAPITEL IV UMKEHRUNGEN – KUNST ALS E RKENNTNIS DES ERLEBENS | 105 1 „Kein ‚entweder-oder‘ sondern ‚und‘“ – das ‚Plus‘ oder ‚X‘ und die ‚Große Synthese‘ – Wassily Kandinskys kunsttheoretische Erörterungen | 106 2 „Das ‚Gefühl‘ ist es, welches das ‚Hirn‘ korrigiert“ | 119

2a Farbe im Gedankenexperiment | 120 3 Die Empirie des Subjektiven | 128 4 Intuition gegen Harmonie | 133

KAPITEL V HORS -TEXTES – QUELLEN DER SICHTBARKEIT JENSEITS DES SICHTBAREN | 141 1 „Die Welt, das sind unsere Empfindungen, sie besteht aus unseren Empfindungen“ | 141 Exkurs: Mentale Bilder | 147 2 Die Theorie des additionalen Elements bzw. Ergänzungselements | 154 3 Die Theorie des erweiterten Sehens (SOR-WED) | 161

KAPITEL VI DENKEN ÜBER DENKEN – G EDANKENPHOTOGRAPHIE G EDANKENEXPERIMENT | 183 1 „sehen – immer sehen – immer mehr sehen“ | 184

ALS

2 „Manchmal versuchen wir ja auch, der Seele auf dem Umweg über den Körper beizukommen ...“ – Gehirn, Denken und zerebrale Bildtechniken | 184 3 Denken ÜberDenken – das Gedankenexperiment, ikonisch | 189 4 „Die Seele in der Silberschicht“ | 193

KAPITEL VII E XZENTRISCHES S EHEN – AVANTGARDE ALS LABORATORIUM DER WAHRNEHMUNG | 211 1 Sehen und Denken: kinetisch | 212 2 Exzentrisches Empfinden | 220 3 „Ohne die Bedeutung des Films war es nicht lebendig, sondern tot“ | 224 4 „Passage der Zeit charakterisiert die Erfindung und Kreation der Form“ | 227

KAPITEL VIII E PISTEME DER ZEICHNUNG | 241 1 Nicolas Kaufmann und die Kulturfilmabteilung an der Ufa | 247 2 Mediale Objektivität gegen Subjektivität des Künstlers | 249 3 Ein Film als Darstellung der Medienkonkurrenz – ‚Die Ausbildung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen‘ | 256

KAPITEL IX ABSTRAKTION – T HE MISSING LINK | 267 1 Positionsbestimmungen | 269

1a Abstraktion als Ausdruck von Unmittelbarkeit | 269 1b Abstraktion als Weltsprache | 271 1c Clement Greenbergs amerikanische Abstraktion | 277

2 Ausblick | 285

2a Figuration durch Abstraktion | 285 2b Worringer Re-read: Gilles Deleuze und Felix Guattari | 288 2c Abstraktion als ‚Schlüsselphänomen‘ | 291 2d Abstraktion als Epoché | 293

LITERATURVERZEICHNIS | 301 ABBILDUNGSVERZEICHNIS | 345

Kapitel I Einleitung: Die WissensKünste der Avantgarden „Daher ist es nur natürlich, daß zwei einander so nahestehende Gebiete des intellektuellen Schaffens, wie Wissenschaft und Kunst, danach streben, sich einander anzunähern und zu durchdringen.“1 N. E. USPENSKIJ „Können wir mit unserem Denken das Wesen des Denkens erfassen?“2 OSWALD KÜLPE

1 D AS W ISSEN DER K UNST „Leonardo-Effekte“ kennzeichnete der Schriftsteller und Philosoph Paul Valéry zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine Situation, die sich durch Interdependenzen zwischen der Kunst und den Wissenschaften, genauer: den Wahrnehmungsund Lebenswissenschaften auszeichnete. 1

Uspenskij, N. E.: Die Rolle der positiven Wissenschaften für die Erforschung der allgemeinen Wege des künstlerischen Schaffens, Referat gehalten am 04. August 1921. Hier zitiert nach: Eggenschwyler, Luzius: Der wissenschaftliche Prophet. Untersuchungen zu Kandinskys Kunsttheorie unter besonderer Berücksichtigung seiner zweiten theoretischen Hauptschrift ‚Punkt und Linie zu Fläche‘, Lizentiatsarbeit, Zürich 1991.

2

Külpe, Oswald: Der gegenwärtige Stand der experimentellen Ästhetik, in: Berichte über den II. Kongreß für experimentelle Psychologie in Würzburg (1906), Jena 1907, S. 157.

10 | DIE W ISSENSK ÜNSTE DER A VANTGARDEN

Leonardo da Vinci ist dabei Valérys emblematische Figur, anhand der er das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft erläutert: in ihr trifft sich das Wissen des Künstlers mit der Kunst des Wissenschaftlers. Das Konzept der Leonardo-Effekte von Paul Valéry bildet den Auftakt einer Herangehensweise, die fortan den Paragone – also den Wettstreit von Kunst und Wissenschaft – bestimmen wird. Es ging dabei um nichts weniger, als festzulegen, welcher Bereich, also die Kunst oder die Wissenschaft, bedeutungstragende Aussagen darüber zu leisten imstande ist, was man weiß, wie Wissen sich etabliert und durch was Wissen organisiert, strukturiert und sichtbar gemacht wird. In den Debatten um dieses Primat bekräftigt Valéry erneut, dass Kunst als ein Erkenntnismedium aufgefasst werden müsse, denn, so Paul Valéry, die Differenz zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft bestehe „in Wahrheit nur in der andersartigen Verfügung über eine gemeinsame geistige Habe.“3 Diese Beschreibung einer Situation durch Valéry, in der die Künste ein Selbstverständnis entwickeln, das sie als eigenständige Forschung etabliert, ist für diese Untersuchung die leitende These, sie wird gleichzeitig als das stigmatische Charakteristikum für die Kunst der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts geführt, – also der Zeitgenossenschaft Valérys – und entwickelt sich – so die weitere Überlegung – fort durch das gesamte 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Als Desiderat einer Erforschung des Verhältnisses von Kunst, künstlerischer Theorie und Praxis und den Wahrnehmungs- bzw. Lebenswissenschaften zeigt sich eine Fragestellung, die für die Untersuchung leitend ist: Können künstlerische Praktiken als spezifische Erkenntnisweise und als Beitrag zur und Intervention in einen wissenschaftlichen Diskurs verstanden werden? Beantwortet man diese Frage mit ‚Ja‘, so stellen sich Folgefragen jener Art, die zunächst ausschließlich künstlerisches Wissen fokussieren, um in den gegenwärtig wissenschaftlich durchaus virulenten Debatten über das Verhältnis von Künsten und Wissenschaften zunächst einmal ein doch markantes Desiderat zu markieren: das nach dem künstlerischen Wissen und den künstlerischen Epistemen selbst. Denn in allen Verhandlungen über Kunst und Wissenschaft bleibt eine Frage seltsam unterbelichtet und das ist jene danach, wie sich künstlerisches Wissen beobachten, beschreiben und analysieren lässt. Künstlerisches Wissen wird allzu oft auf die reine Produktionsseite geschlagen und es werden dann die Praktiken und

3

Valéry, Paul: Wissenschaftler und Wissenschaft, in: P. Valéry. Werke, hg. v. J. Schmidt-Radefeldt, Bd. IV (Frankfurter Ausgabe), S. 257. Leonardo-Effekte war der Titel eines Forschungsprojektes am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin unter der Leitung von Dr. sc. Karlheinz Barck.

E INLEITUNG | 11

Instrumente der Kunst untersucht. Eine solche Position entlehnt ihre Interpretationen dann aber allzu oft den Wissenschaften selbst oder schärfer noch: der Wissenschaftsgeschichte, die genau mit jenem ‚practical turn‘ 4 zunächst aber doch ihre eigenen Gegenstände einer breiteren, weil kulturwissenschaftlichen oder gar der Wissenschaftstheorie der Wissenschaften verpflichteten Analyse zugänglich machen wollte, um der engen Kanonisierung der Historisierung zu entgehen. Oder aber, künstlerisches Wissen wird generell als ein solches Wissen adressiert, das zu speziellen Fragestellungen – wie etwa jener nach der Wahrnehmung – immer schon dem wissenschaftlichen Wissen folgt, und damit also auf eine assistierende Funktion verwiesen wird. Zudem findet sich das künstlerische Wissen häufig in solchen Studien verortet, in denen es in einem Konzert mit anderen Disziplinen einen Gegenstand in den Blick nehmen soll, der sich nur transdisziplinär erörtern lasse; wobei hier die Frage zu stellen wäre, welcher Gegenstand sich denn überhaupt der transdisziplinären Erörterung generell entziehen könnte. Kurzum: das künstlerische Wissen wird dem der Wissenschaften häufig genug untergeordnet oder aber, es wird als ein Sachverhalt vorausgesetzt, der gegeben und bekannt ist und in der Selbstverständlichkeit des Vorhandenseins keiner weiteren Analyse bedarf.5 Selten nur ist künstlerisches Wissen bislang selbst Gegenstand der Analysen. Mit dieser Untersuchung soll nun ein Beitrag geleistet werden dazu, künstlerische Episteme selbst sichtbar zu machen. Dann stellen sich jedoch allererst Fragen wie etwa: um welche Denkbewegungen, künstlerischen Theorien und Handlungen handelt es sich dabei? Dieser Frage – durch die diese Untersuchung geleitet wird – liegt die Beobachtung zugrunde, dass eines der Kennzeichen der Moderne eine veränderte SelbstDefinition der Kunst ist. Es geht in den künstlerischen Konzepten mit den Avantgarden weniger um die permanente Entwicklung von Neuem, in welchem sich Stile und Darstellungskonventionen beständig ablösen. Mit den Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann von einer Weiterführung der traditionellen Kunstbegriffe nicht mehr gesprochen werden. Es lässt sich zeigen, dass für

4

Siehe dazu: Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetri-

5

Selbstverständlich finden sich ebenso nach wie vor Positionen, die der Kunst jegliche

schen Anthropologie, Berlin 1995. Episteme absprechen und in ihr ein bloß Ästhetisch-Schönes sehen.

12 | DIE W ISSENSK ÜNSTE DER A VANTGARDEN

die Kunst der Moderne der Bezug zu einer Kanonisierung nicht gelten kann, die ja implizieren würde, von einer Metaebene aus das Kunstwerk zu bewerten. Indem der Künstler der Avantgarden – so die Ausgangsüberlegung – diese Metaebene selbst eingenommen hat, ist die künstlerische Praxis nicht mehr der Nachvollzug einer Vorlage, sondern das Kunstwerk ist selbst ein Ort des Erkenntnisgewinns, indem es – als autonomer, unabhängiger, kopräsenter Diskurs – gleichzeitig mit oder, in der radikalen Umkehrung, vor einer wissenschaftlichen Theorie entsteht. Für diese Forschungsstudie wird also eine grundlegend andere Position eingenommen, als sie für viele Forschungen nach wie vor gültig ist. Nämlich die Voranstellung der wissenschaftlichen Forschung und Erkenntnis vor der künstlerischen.6 Mit dem ‚practical turn‘ als theoretischem Zugriff argumentieren die entsprechenden Studien aus der Position einer kulturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftsgeschichte heraus; für die Wissenschaften selbst, aber auch für alle von ihnen gewählten künstlerischen Projekte, die analysiert werden. Ungeachtet der Frage, die hier vernachlässigt werden soll, ob es sich dann bei den von den Autoren gewählten Beispielen tatsächlich um künstlerische Projekte handelt oder nicht vielmehr um wissenschaftliche Analysen, die sich den Künsten bedienen – wovon die Autorin der hier vorliegenden Studie ausgeht; unter dieser Perspektive verändert sich aber das Material markant – scheint eines unzweifelhaft: der Blick auf Kunst aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive dient letztlich nur der Wissenschaftsgeschichte selbst. Schreibt etwa der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger: „Der Umgang mit wissenschaftserzeugten Repräsentationen und den sie bestimmenden Formen der Darstellung, Übersetzung und Vermittlung ist auf Vergleich angewiesen: auf Vergleich mit anderen Formen der Produktion von Spuren und Ausdrucksformen, in der Kunst, der Literatur, dem Druck, der Architektur, der Musik, den Medien“7, so klingt dies zunächst nach einem paritätischen Verhältnis, ist es aber nicht. Denn der von Rheinberger geforderte Vergleich impliziert ja gerade nicht, die Künste aus ihren Abhängigkeitsverhältnissen zu emanzipieren und zuerst einmal ihre Episteme in den Blick zu nehmen, sondern es geht

6

Siehe für einen solchen Ansatz etwa: Vöhringer, Margarete: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007.

7

Rheinberger, Hans-Jörg: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, in: Rheinberger, Hans-Jörg/Wahrig-Schmidt, Bettina/Hagner, Michael (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 7-21, hier S. 10.

E INLEITUNG | 13

vielmehr darum, durch diesen Vergleich die Rolle der Künste für die Wissenschaften zu eruieren. Diese Haltung ist für einen Wissenschaftshistoriker mehr als legitim, sie dient aber der Legitimierung einer Disziplin – nämlich der Wissenschaftsgeschichte der Wissenschaften – als Metadisziplin. Denn ästhetische oder phänomenologische Fragestellungen werden aus einer solchen Perspektive immer schon ausgeblendet, es geht immer schon um institutionelle Verankerungen, Praktiken und Instrumente – das ist aber – im Sinne Rheinbergers, wie auch Bruno Latours oder Michael Hagners immer schon Wissenschaftspolitik, die die Wissenschaften selbst (also die Biologie, die Hirnforschung etc.) stützt. Das heißt also, man sollte doch eher fragen: Was bedeutet diese Frage nach der Notwendigkeit des Vergleichs, wenn sich auf der anderen Seite zudem eindeutig zeigen lässt, dass die Kunst im Umgang mit ähnlichen Materialien, Medien und Techniken wie die Wissenschaften andere, ganz eigene Arbeiten, Konstruktionen, Installationen und Performances erzeugt? Warum sollte sich der epistemische Status eines künstlerisch-experimentellen Verfahrens überhaupt einem Vergleich mit wissenschaftlicher Forschung unterziehen, warum wird von den Künsten ein Überschuss im Sinne eines epistemischen Surplus im Vergleich mit der wissenschaftlichen Forschung erwartet? Wäre es nicht vielmehr angemessener davon auszugehen, dass die Künste an gleichen Problemstellungen arbeiten, aber eben nur mit anderen Mitteln und dass es also vielmehr darum ginge, die eigene Frageperspektive zu verändern, um das Wissen der Künste zu erkennen? Oft genug geht eine Vergleichsperspektive mit einer Prädisponierung der ‚Praktiken‘ in Kunst und Wissenschaft einher. Aus dieser kulturwissenschaftlich inspirierten Wissenschaftsgeschichte heraus sind diese Praktiken dann zudem auch häufig noch ‚experimentelle‘. Der Begriff des ‚Experimentellen‘ lässt sich – möglicherweise – aber gerade noch für die Wissenschaften markieren – da Apparatebaubauten und Messverfahren bestimmte Parameter vorgeben –, aber auch hier bleibt er seltsam unklar. Für die Künste hingegen ist er keinesfalls geklärt, von Künstlern verwendet, variiert der Begriff – und damit auch die dahinter stehenden Verfahren – geradezu maximal. Verwendet man ihn für die Künste, folgt man also auch hier der unterstellten Voranstellung der Wissenschaften. Es gälte also eher für die Künste einen Begriff der Praktiken anzuwenden, wie ihn Foucault etablierte, der diesen eben gerade nicht an Instrumenten und Objekten festmacht, oder aber es gälte, die – ja vorhandene – Wissenschaftsgeschichte der Kunstwissenschaft und Kunst selbst in den Blick zu nehmen, um die Künste in ihrer Autonomie zu belassen. Dazu wird sich als Methode und Suchbewegung der Archäologie bedient, wie sie Foucault in der Archäologie des Wissens

14 | DIE W ISSENSK ÜNSTE DER A VANTGARDEN

als Verfahren beschreibt, das jedoch für dieses Projekt um Bilder zu erweitern wäre.8 Verweist Horst Bredekamp zurecht kritisch darauf, dass „seine [Foucaults] Analyse [...] von der Kritik jener interpretativen Sprache [lebt], in der alle Ereignisse und Dinge zur Fiktion werden. Ihre Schwäche liegt darin, daß sie das visuelle Erlebnis als Vorstufe zur sprachlichen Fassung und nicht etwa als ein Medium begreift, in das die Sprache historisch und anthropologisch eingebettet ist. Wenn Foucault Sammlungen als ‚Buch der Strukturen‘ deutet, liest er das visuelle nach Maßgabe der Grammatik“ 9,

so lässt sich in Foucaults Archäologie des Wissens dennoch zeigen, dass bildende Kunst für ihn eine Archäologie des Wissens ist, die er zwar nicht untersucht hat, deren Erarbeitung er jedoch einfordert, wenn er schreibt: „Es würde sich nicht darum handeln, zu zeigen, daß die Malerei eine bestimmte Weise des Bezeichnens oder des ‚Sagens‘ ist, woran das Besondere wäre, daß sie auf Worte verzichtete. Man müßte zeigen, daß sie wenigstens in einer ihrer Dimensionen eine diskursive Praxis ist, die in Techniken und Auswirkungen Gestalt annimmt.“10

Indem Archäologie für Foucault eben gerade keine Disziplinen beschreibt, kann man seine Charakterisierung der Archäologie als Methode gerade für den Zusammenhang produktiv nutzen. Denn wenn Archäologie der Achse „diskursive Praxis – Wissen – Wissenschaft“ folgt und somit den „Gleichgewichtspunkt ihrer Analyse im Wissen“11 findet, dann lässt sich dieses Verhältnis auch für den Rahmen künstlerischer Wissenspraktiken fruchtbar machen; der Gleichgewichtspunkt der Analyse läge dann im Wissen der Künste. Für eine Auseinandersetzung mit den künstlerischen Positionen der Moderne sind Foucaults Untersuchungen ebenso im Hinblick auf seine 1970 gehaltene Vorlesung ‚Die Ordnung der Dinge‘ und die damit in engem Zusammenhang stehende Frage des Diskurses interessant. Definiert sich die Kunst der Moderne auch als ihre eigene Theorie, bzw. als eigenstän-

8

Dies vermerkt Foucault generell für eine Archäologie des Wissens, vgl. dazu: Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, besonders das Kapitel ‚Wissenschaft und Wissen‘, S. 253 ff., besonders S. 276.

9

Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 2000 (1993), S. 99.

10 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 276. 11 Ebd., S. 260.

E INLEITUNG | 15

dige Form der Wissenschaft, so verändern sich damit tradierte Artikulationsformen, die u. a. für die Kunst die künstlerische Intention in dem Mittelpunkt stellen. Foucault nun hat in seiner Vorlesung die Konsequenzen veränderter Artikulationsformen skizziert: „müssen demnach der Analyse als regulative Prinzipien dienen: die Begriffe des Ereignisses, der Serie, der Regelhaftigkeit, der Möglichkeitsbedingung. Jeder dieser Begriffe setzt sich jeweils einem anderen genau entgegen: Das Ereignis (événement) der Schöpfung (création), die Serie (série) der Einheit (unité), die Regelhaftigkeit (régularité) der Ursprünglichkeit (orginalité), die Möglichkeitsbedingung (condition de possibilité) der Bedeutung (signification). Diese vier anderen Begriffe haben die traditionelle Geschichte der Ideen weitgehend beherrscht, in der man übereinstimmend den Augenblick der Schöpfung, die Einheit eines Werks, einer Epoche oder eines Gedankens, das Siegel einer individuellen Originalität und den unendlichen Schatz verborgener Bedeutungen suchte.“12

Nach Foucault sollen diese vier Begriffe für die Analyse von Werken, Texten und Artikulationen als Form des Regulativs dienen. Untersucht man jedoch die ästhetischen Phänomene der Kunst der Moderne, so lässt sich feststellen, dass diese Phänomene in der künstlerischen Arbeit bereits ihre Äquivalente gefunden haben; die Performance etwa oder mit Aktionen verbundene Videoarbeiten zeichnen sich durch das Phänomen des Ereignisses aus, Regelhaftigkeit ist ein Kennzeichen des Konzeptualismus so wie Serialität ein Kennzeichen der Minimal-Kunst ist. Die Möglichkeitsbedingung ist ein Kennzeichen all jener Strukturen, die sich ihrem Wesen nach durch ein begrenzt offenes Verhältnis auszeichnen. In diesem Falle entwickeln diese künstlerischen Arbeiten gleichzeitig ihren eigenen Diskurs. Damit intensivieren sie die Bedeutung der künstlerischen Intention, die für die Kunst der Moderne paradigmatisch ist. Deutlich wird, dass diese Texte dem künstlerischen Werk nicht mehr vorausgehen und die Interpretation künstlerische Arbeiten nicht mehr als Reaktion darauf verstehen kann. Der Künstler wird vielmehr selbst – im Sinne Foucaults – zu einem ‚Diskursproduzenten‘. Im Mittelpunkt dieser Forschungsarbeit steht also die Kunst selbst und die künstlerische Theorie, sowie die dieser zugrunde liegenden Arbeitsweisen, Verfahren, Methodendiskussionen und Denkweisen: das heißt also, Ziel dieser Arbeit ist es, einen Beitrag zur Epistemologie der Kunst selbst zu leisten. Untersucht wird also

12 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 35, die französischen Begriffe auf den Seiten 78-79.

16 | DIE W ISSENSK ÜNSTE DER A VANTGARDEN

das spezifisch künstlerische Wissen im System von Wahrnehmungs- und Lebenswissenschaft, künstlerischer Produktion und Medientechnologie, um zu zeigen, welchen entscheidenden Anteil künstlerisches Wissen an der Ausbildung dieser Recherche um die Wahrnehmung hatte.13 Wichtig für die Studie ist somit auch jene neue Art der Autorschaftsproblematik – hier verstanden als Künstlertypus –, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausbildete, und zwar in Gestalt jener Autortypen, die Foucault als „Diskursivitätsbegründer“ („fondateurs de discursivité“) bezeichnet hat. Weder mit „literarischen oder künstlerischen Autoren“ noch mit „Begründern von Wissenschaften“ identisch, durchkreuzen sie vielmehr beide Kategorien – so wie sie selbst auf beiden Gebieten zu finden sind.14 Im Rahmen dieser Untersuchung stellt sich also die Frage nach dem spezifischen Wissen der Kunst und über Kunst, das innerhalb eines Systems, in dem unterschiedliche Erkenntnisweisen aufeinandertreffen, also nicht unberücksichtigt bleiben kann.15 D. h. gewählt werden konkrete Schauplätze, das sind historische Konstellationen der Zirkulation oder Wechselbeziehungen zwischen Kunst und ihrer Theorie, die im Anschluss – möglicherweise – in die Wissenschaften wandern;

13 Ganz bewusst wird daher in dieser Untersuchung darauf verzichtet, das Zusammenspiel mit den zeitgenössischen Wahrnehmungswissenschaften zu klären oder ihre lebenswissenschaftlichen oder philosophischen Vorbedingungen zu erläutern. Diese Fragestellungen wurden in den letzten Jahren in der Forschungsliteratur hinlänglich geklärt und wären also folglich nur schlichte Rekapitulation. Vgl. beispielhaft aus der Fülle der Literatur die profunde Studie von: Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005. Auch die ästhetiktheoretischen Ansätze werden hier – aus gleichen Gründen – nicht weiter verfolgt, da etwa Fechners ‚Ästhetik von unten‘ wie viele andere Ansätze genügend analysiert sind. Vgl. hierzu bspw.: Gutmüller, Marie/Klein, Wolfgang (Hg.): Ästhetik von unten. Empirie und ästhetisches Wissen, Tübingen 2006. Wesentlich ist jedoch, dass diese Herangehensweise dezidiert nicht Gegenstand dieser Studie ist. 14 Freud ist nur das bekannteste Beispiel, mit dem Foucault argumentiert hat. 15 Es kann jedoch nicht darum gehen, nachträglich Brücken zwischen Kunst und Wissenschaft zu konstruieren. Die Studie untersucht vielmehr, wie unter dem Prozess der Spezialisierung Wissenstransfers möglich und notwendig wurden. Es geht also nicht um die Nacherzählung offensichtlicher Verwandtschaften, sondern um eine archäologische Rekonstruktion jener Spuren, die eine Transdisziplinarität überhaupt erst möglich machten.

E INLEITUNG | 17

was aber nicht notwendig der Fall sein muss, denn verbleibt man im künstlerischen Wissen selbst, entpflichtet man dieses von einer Bringschuld gegenüber den Wissenschaften. Gegenstand der Untersuchung sind dann exemplarische Fälle wie etwa die „Theorie des additionalen Elements“ von Kasimir Malewitsch oder die „Theorie des SOR-WED“ von Michail Matjuschin. Gegenstand der Untersuchung sind somit auch Künstlerschriften, die für die Frage nach dem Wissen der Kunst mit der gleichen Seriosität und Dignität verhandelt werden, wie jede andere schriftliche Quelle. Vielmehr noch: Künstlerschriften werden für den hier zu erörternden Zusammenhang als eine Kunsttheorie ganz eigener Valenz erachtet, die eben genau durch die beständige Rückkoppelung an das Kunstwerk selbst das Wissen der Kunst überhaupt erst evozieren kann. Damit sollen Künstlerschriften gleichermaßen aus einem wissenschaftlichen Argument herausgelöst werden, das ihnen die Wissenschaftlichkeit – qua Schrift eines Künstlers – per se versagt oder aber – in der Anerkennung der Künstlerschrift als Theorie – die künstlerische Praxis selbst abqualifiziert.16 Es geht zudem in dieser Untersuchung auch nicht darum, zu erforschen welche Fähigkeiten und Talente eine Person zum Künstler qualifizieren und wie künstlerische Qualifikation nachgewiesen werden kann,17 sondern zunächst um folgende Problemfelder: • Wie generiert und etabliert sich künstlerische Erkenntnis? • Was wäre das spezifische Wissen der Künste? • Welche Theorien werden von Künstlern entwickelt, um ihr spezifisches Wissen

zu wahrnehmungswissenschaftlichen Problemen zu extrapolieren? • Im Zusammenhang damit: Welche Theorien, Methoden und Verfahren werden

vom Künstler für seine Tätigkeit gewählt und welchen Einfluss haben diese auf die generierte Erkenntnis? • Stellen die künstlerischen Arbeiten zu Themen und Fragen aus den Wissenschaften einen Beitrag dar, der aufgrund der spezifischen Betrachtungs- und Erkenntnisweise der Künstler als Intervention bewertet werden kann?

16 Vgl. zur Abwehr der Künstlerschrift als Kunsttheorie am Beispiel Kandinskys: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 51 f. 17 Vgl. dazu: Holert, Tom: Künstlerwissen. Studien zur Semantik künstlerischer Kompetenz im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, München 1998. Holert geht in seiner Studie jedoch dezidiert der Frage der Geniebildung nach.

18 | DIE W ISSENSK ÜNSTE DER A VANTGARDEN

• Welcher epistemische Status kommt einem künstlerischen Verfahren und einer

künstlerischen Theorie zu? • Was wären die Eigenheiten des szientifischen Wissens, die sich – sei es abgren-

zend oder analogisierend – auf die Künste beziehen? • Auf welche Weise greifen Kunst und Wissenschaft mit und durch die Etablie-

rung der medientechnischen Verfahren ineinander? • Welcher Zusammenhang besteht zwischen Sehen, Zeigen und Wissen in den

Künsten? Im Zusammenhang damit: Wie etablieren sich durch die Arbeitsweise des Künstlers und am Künstler neue Ordnungssysteme des Sichtbaren? • Was wäre also unter diesen Bedingungen eine Epistemologie des visuellen Denkens und Wahrnehmens aus der Perspektive der Künste? Im Einzelnen resultieren daraus Fragen wie bspw.: • Was meint bspw. Kandinsky, wenn er für die künstlerische Tätigkeit die Ein-

führung experimenteller Labormethoden fordert? • Zu welchen Veränderungen im klassischen Künstlerbild führen Forderungen

wie diese und wie wirken sie wiederum zurück auf diesen neuen Künstlertypus der Avantgarde? Auch das Medium Film dient der Erörterung von Fragestellungen, die für Wissenschaftler und Künstler von Interesse sind. Im Hinblick auf Untersuchungen zur Wahrnehmungsphysiologie sind die Filmversuche von Viking Eggeling, Léopold Survage und Hans Richter explizit.18 Vielmehr noch: Welche Durchkreuzungen von künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit ergeben sich durch solche Forderungen? Wie arbeitete der Künstler selbst an diesem Diskurs mit, welche Diagnosen ergeben sich durch einen künstlerischen Einfluss auf wissenschaftliche Ergebnisse? Wie wirken die unterschiedlichen Schauplätze auf dieses jeweilige Wissen ein?

18 Der Filmer Wsewolod Pudowkin versuchte in seinem Film Die Mechanik des Gehirns von 1925, die Reflexlehre von Pawlow zu popularisieren und die Vorgänge der zerebralen Mechanik zu ergründen, indem er sie filmisch repräsentierte. Um dies zu erreichen, verwendete er spezielle Montagetechniken und den Wechsel zwischen der Totalen und des Details, gemäß der Grundannahme der Psychologie, dass der Wechsel der Perspektiven Aufmerksamkeit erzielt und somit Konstanz der Aufmerksamkeit nur in der Bewegung möglich sei. Ziel von Pudowkin war eine Aufhebung der Trennung von Labor und ‚Lebenswelt‘, da für ihn beide Sphären ineinander ragen.

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2 D IE K UNST

ZU WISSEN

Der Zusammenhang und das Verhältnis von ästhetischer Praxis und Wissenschaft, bzw. ihrer Theoriebildung19 bilden ein zentrales Thema kunsttheoretischer Schriften und Abhandlungen seit der Antike. Ambivalent ist dabei die Einschätzung dieses Verhältnisses: Wird auf der einen Seite die Eigenständigkeit und Inkommensurabilität ästhetischer Praxis vertreten, da ansonsten das Kunstwerk zu einem Instrument für politische, soziale o. ä. Überzeugungen und Ideen degeneriert, wird auf der anderen Seite die enge Verbindung bis hin zur Auflösung der Wissenschaft in Kunst gefordert. Beispielhaft seien dazu in gebotener Kürze folgende exemplarischen Charakter einnehmende Positionen skizziert: Verliert ein Kunstwerk, das sich aus der ihm angestammten ästhetischen Sphäre herausbewegt, nach Lessing den Anspruch, ein Kunstwerk zu sein, denn es „verdient diesen Namen nicht, weil die Kunst hier nicht um ihrer selbst willen arbeitet, sondern ein bloßes Hilfsmittel ist“ 20, so plädiert ein Autor wie Johann Wolfgang von Goethe für eine Überwindung der Divergenz im Rahmen einer historischen Interpretation des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft. Wenn die Kunst „auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis“ aufbaut sowie auf „exakte sinnliche Phantasie“, „ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar sei“, dann korrespondiert Kunst mit der unhintergehbaren Kunstförmigkeit von Wissenschaft, so dass „wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten“ man „keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen dürfe“21. Goethes Kritik impliziert hier bereits einen Ausdifferenzierungsprozess, der um 1800 in dieser Schärfe nicht gegeben war und

19 Eng in Verbindung mit dieser Diskussion steht die Frage nach der Einheit der Künste (vgl. dazu bspw.: Mainbusch, Herbert: Die Vielfalt der Künste und die Einheit der Wissenschaft, in: Mainbusch, Herbert/Toellner, Richard (Hg.): Einheit der Wissenschaft. Wider die Trennung von Natur und Geist, Kunst und Wissenschaft, Opladen 1993, S. 69-81.) bzw. die Prozesse ihrer Ausdifferenzierung auf der einen Seite und der Grenzüberschreitung auf der anderen Seite innerhalb der Modernediskussion für das 20. Jahrhundert. 20 Rilla, Paul (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Gesammelte Werke, Bd. V, Berlin 1955, S. 84. 21 Die Zitatausschnitte in folgender Reihenfolge: Goethe, Johann Wolfgang von: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (1789), in: HA XII, S. 32; Stiedenroth, Ernst: Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen (1824), in: HA XIII, S. 42; Goethe,

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somit als ein Plädoyer zur Überwindung der Trennung ‚avant la lettre‘ verstanden werden kann.22 Diese Verhältnisbestimmung wird bei Schelling weiter intensiviert, hin zum radikalen Programm der deutschen Frühromantik, das die Auflösung der Wissenschaften in der (poetischen) Kunst forderte. 23 Auch Hegel verfolgte im dritten Band seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 ebenso absolute Synthetisierungen; die Totalität des ‚absoluten Geistes‘ erschient in drei Bereichen: Religion, Kunst und Philosophie. Die Auflösung der Wissenschaft in Kunst wird hier als Aufhebung der mit der Religion verbundenen Kunst in Philosophie als die höchste Form der Wissenschaft verstanden.24 Alexander und Wilhelm von Humboldt verkörpern geradezu das idealistisch geprägte Programm einer Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft wird auch von kunsttheoretischer Seite eindeutig als nicht voneinander zu Trennendes bestimmt. So definiert Sir Joshua Reynolds, der Präsident der Royal Academy of Arts, Kunst weder als göttliche Gabe noch als ein mechanisch auszuführendes Gewerbe, im Gegenteil: „Its

Johann Wolfgang von: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre (1810), in: HA XIV, S. 41. 22 Plädiert Johann Wolfgang von Goethe auf der einen Seite für ein Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft, das durchaus in seinen eigener Arbeit Begründung findet, so entschieden lehnt er jedoch die Vermischung der Künste auf der anderen Seite ab. Die Vermischung der Kunstarten stellt daher für Goethe dann auch das Kennzeichen des Verfalls der Kunst. Klare Grenzen der Kunstgattungen gegeneinander zu ziehen, ist demnach ein Ziel künstlerischer Tätigkeit. Der Künstler hat somit „die Pflicht, das Verdienst, die Würde des echten Künstlers, daß er das Kunstfach, in welchem er arbeitet, von andren abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf sich selbst zu stellen und sie aufs möglichste zu isolieren wisse.“ (zitiert nach: Goethe, Johann Wolfgang von: Propyläen. Einleitung, in: Seidel, Siegfried (Hg.): Goethe. Berliner Ausgabe, Bd. XIX, S. 186.) Diese Thematisierung der Frage nach der ‚Einheit der Künste‘ wird zu einer der Leitfragen der Moderne, siehe dazu die folgenden Ausführungen. Für Goethe sollte diese Differenzierung einer Hierarchisierung der Künste entgegenarbeiten. 23 Vgl. Schelling, K. F. A. (Hg.), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. III, Stuttgart 1858, bes. d. S. 329-634. Zum Austausch zwischen Goethe und Schelling: Adler, Jeremy: Schellings Philosophie und Goethes weltanschauliche Lyrik, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 112, 1995, S. 149-165; sowie: Paetzold, Heinz: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden 1983, bes. S. 127 f. 24 Vgl. dazu: Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke, Frankfurt am Main 1986.

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foundations are laid in solid science.“25 Wie diese kurze Skizze der historischen kunsttheoretischen – für die Fragestellung der vorliegenden Studie relevanten – Beispiele zeigt, formuliert sich also ein Dialog zwischen ästhetischer Praxis und Wissenschaft bzw. Theorie,26 in dem die ‚Grenzen‘ noch offen waren und somit auch die Beziehungen entsprechend intensiv. 27 Dem skizzierten progressiven Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft steht spätestens mit der ‚Querelle des anciens et des modernes‘ ein restriktives gegenüber: die Trennung der Künste und Wissenschaften. Ist es geradezu ein common sense, dass die neuzeitlichen Wissenschaften bedeutende neue Erkenntnisse errungen haben, ist es gleichzeitig die gängige Meinung, dass dies für die Künste nicht der Fall ist. „Der erste, der die gegensätzliche Entwicklungsrichtung von Dichtung und Wissenschaft eindeutig herausstellte, war Fontenelles Schützling Marivaux [...]. Für die Entwicklung der Künste ist seiner Meinung nach der wachsende Reichtum der Ideen im Verlauf der Geschichte geradezu ein Hindernis ihrer Entwicklung. Die große Kunst verlangt das strengere Klima und die größere Einfalt der frühgeschichtlichen Menschheit.“28

Grundlegende Unterschiede werden in der Folge zwischen wissenschaftlichen und ästhetischen Wissenstypen gemacht. Unter wissenschaftlichem, bzw. technischem Wissen wird eine Form der stetigen Akkumulation verstanden, die im Verhältnis zur jeweils früheren Zeit stetig anwächst. Künstlerische Begabung – das Genie –

25 Reynolds, Joshua: Discourse VII. 10. Dezember 1776, in: Discourses on Art, hg. v. R. R. Wark, San Marino/Cal. 1959, S. 117. 26 Der selbstverständlich bereits zuvor gegeben war: So forderte bereits Leibniz 1669/70 eine deutsche Akademie für Wissenschaften und Künste zu errichten, für die er zudem einen Museums- und Archivkomplex plante. Der Bezug zu ‚um 1800‘ wird hier als Einführung in das Forschungsthema deshalb gewählt, weil u. a. auch die vorliegende Forschungsliteratur Verbindungen zwischen jenen Wechselbeziehungen von Kunst und Wissenschaft wie sie um 1800 vorliegen zu jenen zieht, die im Forschungsprojekt erarbeitet werden sollen. Vgl. dazu: Breidbach, Olaf/Ziche, Paul (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar, Weimar 2001. 27 Vgl. dazu: Breidbach, Olaf: Kunst und Wissenschaft um 1800 und 2000, in: Kulturamt Jena/Jenaoptik AG (Hg.): IMAGINATION-Romantik. Botho-Graef-Kunstpreis der Stadt Jena 2001, Jena 2001. 28 Krauss, Werner/Kortum, Hans (Hg.): Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts, Berlin 1966, S. XXXVII f.

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wird hingegen als eine Fähigkeit verstanden, die zu allen Zeiten gleichermaßen und in gleicher Art auftreten kann und daher von völlig anderer Art ist. Ist das wissenschaftliche Urteil geprägt von Regeln und Kenntnissen, so wird für das ästhetische Urteil die Größe des Gefühls angenommen. In diesen Gegensatz schreibt sich im Laufe der Geschichte auch der Dualismus von Natur und Kultur ein. Aus der ‚Querelle‘ ergibt sich eine „Aufspaltung der alten Einheit der ‚scientiae et artes‘“29 in Richtung einer Ausdifferenzierung der unterschiedlichen autonomen Sachbereiche und der zugeordneten Rationalitätstypen. „Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich Wissenschaft, Moral und Kunst auch institutionell als Tätigkeitsbereiche ausdifferenziert, in denen Wahrheitsfragen, Gerechtigkeitsfragen und Geschmacksfragen autonom, nämlich unter ihrem jeweils spezifischen Geltungsaspekt bearbeitet wurden.“30 Mit der zunehmenden Diversifizierung der Wissenschaftsdisziplinen besonders im Laufe des 19. Jahrhunderts sowie der Absonderung der Kunst, ging die Kunst und Wissenschaft übergreifende Perspektive scheinbar verloren. Jedoch lässt sich zeigen, dass die Vorstellungen „von einem zu Anfang des 19. Jahrhunderts eingeleiteten Siegeszug der analytischen Wissenschaften [...] die differenzierte wissenschaftsgeschichtliche Situation der Zeit nur sehr unvollkommen wahrnimmt.“31 Trotz der Dominanz des wissenschaftlichen Positivismus konnten die Verbindungslinien zwischen beiden Diskursformen nicht vollständig gekappt werden. Somit sind bspw. die Konturen der Naturwissenschaft wissenschaftsgeschichtlich letztlich weit weniger abgegrenzt, als die Selbstdefinition der Disziplin dies vorzugeben versucht(e). Jedoch treten an die Stelle der großer-Synthese-Programme vielfältige Phänomene von – nicht immer reflektierten –Annäherungen, Abgrenzungen und Durchdringungen der einzelnen Wissenschaften und Künste.32

29 Koselleck, Reinhart: ‚Fortschritt‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck, Bd. II, Stuttgart 1979, S. 351-423, hier S. 394. 30 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, S. 30. 31 Breidbach, Olaf: Kunst und Wissenschaft um 1800 und 2000, in: Kulturamt Jena/Jenaoptik AG (Hg.): IMAGINATION-Romantik. Botho-Graef-Kunstpreis der Stadt Jena 2001, Jena 2001, S. 150. 32 Vgl. dazu ausführlich: Fulda, Daniel/Prüfer, Thomas (Hg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne, Frankfurt am Main u. a. 1996.

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Dem entspricht in der weiteren Forschungsliteratur in den letzten Jahren eine Fülle von mehr oder weniger disparaten Einzeluntersuchungen. In den Publikationen werden entweder Autoren, Künstler, Wissenschaftler bzw. Forscher in den Mittelpunkt der Analyse gerückt oder werkspezifische sowie motivgeschichtliche Aspekte im Hinblick auf den Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft/Theorie untersucht. Untersuchungen, die sich Einzelpersonen widmen, fokussieren dabei häufig das Phänomen der Doppelbegabung, so dass eine Vielzahl von Arbeiten zu einzelnen Personen wie bspw. Carl Gustav Carus33 oder Robert Musil34 entstanden sind. Ebenso reichhaltig ist die Literatur bei jenen Personen, deren Werk sich durch die Thematisierung einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft/Theorie auszeichnet, so bspw. Johann Wolfgang von Goethe, Alexander und Wilhelm von Humboldt, sowie in jüngerer Zeit, bspw. bei dem Künstler/Wissenschaftler Eduardo Kac. Untersucht wird somit immer wieder auch der Einfluss von (Natur-)Wissenschaft auf Kunst im Werk einzelner Künstler, wofür beispielhaft das Werk von Ernst Haeckel herangezogen werden kann. Auffallend in der gesamten vorliegenden Haeckel Forschungsliteratur ist geradezu die Verweigerung, in seinen Kunstformen der Natur nicht nur die mimetische Begegnung von künstlerischer Arbeit gegenüber einem Naturphänomen zu betrachten, sondern zu erkennen, dass diese ‚Naturformen‘ nach künstlerischen Prinzipien, nämlich denen des Jugendstils, gearbeitet sind. Wird dieses Phänomen am Rande erkannt, dann nur mit dem Verweis, dass der Jugendstil eben nach der Natur gestaltet sei. 35 Gleichzeitig finden in der Forschungsliteratur die Äußerungen von Naturwissenschaftlern Beachtung, die sich mit der Kunst beschäftigen. So bspw. Emil du BoisReymond, Hermann von Helmholtz, Gustav Fechner, um nur einige zu nennen. Als grundlegend für eine Analyse komplexer Verbindungen von Kunst und Wissenschaft/Theorie, wie sie für die vorliegende Studie relevant sind, können daher weniger Untersuchungen, deren Fokus von vornherein auf einem Einzelphänomen liegt, gelten, denn vielmehr Arbeiten, die die Komplexität des Verhältnisses von

33 Bspw. Müller-Tamm, Jutta: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetik und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus, Berlin/New York 1995. 34 Bspw. Hoffmann, Christoph: Der Dichter am Apparat. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899 - 1942, München 1997. 35 Vgl. dazu beispielhaft: Elsner, Norbert: Natur und Geist - spricht man so zu Christen? Ernst Haeckel oder die theologische Versuchung eines Naturforschers, in: Mölk, Ulrich (Hg.): Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900, Göttingen 1999, S. 35-66.

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Kunst zu Wissenschaft/Theorie untersuchen.36 Es muss also generell darum gehen, zu erkennen, dass Künstler/Wissenschafter oft nur einseitig wahrgenommen werden: „Der Grund liegt im modernen Vorurteil, daß, wer Naturwissenschaftler geworden sei, nicht zugleich oder gar als Voraussetzung auch als Künstler hervorgetreten sein könne.“37 In Abgrenzung zu solchen Studien – und möglicherweise im Gegenzug dazu – soll in der vorliegenden Untersuchung kein Zusammenhang hergestellt werden, unter dem sich Kunst und Wissenschaft gleichermaßen betrachten lassen, sondern es soll viel eher davon ausgegangen werden, dass – wie bei allen Binaritäten – Kunst und Wissenschaft zusammengebracht und gleichzeitig auseinandergehalten werden müssen, um die jeweilige Stärke ihrer Positionen ausmachen zu können. Mit der Frage nach dem Wissen (der Künste und der Wissenschaften) ist dabei auf das engste die Frage nach dem Nicht-Wissen in seinen verschiedenen Formen verbunden: nach den blinden Flecken und Ausschlüssen, dem Raum der Negation und des Unbewussten, der das Pendant des Wissens bildet und diesem seine Kontur und sein Relief gibt. Deutlich wird in allen Fällen, dass das künstlerische Wissen rationale Wissens- und Kompetenzansprüche artikuliert und mit wissenschaftlichem Wissen durchaus korrespondiert. Konzepte wie Richard Wrigleys „art knowledge“38 (ein Begriff, der von John Ruskin geprägt wurde) und Gernot Böhmes „Kunstwissen“ 39 stellen Versuche dar, einen solchen Vergleich zu ermöglichen. Allerdings legt

36 Grundlegend hierzu sind die Forschungen von Horst Bredekamp. In einem zwar historisch weiter zurückliegenden Zusammenhang, untersucht Bredekamp das komplexe Zusammenspiel von Wissenskulturen der Kunst und Wissenschaft am Beispiel der Kunstund Wunderkammern oder auch der von Gottfried Wilhelm Leibniz geforderten Akademie der Künste und Wissenschaften – wie jüngst mit der Ausstellung und Publikationen zu Theatrum Naturae et Artis. 37 Bredekamp, Horst: Die Erkenntnis der Linie bei Galilei, Hobbes und Hooke, in: Hüttel, Barbara et al. (Hg.): Re-Visionen. Zur Aktualität von Kunstgeschichte, Berlin 2002, S. 145-160, hier S. 156. 38 Wrigley, Richard: The Origins of French Art Criticism. From the Ancien Régime to the Restoration, Oxford 1993. 39 Böhme, Gernot: Kunst als Wissensform, in: Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt am Main 1989, S. 141-165.

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Böhmes methodologische Skizze über „Kunst als Wissensform“ ihren Schwerpunkt auf die Rezeption, auf den „Umgang und (die) Teilhabe an Wissensinhalten“, die im Kunstwerk zu suchen sind. In der vorliegenden Untersuchung soll hingegen explizit das Tun des Künstlers und seine Integration in ein Wissen produzierendes System für die Moderne untersucht werden. Grundlegend dazu ist der moderne Begriff von Wissen, der sich seit dem 18. Jahrhundert mit einer Vielzahl von – hierarchisch geordneten – Wissenstypen zusammensetzt. Dieser ist geprägt von einer ständigen Veränderung der Wissensorganisation und Wissensauffassung, von Prozessen der professionellen Spezialisierung und der Ausdifferenzierung neuer Disziplinen. Wo und wie ereignet sich dabei der Diskurs über künstlerisches Wissen? Innerhalb und außerhalb der Institutionen? Wie lässt sich dieser Prozess an den unterschiedlichen Textsorten und Artikulationsformen ablesen? Wie werden die Kenntnisse und Eigenschaften herausgebildet, die über das normative theoretische Wissen hinausgehen, jedoch bislang unbehandelt geblieben sind?40 Wenn sich besonders an künstlerischer Erkenntnis zeigen lässt, dass Wissen sozial konstruiert ist, schließt sich die Frage an, wie spezifiziert werden kann, dass das, was jeweils der Wissensform Kunst zugeordnet wird, von diskursiven Kontexten und sozialem Wissen abhängt. Heinrich Dilly hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es für eine Erforschung der künstlerischen Erkenntnis nicht nur darum gehen kann, „wie sich das nomologische Wissen auf Seiten der Künstler gewandelt hat“, sondern auch darum, „wie es auf Seiten des Publikums verändert werden kann.“41 Michael Baxandall charakterisiert diese Nutzung der Kompetenz des Publikums durch die Künstler als „Medium“42. Umberto Eco beschreibt

40 Eine große Rolle für die Extrapolation künstlerischen Wissens spielen dabei enzyklopädische Kunstwörterbücher des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in denen künstlerisches Wissen alphabetisch katalogisiert werden sollte. Eine große Aufgabe sah man darin, die „geheime“ Sprache des Ateliers zu systematisieren, alles mit dem Ziel, sich über Kunst eindeutig verständigen zu können. 41 Dilly, Heinrich: Der kunsthistorische Nachthimmel. Ein Beitrag zur Kritik kunsthistorischer Praxis, in: Berndt, Andreas et al. (Hg.): Frankfurter Schule und Kunstgeschichte, Berlin 1992, S. 69-84, hier S. 72. 42 Baxandall, Michael: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1984, S. 57.

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die Beziehung von Wissensvorräten und Kunst mit dem Begriff der „epistemologischen Metapher“43. Andere Forschungsprojekte tragen den Titel „Ästhetik des Wissens“44 oder „Poetologie des Wissens“45, um die Beziehungen zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Wissen neu ausloten zu können. Darüber hinaus werden Kunst und Wissenschaft unscharf ineinander geführt, indem etwa der Annahme gefolgt wird, dass die Hervorbringungen der Wissenschaftler jenen der Maler und Dichter ähnlich oder gar – unter der Annahme einer grundsätzlichen Kreativität für beide Bereiche – mit ihnen vergleichbar sind.46 Allen diesen Forschungen fehlt der Ansatz, künstlerisches Wissen nicht als natürliche Begabung, sondern auch als sozial und kulturell konstruierte Erkenntnis zu verstehen, die erlernbar und erweiterbar ist. Für die Untersuchung wird zu erarbeiten sein, wie der Künstler in den Diskurs integriert werden kann. So expliziert etwa Michel Foucault, dass die Kunst dezidiert nicht Einlösung vorgängiger Ideen oder äußerer Determinanten ist, ebenso wendet sie Theorie nicht an oder illustriert sie. Mit diesem Angriff Foucaults auf eine Analyse der Kunst durch einen ikonographischen Ansatz wird umso deutlicher, dass die angemessene Erforschung der Transfers von Wissen zwischen Kunst und Wissenschaft Kunst zunächst aus einer ideengeschichtlichen Perspektive herauslösen muss. Anstelle von Interpretationen, die nach Einflüssen oder Intentionen fragen, wird für die Untersuchung also die „Positivität des Wissens“ für ein Kunstwerk angenommen,47 das ihm Autonomie sichert und in ein komplexes Feld aus Rückkopplungen und Regulationen zwischen Theorie und Praxis versetzt. Zu klären ist also, welches künstlerische Wissen der Möglichkeit einer Aussage, eines künstlerischen Akts und ihres jeweiligen Verstehens zugrunde liegt, sowie, wie dieses Wissen kommuniziert und durch die Ästhetik selbst, die nun vielmehr Aisthesis ist, transformiert und in Zusammenhang mit wissenschaftlichem Wissen gebracht werden kann. Untersucht werden sollen diese Fragen für den Zeitraum von ca. 1915 bis 1930. Dieser historische Zeitraum der ‚klassischen Avantgarde‘ kann als eine Zeit

43 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1973, S. 160 f. 44 Vgl. dazu: Prolegomena zu einer Ästhetik des Wissens, Zentrum für Nordamerika-Forschung, Frankfurt am Main 1994 f. 45 So der Titel einer Tagung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur, Universität zu Köln, 21. - 25. März, 1995. 46 Vgl. zu dieser Kritik etwa auch: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002. 47 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 276 f.

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der (Wieder-)Entdeckung wahrnehmungsorientierter Experimente und Denkformen angesehen werden. Vor diesem Hintergrund gilt es, das Zusammenwirken von Wissenschaft, Kunst und Technik als einen offenen Zusammenhang zu denken und die Avantgarde-Bewegung unter ausdrücklichem Bezug auf wissenschaftsarchäologische Spuren als großangelegte Suchbewegung in der Erkundung der Wahrnehmung zu beschreiben. Kennzeichnung dieser Suchbewegung48 ist die – seit etwa 1840 – Entstehung eines Schauplatzes des Wissens, in dem unterschiedliche Diskurse aufeinandertreffen:49 1. ein medizinisch-biologistisch-kognitionswissenschaftlicher Diskurs, für den zum einen die Frage nach dem Verhältnis von Wahrnehmung und Sehprozessen im Mittelpunkt stand. Zum anderen die Untersuchung des Gehirns, um das Denken analysieren zu können, die sich – durch Freuds Studien veranlasst – mit einem psychophysischen Diskurs verband, das Bewusste und das Unbewusste zu lokalisieren. Darüber hinaus wurde ein biologistischer Diskurs durch die Beschäftigung mit Fragen der Molekularbiologie, der Organik und den LifeSciences avant la lettre etabliert. Verbunden wurde dies mit einer Sprache, die sich biologistischer Metaphern bediente, um die Notwendigkeit, zur Er-

48 Damit wird die Interpretation der Avantgardekunst und des Avantgardekünstlers neu perspektiviert, indem sie aus einer vornehmlich politisch verstandenen Haltung herausgelöst wird. Es wird mit diesem Ansatz nicht nur den unterschiedlichen ‚Trennungsgeschichten‘ nachgespürt werden, sondern es soll gleichzeitig ein Phänomen überwunden werden, dass für die Kunsttheorie der Moderneforschung geradezu stigmatisch ist die nationale Ausrichtung. „While everyone seems to agree that as a phenomenon modernism is radically ‚international‘, constantly cutting across national boundaries, this quality is certainly not reflected in the majority of critical studies of modernism.“ (Eysteinsson, Astradur: The Concept of Modernism. Hier zitiert nach: Vargish, Thomas/Mook, Delo E.: Preface, in: Vargish, Thomas/Mook, Delo E.: Inside Modernism. Relativity Theory, Cubism, Narrative, Yale 1999, S. IX.) 49 Insbesondere für die Hirnforschung spielt zudem ein sakraler Diskurs eine bedeutende Rolle, der – mitunter durch den Rückgriff auf theosophische und monistische Vorkriegsreligiosität bzw. die Anbindung an die gleichzeitig stattfindende okkulte Praxis – diesem neuen Wissenssystem eine geradezu phantastische Übersinnlichkeit und der Untersuchung des Gehirns die entsprechende Dignität sowie den Wissenschaftlern die notwendige quasi-religiöse Autorität verlieh. Über Strahlung als naturwissenschaftliches Phänomen wird die religiöse Frage nach dem Werden des Lebens wieder eingeführt.

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kenntnis des künstlerischen Wissens an die Ursprünge zurückkehren zu müssen, zu unterstreichen. Diese Metaphern werden auch in der zeitgleichen theoretischen Reflexion verwendet. 2. ein medien-technologischer Diskurs, der, angeregt durch die Erfindung der Röntgenstrahlen, in das Innere des menschlichen Körpers vorzudringen vermochte und somit an einer Ausweitung des Blicks nicht nur durch weitere mikroskopische Aufnahmen molekularer Bereiche des menschlichen Körpers arbeitete, sondern vielmehr das Nicht-Sichtbare abbilden wollte. Medien, auch die Photographie und der Film induzieren ein neues Wissen vom Menschen. 3. ein künstlerisch-bildwissenschaftlicher Diskurs, für den die Ausarbeitung des Abstraktionsparadigmas der modernen Kunst wesentliche Grundlagen lieferte – zum einen zu den Möglichkeiten, Nicht-Sichtbares (also etwa organische bzw. zellulare Prozesse, bzw. das Denken selbst) darzustellen, um somit Unsichtbares und Bewusstes/Unbewusstes miteinander zu verbinden und zum anderen, abstrakte Darstellungen zu erkennen, um ihnen sodann Sinn zu verleihen. Zugrunde gelegt wird also die paradigmatische Diagnostik der Moderne, die sich in ihrer Selbst-Verpflichtung auf ein Prinzip der Komplexitätssteigerung erklärt.50 Dann kann es in der Folge nicht mehr darum gehen, aufzuzeigen, wie die unterschiedlichen Bereiche – hier das Zusammentreffen von Kunst, Naturwissenschaft, und Medien – und ihre Vorgängig- bzw. Nachträglichkeit für die Ausformung eines Schauplatz des Wissens jeweils eine unhintergehbare Rolle spielen, vielmehr steht nun die Modellbildung zur Disposition, bei der die Komplexität menschlicher Artefakte und Leistungen greifbar werden soll. Für die Analyse der an dieser Modellbildung beteiligten Komponenten spielt das künstlerische Wissen eine anderen Wissensformationen gegenüber gleichberechtigte Rolle. Wie das künstlerische Wissen an diesem Schauplatz sichtbar wird und welche konkrete Funktion es übernimmt, klärt sich etwa dann, wenn man z. B. Verfahren und Strukturen der Konstruktion und der Verschiebung in den Blick nimmt. Zentrale Funktion übernimmt dann die Kombinatorik von Elementen, bei der die Differenz darin liegt, wie, was und woraufhin jeweils sortiert und aussortiert wird. Das jeweils ist dann immer wieder im Einzelnen zu befragen.

50 Unter der Annahme des Prinzips der Komplexitätssteigerung wird es auch möglich, die Verbindungen zwischen Moderne und Avantgarde anders, als eine Reaktion aufeinander, zu bestimmen.

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3 W ISSENS K ÜNSTE Als Paradoxie erkannte bereits Martin Heidegger die Voranstellung der Sprache in der Erörterung von wissenschaftlichen und künstlerischen Phänomenen und Ereignissen. „Wir [bleiben], von der Sprache sprechend, in ein immerfort unzureichendes Sprechen verstrickt. Diese Verstrickung sperrt uns gegen das ab, was sich dem Denken kundgeben soll.“ Die Möglichkeit, der Versprachlichung zu entgehen sah der Philosoph einzig darin, „das Eigentümliche des Denkweges [zu] beachten, d. h. uns in der Gegend umzublicken, worin das Denken sich aufhält.“51 Diese Eigentümlichkeit des Denkwegs, ihr nachzugehen, sie möglicherweise als das Charakteristikum des künstlerischen Wissens zu erkennen und gleichzeitig als Analysekriterium zu verwenden, scheint künstlerischer Produktion von Epistemen gerecht zu werden. Daher arbeite die vorliegende Studie methodisch zum einen im Sinne einer spezifizierten Wissens- und Wissenschaftstheorie, in der künstlerisches Wissen als Raum interdiskursiver und -disziplinärer Wechselbeziehungen zwischen Aisthesis, Ästhetik, Kunsttheorie, wissenschaftlicher Theoriebildung und künstlerischer Praxis definiert wird. Zum anderen wird eine Rekonstruktion der archäologischen Spur des Verhältnisses von Kunst zu Theorie im Zeitraum der Moderne erarbeitet. Gefragt wird an dieser Stelle nach der Herkunft und dem Einsatz interdiskursiver Elemente zwischen Kunst und Theorie. Möglich wird damit für die Moderne-Debatten der Blick auf die transdisziplinär vernetzten Ordnungen des Wissens, mit dem Ziel einer Interdependenz von Kunst und wissenschaftlicher Theorie bzw. der Voranstellung von ästhetischer Praxis und dem damit verbundenen Wissen gegenüber den ‚klassischen‘ Wissenskonzepten wissenschaftlicher Theorie, bzw. auch auf deren – innere – Differenzen. Und dies insbesondere dann, wenn doch evident ist, dass das dualistische Modell der vielzitierten „Zwei Kulturen“ (oder durchaus auch mehr als zwei) einem Mythos gleicht. Denn die Künste – so wie im Übrigen natürlich auch die Geisteswissenschaften – haben immer schon auch empirisch gearbeitet. Und auch die Naturwissenschaften beantworten nicht erst gegenwärtig Fragen, die man traditionell im Bereich der Künste und Geisteswissenschaften ansiedelte, wie nach dem Bewusstsein. Diese Frage nach dem Bewusstsein, das – als ein immaterieller Zustand

51 Heidegger, Martin: Das Wesen der Sprache, in: Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Frankfurt am Main 1959, S. 157-216, hier S. 179.

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– lange Zeit als prinzipiell nicht naturwissenschaftlich erklärbar galt, ist ganz aktuell. Im frühen 20 Jahrhundert – wie im Übrigen auch ganz gegenwärtig hingegen – gehört genau diese Erforschung des Zusammenhangs von Denken/Bewusstsein/Wissen und auch der Emotionalität zu den Kernfragen menschlicher Existenz. Es gilt also zu markieren, dass der Kunst ein spezifisches Wissen eigen ist, und dass dieses Wissen irreduzibel und für sie charakteristisch ist, d. h. konkret: es stehen ausschließlich die genuinen und produktiven Leistungen der Kunst selbst im Mittelpunkt.52 53 Das heißt, es gilt die Arbeit an und mit den Differenzen zu

52 Dann allerdings kann für diesen Vergleich nicht nur die Erzeugung von Ähnlichkeiten von Interesse sein; – Ähnlichkeiten im Sinn jener Tendenzen der aktuellen Debatten zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, die häufig auf einer problematischen Entdifferenzierung der unterschiedlichen Praktiken, Methoden und Erkenntnismodi beruhen, und einen homogenen Raum erzeugen wollen, wie z. B. der immer wieder aufgerufene Konnex von Kunst und Wissenschaft über Analogiebildungen ästhetischer Aspekte. Vgl. etwa: Kemp, Martin: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003; sowie: Gould, Stephen J.: The Shape of Life, in: Art Journal. Contemporary Art and the Genetic Code 55, Nr. 1, 1996, S. 44-46. Oder auch die gleichermaßen vorhandene Kreativität des Künstlers wie des Wissenschaftlers. 53 Ähnliche Probleme ergeben sich in der naturwissenschaftlichen Diskussion, wenn das aktuelle Interesse an der Schönheit über die Kreativität des Menschen erläutert werden soll. „Durch Kunst“, bemerkt der Neurophysiologe Detlef Linke, „erfährt die Wissenschaft unter anderem ihre Erweiterung zur Reflexion über Kreativität und menschliche Existenz. In der Rückbindung an die Gesetze des menschlichen Zusammenlebens findet sie ihre Stabilität“ (Linke, Detlef: Jeder Mensch ist ein Wissenschaftler, unter: http://www.kunst-als-wissenschaft.de/news/index.html?NID=20018281, Zugriff am 10. 01. 2009). Der Kunst wird hier ein allgemein humanistisches Vermögen attestiert, das die Wissenschaft zum Nachdenken anregen soll. Diese sehr traditionellen Zuschreibungen ermöglichen jedoch keine Klärung für den Zusammenhang von Kreativität und Schönheit in der naturwissenschaftlichen Arbeit. Anders verfahren hier Autoren wie Samuel Edgerton und Michael Lynch, die in ihrer gemeinsamen Studie zum ‚image processing‘ in der Astronomie zeigen, dass die wissenschaftliche Arbeit am Bild nicht erst für die Präsentation beginnt, sondern bereits in der Planung, Hervorbringung und Zurichtung wesentlicher Bestandteil ist (Edgerton, Samuel/Lynch, Michael: Aesthetics and digital image processing. Representational craft in contemporary astronomy, in: Fyfe, Gordon/Law, John (Hg.): Picturing Power. Visual Depiction and Social Relations, London 1988, S. 184-220). Vgl. Flach, Sabine: Von der Evolution zum Experiment.

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schärfen, nicht mit der Absicht einer Grenzziehung als vielmehr mit dem Ziel, diese Differenzen produktiv zu nutzen.54 Es geht also um die Anerkennung differenter Wissensweisen, um das Zusammenspiel unterschiedlicher Perspektiven und Erkenntnisformen.55 Und es gilt also vor allem, die Funktion von Kunst als Kunst gegenüber den Wissenschaften anders, denn als bloßes Reflexionsmedium zu bestimmen.56 Steht die Analyse von Denkwegen – im eingangs zitierten Sinne – im Zentrum, so geht es – vor allem im Hinblick auf die Erörterung der Frage danach, wie die Künste an einer Produktion von Wissen um die Wahrnehmung und die Sinne ihre Teilhabe garantieren – immer schon um eine Frage, die Michel Foucault in seinem

Schönheit in Kunst und Wissenschaft, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 9, Berlin 2004. 54 Durchaus mit dem Ziel der gemeinsamen Arbeit an grundlegenden Problemformulierungen und -lösungen. Denn es hat wenig Sinn, die methodischen, erkenntnistheoretischen und auch habituellen Differenzen zwischen Technik- und Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften/Künsten einfach wegzudefinieren. 55 Es geht also immer um die Frage, wie unter dem Prozess der Spezialisierung Wissenstransfers möglich und notwendig wurden. Es geht in den Teilstudien also nicht um die Nacherzählung offensichtlicher Verwandtschaften, sondern um eine archäologische Rekonstruktion jener Spuren, die eine Transdisziplinarität überhaupt erst möglich machten. 56 Vgl. dazu: Dotzler, Bernhard: Explorationen. Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen, Bd. 9, Berlin 2002, S. 311-327. B. Dotzler schreibt: „Wie man etwa nach den narrativen Mustern einer Disziplin wie der Evolutionsbiologie gefragt hat, die per se ‚literarisch‘, nämlich als ‚Geschichte‘ im doppelten Wortsinn angelegt ist, so ließe sich umgekehrt auch nach den verschiedenen auf Seiten der Wissenschaft ausgebildeten Ordnungsmustern fragen, die zugleich die Literatur organisieren. Um auf diese Weise Wissensstrukturen herauszuarbeiten, die ein Unbewußtes sowohl der Wissenschaft als auch der Literatur konstituieren, ist erneut die spezifische methodische Kompetenz von Literaturwissenschaft zur Reformulierung wissenschaftsgeschichtlicher Paradigmen gefragt.“ (S. 321 f.). Und weiter zur besonderen Bedeutung von Metaphern in diesem Bereich: „Wenn nicht begrifflich-theoretische Übereinstimmung die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern verschiedener ‚Subkulturen‘ eines Forschungsgebiets trägt, sondern schlicht ein gemeinsamer Verhandlungsort, an dem ‚dieselben Gegenstände‘ (Apparaturen, Daten, Messergebnisse) doch verschieden wahrgenommen werden, ist die Kommunikation notwendig ein wechselseitiges Reden in Bildern.“ (S. 316.)

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Buch Der Gebrauch der Lüste stellte. Er formuliert dort die ebenso irritierende, wie inspirierende Frage danach, ob man anders Denken – und somit anders Wahrnehmen – kann als man denkt und wahrnimmt. Foucault beantwortet diese Frage mit einem insistierenden Ja und schreibt dazu: „Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und so weit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt?“ Es gibt – so Foucault weiter – im Leben immer wieder Momente, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt oder anders wahrnehmen kann als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. Es geht Foucault also um eine kritische Arbeit des Denkens an sich selbst und somit also um die unerhörte Anstrengung zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken. Es geht also darum zu erkunden, was im eigenen Denken verändert werden kann, indem es sich in einem ihm fremden Wissen versucht. Diesen Versuch definiert Foucault als eine „verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des anderen zu Zwecken der Kommunikation.“ Veränderte und verändernde Erprobungen also sind die Voraussetzung für eine Arbeit an einem eigenen Denken, Fühlen und Wahrnehmen, sie geben die Möglichkeit, die bekannten Pfade des Denken und Wahrnehmens zu verlassen und sich auf Expeditionen zu begeben, auf unsicheres Terrain, das nun erobert werden will. Erfreulicherweise kann man sich aber bei diesem Gehen auf schwankendem Grund eines Kompagnons sicher sein, zu dessen unbedingten Wesenseigenheiten es gehört, sich das Unbekannte, Noch-Nicht-Erkannte oder Nicht-Gewusste immer wieder zu erobern oder sogar allererst hervorzubringen: es ist die Kunst, die immer wieder die Möglichkeit gibt, das vertraute Denken und Wahrnehmen zugunsten der Erfahrung neuer und überraschender Erkenntnisse zu verlassen: denn es ist das spezifische Wissen der Künste selbst, das dann begegnet. Ihre Wissenssysteme zu erkunden, ermöglicht die Erfahrung der Bedingtheiten des Wissens in einem jeweils anderen Feld. Und somit kann man also Michel Foucaults Frage danach, ob man anders Denken kann als man denkt oder anders Wahrnehmen kann, als man wahrnimmt, nicht nur mit einem schlichten „Ja“! beantworten, sondern man kann vielmehr noch in eine Korrespondenz mit ihm treten, wenn man ihm mit einer Reflexion von Paul Valéry über die spezifische Fähigkeit der Bilder und Künste antwortet: Denn manchmal, schreibt Paul Valéry, zeigt ein Bild mehr als die Sache, deren Bild es ist: „Une image est plus qu’une image et parfois plus que la chose même dont elle est l’image.“57 Was Paul Valéry beschreibt, ist der Mehrwert eines jeden Bildes, der Mehrwert der Kunst also, der

57 Valéry, Paul, zitiert nach: Dagognet, François: Philosophie de l’image, Paris 1984, o. S.

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über die bloße Abbildung der Welt hinausgeht.58 Für Valéry stehen also jene genuinen und produktiven Leistungen der Kunst selbst im Mittelpunkt, das heißt die Realität der Künste, die genau über die bloße Abbildung der Welt hinausgeht. An Kunst wird dann aber immer schon eine besondere Anforderung gestellt: Sie darf uns nicht nur bestätigen, was wir bereits wissen, sondern wir erwarten genau jenen Mehrwert, also einen Erkenntniszuwachs. Wenn man zustimmt, dass „ästhetisches Wissen mehr [ist] als Ästhetik“ und somit also annimmt, dass es „nicht bloß die theorieförmige, nach diskursiver Verfassung strebende Reflexion auf einen äußeren, disziplinären ‚Gegenstand‘ [ist], dessen historische Varianten verwirrend zahlreich sind“, dann steckt „Ästhetisches Wissen auch innerhalb der Objekte (ihrer Recherche) selber. Denn sie wären kaum – mit welchem Ästhetik-Begriff auch immer – als etwas Ästhetisches zu konzeptualisieren, wenn nicht Selbstreflexion und das Wissen von sich selber zu ihren Merkmalen gehörten.“59 Und genau an dieser Stelle – so die Basisthese der vorliegenden Studie, die sodann anhand der jeweiligen Exempel der folgenden Kapitel analysiert und ausgeführt wird – zeigt sich der geforderte Erkenntniszuwachs der Künste, die damit auch über das bloß ästhetische Wissen hinausgehen. Dieser Zuwachs an Erkenntnis findet sich eben gerade notwendig zunächst nicht im Vergleich mit anderen Wissenssystemen oder in einer den Wissenschaften assistierenden oder im Sinne einer humanistischen Verpflichtung der Künste geforderten mahnenden Funktion; solchen Positionen entgeht immer schon eines: eben jenes „Wissen von sich selber“. Dieses Vermögen der Sichtbarmachung, der permanenten Selbstreflexion in der Reflexion über Etwas – was dann also die Wahrnehmung, die Sinnesfunktionen, das Bewusstsein oder ähnliches sein kann – ist der Kunst ein Konstituens sui generis. In dieses Konstituens fließen dann auch immer schon nicht-theoretische und vordiskursive Wissensformen ein, vielmehr noch: sie sind ihm wesenseigen inhärent und impliziert, somit Instrumentarien und Medien der Künste, Kunsttheorie, Künstlertheorien und -reflexionen.

58 Vollendete Abbildlichkeit lässt jedoch gerade bildlose Bilder entstehen, d. h. sie konvergieren mit der perfekten Ikonoklastik. 59 Naumann-Beyer, Waltraud: Ästhetisches Wissen und wissenschaftliche Disziplin, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 6, Berlin 2003, S. 4-7, hier S. 4.

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Darüber hinaus rückt das Bild selbst als materielles Resultat auf dem Schauplatz des Wissens ins Zentrum der Aufmerksamkeit.60 Wobei hier ein Bild- bzw. konkreter: ein Kunstbegriff relevant wird, der Kunst eben gerade nicht auf eine rein retinale Repräsentation reduziert, sondern vielmehr in seiner doppelten Funktion wirksam wird: nämlich immer schon sowohl materielles Substrat als auch Vorstellungsbild zu sein. In diesem Sinne ist das Bild dann Verwalter von Erkenntnisweisen und Wissensfiguren, impliziert einen historischen Index als historische Signatur des Wissens, das sich ganz wesentlich über das je spezifische Bilddenken generiert.61 Das Bild ist dann immer schon eine Form der Verdichtung, in der sich vergangene und gegenwärtige Eindrücke zu einer Figur des Wissens verbinden62 und genau dann konzise Aussagen über Wahrnehmung und Sinneserfahrung treffen können; aber eben im Medium der Kunst und der künstlerischen Episteme selbst. Es geht also in dieser Untersuchung darum, eine Dimension zu eröffnen, in der künstlerisches Wissen zeigt, dass durch es selbst das Sehen selbst einen optischen Mehrwert erhält und das Wissen die Gewissheit, dass Kunst nicht notwendig das Sichtbare wiedergibt, sondern vielmehr jenes, was man zuvor nicht gesehen hat. In diesem Sinne verweist eine künstlerische Praxis nicht nur auf etwas, sondern sie zeigt sich allererst auch selbst.63 Das Wesen von Kunst spielt also in einer Differenz. Sie kann weder schlicht wie ein Stück Realität betrachtet werden, noch darf sich der Blick schlicht im Dargestellten verlieren; somit enthält Kunst als

60 Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking hebt diesbezüglich besonders hervor, wie sich die Naturwissenschaften zwischen zwei Polen bewegen: dem der Darstellung, insbesondere auch der ‚bildlichen Repräsentation‘ und dem des experimentellen Eingriffs, der Intervention. 61 An vielen wissenschaftlichen Theorien lässt sich zeigen, wie stark diese durch die jeweiligen kulturellen Deutungsmuster, durch die vorherrschenden Symbolsysteme und Kulturtechniken determiniert sind. 62 Ganz so, wie es W. Benjamin beschrieben hat: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“ (Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: W. Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann, Bd. V.1, Frankfurt am Main 1982, S. 576). Vgl. dazu: Weigel, Sigrid: Bilder als Hauptakteure auf dem Schauplatz der Erkenntnis. Zur poiesis und episteme sprachlicher und visueller Bilder, in: Huber, Jörg (Hg.): Ästhetik Erfahrung. Interventionen 13, Zürich u. a. 2004, S. 191-212, hier S. 198. 63 Vgl. dazu auch: Boehm, Gottfried: Vom Medium zum Bild, in: Spielmann, Yvonne/Winter, Gundolf (Hg.): Bild – Medium – Kunst, München 1999, S. 165-177.

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solche immer schon eine innere Reflexion und den Ansatz zur Thematisierung von Wahrnehmungsweisen. Und genau hier werden in dieser Studie ihre Episteme gesucht und analysiert. Denn wenn das Wesenseigene der Kunst im Austrag der Spannung besteht, die sich zwischen dem Medium der Darstellung und dem Dargestellten ergibt, dann erst lässt sich der Zusammenhang erörtern nach den spezifischen Bedingungen, die Wahrnehmung, Empfindung und Sichtbarkeit allererst erzeugen, d.h. den Voraussetzungen der bestimmten Konstruktionen für Wahrnehmung, Empfindung und Sichtbarkeit.64 Anders gesagt: Kunst und künstlerisches Wissen betreiben mit nicht-begrifflichen Mitteln Phänomenologie; Erkenntnisse über das Etwas-als-Etwas zu erlangen. Genau damit aber sind sie zunächst eine Fokussierung des Denkens65 über sich selbst. Kunst zeigt, dass sie, um Kunst zu sein, Eigenschaften besitzen muss, die sie von der Realitätswahrnehmung markant unterscheiden – das heißt, Kunst muss – entgegen jeder anderen Forschung über Wahrnehmung und Empfindung – nicht-immersiv sein, denn wäre sie nur und wesentlich immersiv, so ließe sie sich von der normalen Realitätswahrnehmung – die in den Untersuchungen der Wahrnehmungswissenschaften im Zentrum steht – nicht unterscheiden. Kunst ist also so gesehen ein massiver Ausnahmezustand für das Wahrnehmen.66 Und was der Kunst also wesenseigen ist, erörtern künstlerische Episteme: Es gilt nicht nur zu erkennen, auf was die Kunst verweist, sondern was sie ist. In diesem Sinne erörtert Kunsttheorie immer schon eines der Kernprobleme der ästhetischen Phänomenologie. Bereits im 19. Jahrhundert wies Konrad Fiedler 67 darauf hin, dass mit dieser Betonung der Sichtbarkeit von Sichtweisen, die Kunst zum Aufklärungsinstrument für Wahrnehmungsbedingungen des Menschen wird. Denn die Sichtweisen,

64 Vgl. dazu: Flach, Sabine: ‚Körper-Szenarien‘. Zum Verhältnis von Bild und Körper in Videoinstallationen, München 2003. Zum Zusammenhang von Medienspezifik des Bildes und Konstruktionen der Sichtbarkeit: Spielmann, Yvonne: Schichtung und Verdichtung im elektronischen Bild, in: Spielmann, Yvonne/Winter, Gundolf (Hg.): Bild – Medium – Kunst, München 1999, S. 59-75. 65 Krois, John Michael: Die Universalität der Pathosformel, in: Belting, Hans (Hg.): Quel Corps, München 2002, S. 303. 66 Vgl. dazu: Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005; und Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild, München 2000. 67 Boehm, Gottfried (Hg.): Konrad Fiedler. Schriften zur Kunst. Text nach der Ausgabe München 1913/14 mit weiteren Texten aus Zeitschriften und dem Nachlaß, einer einleitenden Abhandlung und einer Bibliographie, Bd. I u. II, München 21991.

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mit denen Menschen sehen, sind für den Sehenden selbst nicht sichtbar – man sieht wohl, was man sieht, aber nicht wie man sieht.68 Diesem Wie auf die Spur zu kommen war – so die These – genau jene oben bereits genannte charakteristische Suchbewegung der Avantgardekunst. Die vorgenommene Expedition galt der Recherche und Exploration der Bedingungen, Weisen und Wirkformen des Sehens, Wahrnehmens und Empfindens; zur Ausrüstung gehörten die Kunst, künstlerische Theorie sowie die Instrumentarien und Medien der Künste selbst. Diesen Spuren folgt diese Untersuchung an ausgewählten Beispielen. Die Grundlage der Einzelanalysen bildet zunächst die Erläuterung der Abstraktion. Abstraktion wird hier nicht nur als ein bildimmanentes Prinzip verstanden, sondern vielmehr als eine Denkeigenschaft der künstlerischen Produktion aber besonders auch ihrer kunsttheoretischen Reflexion. Die Grundthese lautet, dass erst durch diesen ‚abstract turn‘ – der zudem explizit in den Künsten verortet wird, durch ihre Leistungen entstand und sodann erst in die diversen Nachbarwissenschaften der Künste diffundierte – es der Kunst selbst gelang, ihre Episteme derart auszubilden, dass sie Aussagen über die Wahrnehmung und die sinnlichen Vermögen treffen konnte. Damit aber dreht das Wissen der Künste eine lange erprobte Geschichte um: Betrachtet man die Geschichte der Wahrnehmung und ihrer Theorien, so lässt sich eine Fokussierung entdecken: Wahrnehmung wird als die Suche nach der Entstehung der Wahrnehmung beschrieben, mit dieser Recherche jedoch stehen immer gleich die Voraussetzungen der Wahrnehmung und unabdingbar das Subjekt, welches wahrnimmt im Mittelpunkt. Denn: „Die Geschichte der Wahrnehmungstheorie liest sich wie eine lange Geschichte der Vorbedingungen. Nahezu ausschließlich geht es um die Bedingungen, die sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken ermöglichen. Es ist unerheblich, ob man an psychologische, neurologische oder auch transzendentale Theorien denkt, in jedem Fall werden für die Wahrnehmungentstehungsgeschichten kühne okkulte Entitäten gefunden, die alle gemeinsam haben, das nicht-wahrnehmbare Baumaterial der Wahrnehmung zu sein: es ist von Eindrücken, Empfindungen, Perzepten, Impressionen, Legosteinen, Sinnes-Daten und Reizen die Rede. Mittels ausgeklügelter – ebenfalls unsichtbarer und unbewußter – Interpretationstätigkeiten des Subjekts entstehen aus diesen Materialien die fertigen Wahrnehmungen: synthetisieren, extrahieren, konstruieren, formatieren, abduzieren, schließen, lesen, entlasten, strukturieren.

68 Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild, München 2000, S. 18.

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Doch so einfallsreich die Erzählungen über die Wahrnehmungsentstehung auch sein mögen, sie bleiben Vorgeschichten, welche zwar nicht von unbegründeten, aber doch von ausgedachten Entitäten und Vorgängen handeln.“69

Da ja aber die Wahrnehmung dem Wahrnehmenden die Bedingungen ihrer eigenen Genese nicht zeigt und sich nicht sehen lässt, wie das Sehen entsteht70 und wie es gleichermaßen möglich ist, dass man sieht, aber nicht wie, verbleiben Aussagen über die Ursachen und die Voraussetzungen darüber notwendig im Reich der Spekulation, der Modelle, der Konstruktionen oder Mythen, mehr oder weniger gut begründet. Diese tendenziell tragische Situation ändert sich aber durch eine geringe, aber umso markantere Umstellung der Fragestellung: Stellt man nicht immer schon die Frage nach den Voraussetzungen und subjektiven Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung71, sondern nach der Struktur der Wahrnehmung in einem anderen System – also etwa der Kunst – oder den Folgen der Wahrnehmung für das Subjekt, lassen sich – im Umkehrschluss – Aussagen über die Subjektivität der Wahrnehmungsakte treffen. Denn wenn es richtig ist, dass ein Wahrnehmender immer auch Kenntnis davon hat, ein Wahrnehmender zu sein – so lassen sich genau darüber Aussagen treffen –; die Genese der Wahrnehmung selbst ist dabei sekundär. In dieser Inversion liegt aber ein wichtiger Schritt begründet – jener von der Beschreibung privater Phänomene hin zu „ihrer internen Logik.“72 Genau in dieser Suche nach der internen Logik liegt nun die Errungenschaft der Episteme der künstlerischen Avantgarden: sie drehen das Subjekt der Wahrnehmung als das Subjekt, das wahrnimmt, aber als Objekt der Wahrnehmung beschrieben wird. Eine Wahrnehmung wird in den in dieser Studie analysierten Beispielen zu einem Zustand, zu einem Ereignis, in dem sich ein Subjekt befindet und in diesem Zustand ist dann auch das Subjekt – wie alles andere auch – ein beschreibbarer Zustand – und genau darüber lassen sich dann Aussagen treffen. Die genannte Abstraktion ist also weit mehr als die Sichtweise eines Subjektes auf die Welt, sie ist Zustand, Methode und Analyse des Ereignisses der Wahrnehmung und vermittels ihrer lassen sich Aussagen über die Intuition, die Inspiration oder das Optisch-Unbewusste treffen. Durch sie gelingen künstlerische Theorien wie jene des ‚additionalen Elements‘ oder des ‚SOR-WED‘, die – in den folgenden

69 Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt am Main 2009, S. 111 f. 70 Ebd., S. 112. 71 Ebd., S. 112. 72 Ebd., S. 114.

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Kapiteln besprochen – alle in ihrer so vorhandenen Dignität verlässliche Aussagen über die Wahrnehmung und die Sinnesvermögen treffen; aber eben im Medium der Kunst als jenem empathischen Ort, und genau Kunst ist nicht nur in der Lage, zu erörtern, dass man sieht und wahrnimmt, sondern auch wie. Den Abschluss der Studie bildet dann noch ein Kapitel, mit dem gezeigt werden soll, wie diese Vermögen in die Wissenschaften wandern; am medizinischen Film wird die Valenz der Zeichnung erörtert. In allen Kapiteln geht es – auf der Grundlage der Abstraktion als Episteme der Kunst, als ihr ureigenstes Denkvermögen – um die Erkundung der Wahrnehmung, denn: „Was auch immer wahrgenommen wird, nichts kann so erstaunlich sein wie die Wahrnehmung selbst.“73

73 Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt am Main, 2009, S. 119.

Kapitel II Der abstract turn als missing link „Kurz gesagt: Aus der Kombination des Gefühls und der Wissenschaft entsteht die wahre Form. Hier muß ich wieder an den Koch erinnern! Die gute körperliche Speise entsteht auch aus der Kombination eines guten Rezeptes (wo alles genau in Pfund und Gramm bezeichnet ist) und aus dem lenkenden Gefühl. Ein großes Merkmal unserer Zeit ist das Aufgehen des Wissens: die Kunstwissenschaft nimmt allmählich den ihr gebührenden Platz ein. Das ist der kommende ‚Generalbaß‘, welchem natürlich eine unendliche Wechsel- und Entwicklungsbahn bevorsteht!“74 WASSILY KANDINSKY „Wer weiß, vielleicht sind unsre ‚abstrakten‘ Formen alle miteinander ‚Naturformen‘ aber … keine ‚Gebrauchsgegenstände‘“75 WASSILY KANDINSKY

„Any sensitive person can appreciate what is good, can evaluate half-consciously that which is beautiful. But it is a more difficult task to introduce the elements of consciousness and comprehension into this sensitivity. To achieve this, knowledge is essential. Only one who possesses both these human qualities in due measure –

74 Kandinsky, Wassily: Über die Formfrage, in: Der Blaue Reiter (1912), hier zitiert nach: Bill, Max (Hg.): Essays über Kunst und Künstler, Stuttgart 1955, S. 15-45, hier S. 27 f., Hervorhebung i. O. 75 Kandinsky, Wassily: Zugang zur Kunst (1937), hier zitiert nach: Bill, Max (Hg.): Essays über Kunst und Künstler, Bern 1963, S. 203-210, hier S. 209.

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acute sensitivity and knowledge – can be a critic“76, schreibt Wassily Kandinsky bereits im Jahr 1901 zum Verhältnis von innerem und äußerem Sehen, zum Zusammenhang von Intellekt und Sensitivität, von bewussten und unbewussten Perzeptionen, die er eben gerade nicht als distinkt, als Kontradiktion und damit als einander sich ausschließende Weisen der Wahrnehmung verstanden sehen will. Für eine solche Haltung, in der Aisthesis, Wissen und Ästhetik untrennbar ineinander geführt werden, um überhaupt erst eine Möglichkeitsbedingung zur Erkundung der Wahrnehmungsweisen des Menschen zu schaffen, ist sodann – gleichsam folgerichtig – auch eine Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft nicht nur unproduktiv, sondern vielmehr undenkbar, eine künstlich herbeigeführte und aufrechterhaltene Distinktion, die es zu überwinden gilt. Und so schreibt Kandinsky dann auch im Jahr 1927: „Die fast providenziell festgelegten Unterschiede zwischen Kunst und Wissenschaft (besonders der ‚positiven‘) werden konsequent untersucht und es wird ohne besondere Mühe klar, dass die Methoden, das Material und die Behandlung desselben keine wesentlichen Unterschiede auf beiden Gebieten aufweisen. Es entsteht die Möglichkeit für den Künstler und für den Wissenschaftler, gemeinsam an einer und derselben Aufgabe zu arbeiten.“ 77

Dieser Anstrengung, die getrennten Felder von Kunst und Wissenschaft, von Fragen zur Kognition und zur Emotion, zum Verhältnis von Vorstellungsbildern und realen Bildern der Objektwelt zu vereinen, konnte nur ein Verfahren gerecht werden: Die Abstraktion, für die der Theoretiker und Künstler Wassily Kandinsky paradigmatisch steht. Abstraktion ist dann viel mehr als ein künstlerischer Stil – verstanden als eindeutiges Erkennungsmerkmal – oder eine intellektualistische Weise der Interpretation – Abstraktion ist vielmehr eine Haltung, ein Habitus,78 womit erst die Verknüpfungen der scheinbar konträren Bereiche sichtbar werden. Wenn durch diese Art und Weise der Darstellung ein Habitus generiert und vorgestellt wird und dieses Vorstellen sich auf seine doppelte Wortbedeutung bezieht, nämlich imaginieren und bekannt machen, dann bezieht sich dieser Habitus als

76 Kandinsky, Wassily: Kritika kritikov (Kritik der Kritiker), in: Novosti dnja (Moskau), 6407, 6409 (17., 19. 4. 1901), hier zitiert nach: Lindsay, Kenneth C./Vergo, Peter (Hg.): Kandinsky. Complete Writings on Art, Bd. I, London 1982, S. 33-44, hier S. 37. 77 Kandinsky, Wassily: UND. Einiges über synthetische Kunst, in: i10. Internationale Revue 1, Amsterdam 1927, S. 4-10, hier S. 9. 78 Vgl. zum Habitus: Flach, Sabine/Margulies, Daniel/Söffner, Jan (Hg.): Habitus in Habitat I. Emotion and Motion, Bern u. a. 2010; Flach, Sabine/Söffner, Jan (Hg.): Habitus in Habitat II. Other Sides of Cognition, Bern u. a. 2010.

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Ausdruckspotential – oder, wie Warburg es formuliert: Ausdrucksweise – der Kunst wiederum auf: ihren Stil, in jenem Sinne, den dann später Maurice MerleauPonty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung von 1945 formulierte:79 „Wahrnehmung stilisiert schon“. Merleau-Ponty80 versteht Stil nicht als individuelle Handschrift, sondern Stil ist hier ein interdependentes Phänomen: Sichtbares wirkt auf die Wahrnehmung ein und stilisiert sie, aber ebenso geht es um Wahrnehmung als neurologische, stilisierende Vorbedingung des Visuellen schlechthin. Das heißt konsequent gedacht: nicht Gestalt interessiert, sondern Gestaltung, nicht notwendig Bedeutung, sondern – innere oder äußere Bewegung eines komplexen Wahrnehmungsverhaltens. Damit ist aber auch gleichermaßen angesprochen, was für das Konzept einer ikonischen Episteme von Relevanz ist: Es zeigt sich so auch die innere Nähe zwischen Imagination und Imago, zwischen Einbildungskraft und Bild. In diesem Sinne ist es dann das Imaginäre selbst, das sich des inneren Bildsinns bedient, um äußere Bilder zu schaffen.81 Das mentale Bild und das image objet sind zwei Seiten ein und desselben Phänomens; ihr Unterschied, wenn überhaupt, besteht darin, dass das eine Bild ephemer, das andere jedoch von Dauer sein kann. Die vermeintliche Gegensätzlichkeit von äußeren Bildern, die auf reale Bildträger angewiesen sind und inneren Bildern, die aus dingfreien Vorstellungen entstehen, wird hinfällig, denn unter dieser Perspektive verkörpern sich Bilder als Bilder; wir sehen Bilder, die wir zugleich als Bildkörper vor Augen haben.82 Und damit ist für diese Untersuchung als maßgeblich leitende These für die Zeit ab 1900, vor allem bei der Untersuchung möglicher Schnittpunkte von künstlerischer und wahrnehmungswissenschaftlicher Forschungsarbeit, ein ‚abstract turn‘ markiert.83

79 Maurice Merleau-Ponty formuliert dies mit dem Rückgriff auf Husserls Phänomenologie. 80 Damit zeigt sich eine Nähe zu Heinrich Wölfflins kunsthistorischem Formalismus. 81 Vgl. dazu ausführlich: Boehm, Gottfried: Das Paradigma ‚Bild‘. Die Tragweite der ikonischen Episteme, in: Belting, Hans (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, München 2007, S. 77-82, hier S. 80. 82 Vgl. dazu: Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main 2004, S. 215. 83 Vgl. dazu ausführlich: Flach, Sabine: ‚abstrakt/Abstraktion‘, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. VII, Stuttgart/Weimar 2005, S. 1-40. Abstraktion ist als Begriff so alt wie die Geschichte

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Im Zuge einer Analyse der Beteiligung ästhetischer Prozesse an der Herstellung von Wissen,84 in der es weder um Homogenisierungen noch um Einflussfaktoren

der ästhetischen Theorie und der Philosophie selbst; daher kann kein spezifisches Datum einer ersten Verwendung des Begriffs festgelegt werden. Schon von Aristoteles und Platon verwendet, ist Abstraktion über lange Zeit ein Begriff, der vornehmlich in der logisch-mathematischen Philosophie Verwendung findet. Eine die Abstraktion durch die Geschichte begleitende Antithese ist die Konkretion, eine Analogie der Reinheit. Die allgemeine Verwendung von Abstrakt/Abstraktion im ästhetischen Kontext wird nachfolgend schlaglichtartig beleuchtet. Grundlage für die Ausführungen des Artikels für das Historische Wörterbuch bildet im Übrigen der bereits benannte ‚abstract turn‘, denn mit ihm – so die These – wird Abstraktion zu einem ästhetischen Grundbegriff, dessen Auftauchen für die Zeit seit der zweiten Hälfte des 19. Jh., vor allem aber um 1900 belegt ist. Die Wandlung von einem die Geschichte der Ästhetik begleitenden Begriff hin zu einem ästhetischen Grundbegriff bedingen verschiedene Komponenten: Es tauchen Begriffe auf, die die Abstraktion sowohl zu konterkarieren wie sie zu eliminieren suchen. Sie dienen der Affirmation ebenso wie der Verdichtung der jeweiligen Bedeutung der Abstraktion, kurz: Abstraktion kann seither immer nur in ihrem jeweiligen Verhältnis zu ihren Variationen und Äquivalenten bestimmt werden. 84 In jüngster Zeit erlebt Abstraktion als methodischer Zugriff sowohl für die Untersuchung gegenwärtiger als auch historischer Phänomene in Kunst und Wissenschaft erneut eine Renaissance. Die Kunsthistorikerin Barbara Stafford attestiert der Abstraktion in ihrer Analyse der visuellen Strategien und Theorien aus der Zeit der Aufklärung, in denen es darum ging, das Unsichtbare, Unbekannte sichtbar zu machen, eine bedeutende Funktion. Abstraktion ist Simplifizierung, die ihrerseits wiederum zu einer „fullblown theory of abstraction“ führt. Ausgehend von dem Befund einer mathematischen Denaturalisierung, die sich während der Aufklärung entwickelte, definiert Stafford für die künstlerische und naturwissenschaftliche Produktion zwei Typen von Abstraktion: „This cerebral process of detachment was evident both in a general and unconditional grammar of fundamental geometrical shapes and vectors and in a prismatic science of heterogeneous colored parts“. Grundlegend für die Bestimmung beider Abstraktionstypen sei zum einen der „Neoclassical drive towards systematization“ und zum anderen die „Romantic compulsion to locate the prototype below the manifold of appearances“ geworden. (Stafford, Barbara: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge, Mass. 1991, S. 131.)

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gehen kann, wird Abstraktion85 als ‚missing link‘ zwischen künstlerischen und wahrnehmungswissenschaftlichen Techniken und Verfahren verstanden.86 Einen wichtigen Einfluss auf die Verwendung der Abstraktion als ästhetisch-wissenschaftliches Verfahren hat die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende extensive Verwendung von technischen Medien in Wissenschaft und Kunst, die nicht nur neue Weisen des Sehens begründete – ein Gewährsmann ist hier Walter Benjamin mit seiner Theorie des ‚Optisch-Unbewußten‘87 –, sondern auch neue Methoden der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit forcierte, wie etwa Elementarisierung, Montage, Collage, Serialität. An allen diesen Methoden ist die Abstraktion beteiligt, maßgeblich jedoch selbst als Methode dieser neuen, medieninduzierten Theorie und Praxis, d. h. sie steht für eine durch verschiedene Entwicklungen begünstigte, sinnlich nicht mehr in bekannter Weise verfügbare entmaterialisierte Objektwelt und wird nicht nur als Abkehr vom Paradigma der Naturnachahmung verstanden, sondern als neuer Geist, als eine synchrone Verschränkung von Medien-Techniken, künstlerischen Verfahren, wissenschaftlichen Entdeckungen und Kulturtechniken. Das Ziel liegt in der Erkundung des Zusammenhangs von Aisthesis und Medialität, die Methode ist Abstraktion. Sie definiert sich als eine an experimentellen

85 Für eine andere Position, namentlich vertreten durch Gottfried Boehm, ist die Abstraktion ein Schlüsselphänomen, um die neuere Kunstentwicklung zu verstehen. Nach seiner Definition ist Abstraktion „genuine Deutung von Realität“, die eine eigene Weise des Erkennens impliziert. Diese besteht für ihn gerade nicht in der Restituierung einer normativen Mimesislehre; Abstraktion macht vielmehr auf tiefgreifende Veränderungen im Wirklichkeitsbezug aufmerksam. Im Zuge einer dynamischen Deutung von Wirklichkeit enthüllt sich Realität ausschließlich in ihrer Bewegung, d. h. – so Boehm – in ihrem „Kraftcharakter“, aus dem sich „sowohl das historische Bedürfnis nach Abstraktion als auch die sachliche Beschaffenheit des abstrakten Werkes verständlicher machen lassen.“ Vgl. Boehm, Gottfried: Abstraktion und Realität. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne, in: Philosophisches Jahrbuch 97, 1990, S. 225-237, hier S. 233. 86 Vgl. Flach, Sabine: Abstraktion zwischen Kunst und Lebenswissenschaften. Laborarbeiten von von Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch und Michail Matjuschin, in: Blümle, Claudia/Schäfer, Armin (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaft, Berlin/Zürich 2007, S. 115-140. 87 Vgl. Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1977, S. 368-385, S. 371. Siehe dazu auch Kapitel VII dieser Studie.

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Tätigkeiten, automatisierten Bildverfahren und Aufschreibesystemen sowie industriellen Entwicklungen ausgebildete Denk- und Darstellungsform, die mit den Begriffen Moderne und Avantgarde eng verbunden ist. Unter Beachtung des Zusammenspiels von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung und den zeitgleich nutzbaren technischen Medien lässt sich überhaupt erst die Frage nach Schnittpunkten im ‚Wissen‘ von künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit stellen. Zudem setzt mit den Schriften von Wilhelm Worringer und Wassily Kandinsky ein Schreiben über das Phänomen Abstraktion ein, das paradigmatisch für das 20. Jahrhundert ist, von vielen Autoren wiederholt wird und dabei oft genug über die Darstellung als fachrelevantes Problem hinausgeht.88

E XKURS : D IE W ORTGESCHICHTE THEORETISCHEN K ONTEXT

IM ÄSTHETISCH -

Etymologisch entwickelt sich Abstrakt/Abstraktion aus dem spätlateinischen abstractum/abstractio (zum Verb abstrahere in der Bedeutung ‚fortschleppen‘, ‚rauben‘, griech. afairein, ‚abziehen‘, ‚absehen von etwas‘). Damit wird die Ablösung von Merkmalen sinnlicher Wahrnehmbarkeit oder anschaulicher Vorstellbarkeit bezeichnet.89 Die Frage, wie Denken vom sinnlich gegebenen Einzelnen zum Allgemeinen gelangen, wie der Übergang vom Konkreten zum Abstrakten erfolgen kann, ist zentral für die philosophische Erkenntnistheorie und bedeutungskonstitutiv für den Begriff der Abstraktion. In der philosophischen Auslegung Hegels erfährt der Begriff Abstraktion durch seine dialektische Umwertung der Opposition abstrakt-konkret eine Veränderung. War in der philosophischen Tradition vor Hegel dem Begriff konkret das Einzelne, durch die Sinne wahrnehmbar Gegebene zugeordnet und abstrakt die Bezeichnung für eine Vielheit von Einzelnem, so ist bei Hegel abstrakt gleichbedeutend mit ‚einfach‘ und konkret synonym für ‚komplex‘. Abstraktion ist für Hegel ein Akt des Geistes, der sich nicht als Vernunft, sondern als Verstand darstellt und 88 Abstraktion wird in diesem Sinne auch zu einem Begriff, Verfahren und Diagnoseinstrument, dessen Bedeutung und Verwendung im 20. Jh. zwischen ästhetischer und politischer Bedeutung oszilliert. 89 Vgl. Hoffmeister, Johannes: ‚Abstrakt‘ u. ‚Abstraktion‘, in: Regenbogen, Arnim/ Meyer, Uwe (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998 (1944), S. 8 f.

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durch Akte der Trennung bzw. Vereinzelung besondere Aspekte einer Allgemeinheit erkennt. Hegel betont, dass „das abstrahierende Denken [...] nicht als bloßes Auf-die-Seite-Stellen des sinnlichen Stoffes zu betrachten [ist], welcher dadurch in seiner Realität keinen Eintrag leide, sondern es ist vielmehr das Aufheben und die Reduktion desselben als bloße Erscheinung auf das Wesentliche, welches nur im Begriff sich manifestiert.“90 Abstraktion ist in diesem Sinne eine Funktion der Subjektivität, die ihre Bestimmung auf das intellektualistische ‚Ich denke‘ gründet. In der Begriffsbestimmung von Chambers Cyclopaedia wird Abstraktion die „operation of the mind whereby we separate things naturally conjunct, or existing together and form and consider Ideas of things thus separated“ 91. Auch wenn zeitlich parallel eine Negation von abstrakten Vorstellungen einsetzte – etwa durch George Berkeley92 –, so benennt Abstraktion doch „purity, simplicity, subtility“ 93. Diderot nimmt hinsichtlich der Abstraktion Bezug auf Locke, für den der Begriff eine enge Verbindung zur symbolischen Funktion der Sprache aufgewiesen hatte: „This is called Abstraction, whereby Ideas taken from particular Beings, become general Representatives of all of the same kind; and their Names general Names, applicable to whatever exists conformable to such abstract Ideas“94. Auch Diderot verbindet – und diese Annahme ist für die vorliegende Untersuchung von elementarer Bedeutung – die Abstraktion mit mentalen Vorgängen: „L’âme a le pouvoir d’unir ensemble les idées qu’elle a reçues séparément, de comparer les objects par le moyen des idées qu’elle en a, d’observer les rapports qu’elles ont entre elles, d’étendre ou de resserrer ses idées à son gré, de considérer séparément chacune des idées

90 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik II (1816), in: G. W. F. Hegel. Werke, Bd. VI (Suhrkamp-Theorie-Werkausgabe), Frankfurt am Main 1969, S. 259, Hervorhebung i. O. 91 Chambers, Ephraim: ‚Abstract‘, in: Chambers, Ephraim: Cyclopaedia. Or an universal dictionary of arts and sciences, Bd. I, 1728, nicht pag. 92 Vgl. Berkeley, George: Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge (1710), hg. v. C. Simon, London 1907, S. 24, 44-47, 187-205. 93 Chambers, Ephraim: ‚Abstract‘, in: Chambers, Ephraim: Cyclopaedia. Or an universal dictionary of arts and sciences, Bd. I, 1728, nicht pag. 94 Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding (1690), hg. v. P. H. Nidditch, Oxford 1979, S. 159 (2, 11, 9), Hervorhebungen i. O.

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simples qui peuvent s’être trouvées réunies dans la sensation qu’elles en a reçue. Cette dernière opération de l’âme s’appelle abstraction.“95

In der ästhetischen Theorie der Kunst des 18. Jahrhunderts ist Abstraktion auf der einen Seite das Mittel zur Herstellung absoluter Schönheit und somit gleichbedeutend mit Idealität. Mit dieser Form der Abstraktion sollten sowohl der Manierismus als auch der caravaggeske Naturalismus überwunden werden. 96 Künstlerische Schöpfung idealer Schönheit als eine Abstraktion von der Natur bezog sich auf die von Locke 1690 in An Essay Concerning Human Understanding entwickelte Theorie vom Erwerb abstrakter Begriffe über eine Empirie der Sinne. In diesem Sinn schrieb 1770 Joshua Reynolds im dritten seiner Discourses für die Malerei des ‚grand style‘, dass der Künstler, dem Verfahren des Philosophen entsprechend, „the variety of nature“ auf „the abstract idea“97 zu reduzieren habe. Auf der anderen Seite dient der Begriff Abstraktion der Charakterisierung allegorischer Darstellungen.98 Abstraktion wurde in zunehmendem Maße auf personifizierende Darstellungen bezogen. So vermerken Watelet und Levesque in ihrem Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure aus dem Jahr 1792, der Künstler benutze die Allegorie, „pour communiquer des pensées spirituelles, des idées abstraites, à l’aide de figures symboliques, de personnages tirés des Mythologies, d’êtres imaginaires & d’objets convenus.“99 Spätere Ästhetiker wie Karl Wilhelm Ferdinand Solger lehnten die Personifizierung bzw. Verbildlichung abstrakter Begriffe freilich ab: „Von der modernen Art, Gedanken als abstracte Begriffe in der Kunst auszudrücken, muß man abstrahiren; denn dadurch entstehen

95 Diderot, Denis: Recherches philosophiques sur l’origine et la nature du beau (1752), in: Denis Diderot. Œuvres esthétiques, Paris 1988, S. 432. 96 Vgl. Wagner, Monika: ‚Abstraktion‘, in: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen – Methoden – Begriffe, Stuttgart u. a. 2003, S. 1-3, hier S. 1. 97 Reynolds, Joshua: Discourse III (14. 12. 1770), in: J. Reynolds. The Works, hg. v. E. Malone, Bd. I, London 1797, S. 43. 98 Vgl. Wagner, Monika: ‚Abstraktion‘, in: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen – Methoden – Begriffe, Stuttgart u. a. 2003, S. 1-3, hier S. 1. 99 ‚Allégorie‘, in: Watelet, Claude-Henri: Dictionnaire des arts, de peinture, sculpture et gravure, Bd. I, 1792, S. 51.

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bloße Beziehungen des Verstandes, und der wirkliche Gegenstand gilt nur als Beispiel.“100 Eine Zuspitzung des Begriffs Abstraktion entwickelte sich im Vormärz. Friedrich Theodor Vischer lehnte Personifikation als Abstraktion ab, da die „Idealität der Abstraction von allem empirisch wirklichen Blut- und Säfte-Leben“101 bekämpft werden müsse, um ein Geschichtsbild propagieren zu können, das ausschließlich historische Individuen bevorzugt. Trotz aller Kritik waren auch im Historismus abstrakte Personifikationen weit verbreitet und veranlassten Jacob Burckhardt zu der Äußerung, dass „die eigentlichen Abstracta [...] auf einer Börse die Gestalten der Hausse und der Baisse“102 wären. Seit etwa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt es in der ästhetischen Theorie und künstlerischen Praxis zu einer Intensivierung der die Abstraktion begleitenden Antithesen, die zum Teil zu überlagernden Bezeichnungen führen. Zählt dazu nach wie vor der Begriff der konkreten Kunst und Dichtung, der nun nicht mehr als Antithese, sondern als Konkretisierung der Abstraktion selbst verstanden wird, so kommen Bezeichnungen wie etwa absolute, konsequente, elementare und experimentelle Kunst und Dichtung hinzu. Dabei können diese Begriffe entweder in affirmativem Verhältnis zur Abstraktion stehen oder sie konterkarieren. Zu den Begriffen, die einen Aspekt der Abstraktion intensivieren, zählt – eingebunden in eine lange begriffsgeschichtliche Tradition – die Reinheit, so dass Mark Cheetham in Bezug auf das Erscheinen der Abstraktion von einer ‚Rhetoric of Purity‘ spricht.103 Analoges gilt für das Verhältnis der Abstraktion zur Ungegenständlichkeit. Eine klare Gegenposition bezieht der Begriff hingegen zur Mimesis oder auch zur Naturwirklichkeit. Alle begrifflichen Verdichtungen sind jedoch gleichermaßen wesentlich für das Verhältnis der Abstraktion zur Realität, zu ihrer Deutung und Darstellung.

100 Vgl. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, zitiert nach: Flach, Sabine: ‚Abstrakt/Abstraktion‘, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. VII, Stuttgart/Weimar 2005, S. 1-40, hier S. 4. 101 Vischer, Friedrich Theodor: Kritik meiner Ästhetik (1923), Bd. III, S. 376, zitiert nach: Flach, Sabine: Abstrakt/Abstraktion, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v. Karlheinz Barck et al., Bd. VII, Stuttgart/Weimar 2005, S. 3. 102 Burckhardt, Jacob: Die Allegorie in den Künsten (1887), in: Jacob Burckhardt. Werke, hg. v. d. Jacob-Burckhardt-Stiftung, Bd. XIII, München 2003, S. 568. 103 Vgl. Cheetham, Mark: The Rhetoric of Purity. Essentialist Theory and the Advent of Abstract Painting, Cambridge, Mass. 1991.

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Im Zuge der für die Moderne typischen Ismus-Bildungen ergibt sich für die Abstraktion auch hier ein inhaltlicher Spannungsbogen, wie er sich z. B. an den Begriffen Impressionismus, Konstruktivismus, Kubismus, Surrealismus oder auch Automatismus verdeutlicht. In all diesen Kunstrichtungen ist es die Abstraktion als methodisches Verfahren, das dem jeweiligen ‚Ismus‘ auf praktischer Ebene zur Ausdruckskraft und auf theoretischer Ebene zur reflexiven Erörterung verhilft. Zudem wird die Abstraktion selbst in ihren künstlerischen Erscheinungsformen unterschieden: in lyrische Abstraktion, impressionistische Abstraktion, expressionistische Abstraktion, geometrische Abstraktion und auch magische Abstraktion. Allen Bezeichnungen gemeinsam ist ihr Verweis auf eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Ungegenständlichkeit. Abstraktion ist zum einen die Arbeit an der materiellen Erscheinung – wie Buchstaben, Silben, Wörtern – der Form, besonders in der bildenden Kunst, zum anderen eine Hinwendung zur geistigen, inneren Erlebniswelt des Künstlers, aber auch des Rezipienten. In der Literatur ist die Abstraktion bzw. die abstrakte Dichtung eine uneinheitliche und umstrittene Bezeichnung für eine Literatur, die sich sowohl vom logischen als auch vom gegenständlich-darstellenden Sprachaspekt abhebt. Sprache wird – ähnlich bestimmten abstrakten Tendenzen in der bildenden Kunst – wesentlich in ihrer Funktionalität und Materialität betrachtet. Es geht also immer um das Zeichensystem selbst, das freigesetzt und in seinen Bedeutungspotentialen erkannt werden soll.

1 ABSTRAKTION IN DER K UNSTTHEORIE ÄSTHETISCHEN P RAXIS

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Für das frühe 20. Jahrhundert steht die Abstraktion als Reaktion auf die epistemischen Krisen und Umbrüche der Repräsentation und ist somit eng an die Geschichte moderner Wahrnehmung und moderner Technologien gebunden.104 Abstraktion ist Entzug von Sichtbarkeit und sinnlicher Erfahrung und stellt sich durch den makroskopischen und den mikroskopischen Blick ein – zwei Modelle des Sehens, die die Auflösung der sichtbaren Welt etwa in Muster, in Strukturen, kurz:

104 Vgl. Flach, Sabine: ‚Experimentalfilme sind Experimente mit der Wahrnehmung‘. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Visualisierungstechniken im künstlerischen Experiment, in: Becker, Sabine (Hg.): Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9, München 2004, S. 195-221; Flach, Sabine: Zwischen Norm und Abweichung. Medizinische Körperdarstellungen im Kulturfilm der UfA, in: Sicks, Kai Marcel/Cowan, Michael (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massemedien 1918 bis 1933, Bielefeld 2005, S. 305-321.

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in Abstraktionen, symbolisieren. Einhergehend mit der Emanzipation der Betrachterfunktion, der Dynamisierung des Sehens und der Mechanisierung der Wahrnehmung wurde die Möglichkeit für ein ‚abstraktes Sehen‘ überhaupt erst vorbereitet.105 Reines Sehen wurde damit in der Subjektivität des Betrachters verortet. Dieser Prozess der Abstraktion als Dematerialisation in der künstlerischen Produktion verbindet sich einerseits mit Entwicklungen in den Natur- und Technikwissenschaften. Andererseits bildet Dematerialisation die Schnittstelle hin zur Legitimierung einer Beschäftigung mit okkulten, parapsychologischen und theosophischen Phänomenen.106 Für alle Künste dienen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse von der Umwandlung der Materie in Energie ebenso wie okkulte Lehren zur Begründung und Erklärung der Abstraktion. Theosophische und monistische Vorkriegsreligiosität – und ihre Anbindung an die gleichzeitig stattfindende okkulte Praxis – beschäftigte sich mit dem abstrakten Phänomen der Strahlung als naturwissenschaftliches Phänomen.107

105 Vgl. Crary, Jonathan: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge, Mass. 1990; Crary, Jonathan: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge, Mass. 1999. 106 Vgl. Schirn Kunsthalle/Loers, Veit (Hg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915 [Ausst.-Kat.], Ostfildern 1995. 107 Bereits während der 1920er Jahre wurde die Debatte um die Abstraktion politisch. Ebenso wie die proletarisch orientierten Positionen lehnte auch die politisch extreme Rechte die Abstraktion ab. Beiden galt sie als ein Dekadenzphänomen und als Inbegriff moderner Kunst. Abstraktion wurde somit zu einem politischen Kampfbegriff. In Deutschland wurde die Avantgarde-Kunst und besonders die Abstraktion offiziell als ‚Kunstbolschewismus‘ bekämpft, und damit auch die sie proklamierenden Institutionen. Eines ihrer theoretischen und praktischen Zentren, das Bauhaus, erlebte eine totale Isolierung in der Öffentlichkeit, die zur Auflösung der Institution und der Emigration ihrer Mitglieder in die USA führte. Unter dem totalitären Regime der Nationalsozialisten war ein Großteil der als ‚entartet‘ konfiszierten Kunstwerke abstrakte Kunst, die seit 1937 in gesonderten Ausstellungen präsentiert wurde, wobei die Ausstellung Entartete Kunst einen herausragenden Aspekt nationalsozialistischer Kunstpropaganda darstellte. Hier wurde der Kreis der als entartet geltenden Künstler dann auch historisch ausgeweitet, z. B. auf van Gogh, Gauguin oder Klee.

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1a Abstraktion als reine Form Abstraktion von der visuellen Erscheinung und die Abgrenzung von naturalistischen oder idealisierenden Verfahren in der Kunst erklären den Gewinn an Bedeutung, den die Abstraktion in der ästhetischen Theorie und künstlerischen Praxis im Lauf des 19. Jahrhunderts erfährt. Insbesondere der Impressionismus als eine exklusiv der Wahrnehmung verpflichtete Kunstrichtung favorisiert die Darstellung ephemerer Erscheinungen, wie etwa die des Lichts. Die Symbolisten gaben einer interesselosen, aber subjektiven Intuition den Vorrang. Paul Gauguin spricht daher von einem „rêve“, dem er in seinem Bild D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous? (1897) Gestalt zu geben versucht habe, „dans un décor suggestif [...] sans aucun recours à des moyens littéraires“. „Voyez-vous“, schrieb er im März 1899, „j’ai beau comprendre la valeur des mots – abstrait et concret – dans le dictionnaire, je ne les saisis plus en peinture.“108 Gauguin war alle Kunst Abstraktion, der Künstler solle mit Phantasie und Erinnerung arbeiten. Der Begriff Abstraktion speist seine Bedeutung zunächst aus zwei Richtungen, für die der Gegenbegriff jeweils bezeichnenderweise Repräsentation lautet: Zum einen intensiviert sich das Interesse an der durch die Abstraktion zum Ausdruck gebrachten Unabhängigkeit des formalen Werts des Kunstwerks gegenüber seinen beschreibenden Funktionen. Diese Lesart des Begriffs formulierte Maurice Denis 1890 in seiner Definition eines Kunstwerks: „Se rappeler qu’un tableau – avant d’être un cheval de bataille, une femme nue, ou une quelconque anecdote – est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblées.“109 Zum anderen ist Abstraktion – als eine weitere These der vorliegenden Untersuchung – die Antithese zur Repräsentation durch eine Entwicklung, wie sie sich etwa in der symbolistischen Literatur und Kunst schon im späten 19. Jahrhundert ausbildete: Die künstlerische Aufmerksamkeit bezog sich weniger auf die Darstellungen eines Objektes selbst als vielmehr auf die im Betrachter ausgelösten Emotionen. In diesem Sinne verstärkt sich die Bedeutung der Hervorbringung und Sug-

108 Paul Gauguin an André Fontainas (März 1899), in: Gauguin, Paul: Lettres à André Fontainas, Paris 1994, S. 16. 109 Denis, Maurice: Définition du Néo-Traditionnisme (1890), in: Denis, Maurice: Théories. 1890-1910. Du Symbolisme et de Gauguin vers un nouvel ordre classique, Paris 1920, S. 1-13, hier S. 1.

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gestion im künstlerischen Prozess gegenüber der direkten Beschreibung und expliziten Analogie. Auch hier wird Abstraktion als Form bedeutungsgenerierend, wie in der bildenden Kunst zunächst durch die Reformbestrebungen von Jugendstilkünstlern wie Adolf Hölzel und Henry van de Velde deutlich wird. Rein-Künstlerisches als eine zentrale Kategorie autonomer Kunst wendet sich gegen die Gegenständlichkeit und postuliert die Selbstbezüglichkeit der künstlerischen Mittel. Abstraktion ist dann ‚absolute Kunst‘. Wie Adolf Hölzel in seiner Schrift Über Formen und Massenvertheilung im Bilde von 1901 darlegt, erzeugt Abstraktion Formfiguren, die „im Beschauer einen natürlichen, wohlthuenden und harmonischen Eindruck“ hervorrufen. Die Betonung der Form gegenüber dem Gegenstand gibt „ein malerisches Mittel in die Hand, etwa vom Gegenständlichen oder sonst anderem abzulenken, wenn uns dieses zu aufdringlich erscheinen sollte. [...] Für die malerische Wiedergabe werden sich der Gleichmässigkeit wegen die regelmässigen oder geometrischen ebenen Figuren (Quadrat, Rechteck, Dreieck, Kreis etc.) in der Regel weniger eignen. Es werden hiefür die unregelmässig geformten mehr in Betracht kommen müssen. Da diese zur Ausschmückung der Fläche besonders geeignet erscheinen, so bezeichnet man sie auch mit dem Ausdrucke ‚ornamentale Formen‘.“110

Abstraktion ist ungegenständliche, von allen inhaltlichen Bezügen freie, reine und autonome Wirkung von Form und Farbe. Hölzel arbeitete an objektiven Kompositionsgesetzen für abstrakte, aber auch für gegenständliche Formen ebenso wie an einer Farbenlehre. Beides diente ihm dazu, Kunst als eine selektive Aufbereitung von Sinnesdaten naturwissenschaftlich zu begründen. Hölzel – ein Leser der Schriften von Hermann von Helmholtz, Wilhelm Wundt, Conrad Fiedler und Adolf von Hildebrand – ging es, – ähnlich wie der Psychophysiologie des 19. Jahrhunderts – um die Stabilisierung der Wahrnehmung des Subjekts und damit um seine Vorbereitung für die Modernität. Der harmonische Eindruck, den Hölzel zu erreichen strebte, ist dann auch weniger eine medienspezifische Befreiung künstlerischer Formen als vielmehr eine Befreiung des reizermüdeten Betrachters hin zu höchster Empfindung.

110 Hölzel, Adolf: Über Formen und Massenvertheilung im Bilde, in: Ver sacrum 4, H. 15, 1901, S. 246-254, hier d. S. 247, 252 f.

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Ist die Abstraktion als Ornamentik die Arbeit an objektiven Kompositionsgesetzen, so leistet sie für Henry van de Velde die Entwicklung ‚zum neuen Stil‘, der über eine kunstimmanente Diskussion weit hinausgeht. 111 In seiner Publikation Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe (1901) verbindet er „moderne Versuche mit dem Ziel einer abstrakten oder geistigen Ornamentik“112 und schließt somit an die utopischen Vorstellungen der bürgerlichen Reformbewegungen um 1900 an. Die erzeugte neue Stilkunst „als zugleich ästhetische, ethische und ‚rationale‘ Transformation der gesamten Materialkultur“ ermöglicht ein neues Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft. Im Gegensatz zum Realismus, der seine Sujets durch die Abbildung sozialer Realität fand, „wird die neue Ingenieurkunst und Ornamentik nicht Sujets ‚vom Volke leihen‘ [...], sondern sich ihm mit ihrer abstrakten Wirkmacht ‚hingeben‘“. Diese Hingabe ist durch die subjektive Einfühlung in ein „unmittelbar erschließbares System gegenstandloser Kraftlinien“113 möglich. Einen historischen Vorläufer für diese Form der gesellschaftlichen Bedeutung des abstrakten Ornaments findet van de Velde in der griechischen Kunst: „Die symbolische Ornamentik entlehnte wohl der Natur die Gegenstände, denen sie eine ideale Bedeutung beilegte, aber sie wandelte sie entsprechend in Abstraktionen um. Diese haben ihren abstrakten Charakter so lange gewahrt, wie das Symbol beibehalten wurde [...]. Man kann aber behaupten, dass das Ornament abstrakter Natur ist, und es ist folglich keine aussergewöhnliche Erscheinung, dass man es wieder in seine richtigen Schranken weist. Die griechische Kunst gibt uns genauen Aufschluss über das Wesen des Ornaments, das in der griechischen Architektur eine lebenerweckende Funktion ausübt, d. h. nichts Eigenes ausdrückt! In der Tat, vor der Zeit des Verfalls stellte das griechische Ornament nichts vor! Die Griechen verfuhren ornamentalisch, um Leben in ihre Werke zu bringen.“114

Angewandte Kunst war also Stilkunst und das heißt: Abstraktion. Mit diesem Abstraktionsprozess ging eine Diskussion um die Aufwertung des Ornaments als künstlerisches Problem und historisches Phänomen einher, die besonders in Wien

111 Vgl. Velde, Henry van de: Zum neuen Stil, hg. v. H. Curjel, München 1955. 112 Velde, Henry van de: Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe, Berlin 1901, S. 101. 113 Zeidler, Sebastian: [Redaktioneller Einführungstext zu Van de Velde, Kunstgewerbliche Laienpredigten, 1902], in: Harrison, Charles/Wood, Paul/Zeidler, Sebastian (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. I, Ostfildern-Ruit 1998, S. 62. 114 Velde, Henry van de: Kunstgewerbliche Laienpredigten, übers. v. J. Zeitler/E. Backhausen, Leipzig 1902, S. 183 f., Hervorhebung i. O.

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um 1900 äußerst kontrovers geführt wurde. Der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl untersucht in seiner Publikation Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik die Entwicklung und Bedeutung des geometrischen Stils in der historischen Ornamentik. Er argumentiert gegen Gottfried Semper, der die materialistische These vertreten hatte, geometrische Formen seien aus der Technik des Flechtens und Webens hervorgegangen. Riegl hingegen versteht den geometrischen Stil der urgeschichtlichen Kulturen als das Ergebnis „eines elementaren künstlerischen Schmückungstriebes“, der aus einem „frei schöpferischen Kunstwollen“115 heraus entstanden sei: „Man ging [...] daran, aus der Linie selbst eine Kunstform zu gestalten, ohne dabei ein unmittelbares fertiges Vorbild aus der Natur im Auge zu haben.“116 Lineare oder ornamentale Elemente werden abstrakt, d. h. durch Betonung von Fläche und Form ohne Anlehnung an ein Naturvorbild, gestaltet. Damit ist diese Abstraktion der Gegenbegriff zu mimetischen künstlerischen Arbeitsweisen, die seit Aristoteles’ Poetik die Produktion der ästhetischen Erfahrung bestimmt hatten. Eine kritische Position bezog indes Adolf Loos in seiner Polemik gegen ornamentales Gestalten in Kunstgewerbe und Architektur. Er bezeichnet das Dekorieren – des Körpers ebenso wie von Objekten – als Ausdruck einer ‚primitiven‘ Haltung, die er auf die Indianer (bzw. in seiner Publikation Ornament und Verbrechen (1908) auf das Volk der Papua) bezieht: „Je tiefer ein volk steht, desto verschwenderischer ist es mit seinem ornament, seinem schmuck.“ Daher ist für Loos die Ornamentierung in der europäischen Kultur der Wende um 1900 nicht vertretbar, denn „die schönheit nur in der form zu suchen und nicht vom ornament abhängig zu machen, ist das ziel, dem die ganze menschheit zustrebt.“117 Doch bei Riegl ist das Ornament keine überbordende, sondern puristische Form, die er allerdings aus der Kultur- und Formgeschichte des geometrischen Ornaments heraus entwickelt. Aus ihr lässt sich nach seiner Überzeugung ein „kristallinisches“ Kunstwerk schaffen, denn „im anorganischen Schaffen erscheint der Mensch völlig ebenbür-

115 Riegl, Alois: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (1893), Berlin 1923, S. 24. 116 Riegl, Alois: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (1893), Berlin 1893, S. 3. 117 Loos, Adolf: Das Luxusfuhrwerk (1898), in: Adolf Loos. Ins Leere gesprochen. 1897-1900, hg. v. A. Opel, Wien 1981 (1921), S. 94-100, hier S. 97.

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tig mit der Natur, schafft auch er rein aus innerm Drang, ohne alle äußeren Vorbilder“118. Beide Konzepte des Ornaments, ob affirmativ, wie bei Riegl, oder ablehnend, wie bei Loos, lösen das Ornament vom Gebrauchszweck und verstehen es als rein künstlerischen Ausdruck. Somit ist eine Voraussetzung für eine autonome, ungegenständliche Kunstrichtung im frühen 20. Jahrhundert gegeben. Der Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch eine Konvergenz der Künste aus, an der neben Malerei, Film, Musik, Plastik, Theater, Tanz, Photographie und Architektur auch die Literatur zunehmenden Anteil hatte.119 So schwierig die Kooperationen, die zur Signatur jener Zeit werden, im Einzelnen zu bezeichnen sind, so klar sind die gemeinsamen Kriterien der Kulturkritik, des utopisch-ideologischen Denkens sowie eines Normbruchs, der sich sowohl einer Antiästhetik als auch einem antitraditionellen Habitus verpflichtet fühlt. Die expressionistische Kunst gilt als Prototyp einer gegen Naturalismus und Realismus gerichteten Wende in der modernen Ästhetik. Den Gehalt einer Epoche als „gesellschafts- und kulturkritische Negation des ‚Gegebenen‘“ in einer ästhetischen Reflexion zu fassen, wurde zu einer kunstkritischen Grundlage. Die Radikalität dieser Reflexion führte sowohl zu einem utopisch-visionären Habitus, als auch zum Umschlag in eine formalistische Abstraktion, deren Kennzeichen in der Literatur die „Typisierung“ von Figuren „zu ideellen Protagonisten“, die „greifbare Tendenz“ der Lyrik „zu Prophetie und hyperbolischer Intuition sowie der Zug zur absoluten Prosa“ 120

118 Riegl, Alois: Historische Grammatik der bildenden Künste (entst. 1897/1898), hg. v. K. M. Swoboda/O. Pächt, Graz 1966, S. 76. 119 Ein antihistorischer Aspekt der Sprachreflexion wendet sich gegen die Sprache als Ausdruck bürgerlicher Kultur. Dieses Motiv offenbart die Erneuerung der Sprache, wie sie sich pointiert in der kritischen Destruktivität der Dadaisten und Futuristen findet und in der Erfindung des Lautgedichts sichtbar wird. Eine abstrakte Dichtung, die nur mehr sich selbst darstellt, ist reine Konkretion, die Schwitters wie folgt definiert: „Nachdem nun die Entwicklung gezeigt hat, daß man beim abstrakten Bilde, d. h. beim Bilde, welches nicht darstellt, sondern da-stellt, ein Kunstwerk schaffen kann, ist wieder eine weitere Stufe der Kunstentwicklung erreicht worden, und die Entwicklung kann nicht rückwärts gehen.“ In diesem Sinne führt Abstraktion dann zu einer ikonischen Verwendung der Sprache als Bild. Das Zitat aus: Schwitters, Kurt: Ich und meine Ziele (1931), in: Kurt Schwitters. Das literarische Werk, hg. v. F. Lach, Bd. V, Köln 1981, S. 340-348, hier S. 342. 120 Anz, Thomas/Stark, Michael: Visionen und Abstraktionen, in: Anz, Thomas/Stark, Michael (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, Stuttgart 1982, S. 559-562, hier S. 559.

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war. Für die bildende Kunst belegt der Kunsthistoriker Kurt Gerstenberg diese Entwicklung mit dem Begriff des ‚Abstraktionismus‘, den er wie folgt definiert: „Über die Ausdrucksform muß der Weg zur absoluten Form führen und die Steigerung alles Gegenständlichen in Farbe und Form muß zur Gegenstandslosigkeit verklärt werden. Gewinnung der reinen Form und der reinen Farbe ist die zukunftsreiche Losung.“121 Abstraktion wendet sich gegen die naturalistische Mimesis und ist gleichbedeutend mit dem Bestreben, die Emanzipation der Kunst weiter voranzutreiben. Carl Einstein stellte diese ästhetische Autonomie apologetisch dar: „Man warf uns vor – ‚Ihr seid Schulmeister, von Abstraktionen verführt, steril ist euch Hirn und Auge, ihr vergaßt die Kraft der Anwendung. Abstraktion ist unsinnlich, undichterisch, ist das tote Ende jeden Prozesses.‘ [...] Dichten gilt den Neuen nicht für geschmackvolles Ordnen des irgendwie gegebenen Stoffes. Sie glauben, daß den autonomen Formen des Dichterischen autonome Gebilde entsprechen, die gleichsam von Beginn an spezifisch dichterisch sind.“122

Diese Abstraktionstendenz beinhaltete sowohl eine Lösung vom abbildenden Bezug zur Realität als auch eine Reduktion der referentiellen Funktion der Sprache. Abstraktion ist somit ein Verfahren der Reduktion komplexer Wirklichkeit. Sie ist ein Symptom für eine Desorientierung des Wissens und der Erkenntnis und zugleich der Versuch, die als unübersichtlich und disparat geltende Welt neu zu gliedern und vor allem: sie auf Wesentliches zu reduzieren. 123 Benannt ist damit Simultaneität, die in der kritischen Definition von Theodor Däubler zu Abstraktion führt: „Simultanität ist unser gefährlicher Reichtum, der Charakter ist Expressionismus. [...] Die simultanistische Überfülle von Gelerntem, nur flüchtig Aneigenbarem, führt zu Abstraktionen, nervischen Erkenntlichkeitszeichen mehr als zu erschöpfendem Wissen, Eingeweihtsein. Wir tragen ganze Namensregister herum, auch lieber auf den Tastorganen, als im

121 Gerstenberg, Kurt: Abstraktionismus, in: Der Weg [München], H. 1, 1919, S. 6. 122 Einstein, Carl: Über Paul Claudel (1913), in: Carl Einstein. Werke, hg. v. H. Haarmann/K. Siebenhaar, Bd. I (Berliner Ausgabe), Berlin 1994, S. 186. 123 Vgl. Anz, Thoma/Stark, Michael: Visionen und Abstraktionen, in: Anz, Thomas/Stark, Michael (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, Stuttgart 1982, S. 559-562, hier S. 560.

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Großhirn: hinter jedem Namen eine Wichtigkeit, oft ganz winzig, aber doch stenogrammatisch in uns eingesetzt, versponnen.“124

1b Musik als Abstraktion Für die ästhetische Theorie des frühen 20. Jahrhunderts ermöglichte die Bevorzugung der flachen, dekorativen Malerei, die um die Bewegung des Art Nouveau angesiedelt war, Vergleiche von Kunst und Musik, mit denen immer auch Erneuerungsbestrebungen der Künste verbunden waren. Die puren Konditionen der Musik ließen sie zur dominierenden abstrakten Kunstform werden. Abstraktion ist dann die Erneuerung der Künste aus der Musik. In diesem Sinne verband der Architekt und Gestalter August Endell als einer der Vorreiter dieser Denkrichtung mit der Analogie zur Musik gar eine neue Weise des Sehens. „Dem Wissenden kann diese Mutlosigkeit [die erzeugt wird aus dem Glauben, es könne keine neuen Formen geben - d. Verf.] nur lächerlich scheinen. Denn er sieht klar, dass wir nicht nur im Anfang einer neuen Stilperiode, sondern zugleich im Beginn der Entwicklung einer ganz neuen Kunst stehen, der Kunst, mit Formen, die nichts bedeuten und nichts darstellen und an nichts erinnern, unsere Seele so tief, so stark zu erregen, wie es nur immer die Musik mit Tönen vermag. Dem Barbaren ist unsere Musik zuwider; es gehört Kultur und Erziehung dazu, sich ihrer zu freuen. Auch die Freude an der Form will errungen sein: man muss es lernen zu sehen und sich in die Form zu vertiefen. Wir müssen unsere Augen entdecken.“125

Im Vergleich der Abstraktionsleistungen von Malerei und Musik stand wiederum der Formgedanke im Zentrum. Über Form lässt sich Abstraktion erreichen und in der Musik vollendeter ausbilden. Die Eigenschaften von Linien, Farben und Rhythmen sollten in der Folge zu den dominierenden Beschäftigungen von Künstlern und Theoretikern werden. George Santayana notierte – nach der Erfahrung, dass Farben ebenso wie ein musikalischer Klang unangenehme wie angenehme Gefühle auslösen können: „A more general development of this sensibility would

124 Däubler, Theodor: Simultanität, in: Die weißen Blätter 3, H. 1, 1916, S. 108-121, hier S. 116 f. 125 Endell, August: Formenschönheit und dekorative Kunst, in: Bruckmann, Hugo/MeierGraefe, Julius (Hg.): Dekorative Kunst, Bd. I, München 1898, S. 75.

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make possible a new abstract art, an art that should deal with colours as music does with sound“126. Für Wassily Kandinsky war mit dieser Neugestaltung der Künste durch die Abstraktion der Musik zum einen die Vorstellung einer besonderen Kraft verbunden, wie er sie nach einer Aufführung von Wagners Lohengrin beschreibt. Er kam zu der Überzeugung, dass „die Malerei ebensolche Kräfte, wie die Musik besitzt, entwickeln könne“127. Zum anderen bringt er Abstraktion in engen Bezug zur Reinheit, die er mit Musik vergleicht, womit er sein Konzept der Erneuerung der bildenden Künste durch das Streben nach Reinheit und Geistigkeit zugleich von der Musik aus formuliert: „Nach der Musik wird die Malerei die zweite Kunst sein, die ohne Konstruktion nicht denkbar sein wird und schon heute nicht ist. So erreicht die Malerei die höhere Stufe der reinen Kunst, auf welcher die Musik schon einige Jahrhunderte steht.“128 An anderer Stelle schreibt er: „Wie es schon ziemlich lange eine Musik mit Worten gibt (ich spreche allgemein), das Lied und die Oper, und eine Musik ohne Worte, die rein sinfonische Musik oder die ‚reine‘ Musik, so gibt es gleichfalls, seit 25 Jahren, eine Malerei mit und ohne Gegenstand.“129 Abstraktion als Reinheit, die ihren Ausdruck in der Musik findet, vermerkt ebenfalls der Synchromist Macdonald-Wright: „I strive to divest my art of all anecdote and illustration, and to purify it to the point where the emotions of the spectator will be wholly aesthetic, as when listening to good music. [...] Illustrative music is a thing of the past: It has become abstract and purely aesthetic, dependent for its effect upon rhythm and form. Painting, certainly, need not lag behind music.“ 130

126 Santayana, George: The Sense of Beauty. Being the Outlines of Aesthetic Theory (1896), New York 1936, S. 58. 127 Kandinsky, Wassily: Rückblicke (1913), in: Kandinsky. 1901-1913, Berlin 1913, S. IX. 128 Kandinsky, Wassily: [Ohne Titel], in: Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den ‚Protest Deutscher Künstler‘. Mit Beiträgen deutscher Künstler, Galerieleiter, Sammler und Schriftsteller, München 1911, S. 73-75, hier S. 75. 129 Kandinsky, Wassily: Die Kunst von heute ist lebendiger denn je (1935), in: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 152-162, hier S. 158. 130 Wright-Macdonald, Staton: [Explanatory Notes], in: The Forum Exhibition of Modern American Painters. March 13 to March 25. 1916, New York 1916, nicht pag.

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Für einige Theoretiker und Praktiker entwickelt sich Musik dann zur dominierenden Kunst der Abstraktion als Ausdruck einer nicht zu übertreffenden Verfeinerung. In seiner Schrift Le musicalisme erläutert der Maler Henry Valensi ein Entwicklungsmodell, in dem in jeder Epoche eine dominierende Kunstform auszumachen ist. Architektur, Plastik, Malerei, Literatur und Musik entsprechen fünf Entwicklungsstadien der Menschheit, als Menge, Gruppe, Individuum, Intelligenz und Seele. Der damit einhergehenden stetigen Verfeinerung des Materials entspricht jene des Intellekts und der Empfindung. Die Entwicklung führt nun aber gerade nicht zur abstrakten Kunst; Abstraktion als jene Tendenz der Entmaterialisierung und Einbeziehung der Zeit in ein Kunstwerk ist vielmehr ‚musicalisme‘.131

1c Abstraktion zwischen Metaphysik und Technik Ein mystisch verstandener Zugang zur Natur, der sich gegen eine technisch geprägte und urban organisierte Gesellschaft richtete, bildete für Franz Marc, der den „reinen Willen zum Abstrakten“ der primitiven Kunst mit dem „europäischen Willen zur abstrakten Form“132 verglich, den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur abstrakten Kunst, deren Wesen sich „aus einem inneren Zwang“ heraus erklärt und sich gegen die „Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit“ 133 wendet. Künstlerische Abstraktion erreicht hier die Fähigkeit, dem Nicht-Sichtbaren als der metaphysischen Essenz Ausdruck zu verleihen. Kunst bringt die ‚absolute‘ und ‚abstrakte‘ Wesenheit der Dinge hervor. Mimesis als anthropomorphen Ausdruck der Repräsentation suchte Marc zu eliminieren. Auf dieser Grundlage skizzierte er in den Jahren 1912-1913 eine Definition der Abstraktion. In seinem Essay ‚Die konstruktiven Ideen der neuen Malerei‘ vom März 1912 schreibt er: „Dagegen setzt heute [...] eine ganz neue, in der Kunstwelt universale Bewegung ein, der alle Künste unterliegen. Diese Bewegung nimmt, soweit sie heute überhaupt historisch zu fassen ist, eine umgekehrte Richtung als alle früheren, in denen das Wollen und Können zu immer größerer Übereinstimmung mit dem äußeren Naturbilde strebte, das mit seinem hellen Tageslichte die geheimnisvollen und abstrakten Vorstellungen des Innenlebens verscheucht. Im Gegensatz hierzu strebt die neue Bewegung auf einem anderen Wege zurück

131 Vgl. Valensi, Henry: Le musicalisme, Paris, 1936. 132 Marc, Franz: Die 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht (Anfang 1915), in: Franz Marc. Schriften, hg. v. K. Lankheit, Köln, 1978, S. 210. 133 Marc, Franz: an L. (12. 4. 1915), in: Marc, Franz: Briefe aus dem Feld, Berlin 1948, S. 63.

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zu den Bildern des Innenlebens, das die Forderungen der wissenschaftlich faßbaren Welt nicht kennt.“134

In einem Fragment aus demselben Jahr definiert er Abstraktion: „Was wir unter ‚abstrakter Kunst‘ verstehen. [...] Es ist der Versuch‚ und die Sehnsucht, die Welt nicht mehr mit dem menschlichen Auge anzusehen und darzustellen, sondern die Welt selbst zum Reden zu bringen. [...] Die Kunst ist metaphysisch, wird es sein; sie kann es erst heute sein. Die Kunst wird sich von Menschenzwecken und Menschenwollen befreien. Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr ‚abstraktes‘ absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt, den wir nur sehen; es wird uns soweit gelingen, als es uns gelingt, den λόγος von Jahrtausenden [...] beim künstlerischen Schaffen zu überwinden. Alles künstlerische Schaffen ist a-logisch. Es gibt künstlerische Formen, die abstrakt sind, mit Menschenwissen unbeweisbar; sie hat es zu allen Zeiten gegeben, aber stets wurden sie getrübt von Menschenwissen, Menschenwollen [...]. Der Glaube an die Kunst an sich fehlte, wir wollen ihn aufrichten; er lebt auf der ‚anderen Seite‘.“135

Abstraktion war der bildnerische Ausdruck für eine bisher nicht-sichtbare Realität. Was Marc mit dieser Definition der Abstraktion ausschloss, war eine mechanisierte, technisierte Modernität, die ihre Grundlagen in den angewandten Wissenschaften und einer expandierenden Ökonomie fand.136 Damit ist Abstraktion für Marc die Hinwendung zur Metaphysik. Eine andere Richtung, die in der frenetischen Affirmation des Technischen mündete, vertritt der Italiener Filippo Tommaso Marinetti. Marinetti, zunächst erfolgreicher symbolistischer Dichter, wandte sich gegen den Symbolismus, um 1909 mit dem Manifest des Futurismus dem neuen Zeitalter mit einer neuen Poetik zu antworten, die die Dynamik, Simultaneität, Geschwindigkeit und Veränderung als Signatur der Moderne feierte.

134 Marc, Franz: Die konstruktiven Ideen der neuen Malerei (März 1912), in: Marc, Franz: Die 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht (Anfang 1915), in: Franz Marc. Schriften, hg. v. K. Lankheit, Köln 1978, S. 105. 135 Marc, Franz: [Aufzeichnungen auf Bogen in Folio ohne Titel. Thesen über die ‚abstrakte‘ Kunst und über ‚Grenzen der Kunst‘. Fragment (1912-1913)], in: ebd., S. 112 f. 136 Vgl. Morgan, David: The Enchantment of Art. Abstraction and Empathy from German Romanticism to Expressionism, in: Journal of the History of Ideas 57, H. 2, 1996, S. 317-343.

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Den Futurismus begründete Marinetti in der vollkommenen Eliminierung kultureller, moralischer, ethischer und politischer Werte und Traditionen: „La letteratura esaltò fino ad oggi l’immobilità pensosa, l’estasi e il sonno. Noi vogliamo esaltare il movimento aggressivo, l’insonnia febbrile, il passo di corsa, il salto mortale, lo schiaffo ed il pugno. [...] Noi siamo sul promontorio estremo dei secoli!... Perché dovremmo guardarci alle spalle, se vogliamo sfondare le misteriose porte dell’Impossibile? Il Tempo e lo Spazio morirono ieri. Noi viviamo già nell’assoluto, poiché abbiamo già creata l’eterna velocità onnipresente.“137

2 „ABSTRAKTIONSDRANG “ UND DAS „R EIN K ÜNSTLERISCHE “: W ORRINGERS UND K ANDINSKYS P ROMOTION DER ABSTRAKTION 2a Wilhelm Worringer Abstraktion als ein ästhetischer Grundbegriff, als ein Verfahren, das nicht nur zwischen den Diskursfeldern Kunst und allem Außerkünstlerischen vermittelt, sondern vielmehr noch: Abstraktion ist genau jener ‚missing link‘, der als analytisches Verfahren, als zwischen distinkten Diskursfeldern synthetisierend Moderation, als praktische Umsetzung in künstlerischen und wissenschaftlichen Produktionen explizit neues Wissen hervorbringt, und zwar konkret durch Abstraktion. Im Programmdiskurs der ästhetischen Moderne wurde Abstraktion entscheidend durch zwei Schriften etabliert. Darauf verweist als einer der ersten bereits 1912 Franz Marc, indem er in einem Essay in der Zeitschrift PAN Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst aus dem Jahr 1911 und die im Jahr 1908 erschienene

137 Marinetti, Filippo Tommaso: Fondazione e Manifesto del Futurismo (1909), in: Maria, Luciano de (Hg.): Marinetti e il futurismo, Mailand 1973, S. 5 f.; dt.: Manifest des Futurismus, übers. v. C. Baumgarth, in: Schmidt-Bergmann, Hansgeorg (Hg.): Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek b. Hamburg 1993, S. 77: „Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. [...] Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“

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Dissertation Abstraktion und Einfühlung des Kunsthistorikers Wilhelm Worringer, an der er den „streng historischen Geist [...], der den ängstlichen Gegnern der modernen Bewegung einige Beunruhigung verursachen dürfte“, herausstellte. Er empfand die genannten Publikationen Worringers und Kandinskys als wegweisend für die gesamte zukünftige Kunstentwicklung: „Heute liegen, soweit ich es zu übersehen vermag, nur zwei Versuche vor, die Grundlagen einer solchen Dogmatik zu schaffen.“138 Trotz der nahezu euphorischen Bewertung wurde Worringers Schrift und das mit ihr eingeführte Begriffspaar ‚Abstraktion‘ und ‚Einfühlung‘ jedoch auch heftig kritisiert. Der antitraditionelle Aspekt des Abstraktionspostulats erklärt auch die Zuwendung der Expressionisten zur Kultur der Primitiven. Der desolate Zustand der bürgerlichen Kunstrezeption wurde durch Bildungskritik, Kunstrezeption und Kulturmüdigkeit mit der elementaren Präsenz und Verbindlichkeit des primitiven Kunstwerks konfrontiert. 139 Visionäre Abstraktion gehört zu den zeitdiagnostischen Bestandteilen einer expressionistischen Kulturtheorie, die vom Chaos zur Gestaltung gelangen wollte und sich gegen die von Worringer eingebrachte Einfühlung als Antithese zur Abstraktion richtete: „Man ist also im Expressionismus nicht leidenschaftlich um der Leidenschaft willen, nicht typisch um des Typus willen, man benützt die Verschwendung der Leidenschaft, die Abstraktion, die Typisierung nur, um aus dem Chaos das Bewegte in die Ruhe zu isolieren. So sehr ist man jetzt bestrebt zu fixieren, daß man sogar die Herkunft der Abstraktion aus der Bewegtheit zu verbergen sucht. Man sucht zu verbergen, daß die Abstraktion aus der Anschauung des Chaos entstanden ist. Darum konstruiert man zum Begriff der Abstraktion den polaren Begriff der Einfühlung. Anstatt daß sich ein Gefälle von der Anschauung des Chaos hin zur Abstraktion bewegt, fixieren sich die polaren Begriffe Abstraktion und Einfühlung. Das bewegte Vorstellungsgebilde soll in ein fixiertes verwandelt werden.“140

138 Marc, Franz: Die 100 Aphorismen. Das zweite Gesicht (Anfang 1915), in: Franz Marc. Schriften, hg. v. K. Lankheit, Köln 1978, S. 107. 139 Vgl. Anz, Thomas/Stark, Michael: Visionen und Abstraktionen, in: Anz, Thomas/Stark, Michael (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, Stuttgart 1982, S. 559-562, hier S. 560. 140 Picard, Max: Expressionismus. Ein Vortrag, in: Wolfenstein, Alfred (Hg.): Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, Berlin 1919, S. 332, Hervorhebung i. O.

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‚Abstraktionsdrang‘ sei, formuliert Worringer, der „Ausgangspunkt allen künstlerischen Schaffens“141. Abstraktion ist bei Worringer weit mehr als die ästhetische Umschreibung eines künstlerischen Sachverhaltes; die Antithese von ‚Abstraktion und Einfühlung‘ dient Worringer als Rahmen, auf die Krisenfaktoren seiner Zeit nicht nur zu reagieren, sondern sie vor allem auch historisch bestimmen und herleiten zu können – ein Sachverhalt, den er durch den Untertitel der Publikation, ‚Ein Beitrag zur Stilpsychologie‘, weiter konkretisierte: „Die Erinnerung an die tote Form einer Pyramide oder an die Lebensunterdrückung, wie sie sich z.B. in byzantinischen Mosaiken manifestiert, sagt uns ohne weiteres, daß hier das Einfühlungsbedürfnis, das aus naheliegenden Gründen immer dem Organischen zuneigt, unmöglich das Kunstwollen bestimmt haben kann. Ja, es drängt sich uns der Gedanke auf, daß hier ein Trieb vorliegt, der dem Einfühlungstrieb direkt entgegengesetzt ist und der das, worin das Einfühlungsbedürfnis seine Befriedigung findet, gerade zu unterdrücken sucht. Als dieser Gegenpol des Einfühlungsbedürfnisses erscheint uns der Abstraktionsdrang.“ 142

Mit der die Argumentation durchgehend stützenden Antithese Abstraktion und Einfühlung, als „zwei Pole menschlichen Kunstempfindens“143 orientierte sich Worringer vermutlich an dem Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin, dessen Vorlesungen er hörte. Die Entwicklungsgesetze von Formanalyse und Stilgeschichte erklärte Wölfflin z. B. im Sommersemester 1904 durch polare Grundbegriffe, mit denen er in seiner Publikation Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (1915) eine ‚Kunstgeschichte ohne Namen‘ etablierte. Das Abstraktionskonzept Worringers steht zudem in kunsttheoretischer Perspektive in der Tradition der Formanalyse Alois Riegls. Erhält Abstraktion als Wille zum Stil absolute Priorität, intensiviert Worringer Riegls Begriff des Kunstwollens – den dieser in Ablehnung der Semper’schen Terminologie nicht länger nach dem handwerklichen Können, sondern vielmehr nach der „latenten inneren Forderung“ bestimmt habe, die in jedem Kunstwerk, unabhängig von Schaffensprozess und Objekt inhärent sei und sich als „Wille zur Form“ – zum „absoluten

141 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 58. 142 Ebd., S. 48. 143 Ebd., S. 82.

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Kunstwollen“144 – artikuliere. Stil ist der Ausdruck eines psychischen Prozesses, der das Ding der Außenwelt von allem „was Leben und Zeitlichkeit an ihm ist“145 loszulösen versucht. Er wird somit zu einem psychischen „Entorganisierungsbedürfnis“146. Dies soll zum einen durch die Darstellung in der Ebene, also den Verzicht auf Räumlichkeit, und zum zweiten durch die Überführung eines Naturvorbilds in geometrisch-starre, kristalline Linien erfolgen. Die Präferenz der Fläche gründet in der Überzeugung, dass dort die Dinge in ihrer haptischen Absolutheit und Unversehrtheit belassen werden können. Jenen ‚Abstraktionsdrang‘, nicht nur als Faktum der Kunst, sondern als Ausdrucksbegehren einer Zeit, registrierte bereits Georg Simmel – Worringers selbst ernannter Spiritus rector – als Zeichen der modernen Welt. Simmel diagnostizierte eine Disharmonie zwischen individueller Persönlichkeitsbildung und dem Ausbau von Erkenntnissen und gesellschaftlichen Institutionen, die in einer „eigentümlichen Selbständigkeit“147 als „kristallisierte Gebilde“148 fortexistierten. Kultur entsteht nach Simmel, „indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.“149 Verbindet Simmel Individualität mit den überzeitlichen Gebilden eines ‚kristallisierten Geistes‘, stellt Worringer die geometrisch-kristalline lebensverneinende Form in den Mittelpunkt seiner Analysen, denn der Abstraktionsdrang findet „seine Schönheit im lebensverneinenden Anorganischen, im Kristallinischen, allgemein gesprochen, in aller abstrakten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit“150. Diese Abstraktion ist bei Worringer der „Urkunsttrieb“151 und zugleich Überwindung der Natur, Überwindung der Lebensabhängigkeit:

144 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 42. 145 Ebd., S. 82. 146 Ebd., S. 81. 147 Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911), in: Georg Simmel. Gesamtausgabe, hg. v. O. Rammstedt, Bd. XIV, Frankfurt am Main 1996, S. 385-459, hier S. 385. 148 Ebd., S. 389. 149 Ebd., S. 385. 150 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 37. 151 Ebd., S. 81.

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„Der Urkunsttrieb hat mit der Wiedergabe der Natur nichts zu tun. Er sucht nach reiner Abstraktion als der einzigen Ausruh-Möglichkeit innerhalb der Verworrenheit und Unklarheit des Weltbildes und schafft mit instinktiver Notwendigkeit aus sich heraus die geometrische Abstraktion. Sie ist der vollendete und dem Menschen einzig denkbare Ausdruck der Emanzipation von aller Zufälligkeit und Zeitlichkeit des Weltbildes. Dann aber drängt es ihn, auch das einzelne Ding der Außenwelt, das sein Interesse in hervorragendem Maße in Anspruch nimmt, aus seinem unklaren und verwirrenden Zusammenhang mit der Außenwelt und damit aus dem Lauf des Geschehens herauszureißen und es in der Wiedergabe seiner stofflichen Individualität zu nähern, es zu reinigen von allem, was Leben und Zeitlichkeit an ihm ist, es nach Möglichkeit unabhängig zu machen sowohl von der umgebenden Außenwelt als auch von dem Subjekt des Beschauers, der in ihm nicht das Verwandt-Lebendige genießen will, sondern die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit, in der er mit seiner Lebensgebundenheit als in der von ihm ersehnten und allein zugänglichen Abstraktion ausruhen kann. Möglichst konsequente Wiedergabe der abgeschlossenen stofflichen Individualität innerhalb der Ebene und andererseits Verquickung der Darstellung mit der starren Welt des Kristallinisch-Geometrischen waren die beiden Lösungen, die wir fanden.“152

Für den Einfühlungsdrang ist hingegen maßgeblich, dass „die moderne Ästhetik [...] den entscheidenden Schritt vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus gemacht hat, d. h. [...] bei ihren Untersuchungen nicht mehr von der Form des ästhetischen Objektes, sondern vom Verhalten des betrachtenden Subjektes ausgeht“. Er steht für die Schönheit des Organischen mediterraner Überlieferungsstränge und ist für Worringer „für weite Teile der Kunstgeschichte nicht anwendbar“, da diese „ihren archimedischen Punkt vielmehr nur auf einem Pol menschlichen Kunstempfindens“153 hat. Einfühlung charakterisiert und kritisiert Worringer als ein ästhetisches Erleben nach der (aus der ästhetischen Theorie Theodor Lipps übernommenen) Devise ‚Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß‘: „Ästhetisch genießen heißt, mich selbst in einem von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einzufühlen“,154 beschreibt Worringer das Ziel der Einfühlungsästhetik.155

152 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 81 f. 153 Ebd., S. 36. 154 Ebd., S. 37. 155 Vgl. Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005; Fontius, Martin: ‚Einfühlung/Empathie/Identifikation‘, in: Barck,

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Einfühlungs- und Abstraktionsdrang stehen in einer diametralen Beziehung zueinander, wobei beide auf denselben Ursprung zurückgehen, der die organische und anorganische Natur gleichermaßen umfasst. „Es sind Gegensätze, die sich im Prinzip ausschließen. In Wirklichkeit aber stellt die Kunstgeschichte eine unaufhörliche Auseinandersetzung beider Tendenzen dar.“156 Es ist die Abstraktion, die aus dieser Konkurrenz als Ursprung der Kunst hervorgeht. In Worringers Definition ist Kunst an ihrem Beginn apotropäische Abstraktion, nicht Nachahmung. Der primitive Mensch bannt den Schrecken in abstrakt-geometrischen Ornamenten und hält diese zeitlosen Formen den wechselnden Erscheinungen „beschwörend“157 entgegen. Der Ursprung der Kunst liegt also nicht mehr in ihrer nachahmenden Konkurrenz zur Natur; die Nachahmung gelangt erst nachträglich, über die Einfühlung in die Kunst. Abstraktion als Ursprung zu denken radikalisiert den Begriff. Worringers Abstraktion ist nicht ein Prozess, der vom konkreten Gegenstand ausgeht, sondern „Ausgangszustand“158. Abstraktion als Ursprung findet Worringer in frühen Kunstepochen, bei Naturvölkern und orientalischen Kulturvölkern. Er verortet die Abstraktion bewusst bei den ‚primitiven‘ Naturvölkern, um die Ursprünglichkeit des feindlichen Verhältnisses von Natur und Mensch, der der Willkür der Außenwelterscheinungen ausgeliefert ist, zu begründen. „Der in seiner Gesetzmäßigkeit vollkommenste Stil, der Stil der höchsten Abstraktion, der strengsten Lebensausschließung ist den Völkern auf ihrer primitivsten Kulturstufe zu eigen. Es muß also ein kausaler Zusammenhang bestehen zwischen primitiver Kultur und höchster, reinster gesetzmäßiger Kunstform. Und es läßt sich weiter der Satz aufstellen: Je weniger sich die Menschheit kraft ihres geistigen Erkennens mit der Erscheinung der Außenwelt befreundet und zu ihr ein Vertraulichkeitsverhältnis gewonnen hat, desto gewaltiger ist die Dynamik, aus der heraus jene höchste abstrakte Schönheit erstrebt wird.“159

Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. II, Stuttgart/Weimar 2001, S. 121-142, hier S. 134 ff. 156 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung, Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 83. 157 Worringer, Wilhelm: Formprobleme der Gotik, München 1911, S. 74. 158 Böhringer, Hannes: Der Limes zwischen uns. Worringers Geschichtsphilosophie, in: Böhringer, Hannes/Söntgen, Beate (Hg.): Wilhelm Worringers Kunstgeschichte, München 2002, S. 35-43, hier S. 38. 159 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 51 f.

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Damit entspricht er Alois Riegl. Auch dieser verortet in seiner Publikation Stilfragen den geometrischen Stil auf einer früheren Kulturstufe: „Der nach den obersten Gesetzen der Symmetrie und des Rhythmus streng aufgebaute geometrische Stil ist, vom Standpunkte der Gesetzmässigkeit betrachtet, der vollkommenste; in unserer Werthschätzung steht er aber am niedrigsten, und auch die Entwicklungsgeschichte der Künste, soweit wir dieselbe bisher kennen, lehrt, dass dieser Stil den Völkern in der Regel zu einer Zeit eigen gewesen ist, da sie noch auf einer verhältnissmässig niedrigen Kulturstufe verharrten.“160

Für diesen primitiven Menschen – der sich seiner Umwelt noch durch den Tastsinn versichern musste – ist, so Worringer, „der Abstraktionsdrang die Folge einer großen inneren Beunruhigung [...] durch die Erscheinungen der Außenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung mit einer stark transzendentalen Färbung aller Vorstellungen. Diesen Zustand möchten wir eine ungeheure geistige Raumscheu nennen.“161 Angesichts der Unendlichkeit und Unübersichtlichkeit des Raumes befindet sich der Mensch in einem Zustand von Schutzlosigkeit und Angst. Abstraktion bannt diese Urangst: „Von dem verworrenen Zusammenhang und dem Wechselspiel der Außenwelterscheinungen gequält, beherrschte solche Völker ein ungeheures Ruhebedürfnis. Die Beglückungsmöglichkeit, die sie in der Kunst suchten, bestand nicht darin, sich in die Dinge der Außenwelt zu versenken, sich in ihnen zu genießen, sondern darin, das einzelne Ding der Außenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu finden. Ihr stärkster Drang war, das Objekt der Außenwelt gleichsam aus dem Naturzusammenhang, aus dem unendlichen Wechselspiel des Seins herauszureißen, es von allem, was Lebensabhängigkeit, d. i. Willkür an ihm war, zu reinigen, es notwendig und unverrückbar zu machen, es seinem absoluten Werte zu nähern.“162

Die Relativität der Erscheinungen des Außen soll mit Formen und Symbolen des Inneren begegnet werden, die alle Kontingente in absolute und notwendige Ge-

160 Riegl, Alois: Historische Grammatik der bildenden Künste (entst. 1897/1898), hg. v. K. M. Swoboda/O. Pächt, Graz 1966, S. 3. 161 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung, Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 49. 162 Ebd., S. 50 f.

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setzmäßigkeit erheben. „Je weniger sich die Menschheit kraft ihres geistigen Erkennens mit der Erscheinung der Außenwelt befreundet und zu ihr ein Vertraulichkeitsverhältnis gewonnen hat, desto gewaltiger ist die Dynamik, aus der heraus jene höchste abstrakte Schönheit erstrebt wird.“ Gerade weil der primitive Mensch „verloren und geistig hilflos zwischen den Dingen der Außenwelt steht“, müssen Unklarheit und Willkür getilgt werden und es muss den Dingen ein „Notwendigkeitswert“ und ein „Gesetzmäßigkeitswert“ zugeteilt werden. Objekte sollen von Unklarheit, Zeitlichkeit und Lebensabhängigkeit gereinigt werden, um auf der Basis einer gegenstandslosen Form das Gefühl für „das Ding an sich“ 163 wiederzuerlangen. Als Conclusio sind für Worringer „diese abstrakten gesetzmäßigen Formen [...] also die einzigen und die höchsten, in denen der Mensch angesichts der ungeheueren Verworrenheit des Weltbildes ausruhen kann.“164 Wenn also nicht mehr der „Nachahmungstrieb“165 relevant ist für die Kunstproduktion, dann dient Abstraktion dazu, das einzelne Objekt aus seinen Verbindungen und Abhängigkeiten zu lösen, es „dem Lauf der Geschichte zu entreißen, es absolut zu machen.“166 Damit geht die Bedeutung des Abstraktionsparadigmas weit über die Sphäre der bildenden Kunst hinaus: „Im Abstraktionsdrang ist die Intensität des Selbstentäußerungstriebs eine ungleich größere und konsequentere. Er charakterisiert sich hier nicht wie beim Einfühlungsbedürfnis als ein Drang, sich vom individuellen Drang zu entäußern, sondern als ein Drang, in der Betrachtung eines Notwendigen und Unverrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz. Das Leben als solches wird als Störung des ästhetischen Genusses empfunden.“ 167

Damit ist Abstraktion ‚Anorganismus‘168 und für Worringer – entgegen etwa Simmels Position, der sich um ein ausgleichendes Modell bemüht – Merkmal eines abstrakten Kunstschaffens, in dem sich der grundlegende Kampf zwischen

163 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 52. 164 Ebd., S. 5. 165 Ebd., S. 55. 166 Ebd., S. 56. 167 Ebd., S. 59. 168 Vgl. Vogl, Joseph: Anorganismus. Worringer und Deleuze, in: Böhringer, Hannes/Söntgen, Beate (Hg.): Wilhelm Worringers Kunstgeschichte, München 2002, S. 181-192.

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Mensch und Natur entschieden hat. Reine Abstraktion ist also nicht nur ein den Lebensverhältnissen angemessenes künstlerisches Verfahren, sondern gerät vielmehr zu einer ästhetischen Doktrin der Form, die sich gegen eine Ästhetik des Naturschönen absetzt. Der Wille zum Stil, zur Form, besitzt gegenüber dem unzugänglichen Sein des Lebens Priorität. Diese Selbstentäußerung betrifft die gesamte Menschheit, die Worringer von allem Zufälligen des Menschseins, d. h. von der „scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz“ 169 befreien will. Als ‚Lebensausschließung‘ ist Abstraktion synonym zum Todestrieb.170 Selbstentäußerung wird dem Individuum jedoch nicht oktroyiert, sondern ist für Worringer vielmehr ein instinktiver Drang des Menschen, von seiner sinnlichen Existenz abzusehen. Geometrisch-kristalline Abstraktion, in der sich die Lebensverneinung des Menschen darstellt, sieht Worringer in der „unser Auffassungsvermögen fast übersteigenden Großartigkeit ägyptischer Monumentalkunst“ verwirklicht, da der Orientale – im Gegensatz zum idealen Griechen – die „Tiefe des Weltgefühls“ besitzt, den „Instinkt für die aller intellektuellen Beherrschung spottende Unergründlichkeit des Seins“171. Das gotische Kunstschaffen hingegen erlaubt die orgiastische Steigerung des Organischen auf anorganischer Seite; darauf folgt expressive Abstraktion. Der Abstraktionsdrang Worringers erhält eine völker-, nationen- und epochenübergreifende Wertigkeit.172 Diese Theorie der Abstraktion ist viel mehr als eine Kunsttheorie: auf der Grundlage einer völkerpsychologischen und phylogenetischen Entwicklungsgeschichte der Kunst verhandelt sie neuralgische Probleme der Zeit und wird somit zu einer Zivilisationskritik der Moderne.

169 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 59. 170 Vgl. Lang, Siegfried: Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung. Entstehung und Bedeutung, in: Böhringer, Hannes/Söntgen, Beate (Hg.): Wilhelm Worringers Kunstgeschichte, München 2002, S. 81-117, hier S. 101. 171 Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Amsterdam 1996, S. 84. 172 Vgl. Öhlschläger, Claudia: Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München 2005, S. 19.

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2b Wassily Kandinsky Im Jahr 1912 erschien Kandinskys Publikation Über das Geistige in der Kunst. Mit dem Anspruch, eine jenseits der Erscheinung liegende Bedeutung der künstlerischen Form zu erarbeiten, wurde der Stellenwert der Abstraktion um eine weitere, wichtige Komponente erweitert. Entgegen einem älteren Verständnis von Abstraktion im Sinne des Stilisierens oder auch Idealisierens wollte Kandinsky durch Abstraktion die inneren Wesensmerkmale einer Zeit zum Ausdruck bringen, in der das Unsichtbare Bedeutung gewinnen sollte, und zu einer Vergeistigung der Kunst gelangen. Eine explizite Theorie der Abstraktion ist in Kandinskys Texten nicht zu finden, vielmehr entwickelt sie sich in den unterschiedlichen Aspekten seiner Kunsttheorie, wobei er den Begriff Abstraktion extensiv und mehrdeutig verwendet.173 Erstmals gebraucht er den Terminus 1904 in einem Konvolut von Notizen mit der Aufschrift Die Farbensprache (1904), wo er vom ‚Abstrahieren von der Natur‘, vom ‚Abstrahieren von Naturformen‘ und von ‚abstrakten Formen‘ als ornamentalen Gebilden spricht.174 Deutlich wird, dass die Vorstellung von freien Formen zu dieser Zeit für ihn ohne Bezug zu Natur oder Ornament nicht denkbar ist. In den Jahren 1908/1909 erarbeitet Kandinsky für den Begriff Abstraktion als klare Kontur die Unabhängigkeit von Farbe, Form und Kunst gegenüber der Natur; ‚abstrakt‘ wird zum Synonym für ‚rein‘ und ‚emanzipiert‘.175 Ab dem Jahr 1910 findet sich in seinen Schriften ein inflationärer Gebrauch des Begriffs: So ist etwa die Rede vom „vollkommen abstrakten Wesen“, „rein abstrakten Wesen“ einem „abstrakten Reich“176, einer „rein abstrakten Form“,177 von „Wachsen oder

173 Vgl. dazu beispielhaft: Haldemann, Matthias: Kandinskys Abstraktion. Die Entstehung und Transformation seines Bildkonzepts, München 2001, besonders die Seiten 14 f. 174 Vgl. Kandinsky, Wassily: Die Farbensprache (1904) [Konvolut von Notizen in einem Umschlag der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München], zit. nach: Haldemann, Matthias: Kandinskys Abstraktion. Die Entstehung und Transformation eines Bildkonzeptes, München 2001, S. 14. 175 Vgl. Haldemann, Mattthias: Kandinskys Abstraktion. Die Entstehung und Transformation seines Bildkonzepts, München 2001. 176 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 70. 177 Ebd., S. 71.

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Überwiegen des Abstrakten“,178 der „abstrakten Sprache“ oder auch dem „rein Abstrakten“179. Abstrakt ist nach Kandinskys Terminologie das Geistige, das Innere, das Feinmaterielle, das Ungegenständliche, das Konstruktive, das Gedankliche, nur in der Vorstellung Bestehende, das nicht Praktisch-Zweckmäßige.180 Seine Publikation Punkt und Linie zu Fläche (1926) steht stellvertretend für jene Phase, in der Kandinsky Kunst und Natur durch den Vergleich von bildnerischen Grundelementen mit technischen und naturwissenschaftlichen Photographien aufeinander bezog. Gegenstandsfreie Kunst steht hier im Austausch mit der Lebenswelt bzw. stellt vielmehr erst die Möglichkeit des Vergleichs dar. ‚Abstrakt‘ bedeutet in Kandinskys Terminologie nicht notwendig ‚ungegenständlich‘; er verwendet es synonym mit ‚autonom‘181 und ‚absolut‘182. Um die Eigenrealität des Werks hervorzuheben, gebraucht er für Abstraktion den Begriff ‚reale Kunst‘183, den er 1938 durch den von Theo van Doesburg übernommenen Begriff ‚konkrete Kunst‘184 ersetzt. Konkrete Kunst im Sinne Kandinskys stärkt den Autonomiestatus eines Werks. Als Grundlegung seiner Kunsttheorie findet sich die Bevorzugung von Gefühl und Intuition vor Logik und rationaler Berechnung. 185 Abstrakt meint für Kandinsky eine emanzipierte, autonome Malerei, die Eigensprachlichkeit der Mittel voraussetzt; damit ist Abstraktion das ‚Rein-Künstlerische‘.186 Zeichnete sich die Abstraktion in Kandinskys Vokabular zunächst noch durch ihre Verbindung mit figurativen Begriffen wie etwa dem Materiellen, Gegenständen oder organischen Formen aus, so ändert sich dies ab 1911. Jetzt stehen

178 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 70. 179 Ebd., S. 76. 180 Vgl. Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. II, Berlin 2002, S. 669. 181 Vgl. Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente (1926), hg. v. M. Bill, Bern 1963, S. 120. 182 Vgl. Kandinsky, Wassily: Der Blaue Reiter (1930), in: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 123-128, hier S. 125. 183 Vgl. Kandinsky, Wassily: Abstrakte Malerei (1936), in: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 172-180, hier S. 172. 184 Vgl. Kandinsky, Wassily: Konkrete Kunst (1938), in: ebd., S. 207-211, hier S. 207. 185 Vgl. Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 73. 186 Vgl. Kandinsky, Wassily: Über die Formfrage (1912), in: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 15-45, hier S. 25.

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Wendungen wie „volle Abstraktion“187 oder „reine Abstraktion (d. h. größere Abstraktion als die der geometrischen Form)“188 im Zentrum seiner Schriften. Anfang des Jahres 1912 polarisiert er in dem Artikel ‚Über die Formfrage‘ „große Abstraktion“ und „große Realistik“189, d. h. reine Abstraktion und reine Realistik sind die beiden gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten der Malerei. Beide sind polare Verkörperungsformen des Geistes, zwischen denen sich ein weites Spektrum an Kombinationsmöglichkeiten ergibt. Aufgrund ihrer Mittel sei Abstraktion eine eigene Realität, jede gegenständliche Darstellung letztlich auch immer eine Abstraktion von der Wirklichkeit. Abstraktheit kann somit auch in der Gegenständlichkeit bestehen, wenn etwa die dritte Dimension ausgeschlossen wird. In seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst hat Kandinsky dieses Konzept am Beispiel des Wegs zur Malerei ausformuliert: „Dieser Weg liegt zwischen zwei Gebieten (die heute zwei Gefahren sind): rechts liegt das vollständig abstrakte, ganz emanzipierte Anwenden der Farbe in ‚geometrischer‘ Form (Ornamentik), links das mehr reale, zu stark von äußeren Formen gelähmte Gebrauchen der Farbe in ‚körperlicher‘ Form (Phantastik). Und zur selben Zeit schon (und, womöglich nur heute) ist die Möglichkeit vorhanden, bis zur rechtsliegenden Grenze zu schreiten und ... sie zu überschreiten, und ebenso bis zur linksliegenden und darüber hinaus. Hinter diesen Grenzen (hier verlasse ich meinen Weg des Schematisierens) liegt rechts: die reine Abstraktion (d. h. größere Abstraktion als die der geometrischen Form) und links reine Realistik (d.h. höhere Phantastik – Phantastik in härtester Materie). Und zwischen denselben – grenzenlose Freiheit, Tiefe, Breite, Reichtum der Möglichkeiten und hinter ihnen liegende Gebiete der reinen: Abstraktion und Realistik – alles ist heute, durch den heutigen Moment, dem Künstler zu Diensten gestellt.“190

187 Kandinsky an Arnold Schönberg (6. 2. 1911), zit. nach: Hahl-Koch, Jelena (Hg.): Arnold Schönberg. Wassily Kandinsky. Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung, Salzburg/Wien 1980, S. 24. 188 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 127. 189 Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 25. 190 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 127, Hervorhebungen i. O.

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Abstraktion ist eine Sonderform der ‚Kunst des Inneren‘, die einer Realität dematerialisierter Welten entspricht. Zugleich wurde sie durch Evolutionsvorgänge ermöglicht und beansprucht Sprachcharakter für sich.191 Evolutionstheoretische Überlegungen bilden die Basis seiner Theorie der Abstraktion. „Der Unterschied zwischen der sogenannten ‚gegenständlichen‘ und der ‚gegenstandslosen‘ Kunst besteht also im Unterschied der in beiden Fällen für den Inhalt gewählten Mittel und Ausdrucksmittel. Im ersten Falle werden z. B. in der Malerei außer den rein malerischen Mitteln Naturelemente verwendet, so daß der gesamte Klang des Werks aus zwei verschiedenen – man dürfte sagen: grundverschiedenen – Arten besteht. Im zweiten Fall wird der Inhalt des Werkes ausschließlich durch rein malerische Mittel erzeugt. Die letzte Periode der Entwicklung der Malerei seit dem Impressionismus kann außer anderen wichtigen Momenten durch das mehr oder weniger bewußte, aber stets planmäßige Zurückschieben des gegenständlichen Klanges gekennzeichnet werden. Die letzte Konsequenz dieses Vorgangs ist die volle Beseitigung des gegenständlichen Klanges, wobei die rein malerischen Elemente vollkommen ungetrübt, d. h. klar und rein ihre inneren Wirkungen entwickeln können.“192

Abstraktion ist bei Kandinsky ein Synonym für Reinheit. Das ‚Rein-Künstlerische‘ ist zugleich das ‚Ewig-Künstlerische‘. Reinheit ist das Fehlen von Nebensächlichem; der „reine Klang“ ist frei von „Nebengeräuschen“193, reine Form ist frei von „Zutaten“194. Reinheit ist die Abkehr von Äußerlichem und Äußerem, je äußerlich unmotivierter z. B. die Bewegung ist, desto reiner, tiefer und innerlicher wirkt sie.195 Abgesehen werden soll also von der Natur ebenso wie von aller Gegenständlichkeit. Reinheit ergibt sich durch die Konzentration auf das InnerlichWesentliche.

191 Vgl. Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 16. 192 Kandinsky, Wassily: Abstrakte Kunst, in: Der Cicerone. Halbmonatszeitschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 17, Leipzig 1925, S. 639-647, hier S. 643. 193 Kandinsky, Wassily: Zwei Richtungen (1935), in: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 181-184, hier S. 184. 194 Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente (1926), hg. v. M. Bill, Bern 1963, S. 128. 195 Vgl. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 123.

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„Die ‚konstruktivistischen‘ Werke der letzten Jahre sind größtenteils und besonders in ihrer ursprünglichen Form ‚reine‘ oder abstrakte Konstruktionen im Raum, ohne praktischzweckmäßige Anwendung, was diese Werke von der Ingenieurskunst trennt und was uns zwingt, sie doch zum Gebiet der ‚reinen‘ Kunst zu rechnen.“196

Reinheit steht gleichermaßen auch gegen eine Trübung oder Verdunklung in der Kunst.197 Trübende Faktoren entstehen in der Kunst durch Gegenständlichkeit, das Hervortreten der Abstraktion hingegen wird als Enthüllung, Entblößung, Klarlegung und Offenbarung eines substantiell Vorhandenen verstanden. „In diesem Falle ist einer der Unterschiede zwischen ‚gegenständlicher‘ und abstrakter Kunst zu sehen. In der ersten wird der Klang des Elements ‚an sich‘ verschleiert, zurückgedrängt. In der abstrakten Kunst kommt es zu vollem, unverschleiertem Klang.“198 Erzielt wird damit eine Entschleierung der Gesetze der großen Epoche, d. h. der Epoche des Geistigen. Neben dieser Offenbarung des Geistigen geht es jedoch immer auch um die Offenbarung des Objektiven in der Kunst. 199 So ergibt sich ein Zusammenhang zwischen den Begriffen Geist, Abstraktes, Inhalt, Objektives und Rein-Kompositionelles.200 Abstraktion ist für Kandinsky die Fähigkeit, die notwendige geistige Umwälzung erzielen zu können. „Die Kunst hat den Pionierweg betreten, und es ist anzunehmen, daß die angefangene große Periode der abstrakten Kunst, die grundsätzliche Umwälzung in der Kunstgeschichte eine der wichtigsten Anfänge der geistigen Umwälzung ist, die ich seinerzeit die Epoche des Großen Geistigen genannt habe.“201

196 Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente (1926), hg. v. M. Bill, Bern 1963, S. 114 f. 197 Vgl. Kandinsky, Wassily: Abstrakte Kunst, in: Der Cicerone. Halbmonatszeitschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 17, Leipzig 1925, S. 639-647, hier S. 643; Kandinsky, Wassily: Über Bühnenkomposition (1912), in: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 47-60, hier d. S. 56, 59. 198 Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente (1926), hg. v. M. Bill, Bern 1963, S. 54 f. 199 Vgl. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 128 f. 200 Vgl. Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 123. 201 Kandinsky, Wassily: Abstrakte Kunst, in: Der Cicerone. Halbmonatszeitschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 17, Leipzig 1925, S. 639-647, hier S. 647.

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In Über das Geistige in der Kunst spricht Kandinsky vom „Alpdruck der materialistischen Anschauungen“ und von den „noch drückenden Leiden der materialistischen Philosophie“202. Der rückständige Mensch besitzt kein Organ für die geistige Zukunft.203 Abstraktion hingegen wertet Kandinsky als „Geistige Renaissance“204. Neben der Offenbarung des Geistigen hat für Kandinskys Theorie der Abstraktion der ‚Innere Wert‘ eine maßgebliche Bedeutung. Der ‚Innere Wert‘ bezeichnet – in Analogie zur Wendung vom Materiellen zum Geistigen – die Abkehr von allem Äußeren und die Hinwendung zur Verinnerlichung. Das „Erleben der ‚geheimen Seele‘ der sämtlichen Dinge, die wir mit unbewaffnetem Auge, im Mikroskop oder durch das Fernrohr sehen, nenne ich den ‚inneren Blick‘. Dieser Blick geht durch die harte Hülle, durch die äußre ‚Form‘ zum Inneren der Dinge hindurch und läßt uns das innere ‚Pulsieren‘ der Dinge mit unsren sämtlichen Sinnen aufnehmen.“205 Die „innere Wertung der Kunstelemente“, schreibt Kandinsky 1925, sei für die Existenzberechtigung der abstrakten Kunst „unbedingt notwendig“. Werke der abstrakten Kunst seien nur dann „lebendig“, wenn die Kunstelemente, die sie verwendeten, nicht „kalter äußerer Wertung“, sondern „warm wirkender innerer Wertung“ ausgesetzt würden. „Die konsequente Handhabung der Grundelemente mit der Prüfung und Anwendung ihrer inneren Kräfte, also im allgemeinen der innere Standpunkt, ist die erste und unumgänglichste Bedingung der abstrakten Kunst.“206 Zu Kandinskys Theoriegebäude gehört die Vorstellung von der Entwicklung des Materiellen hin zum Geistigen. Der Geschichtsprozess ist für den Künstler als ein Prozess zunehmender Vergeistigung und Dematerialisation zu verstehen, so dass

202 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 22. 203 Vgl. Bill, Max (Hg.): Essays über Kunst und Künstler, Stuttgart 1955, S. 184. 204 Kandinsky an Pierre Bruguière (5. 6. 1943), zit. nach: Wassily Kandinsky. Hauptwerke aus dem Centre Georges Pompidou Paris [Ausst.-Kat.], Köln 1999, S. 185. 205 Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 193. 206 Kandinsky, Wassily: Abstrakte Kunst, in: Der Cicerone. Halbmonatszeitschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 17, Leipzig 1925, S. 639-647, hier S. 647.

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er 1909 seine Kunst als „Leben des Entkörperten“ 207 beschreibt. Kandinsky verwendet Dematerialisation im Bild als Möglichkeit, einen romantisch-mystischen Klang zu erzeugen, mithin als Alternative zur reinen Realistik. Einer Notiz der Bauhaus-Vorlesungen aus dem Jahr 1927 zufolge ist Dematerialisation einer der fünf charakteristischen Aspekte der Abstraktion in der Kunst: „dematerialisierung = innere sp(annun)gen“208. Diese Form der Dematerialisation als Abstraktion findet sich bei vielen von Kandinskys Zeitgenossen, etwa bei Paul Scheerbarts diversen Literatur-, Technik-, und Kunstprojekten209 oder auch bei Bruno Taut im Hinblick auf dessen Architekturprojekte, z. B. den Glaspavillon für die Ausstellung des Deutschen Werkbundes (1914).210 In der bildenden Kunst setzen Künstler wie Robert Delaunay oder auch Franz Marc dieses Phänomen ein; bei Kandinsky selbst lässt sich die Auflösung des Lichts in Feinstofflichkeit beobachten. Verfahren der Abstraktion werden in der künstlerischen Praxis immer weitergeführt: Um 1930 formiert sich in Paris die Künstlergruppe Art Concret. Für Theo van Doesburg, deren intellektueller Kopf, war ungegenständliche Kunst nach dem Vorbild Hegels nicht Abstraktion von etwas, z. B. der Natur, sondern Konkretion ihrer selbst. Als beispielhaft dafür galten van Doesburg seine eigenen ‚Antikompositionen‘, deren Abstraktionen er als eine spezielle Form von ‚Elementarismus‘ verstand. Mit seiner Bezeichnung abstrakter Kunst als ‚peinture concrète‘ erweiterte er den Abstraktionsbegriff und nutzte ihn zugleich zur terminologisch-theoretischen Klärung. Akzentuiert wurde dadurch der Gegensatz zur mimetischen Kunst wie auch die Eigenständigkeit abstrakter Kunstwerke, die mehr sind als die bloße Materialisierung des Antagonismus‘ von gegenständlicher zu ungegenständlicher Kunst.

207 Kandinsky, Wassily: [Ohne Titel] (1909), zit. nach: Mazur-Keblowski, Eva: Apokalypse als Hoffnung. Die russischen Aspekte der Kunst und Kunsttheorie Vasilij Kandinskijs vor 1914, Tübingen 2000, S. 442. 208 Kandinsky, Wassily: BHV 138 (1927), in: Bauhaus-Vorlesungen, Maschinen- und handschriftliche Materialien zum Unterricht am Bauhaus [The Getty Research Institute for the History of Art and the Humanities, Inv. Nr. 850910]. 209 Vgl. Scheerbart, Paul: Das Perpetuum mobile. Die Geschichte einer Erfindung, Leipzig 1910; Scheerbart, Paul: Astrale Novelletten, Karlsruhe/Leipzig 1912; Scheerbart, Paul: Glasarchitektur, Berlin 1914. 210 Vgl. Taut, Bruno: Alpine Architektur, Hagen 1919.

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Van Doesburg verstand Abstraktion zudem als adäquate Manifestation des Geistes: „rational und antisubjektiv in den Bildmitteln“, zugleich „gesellschaftlich auf der Höhe der Zeit.“211 Diese ‚konkrete‘ Kunst fokussiert die Eigengesetzlichkeit künstlerischen Ausdrucks, also Linie, Farbe und Fläche: „Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil wir die Zeit des Suchens und der spekulativen Experimente hinter uns gelassen haben. Auf der Suche nach Reinheit waren die Künstler gezwungen, die natürlichen Formen, die die bildnerischen Elemente verdeckten, zu abstrahieren, die Naturformen zu zerstören und sie durch Kunstformen zu ersetzen. Heute ist die Idee der Kunstform ebenso überholt wie die der Naturform. Mit unserer Konstruktion der geistigen Form hebt die Epoche der reinen Malerei an. Sie ist die Konkretisierung des schöpferischen Geistes. Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil nichts konkreter, nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche.“212 In Doesburgs Theorie sind Subjekte oder Dinge in der Natur konkret, ist ihre Darstellung – etwa in der Malerei – abstrakt, d. h. illusorisch, vage und spekulativ. Konkrete Malerei setzt für Doesburg voraus, dass der Geist einen Zustand der Reife erreicht hat und der Weg zu einer universellen Kunst geebnet ist. Das Kunstwerk wird dann nicht mehr „mit den Fingern noch mit den Nerven erschaffen. Die Erregung, das Gefühl, die sinnliche Empfindsamkeit haben die Vervollkommnung der Kunst niemals befördert. Nur der Verstand (Intellekt), dessen Geschwindigkeit noch höher ist als die des Lichts, erschafft. Lyrik, Dramatik, Symbolismus, Empfindsamkeit, Unbewußtes, Traum, Inspiration usw. sind nur ein minderwertiger Ersatz für das schöpferische Denken. In allen Bereichen menschlichen Handelns hat immer nur der Intellekt gezählt. Die Entwicklung der Malerei ist nichts anderes als die intellektuelle Suche nach der Wahrheit durch die Kultur des Visuellen.“213 Im Mittelpunkt der Theorie van Doesburgs steht der Verstand: An die Stelle einer ‚künstlerischen Handschrift‘ rückt Denken und Messen, das dem anbrechenden Zeitalter als jenem der „Gewißheit und daher der Perfektion“ gemäß ist. „Die meisten Maler arbeiten wie Zuckerbäcker oder Putzmacher. Wir dagegen arbeiten

211 Zeidler, Sebastian: [Redaktioneller Einführungstext zu van Doesburg, Die Grundlage der konkreten Malerei, 1930], in: Harrison, Charles/Wood, Paul/Zeidler, Sebastian (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. I, Ostfildern-Ruit 1998, S. 441, Hervorhebungen i. O. 212 Doesburg, Theo van et al.: Commentaires sur la base de la peinture concrète (1930); dt.: Kommentare zur Grundlage der konkreten Malerei, übers. v. S. Zeidler, in: ebd., S. 442. 213 Ebd.

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auf der Grundlage von (euklidischer und nichteuklidischer) Mathematik und Wissenschaft, d. h. mit intellektuellen Mitteln.“214 Überwunden werden soll damit alles, was jenseits des Verstandes liegt, vor allem „jenes hyperbarocke Eingeständnis der Schwäche: Phantasie.“215 Kunst darf in diesem Verständnis keine Spur menschlichen Gemachtseins zeigen, keine Ungenauigkeit, keine Unschlüssigkeit, keine Unvollendetheit. Das Ziel, das durch konkrete Kunst, verstanden als Verstärkung der abstrakten Kunst, erreicht werden sollte, war Klarheit, die die Grundlage einer neuen Kultur sein sollte. Auch die Gruppe Abstraction-Création, die 1931 von Georges Vantongerloo und Auguste Herbin gegründet wurde und bis 1936 bestand (zu ihren Mitgliedern gehörten u. a. Hans Arp, Willi Baumeister, Kandinsky, van Doesburg, Robert Delaunay, Lucio Fontana, Arshile Gorky, El Lissitzky, Piet Mondrian, Max Bill und Naum Gabo), verstand sich als Manifestation ungegenständlicher Kunst. Die internationale Zusammensetzung der Gruppe ergibt sich auch aus dem Umstand, dass Paris den abstrakt arbeitenden Künstlern, die vor den totalitären Regimes Nazideutschland und des stalinistischen Russlands flohen, Exil bot. Abstraktion wurde bildkünstlerisch in geometrische Abstraktion, Neoplastizismus und besonders in Konstruktivismus umgesetzt. In einem Jahresjournal unter dem Titel Abstraction, création, art non-figuratif, das in fünf Nummern von 1932 bis 1936 publiziert wurde, erschien Abstraktion gleichgesetzt mit Freiheit. Die Konzeption der Gruppe wurde im Jahr 1946 vom Salon des Réalités Nouvelles in Paris wieder aufgegriffen.

2c Abstraktion, ästhetisch und politisch: Neoplastizismus, Konstruktivismus, Suprematismus Ein Teil der abstrakt arbeitenden Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet sich dadurch aus, dass der Abstraktion neben ihrem ästhetischen Wert im Kunstwerk der Stellenwert einer sozialen Kraft zukommt. Unter diesem Aspekt lassen sich zwei nahezu zeitgleiche Ausdrucksformen der geometrischen Abstrak-

214 Doesburg, Theo van et al.: Commentaires sur la base de la peinture concrète (1930); dt.: Kommentare zur Grundlage der konkreten Malerei, übers. v. S. Zeidler, in: Harrison, Charles/Wood, Paul/Zeidler, Sebastian (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. I, Ostfildern-Ruit 1998, S. 443. 215 Ebd., S. 442.

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tion fassen: Während in Holland durch den Künstler Piet Mondrian der Neoplastizismus geprägt wurde, arbeitete in Russland Kasimir Malewitsch am Suprematismus. Beide Künstler finden ihre gemeinsamen Wurzeln im Kubismus. Mondrians Neoplastizismus basiert auf einem schwarzen linearen Gitter mit asymmetrisch platzierten Zonen in Primärfarben, mit denen ein dynamisches Gleichgewicht erzeugt werden sollte. In seinem Essay Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung von 1920 führt er seine Ideen zum Neoplastizismus ein. Durch Vermittlung Theo van Doesburgs erschien 1925 die deutsche Übersetzung des Essays zusammen mit weiteren Texten Mondrians als Bauhausbuch 5. Den Ausgangspunkt bildet für Mondrian die Tatsache, dass in allen Künsten das Objekt das Subjekt, das Universelle das Individuelle bekämpft, um zu einer gleichgewichtigen Gestaltung zu kommen. Unausgeglichenheit bringt das Tragische hervor und drückt sich in tragischer Gestaltung aus. Die neue, reine Gestaltung, der neue Geist nun unterdrückt das Beschreibende ebenso wie die Herrschaft des Tragischen: „die Kunst, weil abstrakt und in Opposition zum Natürlich-Konkreten, kann dem gradweisen Verschwinden des Tragischen vorangehen. Je mehr das Tragische verschwindet, desto mehr gewinnt die Kunst an Reinheit. [...] Die neue Gestaltung hat ihre Wurzeln im Kubismus. Sie könnte ebensogut die Malerei der realen Abstraktion heißen, weil das Abstrakte ebenso wie in den mathematischen Wissenschaften, aber ohne wie hier das Absolute zu erreichen, durch eine plastische Realität ausgedrückt werden kann.“ 216

Mondrian schloss sich im Jahr 1917 in Holland – u. a. mit van Doesburg – zu der Gruppe De Stijl zusammen. Ziel der Gruppe war die Etablierung der Abstraktion als Vorbote einer utopischen Gesellschaftsharmonie. Im 1918 zweisprachig – holländisch und deutsch – publizierten Manifest I der Gruppe wird dieses Streben formuliert: „1. Es gibt ein altes und ein neues Zeitbewußtsein. Das alte richtet sich auf das Individuelle. Das neue richtet sich auf das Universelle. [...] Deshalb rufen die Begründer der neuen Bildung alle, die an die Reform der Kunst und der Kultur glauben, auf, diese Hindernisse der

216 Mondrian, Piet: Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung, in: Piet Mondrian. Neue Gestaltung. Neoplastizismus. Niuewe Beelding, übers. v. R. F. Hartogh/M. Burchartz, München 1925, S. 5 f.

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Entwicklung zu vernichten, so wie sie in der neuen bildenden Kunst – indem sie die natürliche Form aufhoben – dasjenige ausgeschaltet haben, das dem reinen Kunstausdruck, der äuszersten Konsequenz jeden Kunstbegriffs, im Wege steht.“ 217

Die Abstraktion als Elementarisierung der Kunst nimmt van Doesburg in seinem (1919 auf Holländisch, 1925 auf Deutsch in einer überarbeiteten Fassung als Bauhausbuch 6 erschienenen) Essay Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst auf: „XX. Tritt im Kunstwerk ein Erfahrungsobjekt als solches noch in Erscheinung, so ist ein solcher Gegenstand ein Hilfsmittel innerhalb des Ausdrucksmittels. Die Ausdrucksweise ist in diesem Falle nicht exakt. XXI. Kommt das ästhetische Erlebnis unmittelbar durch das Gestaltungsmittel der Kunstart zum Ausdruck, dann ist die Ausdrucksweise exakt. [...] Die Entwicklung und Entfaltung der bildenden Kunst liegt ausschließlich in der Umwertung und Reinigung der Gestaltungsmittel. Arme, Beine, Bäume und Landschaften sind nicht die eindeutig malerischen Mittel. Malerische Mittel sind: Farben, Formen, Linien und Flächen.“218

Für Mondrian wie für van Doesburg gilt gleichermaßen der Anspruch, objektive Prinzipien der Wirklichkeit gestalterisch zu repräsentieren, doch während Mondrian von Harmonie und Ordnung als elementaren, universell gültigen Verhältnissen ausgeht, setzt van Doesburg auf Dynamik, Disharmonie und das Transitorische der Ordnung. Die Arbeit in den Werkstätten des Bauhauses, eines der Innovationszentren der Abstraktion in Westeuropa, macht deutlich, dass dort nicht allein ästhetisch-künstlerische Neuerungen erprobt, sondern in Theorie und Praxis auch komplexe moderne Gestaltungsprinzipien für die industrielle Herstellung erforscht werden sollten. Das Ziel war die Mitarbeit an gesellschaftlichen Optimierungsbemühungen. Walter Gropius verfasste 1923 den Text Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar, in dem er die neue Lehre des Bauhauses gegen die tradierte Ausbildung an den Akademien mit ihrem Konzept künstlerischen Handwerks setzt: „Aber der Akademismus steckte noch zu tief im Blut, die werkliche Ausbildung blieb dilettantisch, der gezeichnete und gemalte ‚Entwurf‘ stand noch immer im

217 De Stijl: Manifest I (1. 11. 1918); dt. zit. nach: Harrison, Charles/Wood, Paul/Zeidler, Sebastian (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. I, Ostfildern-Ruit 1998, S. 375 f. 218 Doesburg, Theo van: Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst (entst. 1921/1922), München 1925, S. 30, 32.

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Vordergrund“. Den Konstruktivismus hingegen bestimmt der künstlerische Wille, Raum zu gestalten, als ‚künstlerischer Raum‘ erschaffbar nur von dem, „dessen Wissen und Können allen natürlichen Gesetzen der Statik, Mechanik, Optik, Akustik gehorcht und in ihrer gemeinsamen Beherrschung das sichere Mittel findet, die geistige Idee, die er in sich trägt, leibhaftig und lebendig zu machen. Im künstlerischen Raum finden alle Gesetze der realen, der geistigen und der seelischen Welt eine gleichzeitige Lösung.“219

Mit seiner theoretischen und praktischen Ausbildung will das Bauhaus die geistigen Voraussetzungen für eine solch umfassende Schulung des Menschen schaffen. Kasimir Malewitsch gilt als Initiator der die Fläche betonenden Malerei des Suprematismus. „Ploskostö, obrazovavwaq kvadrat, qvilasö rodonahalom suprematizma, novogo cvetovogo realizma kak bespredmetnogo tvorhestva [...]. Konstruiruetsq sistema vo vremeni i prostranstve, ne zavisq ni ot kakix stetiheskix krasot, pereäivanij, nastroenij, skoree qvlqetsq filosofskoj cvetovoj sistemoj realizacii novyx dostiäenij moix predstavlenij kak poznanie.“220

Als eine Inkunabel der abstrakten Kunst gilt das Schwarze Quadrat auf weißem Grund, das Malewitsch bereits 1913 konzipierte, mit dem er jedoch erst zwei Jahre später an die Öffentlichkeit trat. Die Bildidee entwickelte er 1913 während seiner

219 Gropius, Walter: Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar, München 1923, S. 2 f. 220 Malevič, Kazimir: Suprematizm, iz ‚kataloga desjatoj gosudarstvennoj vystavki. Bespredmetnoje tvorčestvo i suprematizm‘ (1919), in: Malevič, Kazimir: Sobranie sočinenij v pjati tomach, hg. v. A. S Šatskich/A. D. Sarab’janov, Bd. I, Moskau 1995, S. 150; dt.: Suprematismus, übers. v. H. Gaßner/E. Gillen, in: Gaßner, Hubertus/Gillen, Eckhart (Hg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917-1934, Köln 1979, S. 79: „Die Flächenform, die ein Quadrat gebildet hat, war die Begründerin des Suprematismus, des neuen Farbrealismus als gegenstandslosem Schaffen. [...] Es wird ein System in der Zeit und im Raum konstruiert, das unabhängig ist von irgendwelcher ästhetischen Schönheit, von Erfahrungen, Stimmungen; eher ist es ein philosophisches Farbsystem zur Verwirklichung der neuen Errungenschaften meiner Vorstellungen, wie ein Erkenntnisvermögen.“

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Mitarbeit an der Oper Pobeda nad Solncem (Sieg über die Sonne) von Aleksej J. Kručënych. Die Dekoration des Bühnenbilds bestand aus Leinwänden mit Dreiecken, Kreisen und mechanischen Einrichtungen, der Vorhang zeigte ein schwarzes Quadrat. Für die erste Ausstellung des Bildes platzierte Malewitsch das Bild erhöht und übereck, einer Ikone gleich. Die Gegenstandslosigkeit des Suprematismus diente ihm zur Erreichung der eigentlichen Wirklichkeit. In einem Brief vom 18. März 1920 schrieb er: „Esli helovehestvo narisovalo obraz Boäestva po svoemu obrazu, to moäet bytö, Kvadrat hernyj estö obraz Boga kak suestva ego soverwenstva v novom puti segodnqwnego nahala.“221 In Die gegenstandslose Welt (1927) beschreibt Malewitsch das „beglückende Gefühl der befreienden Gegenstandlosigkeit“222, das er gegenüber diesem Bild empfand. Ebenso wie Mondrian hatte auch Malewitsch eine konstruktivistische Phase durchlaufen. Der Kubismus, obwohl immer auch Repräsentation der Dingwelt, galt mit seiner Autonomie der Bildfläche als die geeignete künstlerische Praxis, die Theorien der Abstraktion praktisch umzusetzen. Suprematismus ist für Malewitsch Empfindung der Gegenstandlosigkeit: „Unter Suprematismus verstehe ich die Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst. [...] Als ich im Jahre 1913 in meinem verzweifelten Bestreben, die Kunst von dem Ballast des Gegenständlichen zu befreien, zu der Form des Quadrats flüchtete und ein Bild, das nichts als ein schwarzes Quadrat auf weißem Felde darstellte, ausstellte, seufzte die Kritik und mit ihr die Gesellschaft.“ Doch Malewitsch betont: „Es war dies kein ‚leeres Quadrat‘, was ich ausgestellt hatte, sondern die Empfindung der Gegenstandlosigkeit.“223 Die Revolution in Russland veranlasste ihn, den Suprematismus in die Künstlergruppe UNOVIS (Utverždenie novych form iskusstva; Gründung neuer Formen der Kunst) umzuwidmen, um damit die Abstraktion als

221 Malewitsch an M. O. Geršenzon (18. 3. 1920), in: Malevič, Kazimir: Suprematizm, iz ‚kataloga desjatoj gosudarstvennoj vystavki. Bespredmetnoje tvorčestvo i suprematizm‘ (1919), Bd. III, Moskau 2000, S. 339; dt.: Wenn die Menschheit sich die Gottheit nach ihrem eigenen Bild vorgestellt hat, dann ist auf dem neuen Weg des heutigen Beginns das Schwarze Quadrat vielleicht das Abbild Gottes als das Wesen ihrer Vollkommenheit. 222 Malewitsch, Kasimir S.: Die gegenstandslose Welt, übers. v. Hans v. Riesen, München 1927, S. 66. 223 Ebd., S. 65 f.

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wirkungsvolle revolutionäre Kunst einzusetzen: „Izobrazitelönostö ne v suti novyx iskusstv, v nix leäit tvorheskoe sooruäenie; podymaqsö herez putö sooruäenij, my dostigaem vyswego prirodo-estestvennogo razvitiq vo vsem helovehestve.“224 Die Verbreitung der Abstraktion in Theorie und Praxis ist vor allem auch ein Institutionenphänomen. Können im Westen das Bauhaus oder auch die Gruppe De Stijl als Innovationszentren gelten, so bilden in Russland die experimentellen, neuartigen Arbeitssituationen am Moskauer VChUTEMAS (Vysšie [Gosudarstvennye] Chudožestvenno-Techničeskie Masterskie; Höhere Staatliche KünstlerischTechnische Werkstätten), am Leningrader GINChUK (Gosudarstvennyj Institut Chudožestvennoj Kul’tury; Institut für künstlerische Kultur) und an der RAChN (Rossiskaja Akademija Chudožestvennych Nauk; Russische Akademie für Kunstwissenschaften) eine Laboratoriumskunst aus, die sich häufig dem Konstruktivismus zuwandte. Im Rahmen der Forschungen wurden die Elemente Farbe, Faktur, Form, Material usw. einer intensiven Analyse unterzogen, auch um den Wert der Kunst für die notwendige Umstrukturierung der Gesellschaft zu verdeutlichen. Die Abstraktion des Konstruktivismus ist das gesellschaftliche Zeichen der Ablehnung einer alten Ordnung und der Hinwendung zu einer utilitären Zukunft. So schreibt etwa Aleksandr M. Rodčenko in seiner Ausarbeitung des Lehrplans des VChUTEMAS: „Konstruktion – Organisation der Elemente. Konstruktion ist moderne Weltanschauung. Kunst ist wie jegliche Wissenschaft einer der Zweige der Mathematik. Konstruktion ist eine moderne Forderung nach Organisation und zweckbestimmter Nutzung des Materials. Konstruktives Leben ist die Kunst der Zukunft.“225

224 Malevich, Kazimir S.: K voprosu izobrazitel’nogo iskusstva (1920), in: Malewitsch, Kasimir S.: Die gegenstandslose Welt, übers. v. Hans v. Riesen, München 1927, S. 217; dt.: Das Problem der abbildenden Kunst, übers. v. S. Zeidler, in: Harrison, Charles/Wood, Paul/Zeidler, Sebastian (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. I, Ostfildern-Ruit 1998, S. 339: „Das Wesen der neuen Kunst ist nicht Abbildung, sondern die schöpferische Konstruktion: Indem wir durch Konstruktionen uns selbst erhöhen, erreichen wir die höchste natürliche Entwicklungsstufe der gesamten Menschheit.“ 225 Rodčenko, Aleksandr M.: ‚Losungy‘ und ‚Programma organizatsij laboratorij pri Gosud. chudožestvennych masterskich‘ (1920/1921); dt.: ‚Losungen‘ und ‚Organisationsprogramm‘ der Arbeitsgruppe für das Malereistudium in staatlichen Kunstanstalten, übers. v. A. Friedrich, in: Noever, Peter (Hg.): Die Zukunft ist unser einziges Ziel [Ausst.-Kat.], München 1991, S. 158, Hervorhebungen i. O.

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2d Medienerfahrung als Abstraktion Mit wissenschaftlichen Entdeckungen geht die Etablierung neuer Medientechnologien einher, mit denen der Bereich des Sichtbaren permanent ausgedehnt wird. Abstraktion wird hier zum einen durch Entwicklungen in der Naturwissenschaft – wie etwa in der Atomphysik, der Elektrizitätslehre –, zum anderen durch den Einsatz neuer Medientechnologien – wie etwa der Röntgentechnologie, der Photographie und des Films – hervorgerufen. Die abstrahierenden Tendenzen des Kubismus und Futurismus im Sinne von Raumfragmentierung, von Flächenhaftigkeit des Bildobjekts und beim Einsatz von Licht, wie z. B. in László Moholy-Nagys Licht-Raum-Modulator (1922/1930), und die Darstellung von Bewegung werden in Paris von Robert Delaunay und Fernand Léger als Orphismus, in Moskau durch Michail F. Larionov und Natalija S. Gončarova als Rayonismus fortgesetzt.226 Die Abstraktion wurde für die Kunst an dieser Stelle systemimmanent, indem ihr allein das ausreichende Entwicklungspotential zugesprochen wurde, die theoretischen Herausforderungen der Zeit zu bewältigen. 227 Walter Benjamin gehört zu jenen Theoretikern, die Medientechnologien einen entscheidenden Anteil an der Veränderung der Wahrnehmungswelt zusprechen. Durch das Aufkommen des „ersten wahrhaft revolutionären Reproduktionsmittels – der Photographie“, entsteht eine krisenhafte Situation in der ästhetischen Praxis. „Aus ihr ist dann weiterhin geradezu eine negative Theologie [...] in Gestalt der Idee einer ‚reinen‘ Kunst [hervorgegangen], die nicht nur jede soziale Funktion, sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt. (In der Dichtung hat Mallarmé als erster diesen Standort erreicht.) Diese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, ist unerläßlich für eine Betrachtung, die es mit dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu tun hat.“228

226 Die intermedialen Experimente der konstruktivistischen Prinzipien der Raumkunst z. B. von El Lissitzky und Rodčenko stehen gegen die Selbstreferentialität von Spezialisierungen wie der reinen Malerei. 227 Vgl. Schmidt-Burkhardt, Astrit: Die Abstraktion unter der Lupe. Vom wissenschaftlichen Geist zum Geistigen in der Kunst, in: Fotogeschichte 21, H. 79, 2001, S. 3-12. 228 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 441 f.

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In seinen medientheoretischen Analysen präzisiert Benjamin nicht nur die Eingriffe, Rupturen und die Veränderungen, die durch technische Innovationen entstehen, sondern diese werden selbst zu sensiblen Wahrnehmungsmedien, die entscheidenden Anteil an der Formierung des Wissens um das Wahrnehmbare haben.229 Die diagnostizierten Abstraktionen durch Medientechniken definiert Benjamin als das „Dynamit der Zehntelsekunde“230, durch das ein „Geysir neuer Bildwelten“231 sichtbar wird. Benjamin wendet sich in seiner ästhetischen Theorie der Abstraktion nicht nur als Ausdruckform einer Medienreflexion zu, sondern sie ist für ihn viel mehr: eine gedankliche Operation, die er explizit gegen die Konkretion wendet. In diesem Sinn zitiert ihn Adorno im Vorwort der Negativen Dialektik: Nur „durch die Eiswüste der Abstraktion“ sei überhaupt „zu konkretem Philosophieren [...] zu gelangen“, denn „Konkretion war in der zeitgenössischen Philosophie meist nur erschlichen.“232 Abstraktion als Medium der Veränderung visueller Erfahrung findet eine markante Ausdrucksform im Film. Der ‚abstrakte‘ Film, in Frankreich auch ‚absoluter‘ Film genannt, experimentierte mit Darstellungsmitteln, die den Sehprozess als Bewegung – oft in Analogie zur Musik – in seiner eigentlichen, elementaren Form wiedergeben sollten. „Der Vorgang selbst: gestaltende Evolutionen und Revolutionen in der Sphäre des rein Künstlerischen (abstrakte Formen); analog etwa den unserem Ohr geläufigen Geschehnissen der Musik.“ 233 Abstraktion wird im frühen

229 Vgl. Flach, Sabine: ‚Experimentalfilme sind Experimente mit der Wahrnehmung‘. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Visualisierungstechniken im künstlerischen Experiment, in: Becker, Sabine (Hg.): Jahrbuch zur Kultur der Weimarer Republik 9, München 2004, S. 195-221. 230 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 499. 231 Benjamin, Walter: Neues von Blumen (1928), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. III, Frankfurt am Main 1972, S. 151-153, hier: S. 152. 232 Benjamin, Walter, zit. nach: Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik (1966), in: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann, Bd. VI, Frankfurt am Main 1973, S. 9. 233 Richter, Hans: Prinzipielles zur Bewegungskunst [Bearbeitung und dt. Übersetzung eines 1921 im Original auf Ungarisch veröffentl. Textes von Viking Eggeling über

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Film als eine Form der Elementarisierung der Darstellung verstanden mit einem grundlegenden Interesse an den Vorgängen des Visuellen, an den optischen Effekten, die der Film zur Sichtbarkeit bringt. Die neuen Wahrnehmungsmodi, ausgelöst durch wissenschaftliche Erkenntnisse, ermöglicht durch neue Medientechniken, fasst Sigfried Giedion 1931 in einem seiner Vorträge mit dem Titel Erziehung zum Sehen zusammen: „Unser Blickfeld hat sich erweitert. Es genügt nicht mehr, in der Landschaft den Widerhall einer Stimmung zu empfinden. Wir sehen weiter. In größeren Zusammenhängen: Flugzeugblick. Wir sehen andererseits ‚schärfer‘. Das Mikroskop, der Röntgenapparat haben uns eine neue Sichtbarkeit geschaffen. Die ungeheure Welt der anonymen und abstrakten Dinge, das ganze Reich des Amorphen wird in den Kreis unseres Erlebens mit einbezogen. Die Gefühlspanne wird größer. Es entstehen Zusammenhänge zwischen einem Sternhaufen und einem Schmetterlingsflügel unter dem Mikroskop.“234

Abstraktion entwickelte sich als künstlerisches Verfahren mehr und mehr zur einzig relevanten Zukunftsperspektive in der Kunst.235 Ein von dieser Entwicklung besonders überzeugter Vertreter war der erste Direktor des Museum of Modern Art in New York, Alfred H. Barr jr. Er organisierte bereits im Jahr 1936 eine Art Rückblick auf die für diese Untersuchung im Zentrum stehende Periode, die ebenso berühmte wie zukunftsweisende Ausstellung Cubism and Abstract Art, in der er die Erscheinungsformen der Abstraktion in eine entwicklungslogische Genealogie mit zwei grundlegenden Polarisierungen aufteilte: einer nicht-geometrischen und einer geometrischen. Beispielhaften Ausdruck fanden diese beiden Antipoden der Abstraktion einerseits in Kandinskys organischer, von Barr als ‚Amöbe‘ bezeichneten Abstraktion, und andererseits in Malewitschs Schwarzem Quadrat:

‚Theoretische Präsentation der Bewegungkunst‘], in: De Stijl 4 , H. 7, 1921, S. 109112, hier S. 109. 234 Giedion, Sigfried: ‚Erziehung zum Sehen‘. Ein Vortrag für die Davoser Hochschulkurse (1931), in: Giedion, Sigfried: Wege in die Öffentlichkeit. Aufsätze und unveröffentlichte Schriften aus den Jahren 1926-1956, hg. v. D. Huber, Zürich 1987, S. 1822, hier S. 22. 235 Vgl. Schmidt-Burkhardt, Astrit: Die Abstraktion unter der Lupe. Vom wissenschaftlichen Geist zum Geistigen in der Kunst, in: Fotogeschichte 21, H. 79, 2001, S. 3-12.

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„The impulse towards abstract art during the past fifty years may be divided historically into two main currents, both of which emerged from Impressionism. The first and more important current finds its sources in the art and theories of Cézanne and Seurat, passes through the widening stream of Cubism and finds its delta in the various geometrical and Constructivist movements which developed in Russia and Holland during the War and have since spread throughout the World. This current may be described as intellectual, structural, architectonic, geometrical, rectilinear and classical in its austerity and dependence upon logic and calculation. The second – and, until recently, secondary – current has its principal source in the art and theories of Gauguin and his circle, flows through the Fauvisme of Matisse to the Abstract Expressionism of the pre-War paintings of Kandinsky. After running under ground for a few years it reappears vigorously among the masters of abstract art associated with Surrealism. This tradition, by contrast with the first, is intuitional and emotional rather than intellectual; organic or biomorphic rather than geometrical in its forms; curvilinear rather than rectilinear, decorative rather than structural, and romantic rather than classical in its exaltation of the mystical, the spontaneous and the irrational.“ 236

236 Barr, Alfred H. jr.: Cubism and Abstract Art (1936), New York 1974, S. 19.

Abbildung 1: Aufnahme der Ausstellung des Leningrader GINChUK in Moskau, 1925.

Abbildung 2: Aufnahme GINChUK. Abteilung für organische Kultur, ca. 1925.

Abbildung 3: GINCHUK, ca. 1925; Schrifttafel über der Tür: „Abteilung für organische Kultur: Erforschung des Organismus und dessen Wahrnehmung“.

Kapitel III Sinnerzeugung durch Sinneserfahrung Fühlen, Wahrnehmen, Denken – Avantgarde als Suchbewegung

„Nur solange das, was im Geiste vorgeht, noch in Bewegung, noch unentschieden, noch dem Augenblick ausgeliefert ist, wird es für unsere Absicht taugen, das heißt: bevor man es Gedankenspiel oder Gesetz, Theorem oder Kunstwerk genannt hat.“ 237 PAUL VALÉRY „Wir könnten zeigen, daß die Kunst die zentrale Emotion […] ist, die sich hauptsächlich in der Großhirnrinde löst. Die Emotionen der Kunst sind geistige Emotionen. Statt sich in geballten Fäusten und Zittern zu äußern, lösen sie sich hauptsächlich in Phantasiebildern.“238 LEV WYGOTSKI

1 AVANTGARDE ALS S UCHBEWEGUNG – „T ECHNIK DER G EFÜHLE “ 239 „Wir möchten nicht (nur), dass die Wissenschaft in unserer Welt sich entwickelt und aufblüht; unter den vorliegenden sozialen Gegebenheiten möchten wir zunächst und zuallererst einmal, dass unser gesamter Blick auf die Welt, all unsere gesellschaftlichen Bedingungen 237 Valéry, Paul: Leonardo. Drei Essays, Frankfurt am Main 1960. 238 Wygotski, Lev: Psychologie der Kunst (1925), Dresden 1976 (1965), S. 246. 239 Ebd., S. 288.

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und all unsere künstlerische, technische und gesellschaftliche Kultur sich entsprechend dem Grundsatz der Wissenschaft strukturiert und ordnet.“ 240

Der Anspruch, den der Kunsthistoriker Nikolai Punin in einem Vortrag aus dem Jahr 1919 formuliert, charakterisiert für die künstlerische Kultur eine Tendenz, die für die Vertreter der Avantgarde symptomatisch gelten sollte: die Arbeit an einer Kunst und einem Kunstbegriff, der, neu, universell, anti-naturalistisch sowie antiidealistisch, sich gegen die Übernahme traditionell erprobter künstlerischer Praktiken und Verfahren, verwaltet in den Bild-Archiven der Vergangenheit, ebenso wendete, wie gegen die Teleologie des konventionellen historiographischen Gedankens von der Entwicklung und Ablösung ikonographischer Codes und Motive und sich vielmehr – gleichsam resultierend aus dieser Suche nach einer neuen Kunst – mit der (Wieder-)Entdeckung der Natur- bzw. genauer: Wahrnehmungsund Lebenswissenschaften und ihrer Methoden als Analogie und Bezugspunkt für das künstlerische Arbeiten verband. Die Programmatik der Avantgarde-Künstler gründete auf dem Versuch, eine systematische und umfassende Untersuchung der künstlerischen Kultur zu leisten, die durch eine Analyse der Methoden und Mechanismen der Kunstproduktion einerseits sowie der Analyse einzelner Werke andererseits gelingen sollte. Es ging um eine Erforschung der Funktion der Einzelelemente, um sodann die in ihr wirkenden Gesetze zu begründen. Das Ziel dieser Forschungen lag in der künstlerischen Erneuerung und Begründung einer neuen Kunst, die durch die Nivellierung überkommener kultureller Konventionen und Kulturtechniken, der Überwindung von Wahrnehmungsgewohnheiten und einer Elementarisierung, d. h. einer Rückführung der künstlerischen Produktivität auf ihre grundlegenden Strukturen und Einheiten zur Freilegung ihrer Wirkkräfte erreicht werden sollte. 241 So schrieb etwa Kasimir Malewitsch 1926:

240 Punin, Nicolai: First Cycle of Lectures for the In-Service Training of Drawing Teachers, Petrograd 1920. Hier zitiert nach: Douglas, Charlotte: Wilhelm Ostwald und die Russische Avantgarde, in: Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde. Die Sammlung Costakis aus dem Staatlichen Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki [Ausst.-Kat.], Köln 2004, S. 30-39, hier S. 31. 241 Vgl. Groys, Boris/Hansen-Löve, Aagen (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main 2005.

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„Der akademische Naturalismus, der Naturalismus der Impressionisten, der Cézanneismus, der Kubismus usw. – dies alles sind gewissermaßen nichts als dialektische Methoden, die an sich den eigentlichen Wert des Kunstwerkes in keiner Weise bestimmen. Eine gegenständliche Darstellung – an sich (das Gegenständliche als Zweck der Darstellung) ist etwas, was mit Kunst nichts zu tun hat […].“242

Diese Suche nach diesen Grundelementen der Kunst diente also der Aufklärung über Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen des Menschen. Neu war jedoch, dass die Kunst selbst, als Verwalterin dieser Wahrnehmungsweisen zum Objekt der Recherche wurde,243 wie etwa Ivan Kljun formuliert: „Die Kunst ist ein Mittel der künstlerischen Einwirkung auf unseren psychophysischen Apparat, und zwar – nach der Rolle zu urteilen, die sie in unserer Kultur gespielt hat – ein sehr starkes Mittel. Künstlerisches Schaffen und künstlerische Wahrnehmung.“244

In diesem Sinne wurde die Avantgarde eine Suchbewegung für die umfassende Konstruktion einer neuen Aisthesis, für die Emanzipierung des menschlichen Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens aus überlieferten Repräsentationsund Kunstsystemen zugunsten neuer, überraschender Konstellationen und Fusionen der Sinne: Kunst wurde zu einem Experiment, in dem Sinneskulturen und Wahrnehmungsweisen des Menschen umfassend analysiert wurden. Dabei wurde dem methodischen Instrumentarium der Kunst eine besondere Erkenntnisleistung zugesprochen. Das Ziel lag in der nicht einfach zu lösenden Anstrengung, die nicht messbaren Faktoren künstlerischer Kultur bestimmbar und kommunizierbar zu machen und dies unter der Voraussetzung, das je spezifisch Künstlerische nicht in Wissenschaft aufgehen zu lassen, sondern es gerade wiederum als das der Kunst

242 Malevič, Kazimir S.: Die gegenstandslose Welt. II. Teil. Suprematismus. Hier zitiert nach: Wingler, Hans M. (Hg.): Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher), S. 65. 243 Hier zeigt sich eine Differenz zu den Forschungen um 1800. Dort war die Erforschung des komplexen Prozesses visueller Wahrnehmung in die wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit Naturphänomenen eingebettet. Vgl. Dürbeck, Gabriele u.a. (Hg.): Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001. 244 Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Leningrad (LGALI: F. 244, Op. 1, D. 33, L. 43 ob), hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 45.

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angemessene Instrumentarium der Analyse zu verwenden. Demzufolge zielte das Interesse der künstlerischen Forschungen darauf ab, bestimmte Methoden der Kunst, die im Experiment verwendet wurden, dort selbst wiederum zu erforschen. Die künstlerische Tätigkeit hat – und dies gilt es im Folgenden zu zeigen – damit einen ebenso entscheidenden wie autonomen Anteil an jenem Schauplatz, den Otniel Dror für die Physiologie als die „emotionale Wende“ 245 gekennzeichnet hat. Die Einführung, bzw. Rückgewinnung der Gefühle und Emotionen in den Wissenschaften ermöglichte es ebenso, bislang vernachlässigte Formen der Wissensgewinnung durchzusetzen, wie auch gänzlich neue Erkenntnisansprüche zu erheben. Neue experimentelle Verfahren sollten die Gefühle nicht nur in einen Experimenteablauf integrieren, sondern es wurden diese vielmehr erst durch unterschiedliche labortechnische Manipulationen sichtbar, die gemessen, aufgezeichnet und somit zugänglich und kontrollierbar gemacht werden sollten. Gefühle wurden also in den Wissenschaften zu einem Untersuchungsgegenstand und zu einem Erkenntnisobjekt. Die künstlerische Praxis nimmt diese Entwicklung in den Wissenschaften nicht nur auf und kommentiert sie – im Sinne einer tradierten humanistischen Kompetenz der Verwaltung und Mahnung – sondern bearbeitet die ihr ganz eigenen Potentiale des Vermögens, Aussagen über Wahrnehmungsweisen, Empfindungen und Gefühle zu treffen und leistet damit einen eigenen wissenschaftlichen Beitrag mit Dignität. Wahrnehmung, Denken und Fühlen werden also weder als gegeben vorausgesetzt, noch – da in einem unzugänglichen Bereich vermutet – als schlicht unerschließbar vernachlässigt. Erst mit und durch die Kunst und ihre je spezifische Weise der Erfahrung werden – so die These – die Bereiche Fühlen, Wahrnehmen und Denken erfahrbar – jedoch nicht in der der Kunst per se attestierten generellen Unverfügbarkeit alles Künstlerischen, sondern es ist vielmehr die Kunst selbst, die eine ausgereifte Schulung der Wahrnehmung in ausgeklügelten Theorien, Überlegungen und Produkten vornimmt, um sie genau an diesem Ort der Untersuchung zu unterziehen. Es geht also um die Kunst der Wahrnehmung, des Denkens, und Fühlens und wiederum vermittels der Kunst wird genau jener Ort etabliert, an dem diese Untersuchung in der Kunst vollzogen werden kann. In diesem Sinne – so die nun folgenden Überlegungen – wurde die Avantgarde zu einer Suchbewegung für die umfassende Konstruktion einer neuen Aisthesis, für die Emanzipierung des

245 Dror, Otniel: Affekte des Experiments. Die emotionale Wende, in: Schmidgen, Henning/Geimer, Peter/Dierig, Sven (Hg.): Kultur im Experiment, Berlin 2004, S. 338372.

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menschlichen Wahrnehmungsvermögens aus überlieferten Repräsentations- und Kunstsystemen zugunsten neuer, überraschender Konstellationen und Fusionen der Sinne: Kunst wurde zu einem Experiment, in dem Sinneskulturen und Wahrnehmungsweisen des Menschen umfassend analysiert wurden. Dabei wurden Zusammenhänge nicht nur mit den neuen, technisch präformierten Visualisierungstechniken,246 sondern vor allem mit den Erkenntnisinteressen der zeitgenössischen physiologischen und psychotechnischen Wahrnehmungstheorien, die an Konzepte des Immateriellen, Unbewussten und Nicht-Sichtbaren anknüpften, gesucht. An der Etablierung dieses Schauplatzes haben auch die empirischen Naturwissenschaften teil. Das physikalische Weltbild, geprägt von Protonen, Neutronen und Elektronen, bestimmt einen Antimaterialismus, der den Bereich des vormals Nicht-Sichtbaren zum Sichtbaren durch technische Verfahren im Mikro- und Nanobereich weiter ausdehnt. Für Wassily Kandinsky war u. a. die Atomphysik von besonderem Interesse, da er hier ähnliche abstrakte Vorgänge beobachtete wie in seiner Kunst. „Hier finden wir auch professionelle Gelehrte, die die Materie wieder und wieder prüfen, die keine Angst haben, vor keiner Frage, und die endlich die Materie, auf welcher noch gestern alles ruhte und das ganze Weltall gestützt wurde, in Zweifel stellen. Die Theorie der Elektronen, d.h. der bewegten Elektrizität, die die Materie vollständig ersetzen soll, findet momentan kühne Konstruktoren, die hier und da über die Grenze der Vorsicht gehen […].“247

Gleichzeitig entwickelt sich ein Feld, in dem eine Kognitionsforschung avant la lettre immer größere Bedeutung gewinnt. Mit der Frage danach, wie das Gehirn funktioniert und wie Gedanken sichtbar gemacht werden können, rückt das Gedankenexperiment – als Verbindung von wissenschaftlichen, künstlerischen, medientechnischen und sakralen bzw. prärationalen Aspekten – ins Zentrum des wissenschaftlichen und künstlerischen Interesses. In den theoretischen Reflexionen zum Gedankenexperiment wird deutlich, dass dieses – von Künstlern wie von Wissenschaftlern – als Wissenschaft angesehen wurde, als experimentell messbares Phänomen des Geistes.

246 Vgl. Flach, Sabine: ‚Experimentalfilme sind Experimente mit der Wahrnehmung‘. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Visualisierungstechniken im künstlerischen Experiment, in: Becker, Sabine (Hg.): Jahrbuch zur Kultur der Weimarer Republik 9, München 2004, S. 195-221. 247 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 40.

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Damit ging das Verfahren der Abstraktion einher, das – so die These der folgenden Ausführungen – als bestimmendes Dispositiv, also als missing link der Interferenzen zwischen Wissenschaften und Künsten gelten kann. Abstraktion wird in diesem Sinne zu einem Schlüsselphänomen, um diese neue Kunst und ihr Bemühen, zu einem neuen Sehen zu gelangen, zu verstehen. Dieses neue Sehen meint weder nur die naturalistische Wiedergabe der Umwelt noch lediglich den Versuch einer Darstellung der Optik. Vielmehr verbindet sich im neuen Sehen der Sehsinn mit allen anderen Sinnen zur „allseitigen Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen.“248 Es wird als äußeres Sehen mit mentalen Bildern in Zusammenhang gebracht und die Frage nach der Funktion der Wahrnehmung mit Funktionen des Gehirns und der Nerven verbunden. Der Überzeugung, dass es in der Natur Phänomene gibt, die sich der Wahrnehmungsfähigkeit des Auges entziehen, wird nicht nur mit der Entwicklung immer empfindlicherer technischer Aufzeichnungsgeräte begegnet. Als Konsequenz entsteht durch die Abstraktion eine „genuine Deutung von Realität“249, die eine eigene Weise des Erkennens impliziert und so die Legitimation für die neue Kunst bietet. Sie besteht nun gerade nicht in der Restituierung einer normativen Mimesislehre; Abstraktion macht vielmehr aufmerksam auf tiefgreifende Veränderungen im Wirklichkeitsbezug. Innovationen in den Künsten legen einen Fokus auf Wahrnehmungsveränderungen und konfigurieren so nicht nur das Verhältnis von Aisthesis und Ästhetik neu, sondern etablieren Kunst als Wissenschaft. Abstraktion steht für eine durch verschiedene Entwicklungen begünstigte, sinnlich nicht mehr in bekannter Weise verfügbare entmaterialisierte Objektwelt. Darüber hinaus wird sie nicht nur als Abkehr vom Paradigma der Naturnachahmung verstanden, sondern als neuer Geist, als eine synchrone Verschränkung von künstlerischen Verfahren, wissenschaftlichen Entdeckungen und Kultur- und Medien-Techniken. Abstraktion als Methode definiert und konstituiert sich als eine

248 Matjuschin, Michail: Künstlerischer Werdegang. Manuskript, Privatarchiv St. Petersburg, zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 44. 249 Boehm, Gottfried: Abstraktion und Realität. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne, in: Philosophisches Jahrbuch 97, München 1990, S. 225237, hier S. 226.

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an experimentellen Tätigkeiten, automatisierten Bildverfahren und Aufschreibsystemen sowie industriellen Entwicklungen ausgebildete Denk- und Darstellungsform.

2 ABSTRAKTION

ALS I NSTITUTIONENPHÄNOMEN

Die Verbreitung der Abstraktion als Bindeglied zwischen Kunst und Wissenschaft ist – nach ihrer erfolgreichen Einführung in die bildkünstlerische Praxis und ästhetische Theorie – vor allem ein Institutionenphänomen. Können im Westen Europas das Bauhaus oder auch die Gruppe De Stijl als Innovationszentren gelten, so bildeten in Russland die experimentellen, neuartigen Arbeitssituationen an den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten in Moskau (VChUTEMAS), am Institut für künstlerische Kultur in Leningrad (GINChUK) und an der Russischen Akademie für Kunstwissenschaften (RAChN) eine Laboratoriumskunst aus, die sich häufig dem Konstruktivismus oder aber, im Sinne eines Bioästhetizismus, dem Organisch-Naturhaften zuwandte.250 Im Rahmen der Forschungen wurden die Elemente Farbe, Faktur, Form, Material und Licht als Komponenten der Wahrnehmungsparameter des Menschen einer intensiven Analyse unterzogen.251

250 Vysšie [Gosudarstvennye] Chudožestvenno-Techničeskie Masterskie, Höhere Staatliche Künstlerisch-Technische Werkstätten; Gosudarstvennyj Institut Chudožestvennoj Kul’tury. Institut für künstlerische Kultur; Rossiskaja Akademija Chudožestvennych Nauk, Russische Akademie für Kunstwissenschaften. Zum Begriff „Bioästheten“ vgl. Groys, Boris/Hansen-Löve, Aagen (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main 2005, S. 264. 251 Dies auch um den Wert der Kunst für die notwendige Umstrukturierung der Gesellschaft zu verdeutlichen. Die Abstraktion des Konstruktivismus ist das gesellschaftliche Zeichen der Ablehnung einer alten Ordnung und der Hinwendung zu einer utilitären Zukunft. So schreibt etwa Aleksandr M. Rodčenko in seiner Ausarbeitung des Lehrplans des VChUTEMAS: „Konstruktion – Organisation der Elemente. Konstruktion ist moderne Weltanschauung. Kunst ist wie jegliche Wissenschaft einer der Zweige der Mathematik. Konstruktion ist eine moderne Forderung nach Organisation und zweckbestimmter Nutzung des Materials. Konstruktives Leben ist die Kunst der Zukunft.“ Rodčenko, Aleksandr M.: ‚Losungy‘ und ‚Programma organizacii laboratorij pri Gosud. chudožestvennych masterskich‘ (1920/1921); dt.: ‚Losungen‘ und ‚Organisationsprogramm‘ der Arbeitsgruppe für das Malereistudium in staatlichen Kunstanstalten, übers. v. A. Friedrich, in: Noever, Peter (Hg.): Die Zukunft ist unser einziges Ziel [Ausst.-Kat.], München 1991, S. 158.

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Das Ziel der Institutionen, die ihren Schwerpunkt auf die Erforschung aisthetischer und ästhetischer Praktiken zur Etablierung der Verbindung einer neuen Sinneskultur und einer neuen Wissenskultur richteten, lag vor allem in dem Bestreben, Kunst als eine eigene Forschungsdisziplin zu etablieren, der ein spezifisches Wissen eigen ist, das sich in der Auswahl spezieller Methoden der Arbeitsweise ebenso konkretisieren lässt wie in der Wahl des Materials, spezifischer Formaspekte oder konkreter Raum-Zeit-Verhältnisse. „Wie jede andere auf Erkenntnis zielende Praxis will auch die künstlerische Tätigkeit mit Messungen operieren und ausgemessen werden; ohne das ist Erkenntnis nicht möglich. Die Kunst ist oft nichts anderes als eine Wissenschaft von den ästhetischen Phänomenen“ 252,

konstatiert Nikolai Punin – Leiter der Abteilung für ‚allgemeine Methodologie‘ am Institut für künstlerische Kultur (GINChUK). Die Programmatik des GINChUK zielte also auf eine wissenschaftliche Grundlegung der Künste, die in Departments mit je unterschiedlichen Forschungsaufgaben und Zielen erarbeitet wurde. Fünf Abteilungen wurden zu diesem Zweck gegründet: 1. die Abteilung für Malkultur, geleitet von Malewitsch, 2. die Abteilung für Materialkultur, der Tatlin vorstand, 3. die Abteilung für organische Kultur, unter der Leitung von Matjuschin, 4. die Abteilung für allgemeine Methodologie, Abteilungsleiter war hier Punin, und 5. die experimentelle Abteilung, geleitet von Mansouroff. In der Abteilung für allgemeine Methodologie sah man die Aufgabe darin, eine „die getrennten Bemühungen der neuen Kunst zusammenfassende Theorie zu entwickeln.“ 253

252 Punin, Nicolai: Maß der Kunst, in: Kunst der Kommune, 02.02.1919, hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 40. 253 Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Leningrad (LGALI: F. 244, Op. 1, D. 33, L. 43 ob), hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 45.

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Ihre Tätigkeit verstanden die Künstler-Wissenschaftler in inhaltlicher und methodologischer Hinsicht als Entwicklung und Ausarbeitung exakter, objektiver Forschungsmethoden. Entscheidend ist, dass diese auf der Grundlage strenger, experimentell gesicherter Analysen durch Ergebnisse in anschaulicher und beweiskräftiger Form dargestellt und abgesichert werden konnten. Erklärtes Ziel der Forschungsanstrengungen war die Erarbeitung einer universellen Methodologie der Kunst, denn – so Nicolai Punin – „analytisch und zugleich integrativ wird Kunstgeschichte als Folge kultureller Erfindungen betrachtet“254, deren Erforschung sowohl für andere kulturelle als auch wissenschaftliche Bereiche nutzbar gemacht werden sollte, um somit zu einer umfassenden Klärung der psychophysischen Kompetenzen des Menschen zu gelangen, bzw. diese Kompetenzen zu optimieren. Die Experimente etwa zu Farb- und Formwahrnehmung, zum Raumempfinden und zur Wahrnehmung dynamischer Prozesse dienten einem Training, mit dem es dem Menschen gelingen sollte, seinen damit verbundenen Empfindungen Ausdruck zu verleihen, ohne sie mit gegenständlichen Assoziationen in Verbindung bringen zu müssen. Erkundet werden sollten also Malsysteme, Methoden und Verfahren der Kunst. Mit der Konzentration auf die Konstruktion und die Untersuchung von Farb- und Formwerten rückt die Abstraktion als Methode der Elementarisierung zwischen Kunst und Wissenschaft in den Blick, wie der Rechenschaftsbericht der Institution aus dem Jahr 1927/28 ausweist: „Forschungen zum Thema, wie sich die visuelle Wahrnehmung auf das Bild auswirkt, haben ergeben: a) welchen Stellenwert die erste und zweite Komplementärfarbe im Interaktionssystem von zwei Farben haben, b) welche Rolle Verschiebungen für die Rezeption der Farbzusammenstellung spielen, c) anhand der Farbreflexe im Auge kann die gestaltende Potenz der Farbe ungefähr charakterisiert werden, d) Gesetz des geschlossenen Kreises bei der Farbrezeption, e) welche Rolle Bewegung für die Rezeption von Farbe und Farbzusam-

254 Punin, Nicolai: Abteilung für die neuesten Kunstströmungen. Gründung und Aufgaben, in: Rechenschaftsbericht des russischen Museums für 1927, Leningrad 1929, S. 41, hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 40.

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menstellungen spielt. Außerdem wurde das Zusammenwirken von Wahrnehmungen taktiler, akustischer und visueller Art bei der Rezeption eines Bildes erforscht. Es wurden Modellversuche durchgeführt.“255

Die 1921 gegründete Russische Akademie der künstlerischen Wissenschaften, kurz RAChN256 (später GAChN), in Moskau – deren Vizepräsident257 und Leiter des psychophysischen Departments Wassily Kandinsky war –, verstand sich als „laboratory for the integration of arts and sciences“, in der „the general character of contemporary esthetics“ ebenso als „precise field of knowledge“ verstanden wurde, wie auch „the history of art and art criticism“ als „sciences“ angesehen wurden.258 Konzeptionelle Leitlinien des Institutes waren 1. die Bindung an den deutschen Wissenschaftskontext in der Kunsttheorie (K. Fiedler, A. Hildebrandt, W. Worringer), in der Psychologie an W. Wundt und die Leipziger Schule, in der Philosophie an Husserl und die Phänomenologie sowie 2. eine experimentelle, in Laboratorien organisierte Arbeitsweise, 3. die Konzeption einer Kunstgeschichte als Formevolution und 4. die Analyse von sinnesphysiologischen Zusammenhängen von Wahrnehmung und Raum.259 Ziel der Mitarbeiter des Institutes – der rakhnovtsy – war es, eine Theorie künstlerischer Kreativität für eine experimentelle Kunstwissenschaft zu formulieren.

255 Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Leningrad (LGALI: F. 82, Op. 3, D. 38, L. 66/67), hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 55. 256 In Moskau wurde am 13. Oktober 1921 auf Beschluss des von A. V. Lunatscharski geleiteten Volkskommissariats für Bildung (NARKOMPROS) die RAKhN, später GAChN: Staatliche Akademie der künstlerischen Wissenschaften, gegründet. Die RAKhN publizierte ein eigenes Journal, das Iskusstvo (Kunst). 257 Präsident der RAKhN war Petr Kogan. 258 Pogodin, Fedor: Towards a New Science of Art, in: Misler, Nicoletta/Bowlt, John E. (Hg.): Experiment. A Journal of Russian Culture, Los Angeles 1997, S. 40-50, hier S. 47. 259 Vgl. dazu: Barck, Karlheinz: Die Russische Akademie der künstlerischen Wissenschaften als europäischer Inkubationsort für Psychophysik, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4.

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Diese sollte weit mehr sein als eine weitere Abhandlung zu einer empirischen Geschichte der Kunst. Vielmehr sollte auch die Theorie der Kunst an der RAChN eine wissenschaftliche Fundierung erfahren, um so die Verbindungen von Kunst und Lebenswissenschaften – aus der Perspektive der Kunst – erforschen zu können. „The task now confronting the Academy is to acknowledge and use artistic experiment as a special method – and this has not been applied in the past.“260 Entsprechend der Arbeitsweise des Instituts für künstlerische Kultur wurde jedoch auch die Russische Akademie für Kunstwissenschaften in Departments aufgeteilt. Zunächst wurde eine künstlerisch-wissenschaftliche Kommission gegründet, die neben der konzeptionellen und organisatorischen Institutsarbeit auch die Forschungsschwerpunkte der Abteilungen festlegte: das physico-mathematische und psycho-physische Department, geleitet von Kandinsky, und das soziologische Department – verantwortlich war Vladimir Friche – sowie das philosophische Department, geleitet von Gustav Spet. Innerhalb dieser großen Bereiche konzentrierten sich Teilprojekte auf besonderen Fragen der Literatur, der Musik, der Architektur, des Theaters und der bildenden Kunst – das spezielle Arbeitsfeld Kandinskys.

3 AVANTGARDE ALS S UCHBEWEGUNG – „G EYSIRE NEUER B ILDWELTEN “ 261 „Die technischen Revolutionen, das sind die Bruchstellen der Kunstentwicklung, an denen die Tendenzen, je und je, freiliegend sozusagen, zum Vorschein kommen. In jeder neuen technischen Revolution wird die Tendenz aus einem sehr verborgenen Element der Kunst wie von selber zum manifesten. Und damit wären wir endlich beim Film. Unter den Bruchstellen der künstlerischen Formationen ist eine der gewaltigsten der Film. Wirklich entsteht mit ihm eine neue Region des Bewusstseins.“262

260 Anonym (A. Sidorov ?): Akademiia khudozestvennykh nauk, in: Nauka i iskusstvo (M), No. 1, 1926, S. 211, hier zitiert nach: Misler, Nicoletta: A Citadel of Idealism: RAKhN as a Soviet Anomaly, in: Misler, Nicoletta/Bowlt, John E. (Hg.): Experiment. A Journal of Russian Culture, Los Angeles 1997, S. 14-30, hier S. 15. 261 Benjamin, Walter: Neues von Blumen (1928), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. III, Frankfurt am Main 1972, S. 151-153, hier S. 152. 262 Benjamin, Walter: Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz (1927), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt am Main 1977, S. 751-755, hier S. 752.

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Walter Benjamins Diagnose der künstlerischen Situation zum Ende der zwanziger Jahre präzisiert die Eingriffe, Rupturen und die Veränderungen, die durch technische Innovationen in den Bildmedien für die Gesamtstruktur der „künstlerischen Formationen“263 ausgelöst werden. Diese Aufnahme technischer Medien in eine sich formierende, experimentelle künstlerische Praxis erfüllte zunächst die Forderung Benjamins nach der Überwindung der „Abdichtung der Kunst gegen die Entwicklung der Technik“.264 Gleichzeitig wurde mit dieser Integration medientechnischer Verfahren in die künstlerische Arbeit ein Schauplatz265 etabliert, auf dem – entgegen der Teleologie des konventionellen historiographischen Gedankens von der Entwicklung und Ablösung von Apparaten, Instrumenten, technischen Praktiken und Medien – eine synchrone Verschränkung266 von Medien-Techniken, künstlerischen Verfahren,

263 Benjamin, Walter: Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz (1927), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt am Main 1977, S. 751-755, hier S. 752. 264 Walter Benjamin, Walter: Exposé Paris. Die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts (Anmerkungen zum Passagenwerk) [1935], in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. V.1, Frankfurt am Main 1982, S. 4559, hier S. 56. 265 „Im Unterschied zu Entwicklungserzählungen machen Schauplätze die Momente der Entstehung und die Spuren der vorausgegangenen Verhandlungen sichtbar. Sie sind nichts Gegebenes, sondern ergeben sich aus der Einstellung – im buchstäblichsten Sinne. Denn eine Einstellung auf Schauplätze richtet den Blick ebenso auf das Personal, das sich auf der Bühne bewegt, wie auf dasjenige, was der Szene vorausgegangen ist und was in den Kulissen bleibt, und auch auf die Techniken, die das Geschehen auf der Bühne ermöglichen. Als Übertragung von gr. theatron verweist der Schauplatz auf die Herkunft der Erkenntnis aus der Anschauung. […] Erst im Verlaufe der europäischen Geschichte ist das Bewußtsein dafür verloren gegangen, daß Denken und Erkenntnis zunächst einen Schau-Platz darstellen […]. Insofern erinnert der Schauplatz – als Abkömmling der theoria – an die Gemeinsamkeiten von Anschauung und Denken, von Bild und Begriff, von Kunst und Wissen.“ (Weigel, Sigrid: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München 2004, S. 7) – Vgl. auch: Flach, Sabine: Der Körper als Schauplatz, in: Flach, Sabine: Körper-Szenarien. Zum Verhältnis von Körper und Bild in Videoinstallationen, München 2003, S. 269-389. 266 Für die Bestimmung dieses Zusammenhangs geht es also nicht darum, in den Gestus einer ›großen Erzählung‹ zu verfallen, sondern vielmehr um eine Spurensicherung

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Wissensfeldern und Kulturtechniken einsetzt, deren gemeinsames Ziel in der Erkundung des Zusammenhangs von Aisthesis und Medialität liegt. Indem der Fokus auf jenem Ineinandergreifen von wissenschaftlichen und künstlerischen Entdeckungen und technischen Erfindungen liegt, werden (Medien-)Künste nicht nur zu sensiblen Wahrnehmungsmedien einer modernen Kultur, sondern somit sind alle Bereiche – Kunst, Wissenschaft und Medientechnologie – unmittelbar an der Produktion von Wissen – hier einem Wissen um das Wahrnehmbare – beteiligt, in dem unterschiedliche Diskurse aufeinandertrafen:267 Zum einen ein medizinisch-biologistisch-kognitionswissenschaftlicher Diskurs, für den die Frage nach dem Verhältnis von Wahrnehmung und Sehprozessen im Mittelpunkt stand. Zum anderen vermehrten sich Untersuchungen zur Funktionsweise des Gehirns, um das Denken analysieren zu können. Diese Forschungen verbanden sich – durch Freuds Studien veranlasst – oft mit psychophysischen Analysen, mit dem Ziel, das Bewusste und das Unbewusste zu lokalisieren. Darüber hinaus wurde ein biologistischer Diskurs durch die Beschäftigung mit Fragen der sich in dieser Zeit entwickelnden Lebenswissenschaften etabliert. Dies wurde mit einer Sprache verbunden, die sich biologistischer Metaphern bediente, um die Notwendigkeit, zur Erkenntnis des künstlerischen Wissens an die Ursprünge zurückkehren zu müssen, zu unterstreichen. Diese Metaphern werden auch in der zeitgleichen theoretischen Reflexion verwendet. Parallel entwickelt sich ein medien-technologischer Diskurs, der, angeregt durch die Erfindung der Röntgenstrahlen, in das Innere des menschlichen Körpers vorzudringen vermochte und somit an einer Ausweitung des Blicks nicht nur

von Verbindungen. Dieser damit notwendig einhergehenden Zufälligkeit von Ereignissen sollte man – so Foucault – nichts von ihrer Zufälligkeit nehmen, um gerade so ihre Stringenz zu erkennen (Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits I. 1954-1969, Frankfurt am Main 2001, S. 112). Die Wissenskonstitution einer historischen Phase erklärt Foucault in der Archäologie des Wissens aus den jeweils kopräsenten diskursiven Praktiken. 267 Insbesondere für die Hirnforschung spielt zudem ein sakraler Diskurs eine bedeutende Rolle, der – mitunter durch den Rückgriff auf theosophische und monistische Vorkriegsreligiosität bzw. die Anbindung an die gleichzeitig stattfindende okkulte Praxis – diesem neuen Wissenssystem eine geradezu phantastische Übersinnlichkeit und der Untersuchung des Gehirns die entsprechende Dignität sowie den Wissenschaftlern die notwendige quasi-religiöse Autorität verleiht. Über Strahlung als naturwissenschaftliches Phänomen wird die religiöse Frage nach dem Werden des Lebens wieder eingeführt.

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durch weitere mikroskopische Aufnahmen molekularer Bereiche des menschlichen Körpers arbeitete, sondern vielmehr das Nicht-Sichtbare abbilden wollte. Medien, wie die Fotografie und der Film, induzieren ein neues Wissen vom Menschen. Zudem etabliert sich ein künstlerisch-bildwissenschaftlicher Diskurs, indem die Ausarbeitung des Abstraktionsparadigmas der modernen Kunst wesentliche Grundlagen lieferte, zum einen zu den Möglichkeiten, Nicht-Sichtbares (also etwa organische bzw. zellulare Prozesse, bzw. das Denken selbst) darzustellen, um somit Unsichtbares und Bewusstes/Unbewusstes miteinander zu verbinden, und zum anderen, um abstrakte Darstellungen zu erkennen, und ihnen sodann Sinn zu verleihen.268 Die Moderne trägt als nachhaltiges Kennzeichen nicht nur die Komplexität, sondern ebenso den Index der Bewegung.269 Bewegung kann jedoch erst dann zu einem spezifischen Gegenstand des Wissens werden, wenn für die Darstellung von zeitseriellen Daten entsprechende Medien vorhanden sind: Mit der Kinematographie steht ein Medium für die Bewegung zur Verfügung. Mit der Sequentialisierung des Filmbildes wird nicht nur der Bewegungsablauf an sich sichtbar, sondern gleichermaßen wird an einer Ausweitung des Sichtbaren gearbeitet, indem die Kamera minimale, dem normalen Bewusstsein nicht zugängliche Veränderungen nicht nur aufzeichnet, sondern diesen Abläufen durch ihre spezifischen technischen Möglichkeiten überhaupt erst ein Bild und diese damit zu sehen gibt. Mit Benjamins Analyse des Kamerabildes wird deutlich, dass die Kamera nicht an die Stelle des menschlichen Auges rückt, um dessen Leistungen zu maximieren, sondern die Technik der Kamera macht sichtbar, was zuvor unsichtbar war, d. h. durch die Leistung der Kamera wird eine Ersetzung dessen ermöglicht,

268 Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 471-508, hier S. 500. 269 Bewegungsabläufe in der Zeit technisch darstellen zu können, erzeugt verändertes Wissen von Menschen und wird zum Stigma einer Episteme, deren Zentrum der Mensch ist. Dies ist die Generalthese von Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Vgl. zum Zusammenhang von Bewegung, Komplexität und Wissen, sowie der Verbindung zu Foucault: Rieger, Stefan: Optische Komplexität. Zur (psycho)technischen Unvermeidlichkeit der Bilder um 1900, in: Graevenitz, Gerhart von/Rieger, Stefan/Thürlemann, Felix (Hg.): Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001, S. 207-222, hier besonders S. 208 f.

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was hervorgebracht wird. Erst durch die Technik erfährt der Mensch vom OptischUnbewussten und seiner Wirkung im Bildraum. Die Erfahrungen des Menschen sind somit Produkt des Mediums.270 Dieses Wissen der technischen Bilder äußert sich in Abstraktionen und Mikrologien, die – anstelle etwa ikonographischer Codes und Motive – Materialität, Oberflächen und Spuren sichtbar machen.271 Somit setzt zudem, erkenntnistheoretisch gewendet, eine Reflexion des Mediums qua Medium ein, d. h. es werden nicht nur die Veränderungen, die technische Medien erzeugen, reflektiert, sondern innerhalb dieser Reflexion wird ein Medienwechsel immer bereits mitgedacht. Dies bedeutet dann wiederum, Effekte von künstlerischen Techniken, wie etwa der Abstraktion, nicht als bloße Abfolge, hier von der Malerei zur Fotografie zum Film denken zu müssen, sondern die Durchkreuzungen, die auf einem Schauplatz stattfinden, ermöglichen es, mit den Worten Walter Benjamins „Gedanken zur Geschichte der Malerei auf die Geschichte der Photographie zu gründen.“272 Mit Hilfe der Technik werden im Optisch-Unbewussten Bilder hergestellt, deren Wahrnehmung vergessen lässt, dass ihre Sichtbarkeit in der Voraussetzung ihrer technischen Herstellung liegt, so dass Benjamin schreiben kann: „Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen Technik, Medizin zu rechnen pflegen – all dieses ist der Kamera ursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaft oder das seelenvolle Portrait.“ Grundlegend für die künstlerische Produktion der Avantgarde war also ein Interesse an den Vorgängen des Visuellen, an den optischen Effekten, die der Film zur Sichtbarkeit bringt. In diesem Prozess sind Sinnes- und Wissenskulturen immer schon eng aufeinander bezogen. Der medien-technische Aspekt künstlerischer Arbeit ist kein bloßer Zusatz, sondern vielmehr unverzichtbares Instrumentarium in der Erforschung und Neuordnung der Sinne, wenn es darum geht, deren

270 Vgl. ausführlich: Weigel, Sigrid: Das Detail in Benjamins Theorie photo- und kinematographischer Bilder, in: Weigel, Sigrid: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München 2004, S. 39-62, hier S. 46 ff. 271 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1977, S. 368-385, hier S. 371. 272 Benjamin, Walter: Pariser Brief 2. Malerei und Photographie (1936), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Bd. III, Frankfurt am Main 1977, S. 495-507, hier S. 499.

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Umstellung von natürlicher zu technisch präformierter Wahrnehmung aufzuzeigen,273 vielmehr noch: in diesem Zusammenhang erlangen die Medien-Künste eine eigene Poiesis. Die Visualisierungstechniken der Medien stehen in engem Zusammenhang zu den Erkenntnisinteressen der zeitgenössischen Naturwissenschaften: Beide eint das Bestreben zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren, zur Bewusstwerdung des Unbewussten. Indem also die Erforschung neuer Seherfahrungen im Mittelpunkt der künstlerischen und auch der wissenschaftlichen Arbeit steht, werden Medien, und explizit der Film bzw. die Filmkamera, ein wissenschaftliches und vor allem Objektivität bezeugendes Instrument, mit dem Prozesse und Bereiche des bislang nicht Sichtbaren sichtbar wurden.274 Die Untersuchung der Sinnesfunktionen wurde zum – künstlerischen – Experimentierfeld, indem der Film die Funktion übernahm, die Rezipienten nicht nur mit neuen Weisen zu sehen zu konfrontieren, sondern das Sehen als Prozess selbst sichtbar zu machen, indem die Techniken der Wahrnehmung zur Anschauung gebracht werden. Diese intensiven Untersuchungen in allen Bereichen, die sich auf diesem Schauplatz der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen bemühen, förderten die Bestrebungen nach der Begründung eines ‚Neuen Sehens‘, das etwa bei László Moholy-Nagy in der Theorie des „objektiven Sehens“275 mündete; die Kamera war für ihn ein Aufzeichnungssystem, das damit gleichzeitig neue Möglichkeiten wahrzunehmen etablierte. Im Mittelpunkt stand bei all diesen Forschungen und Theorien immer wieder auch der dynamische Kamera-Blick, der – durch exakte Aufzeichnungsbedingungen von Prozessen sowie Abstraktionen und Mikrologien – durch extreme Perspektiven und Kompositionen sowohl die Eigengesetzlichkeit der Technik als auch bislang nicht wahrnehmbare Handlungsabläufe zur Sichtbarkeit brachte: Immer ging es darum, bis dahin Unbekanntes, Unsichtbares sichtbar zu machen

273 Siehe dazu auch: Münz-Koenen, Inge: Kreuzwege und Fluchtpunkte. Malevičs Reise nach Berlin, in: Asholt, Wolfgang et al. (Hg.): Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das Andere. Festschrift für Walter Fähnders zum 60. Geburtstag, Bielefeld 2004, S. 193-219. 274 Eine ähnliche Funktion übernahmen um die Jahrhundertwende die Röntgenstrahlen. Deren Entdeckung Ende Dezember 1895 zeigte, dass die Wirklichkeit sich nicht auf Sichtbares beschränkte. Mit Röntgenstrahlen verband sich zudem die Vorstellung, endgültig das Innere des Menschen, ohne zu sezieren, sichtbar zu machen. 275 Moholy-Nagy, László: Malerei. Fotografie. Film (1927), München 1967, S. 26.

Kapitel IV Umkehrungen – Kunst als Erkenntnis des Erlebens „In dieser letzten Periode unserer Wissenschaft wird das höhere Seelenleben, das Gedächtnis, Gefühl und Wille, die intellektuellen Funktionen und die psychische Aktivität für das Experiment erobert.“276 OSWALD KÜLPE Dieses Erleben der ‚geheimen Seele‘ der sämtlichen Dinge, die wir mit unbewaffnetem Auge, im Mikroskop oder durch das Fernrohr sehen, nenne ich den ‚inneren Blick‘. Dieser Blick geht durch die harte Hülle, durch die äußre ‚Form‘ zum Inneren der Dinge hindurch und läßt uns das innere ‚Pulsieren‘ der Dinge mit unseren sämtlichen Sinnen aufnehmen.“277 WASSILY KANDINSKY

276 Külpe, Oswald: Über die moderne Psychologie des Denkens. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 6, 1912, Sp. 1069 – 1110, hier Sp. 1073 f. Oswald Külpe war der Leiter der vom ihm gegründeten Würzburger Schule, die es sich zur wissenschaftlichen Aufgabe gemacht hatte, ‚höhere‘ Denkprozesse ohne Apparate oder Präzisionsmessungen allein mit dem Mittel der Introspektion bzw. der systematisch verwendeten Selbstbeobachtung zu erforschen. Die Würzburger Schule wendet sich dabei explizit gegen Wilhelm Wundts Annahme, dass höhere Denkprozesse überhaupt nicht experimentell erfasst werden können, was insbesondere für Oswald Külpe, der ein Schüler Wundts war, eine markante Wandlung der wissenschaftlichen Haltung bedeutete. 277 Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Bern 1963, S. 193.

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1 „K EIN ‚ ENTWEDER - ODER ‘ SONDERN ‚ UND ‘“ – DAS ‚P LUS ‘ ODER ‚X‘ UND DIE ‚G ROSSE S YNTHESE ‘ – W ASSILY K ANDINSKYS KUNSTTHEORETISCHE E RÖRTERUNGEN „Mein Buch ‚Über das Geistige in der Kunst‘ und ebenso ‚Der blaue Reiter‘ hatten hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken. Der Wunsch, diese beglückende Fähigkeit in den Menschen, die sie noch nicht hatten, hervorzurufen, war das Hauptziel der beiden Publikationen. Die beiden Bücher wurden und werden oft mißverstanden. Sie werden als ‚Programm‘ aufgefaßt und ihre Verfasser als theoretisierende, in Gehirnarbeit sich verirrt habende ‚verunglückte‘ Künstler gestempelt. Nichts lag mir aber ferner, als an den Verstand, an das Gehirn zu appellieren. Diese Aufgabe wäre heute noch verfrüht gewesen und wird sich als nächstes, wichtiges und unvermeidliches Ziel in der weiteren Kunstentwicklung vor die Künstler stellen. Dem sich gefestigt und starke Wurzeln gefaßt habenden Geist kann und wird nichts mehr gefährlich sein, also auch nicht die viel gefürchtete Gehirnarbeit in der Kunst – sogar ihr Übergewicht über den intuitiven Teil des Schaffens nicht, und man endet vielleicht mit der gänzlichen Ausschließung der ‚Inspiration‘.“278

Wassily Kandinsky formuliert in diesen Bemerkungen zum einen eine Prognose der Bedeutung, die die künstlerische ‚Gehirnarbeit‘ im Verhältnis zu den angestammten künstlerischen Methoden, wie Intuition und Inspiration, erhalten soll, zum anderen vor allem aber eine Kritik an unterschiedlichen Entwicklungen in Wissenschaften und Künsten, die sich seit dem 19. Jahrhundert vollziehen. Die dynamische Entwicklung moderner Wissenschaft, Kunst und Technik, ihre Ausdifferenzierung in einzelne, klar voneinander abgegrenzte Entitäten führte zu einer Spezialisierung und Professionalisierung der einzelnen künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen, zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher autonomer Sachbereiche und ihrer zugeordneten Rationalitätstypen. 1928 entwickelt Kandinsky in der Bauhaus-Zeitschrift Kunstpädagogik auf die sich im Bauhaus ausbreitenden Diskussionsfragen ‚Warum Kunst‘ und ‚Warum eine Kunst-Theorie‘, eine Infragestellung dieser Spezialisierungen und ihrem Nutzen:

278 Kandinsky, Wassily, zitiert nach: Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, hg. v. M. Bill, Bern 1952, S. 6 f.

U MKEHRUNGEN – K UNST

ALS

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„Das einflußreiche Erbe des 19. Jahrhunderts – die extreme Spezialisierung und das darauf folgende Zersetzen – belastet die sämtlichen Gebiete unseres heutigen Lebens und zwingt auch die Fragen des Kunstunterrichts immer tiefer in eine Sackgasse. Es ist erstaunlich, wie wenig Konsequenzen aus den Ereignissen der letzten Jahrzehnte gezogen wurden und wie selten der Verstand für den inneren Sinn der großen ‚Verschiebung‘ zu bemerken ist. Dieser innere Sinn, oder die innere Spannung der weiteren ‚Entwicklung‘ sollte zur Grundlage jedes Unterrichts gelegt werden; die Zerstückelung wird allmählich durch Verbindung ersetzt. [...] Merkwürdigerweise werden noch heute junge Leute auf die veraltete und innerlich tötende Weise zu Fachmenschen erzogen [...]. Der Unterricht besteht in der Regel in einem mehr oder weniger gewaltsamen Anhäufen von Einzelkenntnissen, welche die Jugend sich aneignen soll und mit welchen sie außerhalb ihres ‚Faches‘ nichts anfangen kann. Selbstverständlich bleibt dabei die Fähigkeit der Verbindung, mit anderen Worten die Fähigkeit des synthetischen Beobachtens und Denkens so wenig berücksichtigt, daß sie größtenteils verkümmert.“279

Kandinsky versteht diese „extreme Spezialisierung“ als etwas, das es „zu bekämpfen“ gilt, als eine „dicke Mauer, die uns vom synthetischen Schaffen trennt.“ Sein Plädoyer gegen die Spezialisierung zielt auf die – trotz der Dominanz des wissenschaftlichen Positivismus und der analytischen Wissenschaften – nicht vollständig gekappten Verbindungslinien zwischen Künsten und Wissenschaften. Kandinsky optiert dabei keinesfalls für eine unreflektierte Vereinigung, sondern vielmehr dafür, das Augenmerk auf die Spuren zu lenken, die beide Bereiche verbinden, bzw. auf die – vielleicht gerade durch die Spezialisierung möglich gewordenen – Konvergenzphänomene, mit denen die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zunächst positiv gewendet, dann ergänzt und somit genutzt werden können. „Wir sollen also das Erbe des letzten Jahrhunderts weiter ausnützen (Analyse = Zersetzung) und gleichzeitig durch die synthetische Einstellung so ergänzen und vertiefen, daß die Jugend die Fähigkeit bekommt, bei scheinbar weit voneinander liegenden Gebieten eine lebendige, organische Verbindung zu empfinden und zu begründen (Synthese = Verbindung). Dann würde die Jugend die starr gewordene Atmosphäre des ‚entweder-oder‘ verlassen und sich in die biegsame, lebendige Atmosphäre des ‚und‘ begeben – Analyse als Mittel zur Synthese.“280

279 Kandinsky, Wassily: Kunstpädagogik, in: Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 113-117, hier S. 113 f. 280 Ebd., hier S. 115. Bereits in seinem Aufsatz Über die Formfrage von 1912 argumentiert Kandinsky in ähnlicher Weise: „Der innere Inhalt des Werkes kann entweder einem oder dem anderen von zwei Vorgängen gehören, die heute (ob nur heute? Oder

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Im Zentrum seiner Kritik steht als Ersatz zur Spezialisierung des 19. Jahrhunderts der Synthese-Gedanke, der idealerweise das 20. Jahrhundert bestimmen sollte, da es mit der Synthese möglich sein würde, das Ineinandergreifen von wissenschaftlichen Entdeckungen, technischen Erfindungen, religiösen, mystischen und mythischen Entwicklungen und künstlerischen Neuerungen zu begreifen und zu bearbeiten; vielmehr noch: Künste und Künstler nehmen in diesem Ensemble eine herausragende Stellung ein, nicht nur in der praktischen, sondern auch in der theoretischen Arbeit. Obwohl oder gerade weil Kandinsky sich nicht gegen die Vorstellungen von Kunst als göttlicher Sprache und dem Künstler als geniehafter Existenz wendet, ist es ihm unter diesem Aspekt des Synthese-Gedankens gerade möglich, die Ablehnung der Künstlertheorie als eine Haltung, die der Vergangenheit angehört zu bewerten, denn: „Die meisten Schriften über Kunst sind von Leuten verfasst, die keine Künstler sind: daher alle die falschen Begriffe und Urteile.“281 Diese künstlerische Erkenntnisfunktion setzte Wassily Kandinsky absolut. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass und wie Kandinsky ein Primat der Kunst vor der Wissenschaft formulierte, das heißt, dass es ihm darum ging aufzuzeigen, dass subjektive Entscheidungen objektiven Verfahrensweisen vorangehen bzw.

heute nur besonders sichtbar?) alle Nebenbewegungen in sich auflösen. Diese zwei Vorgänge sind: 1. Das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahrhunderts, d.h. das Fallen der für einzig fest gehaltenen Stützen des Materiellen, das Zerfallen und Sichauflösen der einzelnen Teile. 2. Das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts, welches wir miterleben und welches sich schon jetzt in starken, ausdrucksvollen und bestimmten Formen manifestiert und verkörpert. Diese zwei Vorgänge sind die zwei Seiten der ‚heutigen‘ Bewegung.“ (Kandinsky, Wassily: Über die Formfrage, in: Kandinsky, Wassily/Marc, Franz (Hg.): Der Blaue Reiter, München 1912, S. 74-102, hier S. 99.) Für Kandinsky ist das 19. Jahrhundert die Epoche des Materialismus, man verfolge – so der Künstler – rein praktische Bestrebungen und orientiert sich an Äußerem. „Das 19. Jahrhundert zeichnete sich als eine Zeit aus, welcher innere Schöpfung fern lag. Das Konzentrieren auf materielle Erscheinungen und auf die materielle Seite der Erscheinungen musste die schöpferische Kraft auf dem Gebiete des Inneren logisch zum Sinken bringen, was scheinbar bis zum letzten Grad des Versinkens führte.“ (Kandinsky, Wassily: Über Bühnenkomposition, in: Kandinsky, Wassily/Marc, Franz (Hg.): Der Blaue Reiter, München 1912, S. 103-113, hier S. 106.) 281 Delacroix, Eugène zitiert nach: Kandinsky, Wassily/Marc, Franz (Hg.): Der Blaue Reiter, München 1912, S. 20.

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vielmehr noch: diese allererst begründen können und es zudem die Kunst ist, die für Kandinsky Intuition, Inspiration und Kalkül vereint. Somit ist explizit die Kunst für ihn jene privilegierte Zone, in der die aus den empiristisch orientierten Lebenswissenschaften ausgeschlossenen Vermögen wie etwa die Einbildungskraft oder die Phantasie Auskunft über Wahrnehmungsbedingungen geben können. Vielmehr noch: die Kunst ist jener Bereich, in dem sich die Interaktion von äußeren und inneren Formen der Wahrnehmung erklären lässt und es somit durch die Analyse der Methoden der Kunst – erneut – zu einer produktiven Zusammenarbeit von Kunst und Lebenswissenschaft kommen sollte.282 Die gängige Frage nach der Empirie im Künstlerischen bzw. Ästhetischen sekundierte Kandinsky mit der weitaus weniger selbstverständlichen Frage nach dem künstlerischen bzw. ästhetischen Anteil im Empirischen. Dazu betont Kandinsky den Prozess der Entstehung eines wissenschaftlichen oder künstlerischen Werks, die „Untersuchungsverfahren“ 283, wie er formuliert, nicht das Endprodukt. Die Bedeutung eines Kunstwerks verlagerte sich von der Abbildung eines Gegenstands auf dem materiellen Bildträger, hin zu einer Analyse der Elemente der Kunst, zu denen nicht nur die rein messbaren, sondern alle

282 Insbesondere die Lehr- und Forschungstätigkeit von Kandinsky an den VChUTEMAS, an INChUK und RAKhN zeugt, wie u. a. Reinhard Zimmermann und auch Selim Chan-Magomedov überzeugend darlegen, von dem Bestreben, Kontakte zu Wissenschaftlern aufzubauen; im Wesentlichen war er daran interessiert, seine elementaranalytischen Interessen zu distribuieren. Dazu knüpfte er Kontakte zu wissenschaftlichen Institutionen, wie dem Institut für Physik und Psychologie in Moskau und engagierte sich für den Aufbau eines Labors, in dem Klang-, Licht- und Farbexperimente durchgeführt werden sollten. Neben der Untersuchung und Analyse künstlerischer Mittel und ihrer Wahrnehmung auf exakter wissenschaftlicher Basis, entwickelte Kandinsky mehr und mehr den auch in diesem Kapitel diskutierten Synthesegedanken, der zu einer engen Verbindung von Kunst und Wissenschaft führen sollte. Dies zeigt sich insbesondere auch in den verwendeten Abbildungen seiner Schrift Punkt und Linie zu Fläche. Phänomene, die vormals dem Bereich der Wissenschaft zustanden, werden nun in diese erweiterte Perspektive der Kunst überführt, wie etwa biologische, botanische oder auch physikalische. Vgl. dazu insbesondere: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky. Bd. I, Berlin 2002, insbesondere die Seiten 86 f. 283 Kandinsky, Wassily: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, erstmals auf Deutsch veröffentlicht und mit einem Kommentar von Karlheinz Barck versehen, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8, hier S. 8.

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nicht-messbaren Faktoren zählten. Als Konsequenz liegt das Selbstverständnis der künstlerischen Aufgaben nicht in der Verwaltung und Organisation sichtbarer Phänomene, sondern moderne Kunst wird somit zum Produzenten des zuvor Nicht-Darstellbaren, dem Vermögen, das zuvor Nicht-Sichtbare sichtbar zu machen. Das Interesse an einer Erforschung der Wahrnehmungsmodalitäten und einer Neukoordination der Sinnestätigkeit bildete also ein Fundament, das die Methoden der Kunst von ihrer spekulativen Sphäre entpflichten sollte, um ihre Erkenntnisfunktion zurückzugewinnen. Ausgangspunkt für Kandinskys Theorie war zunächst die genaue Bestimmung der Opposition von Analyse und Synthese, einer Opposition, mit der er das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bestimmte. Dazu beschäftigte er sich mit dem Phänomen der Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Kunst und Wissenschaft, wie sie besonders das 19. Jahrhundert kennzeichnet. Dieses war für Kandinsky die Zeit der extremen Spezialisierung, die auf Klassifizierungsstrategien beruhte: „Fast das ganze 19 [sic!] Jahrhundert war eine mehr oder weniger ruhige Arbeit am Ordnen. Das Ordnen geschah auf der Basis der Absonderung, Zerteilung. Zur selben Zeit ist die Spezialisierung Ursache und Folge geworden. Die Spezialisierung führte zur Ordnung. Die Ordnung – zur Spezialisierung.“284

Das Verfahren der Spezialisierung ist für Kandinsky die Analyse, mit der eine Zersetzung der Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft ausgelöst wird. Die Analyse bedingt also Zuordnung und Entscheidung, das 19. Jahrhundert ist für Kandinsky das Zeitalter des „Entweder-Oder.“ Er versteht diese „extreme Spezialisierung“ als etwas, das es „zu bekämpfen“ gilt, als eine „dicke Mauer, die uns vom synthetischen Schaffen trennt.“ Sein Plädoyer gegen die Spezialisierung zielt auf die nicht vollständig gekappten Verbindungslinien zwischen Künsten und Wissenschaften. Kandinskys Idee der Synthese von Kunst und Wissenschaft entsteht durch die Vorstellung der Vereinigung des Bewussten und des Unbewussten, des Intuitiven, der Inspiration. Sie bestimmen die grundlegende Auffassung der Kunsttheorie Kandinskys vor Logik und rationaler Berechnung.

284 Kandinsky, Wassily: UND. Einiges über Synthetische Kunst, in: i10. Internationale Revue 1. Amsterdam 1927, S. 4-10, hier S. 4 f.

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In diesem Sinne wird Kandinskys Kunsttheorie im Folgenden als explizites Wissen, mit dem er das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst sowohl neu perspektiviert als auch neue Wissenschaften gründet, definiert. Kunst wird so zu einer Forschungsdisziplin etabliert, der ein spezifisches Wissen eigen ist, das sich in der Auswahl spezieller Methoden der Arbeitsweise ebenso konkretisieren lässt, wie in der Wahl des Materials, spezifischer Formaspekte, konkreter Raum-Zeit Verhältnisse usw. Gerade indem Kandinsky die ‚traditionellen‘ Methoden künstlerischer Arbeit nicht negiert (wie es etwa für Theo van Doesburg gilt), sondern sie vielmehr protegiert und in seinen schriftlichen Äußerungen zur Kunsttheorie erhebt, führt er neue Methoden in die wissenschaftliche Arbeit ein, die diese nachhaltig bestimmen sollen. An dieser Stelle liest sich Kandinskys Theorie wie eine Korrespondenz mit der zeitgenössischen Philosophie, so wie es sich etwa auch bei Paul Valéry lesen lässt: auch dieser formulierte, dass die Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft lediglich aus einer Perspektive heraus behauptet werden kann, die nicht den Entstehungsprozess der Dinge in den Blick nimmt, sondern einzig die Endprodukte einander gegenüberstellt, wodurch nun nicht notwendig das Werk selbst interessant wird, sondern der Zwischenbereich, der sich aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Bereiche ergibt: „J’ai à combiner les termes suivantes, peinture, architecture, mathématique, mécanique, physique et mécanismes...“ schreibt er nach dem Abschluss seiner Introduction à la méthode de Léonard de Vinci, mit der Valéry die Distinktion zwischen Kunst und Wissenschaft explizit zurückgewiesen, dagegen vielmehr den Zwischenbereich, die flexible Zone der Unentschiedenheit gewählt hat. Jene Entstehung von Kunstwerken bezeichnet Valéry als „Embryonalzustand“; dieser bildet den Kern seiner theoretischen Reflexion, denn: „In diesem Zustand löst sich nämlich der Unterschied zwischen Wissenschaftler und Künstler auf. Man findet nichts anderes mehr als das Spiel der Erregung, der Aufmerksamkeit, der Zufälle und der mentalen Zustände.“285

285 Valéry, Paul: Introduction à la méthode de Léonard de Vinci, in: Paul Valéry. Oeuvres, Bd. I, Paris 1957, S. 22. Entgegen der Maschinenverehrung, die exemplarisch den Futurismus kennzeichnet, kann Valéry sich dennoch als Ingenieur bezeichnen: „En vérité, un poème est une sorte de machine à produire l’état poétique au moyen des mots.“ (Valéry, Paul: Poésie et pensée abstraite, in: Paul Valéry. Oeuvres, Bd. I, Paris 1957, S. 1337). Und – wie gleichsam im Gegenzug – beschreibt er die Mathematik als eine strenge Kunst. „Les Mathématiques sont infectées par l’idée ancienne qu’elles sont science de la quantité – Ce qui est deux fois faux, n’étant pas science et ne s’occupant pas de la quantité plus nécessairement que d’autre chose.

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Im Zentrum der Beobachtung steht also nicht mehr das Resultat – sondern auch bei Valéry hat sich das Feld hin zu feineren Differenzen verschoben, in denen Unterscheidungen allein „après les variations, d’un fond commun, par ce qu’ils en conservent et ce qu’ils négligent, en formant leurs langages et leurs symboles“ 286 zu treffen wären. Für Kandinsky wird letztlich der Synthese-Gedanke vielmehr noch zur Grundlage der Überwindung der, das 19. Jahrhundert prägenden Polarisierung der Gestalten des Künstlers und des Wissenschaftlers. Kandinsky optiert dabei jedoch keinesfalls für eine unreflektierte Vereinigung der Bereiche Kunst und Wissenschaft, sondern vielmehr dafür, das Augenmerk auf die Spuren zu lenken, die beide Bereiche verbinden, bzw. auf die Konvergenzphänomene, mit denen die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zunächst positiv gewendet, dann ergänzt und somit genutzt werden können. Kandinsky sucht nach beide Bereiche prägenden, konstruktiven Gesetzen des Umgangs mit den Elementen und konstruktiven und kombinatorischen Verfahrensweisen. Der tragende Grund der Synthese-Formen ist das in beiden Bereichen vermutete, schöpferische Verfahren, das auf der Isolation und Kombination von Elementen beruht. Die Idee der Synthese kritisiert jedoch nicht nur die Spezialisierung des 19. Jahrhunderts und die damit einhergehende Abwehr kreativer Verfahrensweisen durch die Wissenschaft, sondern ebenso die Künste selbst. Hier kritisiert Kandinsky ihre reine Bezugnahme auf die äußere Natur, auf Naturwiedergabe als Prinzip, so dass die Kunst nur wenig über die bloß mechanische Naturnachahmung hinausgeht. An die Stelle einer autonomen Kunst der Expression tritt für ihn eine abhängige Kunst der Repräsentation.

Elles sont exercise, et comparables à la danse. Il s’agit de parler et d’écrire un langage conventionnel dont les règles sont plus sévères que du langage ordinaire […].“ (Cahiers, Bd. II, Paris 1974, S. 788, Notiz von 1916). 286 Valéry, Paul: Introduction à la méthode de Léonard de Vinci, in: Paul Valéry. Oeuvres, Bd. I, Paris 1957, S. 1157 f. An dieser Stelle könnte man Valéry durchaus als eine Art spiritus rector für eine Wissenschaftsgeschichtsschreibung sehen, die, seit gut zwei Jahrzehnten sich erst – wieder – formierend, ebenfalls ein Plädoyer dafür hält, nicht die Ergebnisse, sondern die Praktiken und Wege zu analysieren; exemplarisch seien hierfür Wissenschaftler wie etwa Hans-Jörg Rheinberger oder Bruno Latour genannt. Vgl. zu den Anmerkungen über Valéry auch: Wegener, Mai: ‚Tout le reste est … littérature‘. Valéry und die Frage nach der Wissenschaft, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 6, Berlin 2003, S. 38-44.

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Hingegen kann, durch die – für die Avantgardekünste prägende – grundsätzliche Neuordnung der Sinne und der Bedingungen der Wahrnehmung, die – bis dahin ganz im subjektiven Empfinden des Künstlers verortete – Intuition – wieder – für die wissenschaftliche Arbeit nutzbar gemacht werden.287 Vielmehr noch: Auf diese Weise wandern genuin künstlerische Verfahrensweisen in die Wissenschaften ein, wie etwa Intuition, Inspiration – und genau hier liegt ihre Subversivität. Im März 1921 veröffentlichte Wassily Kandinsky zur Gründung der Russischen Akademie der künstlerischen Wissenschaften seinen Text ‚Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst‘, im Jahr 1927 den Artikel ‚UND. Einiges über synthetische Kunst‘288. Die Grundlage der synthetischen Kunst, so schreibt Kandinsky in dem Text von 1921, ist die experimentelle Laborarbeit mit den entsprechenden Methoden, da „die Beobachtung von gleichzeitigem und alternierendem Wirken zweier Elemente verschiedener Künste am genauesten und korrektesten im Labor durchgeführt werden kann.“289 Unter synthetischer Kunst versteht Kandinsky „eine Kunst, deren Werke mit den Mitteln verschiedener Künste geschaffen werden.“290 Beobachten lässt sich, so Kandinsky, bislang eine völlige Unbestimmtheit der Termini, bzw. ihre Ungenauigkeit und vielfältige Auslegung, so dass – so seine Konklusion – eine Wissenschaft von synthetischer Kunst als jener Methode, mit der den komplexen Phänomenen der Moderne begegnet werden kann, vor seiner Theorie nicht existiert. Auf der Grundlage von „größerer oder von größtmöglicher Abstraktion“291 soll es

287 Vgl. zum Ausschluss der Einbildungskraft aus wissenschaftlichen Arbeitsweisen die Ausführungen in: Daston, Lorraine: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt am Main 2001. Lorraine Daston sieht die systematische Ausgrenzung der Einbildungskraft in der entscheidenden Umbruchsphase um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die neuen Ideale und wissenschaftlichen Verfahren etablierten, die Daston mit einem Streben nach wissenschaftlicher Objektivität in Verbindung bringt. Hier trennen sich demnach auch die Figuren des Künstlers und des Wissenschaftlers; die Einbildungskraft wird – so Daston – zur spezifischen Kompetenz des Künstlers. 288 Kandinsky, Wassily: UND. Einiges über synthetische Kunst, in: i10. Internationale Revue 1, Amsterdam 1927, S. 4-10. 289 Kandinsky, Wassily: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8, hier S. 6. 290 Ebd. 291 Ebd.

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nicht darum gehen, Werke zu untersuchen, die von verschiedenen Künsten gemeinsam geschaffen worden sind, sondern vielmehr geht es um Fälle, in denen die Elemente der Künste in einem Werk nach dem Prinzip der Parallelführung verbunden sind. D. h. dann, dass Konstruktion als Kontrastierung der Fokus der synthetischen Kunst ist, da eine Kunstform die anderen unterstützt, interpretiert und akzentuiert; in den Worten Kandinskys: „Das Prinzip der [...] arithmetischen Addition soll ein Mittel der einen Kunst mit einem parallelen Mittel der anderen Kunst oder der anderen Künste verstärken.“ 292 Einer Wissenschaft der Kunst, deren Grundlage die synthetische Kunst ist, eröffnen sich dann folgende Möglichkeiten: „1. eine Verwendung der Elemente der einzelnen Künste auf der Grundlage ihrer Verwandtschaft im allgemeinen, 2. Anwendung – neben dem Prinzip der Parallelität – jenes machtvollen Konstruktionsverfahrens, mit welchem die einzelnen Künste in ihren Gebieten ständig operieren, nämlich des Prinzips der Kontrastierung.“293 Die Wissenschaft der Kunst sieht sich dann vor diese, klar definierte Aufgaben gestellt: „1. die Untersuchung der Eigenschaften der einzelnen Elemente der jeweiligen Künste auf analytischem Wege, 2. die Untersuchung des Prinzips der Verbindung von Elementen und schließlich der Gesetzmäßigkeiten dieser Verbindungen sowohl innerhalb als auch außerhalb eines Werks – Fragen also der Konstruktion, 3. die Untersuchung der Unterordnung der einzelnen Elemente wie auch des Konstruktionsprinzips unter den das Werk insgesamt organisierenden Aspekt der Kompositionsidee.“294 In einem zweiten Teil der Untersuchung der Elemente der Kunst muss die Erforschung der Werke „im Sinne ihrer analytischen Zerlegung und des Versuchs, zu

292 Kandinsky, Wassily: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8, hier S. 5. 293 Ebd., hier S. 6 294 Ebd.

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bestimmen, warum in einem gegebenen Werk diese oder jene Elemente zu Anwendung kommen“295, im Zentrum stehen. Diese Arbeit hängt für Kandinsky unlösbar mit Fragen der Konstruktion zusammen, da die Elemente in den jeweiligen Werken nicht isoliert, sondern in Kombination zur Anwendung kommen. Diese Kombinationen erlangen insofern Bedeutung, als dass sie – über ihren summarischen Wert hinaus – den absoluten Wert der Elemente verändern und den relationalen Wert erweisen. Das Ziel dieser Untersuchung der Eigenschaften der Elemente der Kunst ist die Erkundung ihrer Wirkung auf den Menschen, die sodann mit den Untersuchungen zu physischen, psychischen und physiologischen Dispositionen des Menschen verbunden werden. An dieser Stelle setzt dann auch für ihn die Zusammenarbeit „mit Vertretern der positiven Wissenschaften“296 ein. In dem Text aus dem Jahr 1927 formuliert Kandinsky, dass die große Synthese, die von der Kunst ausgeht, es ermöglichen wird, die gemeinsamen Wurzeln von Kunst und Wissenschaft zu finden: „Vom Gebiete der Malerei gingen noch weitere Anregungen aus und von hier aus wurden noch festere Mauern des vergangenen Jahrhunderts erschüttert und teils bereits vernichtet. Diese Anregungen verlassen den Boden der Kunst und greifen viel weiter um sich herum. Die fast providenziell festgelegten Unterschiede zwischen Kunst und Wissenschaft (besonders der ‚positiven‘) werden konsequent untersucht und es wird ohne besondere Mühe klar, dass die Methoden, das Material und die Behandlung desselben keine wesentlichen Unterschiede auf beiden Gebieten aufweisen. [...]. Denselben prinzipiellen Wert hat eine andere Anregung und die darauf folgende Arbeit, die ebenso von der Malerei ausgingen – das Fallen der Mauer zwischen Kunst und Technik [...].“297

Das Konzept der ‚Großen Synthese‘, das in Kandinskys Kunsttheorie die Rede vom ‚Großen Geistigen‘ ablöst, sieht also eine Verbindung der nach wie vor eigengesetzlich wirkenden Bereiche Kunst, Wissenschaft und Technik vor: „Nie waren sie so stark miteinander verbunden und nie so stark voneinander abgegrenzt. [...]. Hier fängt die große Epoche des Geistigen an, die Offenbarung des

295 Kandinsky, Wassily: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8, S. 6 f. 296 Ebd., hier S. 6. 297 Kandinsky, Wassily: UND. Einiges über synthetische Kunst, in: i10. Internationale Revue 1, Amsterdam 1927, S. 4-10, hier S. 9.

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Geistes.“298 In der Idee gemeinsamer grundlegender Gesetze geht es um konstruktive Gesetze, d. h. um solche des Umgangs mit Elementen, z. B. kombinatorische Verfahrensweisen. In diesem Kontext der Synthese von Kunst und Wissenschaft spielt die Problematik des Verhältnisses von Verstand (Logik) und Gefühl (Intuition, Inspiration) die dominante Rolle. Die Grundlage der Synthese ist das in allen Bereichen – also Kunst, Wissenschaft und Technik – zu beobachtende schöpferische Verfahren, das auf Isolation und Kombination von Elementen beruht. Denkweise und schöpferische Arbeit sind für Kandinsky in allen Bereichen gleich, so dass er ein allgemeines Schöpfertum konstatieren kann: „Der in der Zeit der Zersetzung entstandene Aberglaube, es gäbe verschiedene Arten des Denkens und also auch der schöpferischen Arbeit, ist vom Standpunkte des ‚und‘ definitiv abzulehnen: Die Denkensart und der Prozeß der schöpferischen Arbeit unterscheiden sich auf verschiedensten Gebieten der menschlichen Tätigkeit nicht im geringsten voneinander – sei es Kunst, Wissenschaft, Technik.“299

Es geht also in diesem Synthese-Gedanken um eine gemeinsame Struktur des Schöpferischen, die Kandinsky an gemeinsamen Verfahren der Konstruktion und analytisch-synthetischen Verfahren festmacht, in denen er immer wieder der Kunst das Primat zuspricht.300 Die notwendigen Parameter zum Gelingen einer „Großen Synthese“ von Kunst und Wissenschaft formuliert Kandinsky deutlich 1939 in dem Text ‚Der Wert eines Werks der konkreten Kunst‘: „Mißtrauen Sie der reinen Vernunft in der Kunst und versuchen Sie nicht, die Kunst zu ‚verstehen‘, indem Sie dem gefährlichen Weg der Logik folgen. Weder die Vernunft noch die Logik können Kunstfragen austreiben, aber ständige Korrekturen von seiten des ‚Irrationalen‘ sind unerläßlich. Das ‚Gefühl‘ ist es, welches das ‚Hirn‘ korrigiert.“ 301

298 Kandinsky, Wassily: Rückblicke, in: Wassily Kandinsky. Die Gesammelten Schriften, Bd. I, ed. v. Hans K. Roethel/Jelena Hahl-Koch, Bern 1980, S. 27-50, hier S. 45. 299 Kandinsky, Wassily: Kunstpädagogik, in: Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 113-117, hier S. 115. 300 Vgl. dazu: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 208 und 211. 301 Kandinsky, Wassily: Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst. XXe Siècle, Paris 1939, No. 5-6/I und 1-2/II. Hier zitiert nach: Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 223-237, hier S. 223.

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Diese Abhandlung Kandinskys, in der er sich zum Verhältnis von gegenständlicher und abstrakter Kunst, zum Zusammenspiel von Logik, Vernunft und Irrationalem, zum paradoxen Verhältnis von Vermehrung und Verminderung in der Kunst, von Illusion und Realität, sowie zur Kraft der Genauigkeit äußert, liest sich wie eine Zusammenfassung seiner Theorien und Ideen. Auch dieser Text – wie viele andere in der Kunsttheorie Kandinskys – dient letztlich der Erörterung des für ihn wichtigen Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft, dem Vergleich ihrer Gegenstände, Materialien, Techniken, aber vor allem: ihrer Arbeitsmethoden, mit dem Ziel, die Vermögen des künstlerischen Wissens für die Erkenntnis von elementaren Ordnungsprinzipien der Wahrnehmungstätigkeit voranzutreiben. Das Zentrum von Kandinskys Reflexionen wiederum bildet die Farbe und ihre Wirkung, bzw. die psychophysischen Bedingungen ihrer Wahrnehmung: „Legen Sie neben einen Apfel noch einen Apfel. Sie werden deren zwei haben. Durch diese einfache Addition kommt man zu Hunderten, Tausenden von Äpfeln, und die Vermehrung endet nie. Arithmetisches Verfahren. Die Addition in der Kunst ist rätselhaft. Gelb + gelb = gelb2. Geometrische Progression. Gelb + gelb + gelb + gelb ...= grau. Das Auge ermüdet von zuviel gelb: physiologische Begrenzung. So wird die Vermehrung zur Verminderung und endigt bei null.“ 302

Unmissverständlich besteht die Synthese für Kandinsky in der Durchsetzung der bisher von der Kunst verwalteten intuitiven, inspiratorischen und mystischen Potenzen gegenüber der Wissenschaft.303 In diesem Sinne kann Kandinsky dann auch Kritik an der Unzulänglichkeit aller Theorie im konkreten Prozess der Werkschöpfung üben; er formuliert für die Kunst ein unantastbares „Plus“304, ein „X“305, das, so die These, genau den Moment des künstlerischen Wissens, nämlich der Inspiration und Intuition bezeichnet, mit denen sich gleichermaßen die Entwicklung eines höheren Bewußtseins und neuer Wahrnehmungsweisen verbinden, aus denen heraus sich dann nach

302 Kandinsky, Wassily: Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst. XXe Siècle, Paris 1939, No. 5-6/I und 1-2/II. Hier zitiert nach: Kandinsky, Wassily: Essays über Kunst und Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 223-237, hier S. 223. 303 Vgl. dazu: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 212. 304 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, München 1912, S. 70. 305 Kandinsky, Wassily: Interview mit Charles-André Julien, 10. Juli 1921, in: Revue de l’art 5, 1969, S. 71-72, hier S. 72.

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Kandinskys Theorie das abstrakte Kunstwerk entwickelt. „Der Urheber des Werkes ist also der Geist. Das Werk existiert also abstrakt vor seiner Verkörperung, die den menschlichen Sinnen das Werk zugänglich macht.“306 Aus diesen neuen Wahrnehmungsweisen heraus, lassen sich auch Kandinskys Interesse für Okkultes, für Religion und Theosophie und seine Beschäftigung mit Gedankenphotographien erklären, die mit gesteigerten sinnlichen und geistigen Fähigkeiten begründet werden. Kandinsky schließt nicht aus, dass das, was in der Gegenwart über das Gefühl und die Befolgung des Prinzips der inneren Notwendigkeit erreicht wird, in Zukunft lehrbuchartig erfasst werden kann. Zum Tragen kommt dann die Idee einer umfassenden Kunstlehre, für die Kandinsky den Begriff Kunstwissenschaft einführt. In einer umfassenden Analyse, die zur Synthese führt, hat diese Kunstwissenschaft die Aufgabe, diese über die Grenzen der Kunst hinweg in das Gebiet der Einheit des Menschlichen und des Göttlichen zu führen. Vorrangig bleiben dabei die durch die Kunst entwickelten und angewendeten Verfahren, vielmehr noch: Das Ziel dieser Auslotung liegt für Kandinsky im Synthese-Gedanken von Kunst und Wissenschaft, den er – sofern sich die Wissenschaft Methoden der Kunst anzueignen vermag – für die nahe Zukunft der schöpferischen Arbeit prognostiziert. Dies formuliert er als ein Resümee in einem Brief von 1937: „Es scheint, nur in der Kunst und in der Wissenschaft ist eine unlöschbare Sehnsucht gut zu heißen, wenn sie ‚unzweckmäßig‘ bleibt, da der ersehnte letzte Zweck nie zu erreichen ist. Hier offenbart sich die Verwandtschaft der Kunst und der Wissenschaft mit der Religion. Ja, tatsächlich! Auch die Wissenschaft: sie hat es nicht anders angefangen [...], erlebte in den letzten paar Jahrhunderten ‚jugendliche Verirrungen‘ indem sie nur an sich allein glaubte und in den ‚Positivismus‘ verliebt war, in die ‚exakte‘, ‚strenge‘ Methode, die sie heute scheinbar zu enttäuschen anfangen, damit sie wieder zum ‚Phantastischen‘ zurückkehrt. Die ‚logische Berechnung‘ muß zurücktreten, um einen gewissen Platz der ‚Phantastik‘ zu räumen. Vielleicht gehe ich mit dieser Behauptung zu weit und werde selbst phantastisch – mag sein, ich bleibe aber dabei.“307

306 Kandinsky, Wassily: Mein Werdegang, in: Roethel, Hans K./Hahl-Koch, J. (Hg.): Wassily Kandinsky. Die gesammelten Schriften, Bd. I, Bern 1980, S. 51-59, hier S. 53. 307 Wassily Kandinsky in einem Brief an Hans Thiemann vom 08.12.1937. Hier zitiert nach: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. II, Berlin 2002, S. 385.

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2 „D AS ‚G EFÜHL ‘ KORRIGIERT “

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IST ES , WELCHES DAS

‚H IRN ‘

Die Entwicklung des ‚intuitiven Bewußtseins‘ auszuleuchten und mit eigenen Beiträgen zu befördern, war für Kandinsky eine zentrale Herausforderung. 308

308 Die Forschungsliteratur diskutiert intensiv die Wahrscheinlichkeit der Lektüre und Möglichkeit der Beeinflussung Kandinskys durch Henri Bergson. Bergson diskutiert etwa in seiner Schrift Einführung in die Metaphysik (Jena 1912) die Intuition als wahre Form der Metaphysik, mit der er die verstandesmäßig operierende analytische Erkenntnis kontrastiert. Die Analyse – so Bergson – operiere mit starren Begriffen, die sich einer ausschließlich von außen an die Dinge gerichteten Perspektive verdanke. Dass diese Perspektive notwendig immer von außen auf die Dinge gerichtet ist, ergibt sich aus ihrer unbedingten Anbindung an praktische Interessen, an ihre Anbindung an ein Effektivitäts- und Nutzstreben. „Wir untersuchen, bis zu welchem Punkt das zu erkennende Objekt dies oder jenes ist, in welche bekannte Art es sich einordnet, zu welcher Art der Handlung, des Vorgehens oder der Haltung es uns bestimmen soll. […] Jede Erkenntnis im gebräuchlichen Sinne ist also in einer bestimmten Richtung orientiert oder von einem bestimmten Gesichtspunkt gewonnen“, schreibt Bergson 1912; und weiter: „Entweder […] alle Erkenntnis der Dinge ist eine praktische Erkenntnis, die auf einen aus ihnen zu ziehenden Vorteil gerichtet ist, oder philosophieren besteht darin, sich durch eine Aufbietung der Intuition in das Objekt selbst zu versetzen.“ Die Begriffe der Analyse, so Bergson, seien auch schon allein deshalb für eine angemessene Erkenntnis der Wirklichkeit nicht geeignet, weil sie statisch sind, während Realität „Beweglichkeit“ ist. „Es gibt keine entstandenen Dinge, sondern nur Dinge, die entstehen, keine sich erhaltenden Zustände, sondern nur wechselnde Zustände.“ Daraus folgt für Bergson: „[Es gibt] keinen seelischen Zustand, so einfach er auch sei, der nicht jeden Augenblick wechselt, da es kein Bewußtsein ohne Gedächtnis gibt, keine Fortsetzung eines Zustandes ohne die Addition der Erinnerung der vergangenen Momente zur gegenwärtigen Empfindung“ [...] „die Intuition [versetzt] sich in die Beweglichkeit oder – was auf dasselbe herauskommt – in die Dauer [...].“ Bergson, Henri: Einführung in die Metaphysik, Jena 1912, S. 22, 23, 31, 23 und 24 f. Für die vorliegende Untersuchung ist eine solche konventionelle methodische Fragestellung einer Einflussgeschichte unwichtig und wird daher nur en passant erwähnt. Viel eher wird für die vorliegende Studie von – im foucaultschen Sinne – kopräsenten Praktiken, Denk- und Verfahrensweisen ausgegangen; ein methodischer Zugriff, wie ihn auch Beat Wyss in seiner Publikation Vom Bild zum Kunstsystem – im Hinblick auf eine mögliche Wahlverwandtschaft von Aby Warburg und

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Die folgenden Ausführungen leiten drei Modelle, die in Kandinskys Kunsttheorie ausgemacht werden konnten und die den Beitrag, den Kunst im Sinne Kandinskys für eine Synthese mit den Wissenschaften zur Analyse der Sinnesvermögen leisten kann, präzisieren.

2a Farbe im Gedankenexperiment Wassily Kandinsky entwickelte einen „Arbeitsplan der Abteilung für bildende Künste“, der folgende Aspekte berücksichtig sehen wollte: a. Das Arbeitsziel der Abteilung ist die Wissenschaft über die bildenden Künste und ihre erforderliche Verbindung mit der Wissenschaft von der Kunst im Ganzen. 1. Zu den wissenschaftlichen Kräften müssen Theoretiker der bildenden Künste (diejenigen eingeschlossen, die ihre Theorien praktisch anwenden), Vertreter anderer künstlerischer Abteilungen zur Koordinierung der Arbeit einzelner Abteilungen und Vertreter positiver Wissenschaften. 2. Die bildenden Künste werden sowohl isoliert als auch als Ganzes erforscht. 3. Einzelne Künste werden in diesen drei Gebieten erforscht: a) Die Elemente der betreffenden Kunst b) Die Übereinstimmung der Elemente mit ihrer Konstruktion

Sigmund Freud – erläutert: „Doch geht es im Folgenden nicht um rezeptionsgeschichtliche Einflüsse, sondern um diskursanalytische Parallelen, die sich zwischen Zeitgenossen beschreiben lassen, auch wenn sie voneinander keine Notiz nahmen.“ Erst der Blick auf kopräsente Praktiken, oder, in Wyssscher Terminologie, diskursanalytische Parallelen nämlich, eröffnet den Blick auf Überschneidungen, Konvergenzen und Simultanitäten, aus denen sich ein neues Wissensfeld überhaupt erst ereignen und ausbilden kann. Siehe zum methodischen Ansatz: Wyss, Beat: Vom Bild zum Kunstsystem, Bd. I, Köln 2006, insb. S. 101. Zu der umfangreichen Literatur zu Kandinsky und Bergson siehe beispielhaft: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. 1, Berlin 2002, der Exkurs der Seiten 449-454; sowie: Priebe, Evelin: Angst und Abstraktion. Die Funktion der Kunst in der Kunsttheorie Kandinskys, Frankfurt am Main u.a. 1986; Grohmann, Will: Wassily Kandinsky. Leben und Werk, Köln 1958; Giedion-Welcker, Carola: Kandinsky als Theoretiker, in: Bill, Max (Hg.): Wassily Kandinsky, Paris 1951, S. 150-154; Gaßner, Hubertus: Elan vital oder das Auge des Eros, München 1994, S. 25-38.

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Die Entsprechung der Konstruktion der Elemente dem Kompositionsvorhaben 4. Die Erforschungsmethode: 1. analytische und 2. synthetische 5. Das Werk wird in seinen zwei Haupteilen untersucht: 1. im theoretischen und 2. im intuitiven 6. Die theoretische Erforschung wird durch experimentale Laborarbeit unterstützt 7. Die Laborarbeiten werden auf zwei Wege durchgeführt: 1. durch mechanischen Aufbau der Komponenten und 2. durch den Aufbau der Komponenten, die von der Komposition bestimmt werden 8. Einzelne Elemente werden außerhalb des Kunstwerkes (wenn möglich in abstrakter Form) und im Kunstwerk (Licht in der Natur und Licht in der Malerei; Ton in der Natur und Ton in der Musik) untersucht 9. Die Elemente werden in beiden Fällen in Zusammenarbeit der Kunstwissenschaft und der positiven Kunst 10. Die Elemente werden untersucht: 1. ihrem Wesen nach – aus physiko-chemischer Sicht und 2. nach ihrer Wirkung auf den Menschen – aus psycho-physiologischer Sicht 11. Die Kunstwerke erzielen eine Wirkung auf den Menschen. Alle Verfahren zur Erforschung müssen dies berücksichtigen 12. die Konstruktion wird in ihrem Ursprung untersucht: 1. der künstlerische Teil – unter dem Aspekt des historisch Übermittelten und 2. der wissenschaftliche Teil – die Konstruktion in der Natur: positive Wissenschaften- Mathematik, Kristallographie, Botanik u. ä. 13. Die Elemente werden auf Grund- und Zusatzelemente 14. Es wird ihre Wechselwirkung erforscht 15. Der absolute und der relative Wert der Elemente wird gefunden 16. Es werden Kombinationen des absoluten mit dem relativen Wert untersucht 17. Es werden Fragen der Form und des Forminhaltes analysiert 18. In der Malerei wird die 1. Zeichen- und 2. die Farbform in ihren abstrakten und konkreten Erscheinung untersucht 19. Die Erforschung von Zeichenformen erfolgt in aufsteigender Weise: von einfachen zu komplexen, d. h. von geometrischen Formen und ihren Verschiebungen zu freien Formen 20. In der Gegenstandsmalerei wird die Wechselwirkung der abstrakten und gegenständlichen Form untersucht 21. Die Farbe wird folgenderweise analysiert: 1. Grundfarben, 2. spektrale Farbmischungen, 3. schematische Farbmischungen, 4. freie Farbmischungen.

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22. Der Inhalt wird unter dem Aspekt des beschreibenden und überwiegend malerischen Themas analysiert. In der Gegenstandsmalerei wird die Wechselwirkung der abstrakten und der gegenständlichen Form untersucht. 23. Die Frage über die Erscheinung eines gewissen X im Kunstwerk wird sowohl spekulativ als auch im Experimentallabor untersucht. 24. Die Frage nach dem Wesen der Kunst, nach ihren Eigenschaften und Grundelementen wird untersucht. 25. Ebenfalls wird die Frage über die illusorische Form (in der Malerei – das Volumen) und unermessliche Form (in der Malerei - die Zeit) erforscht. 26. Hier beginnt das zweite Teil der Arbeit, in dem es sich um die Erforschung von Verfahren in den bildenden Künsten handelt: 1. das Material (stoffliches) und 2. die Faktur 27. Die Materialien der betreffenden Kunst werden unter zwei Aspekten analysiert: 1. das Wesen des Materials und seine Gesetzlichkeiten – ohne Bezug auf Kunst und 2. die Erwartungen der betreffenden Kunst an diesem Material 28. In Bezug auf das Letztere werden folgende Fragen aufgestellt: 1. über die Unterwerfung des Materials der betreffenden Kunst und 2. die Unterwerfung der betreffenden Kunst den Eigenschaften des Materials 29. Unter Material versteht man die Summe aller realen Gegenstände, die beim Schaffen des Kunstwerkes verwendet werden (Malerei- Grund, Leinwand, Holz, Metall, Pinsel u. s. w.) 30. Bei der Untersuchung des Materials werden historische Aspekte berücksichtigt: der technische Fortschrift und seine Auswirkung auf die Kunst. 31. Die Anwendungsmöglichkeiten des Materials werden untersucht: 1. chronologisch und 2. experimental. 32. Es muss eine wissenschaftliche Grundlage für die experimentale Technik geschaffen werden und folgende Fragen genau beantwortet: Was ist die experimentale Technik ihrem Wesen nach und wird ihre Wissenschaftlichkeit garantiert. Wie zeichnet sich ihre Wissenschaftlichkeit aus u. s. w. 33. Weder die Kunsttheorie noch die Wissenschaft von der Kunst verfügen über eine genaue Terminologie. 34. Die Aufgaben der Abteilung bestehen in der Herausarbeitung einer solchen Terminologie. 35. Es werden bibliographische Arbeiten geführt, um die Termini zu bestimmen.

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36. Um genaue Termini festzulegen wird eine wissenschaftliche Definition benötigt, die als Material für ein Fachwörterbuch dienen wird.309 Für das Institut entwickelte Wassily Kandinsky ein Programm, das die Modalitäten der Grundmerkmale der künstlerischen Kultur erforschen sollte. Das Ziel war es, Methoden zu finden, die die Wirkung von Linien und Farben anders als durch empirische Verfahren erklären.310 „Mein Rat geht deshalb dahin, der Logik in der Kunst zu mißtrauen. Und auch anderswo vielleicht. Zum Beispiel in der Physik, wo gewisse neue Theorien einige Beweise geliefert haben vom Ungenügen der ‚positiven‘ Methoden. Man beginnt vom ‚symbolischen Charakter der physikalischen Substanzen‘ zu sprechen. Die Welt scheint der ‚Tätigkeit unbegreiflicher Modell-Symbole‘ unterworfen. In meiner Eigenschaft als Nicht-Gelehrter, sondern als Künstler, könnte ich vielleicht die Frage stellen: ‚Sind wir am Vorabend des Bankrotts der rein ‚positiven‘ Methoden angelangt‘? Zeigt sich nicht die Notwendigkeit, sie durch unbekannte (oder vergessene) Methoden zu [ergänzen und ersetzen], durch Methoden, die das ‚Unbewußte‘, das ‚Gefühl‘ rufen [...]? In dieser Eigenschaft als [...] Künstler erlaube ich mir eine bejahende Aussage: [...] die dicke Mauer zwischen der Kunst und der Wissenschaft schwankt [...]. Versuchen wir also nicht, in Kunstfragen Methoden anzuwenden, die in der Wissenschaft ihren Wert zu verlieren beginnen.“ 311

Ein weiterer für das Forschungsprogramm des Instituts für Künstlerische Kultur von Kandinsky entworfener Fragebogen sollte Auskunft geben über die Wahrnehmungsaktivitäten, über Farbwahrnehmung und -wirkung, um die Frage nach der Wirkung der Kunstwerke zu ergründen. Kandinsky bedient sich sogleich jener „unbekannten oder vergessenen Methoden“, um den Zusammenhang von physiologischer und psychologischer Aktivität der Wahrnehmung zu erklären. In den von Kandinsky ausgearbeiteten Fragebögen werden allgemeine Regeln zur Erforschungsarbeit der Abteilung festgelegt. Es wurde vorgeschlagen, fol-

309 Moskau, Privatarchiv. Für die Überlassung des Manuskripts und die exakte Übersetzung dieser auch im Original teils fragmentarischen Zeilen danke ich Herrn Dr. s.c. Karlheinz Barck. 310 Malewitsch nannte als psychische Quelle für den Suprematismus ebenfalls Intuition als intuitives Denken oder auch intuitiven Willen. 311 Kandinsky, Wassily: Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst (1939), in: Kandinsky, Wassily: Essays über Künstler, hg. v. M. Bill, Stuttgart 1955, S. 223-237, hier 235 f.

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gende Fragen zur Malerei zu beantworten: Welche Kunst erzielt die stärkste Wirkung und ruft die stärksten Erlebnisse bei den befragten Personen hervor? Welches Element dieser Kunst wirkt am meisten? Ist dem Befragten eine bedeutende Wirkung der Ausdrucksmittel auf die Psyche bekannt (wie die Farbe als solche in der Malerei, der Ton in der Musik u. s. w.)? Der Hauptteil des Fragebogens entspricht dem im Programm des INChUK enthaltenen „Arbeitsplan für die Malerei“. Die Fragen werden in zwei Gruppen aufgeteilt, die sich der Form der Zeichnung auf der einen Seite und der Farbe auf der anderen Seite widmen. „Erste Gruppe: 1. Haben Sie bei Ihnen irgendwelche (klare oder wage) Erlebnisse beobachtet, die durch das Betrachten von einfachen und komplizierten zeichnerischen Formen (wie z. B. vom Punkt, von der geraden, gekrümmten, gewinkelten Linie, vom Dreieck, Quadrat, dem Kreis, dem Trapez, der Ellipse u. s. w. oder einer freien zeichnerischen Form, welche keiner geometrischen Form zugeordnet werden kann) entstanden sind? 2. Haben technische Zeichnungen (Projekte, Pläne und Entwürfe von Architekten, Ingenieuren) auf Sie irgendwie gewirkt und wenn ja, wie? Beschreiben Sie möglichst genau diese Eindrücke und versuchen Sie, ihre Gefühle durch Assoziationen zu erklären. Wie stellen Sie sich z. B. das Dreieck vor? Haben Sie nicht das Gefühl, dass es sich bewegt, wohin, denken Sie nicht, dass es geistreicher ist als das Quadrat? Kann vielleicht das Empfinden des Dreiecks mit dem Empfinden einer Zitrone verglichen werden? Was ist dem Gesang eines Kanarienvogels ähnlicher: ein Dreieck oder ein Kreis? Welche geometrische Form ähnelt dem Spießertum, dem Talent, dem schönen Wetter u. s. w. 3. Glauben Sie, ist es möglich, einige Ihrer Gefühle graphisch darzustellen, d. h. durch eine gerade oder gekrümmte Linie, durch irgendeine geometrische Figur, durch eine willkürlich gezeichnete Fläche oder durch kombinierte Linien, Flächen und Fleckformen (weiß oder schwarz)? Versuchen Sie es. Legen Sie Ihre Versuche den Antworten auf die Umfrage bei. Bemühen Sie sich, Ihre Eindrücke, Erlebnisse, Vorstellungen über die Wissenschaft im Allgemeinen sowie über einzelne Wissenschaften (Chemie, Anatomie, politische Ökonomie u. a.) durch graphische Formen darzustellen. Ebenso die Eindrücke über Erscheinungsformen des Lebens im Allgemeinen und über das menschliche Leben im Einzelnen. Wodurch zeichnet sich das menschliche Leben im Bereich des Geistigen, des Physiologischen, des Pathologischen u. s. w.? Ihre Eindrücke über astronomische, meteorologische u. a. Phänomene. Erklären Sie Ihre Bilder.

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Warum glauben Sie, dass gerade diese Bilder Ihre Gefühle und Eindrücke am besten wiedergeben? 4. Achten Sie vor allem darauf, ob sich der Ausdruck einer Form durch die Nähe zu einer anderen Form ändert und halten Sie Ihre Eindrücke fest. Fügen Sie weiterhin eine Form der anderen zu und beobachten Sie die Entwicklung. 5. Achten Sie auf die erwähnten Änderungen unter Berücksichtigung der Tatsache, ob die Formen nebeneinander, übereinander u. s. w. stehen. 6. Setzen Sie die isolierten Formen auf ihre ursprüngliche Stelle zurück, ändern Sie wieder ihre Position und beobachten Sie sie. 7. Kombinieren Sie geometrische und freie Formen – zuerst spitze mit spitzen, runde mit runden, dann mischen Sie sie. Erfinden Sie neue Kombinationsmöglichkeiten. 8. Achten Sie darauf, ob sich Ihr Eindruck ändert, wenn Sie eine Form oder eine Gruppe von Formen in die Mitte des Papierblattes aufstellen, oben oder unten, rechts oder links u. ä. 9. Drehen Sie Ihr Bild um, stellen Sie es auf den Kopf u. s. w. und beobachten Sie, was dabei geschieht. 10. Wenn Sie Vorschläge zur Aufstellung unserer Umfrage haben, teilen Sie es uns mit. Zweite Gruppe: 1. Haben Sie bei Ihnen irgendwelche besondere Wirkung der Farbe beobachtet? War das eine physische oder psychische Wirkung? Beschreiben Sie sie. 2. Wie wirken die Farben Gelb, Blau und Rot auf Sie? Welche Farbe wirkt am stärksten – angenehm oder unangenehm - ? Können Sie eine von diesen Farben überhaupt nicht ausstehen? Welche finden Sie bezaubernd? Welche dieser Farben scheint Ihnen stark, dicht, aktiv, sich bewegend (in welche Richtung), flach, tief, rebellisch u. s. w. zu sein? 3. Haben Sie gemerkt, wie Farben wirken, wenn sie auf einen Gegenstand (auf welchen) aufgetragen werden und wie, wenn Sie sie isoliert sehen? 4. Wirken Farben auf Sie, wenn Sie sie nicht sehen, sondern nur vorstellen? Glauben Sie nicht, dass diese nur in Ihrer Vorstellung existierende Farbe besser ist als alle ihre sichtbaren Formen? Welche Farbe können Sie sich am besten vorstellen und warum? 5. Beantworten Sie dieselben Fragen in Bezug auf die Farben Grün, Orange, Violett. 6. Lesen Sie die Punkte 2 und 3 der ersten Gruppe und beantworten Sie diese Fragen, diesmal Bezug nehmend auf Farben (z. B. welche Farbe ähnelt am

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meisten dem Gesang eines Kanarienvogels, dem Pfeifen des Windes, dem Menschen, dem Talent, dem Unwetter, dem Ekel u. s. w.). 7. Welche Farbe passt Ihrer Meinung nach zum Dreieck, Quadrat, Kreis am meisten? Zeichnen Sie Bilder dazu. 8. Wenn, Ihrem Gefühl nach, irgendeine Grundfarbe zu keiner geometrischen Form passt, versuchen Sie es, eine passende freie, nicht geometrische Form zu finden. Malen Sie ein Bild. Kommentieren Sie, wenn möglich, warum es so besser ist. 9. Mischen Sie die Grundfarben miteinander: z. B. Gelb mit Blau, Rot mit Gelb u. s. w. Beobachten Sie Ihre Eindrücke und notieren Sie sie. Malen Sie zuerst Kleckse unbestimmter Form, dann geometrische und später freie aber genau abgezeichnete Formen. Beschreiben Sie Ihre Beobachtungen durch parallele Eindrücke. 10. Beantworten Sie die Fragen 4 bis 10 der ersten Gruppe. 11. Zeichnen Sie in einem Heft alle Formen, die hier gezeigt werden sowie die von Ihnen erfundenen und lassen Sie rechts einen breiten Rand für Ihre Bemerkungen, Eindrücke sowie parallele Impressionen von anderen Erlebnissen. Erstellen Sie Tabellen. Wenn sie Vorschläge zur Verbesserung unserer Umfrage haben, teilen Sie sie uns mit. […]“312 Die Probanden seines Experiments wurden durch die Fragen ganz bewusst mit jenen bisher von der Kunst verwalteten, intuitiven Potenzen nicht nur konfrontiert, sondern sollten diese selbst aktiv erzeugen. Kandinsky wollte demonstrieren, dass produktive Einbildungskraft gänzlich neue Vorstellungen schaffen kann. Darüber hinaus wollte Kandinsky mit Methoden, die sich auf Vorstellungen und Gefühle berufen, die Antwort auf die für ihn dringliche Frage finden, ob es auf dieser alternativen Grundlage möglich sein werde, Farben rein durch Einbildungskraft wirken zu lassen. Deutlich wird dieses Erkenntnisinteresse in den von ihm formulierten Fragen: „Wirken Farben auf Sie, wenn Sie sie nicht sehen, sondern nur vorstellen?“ oder „Glauben Sie nicht, daß diese nur in ihrer Vorstellung existierende Farbe besser ist als alle ihre sichtbaren Formen?“ An dieser Idee einer ästhetischen Erfahrung ohne die Beteiligung der äußeren Sinne und ohne Materialisation im Kunstwerk zeigte Kandinsky schon einige Jahre zuvor Interesse. So vertrat er in einem Brief von 1913 die Auffassung, dass

312 Moskau, Privatarchiv. Für die Überlassung des Manuskripts und die exakte Übersetzung dieser auch im Original teils fragmentarischen Zeilen danke ich Herrn Dr. s.c. Karlheinz Barck.

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„es möglich sein müsse, eines Tages Bilder nicht mit Pinsel und Leinwand zu schaffen, sondern Kraft geistiger Ausstrahlung allein.“313 Gleichwohl stellt sich nun die Frage, welches Interesse Kandinsky an der Vorstellung einer abstrakten, rein in der Vorstellung begründeten Kunst hatte. Intuition wird hier von Kandinsky explizit als jenes Vermögen künstlerischer Produktivität eingesetzt, die das gesamte Spektrum möglicher Phantasie nutzen sollte, etwa auch im Produzieren neuer Farben.314 „Alle diese Behauptungen sind Resultate empirisch-seelischer Empfindung und sind auf keiner positiven Wissenschaft basiert.“315 Mit dem Appell an die Fähigkeit, sich Farben so anschaulich vorzustellen, als ob sie realen Wahrnehmungscharakter hätten – daher wird im Fragebogen auch nicht zwischen Fragen zu Farben der reinen Vorstellungskraft und Fragen zu Farbenwirkungen der sinnlich erfahrbaren Außenwelt unterschieden – favorisiert Kandinsky die übersinnliche Anschauung, die für Erkenntnis, Synthese und Ganzheit steht und positioniert sie gegen das niedrige, bloß sinnliche und passive Sehen der Farben, hervorgerufen durch äußere Reize. Primär im Wahrnehmungsprozess ist also das vor- oder unbewusste seelische Erlebnis. Übersinnliche Anschauung sollte zu einer Wahrnehmungstätigkeit führen, die ein von allen bisherigen Erfahrungen und Lernprozessen befreites – inneres – Sehen nicht nur im Subjekt selbst ermöglicht, sondern auch mitteilbar macht. In diesem Sinne will Kandinsky das wahrnehmende Subjekt ermächtigen, seine Sinneserscheinungen selbst als Wirklichkeit zu produzieren. In den von Kandinsky projektierten Gedankenexperimenten fällt die mentale Anordnung eines Versuchs mit seiner Durchführung zusammen, um sodann an objektive Gesetzmäßigkeiten angebunden zu werden. Die Erforschung der Sinnesassoziationen sollte über Parallelen im Sehen und Erleben von Farben sowie in der Kombination mit anderen Sinnen gefunden werden.

313 Brief vom 25. Februar 1913 an Arnold Rönnebeck. Vgl. dazu auch das Kapitel zu Gedankenphotographien. 314 Es gilt anzumerken, dass Kandinsky ein außerordentliches Interesse an Phänomenen hatte, die sich nur im Gehirn vollziehen und geistige Tätigkeit sind. In seinem Besitz finden sich – jetzt in Paris im Centre Georges Pompidou – Exemplare der Gedankenphotographien von Baraduc. Kandinsky hat sich bereits seit ca. 1900 mit der Frage beschäftigt, welcher Dimension solche rein geistig erzeugten Bilder zuzuordnen sind, und wie sie sich darstellen, bzw. genauer: photographieren lassen. 315 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, hg. v. M. Bill, Bern 1965, S. 88.

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In diesen Experimenten ist dann gerade die Methode der gezielt befragenden Introspektion für Kandinsky eine willentliche Wahrnehmungstätigkeit: das produktive Moment, das den empirischen Forschungen der anderen Laboratorien des Instituts hinzugefügt werden sollte.316 Kandinsky verwendet also das letztlich nicht neue Modell einer aktiven Sinnlichkeit eines Betrachters, der sich selbst wahrnimmt und zugleich seine Wahrnehmungen selbst herstellt und überträgt es auf ein Gedankenexperiment. Einbildungskraft – so lautet dann die Folgerung aus Kandinskys Forschungen – ist dann die Bedingung der Möglichkeit bildlichen Sehens.317 Ist der Gegenstand der Forschung die Intuition der Einbildungskraft, besteht ihre Methode in einer geregelten Selbstbeobachtung. Für eine Auffassung, die Kunst als Wahrnehmungsexperiment zu ästhetischen Erkenntniszwecken begreift, wird das subjektive Experiment zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis.

3 D IE E MPIRIE DES S UBJEKTIVEN 318 Das Gefühl des Künstlers lehrbuchartig zu erfassen und zu verwalten, war ein Ziel der Kunsttheorie Wassily Kandinskys. Für diese Idee einer Grammatik, eines auszuarbeitenden „Generalbasses“, dessen Fundamente in der Gegenwart gelegt werden, verwendet er den Begriff „Kunstwissenschaft“, der zugleich immer auch eine

316 Auch für Paul Klee ist bildnerisches Denken etwas, das sowohl zu den exakten Wissenschaften als auch zum rein spontanen – intuitiven – Gestalten in Abgrenzung steht und das durch Naturbeobachtung, Introspektion und künstlerische Praxis erreicht wird. 317 Vgl. zur Bedingung der Möglichkeit bildlichen Sehens: Müller-Tamm, Jutta: Vision und Visualität. Zum Verhältnis von Wahrnehmungswissenschaft und Poetik bei Hermann Bahr und Robert Müller, in: Dotzler, Bernhard J./Weigel, Sigrid (Hg.): ‚fülle der combination‘. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, S. 173-187, hier S. 180. 318 Dieser Titel wird den Schriften Jan Evangelista Purkinjes entlehnt. Purkinje, Jan Evangelista: Opera omnia, Bd. V, Prag 1951, S. 27-54, hier S. 28. Vgl. zu Purkinje: Müller-Tamm, Jutta: Die ‚Empirie des Subjektiven‘ bei Jan Evangelista Purkinje. Zum Verhältnis von Sinnesphysiologie und Ästhetik im frühen 19. Jahrhundert, in: Dürbeck, Gabriele u.a. (Hg.): Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 153-165.

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Reflexion über bereits vorhandene Methoden impliziert. Dazu vermerkt Kandinsky in seinem 1923 publizierten Text Gestern – Heute – Morgen319, dass es nicht nur die synthetische Bewegung sein solle, die es anzustreben gilt, sondern dazu vielmehr noch die „intuitive Methode“ unabdingbar ist, da sie „ein Werk konstruiert“320. Mit diesem Projekt einer Grammatik beschäftigt sich Kandinsky an der Russischen Akademie der künstlerischen Wissenschaften, deren Vizepräsident321 und Leiter des psychophysischen Departements er war. Auch diese Institution verstand sich als ‚Labor der Interaktion der Künste und Wissenschaften‘ („laboratory of the integration of arts and sciences“)322, in der der allgemeine Charakter der zeitgenössischen Ästhetik („the general character of contemporary esthetics“) ebenso als präzises Wissensgebiet („precise field of knowledge“) verstanden wurde, wie auch ‚die Geschichte der Kunst und Kunstkritik‘ („the history of art and art criticism“) als Wissenschaften („sciences“)323 angesehen wurden. Die Theorie der Kunst sollte eine kunstwissenschaftliche Fundierung erfahren, um so die Verbindungen von Kunst und Naturwissenschaften aus der Perspektive der Kunst, erforschen zu können wie es Aleksej Sidorov – er war Gründungsmitglied der RAKhN, Anhänger der Psychoanalyse und betonte in dem von ihm aufgebauten Choreologischen Labor die Rolle der Photographie, des Films und des Freien Tanzes in der experimentellen Ästhetik – formuliert: „The task now confronting the Academy is to acknowledge and use artistic experiment as a special method – and this has not been applied in the past.“324

319 In: Künstlerbekenntnisse, hg. von Paul Westheim, Berlin 1925. 320 Wassily Kandinsky in: Künstlerbekenntnisse, hg. v. Paul Westheim, Berlin 1925, S. 28. 321 Präsident der RAKhN war Petr Kogan. 322 Pogodin, Fedor: Towards a New Science of Art, in: Misler, Nicoletta/Bowlt, John E. (Hg.): Experiment. A Journal of Russian Culture, Los Angeles 1997, S. 40-49, hier S. 47. 323 Ebd. 324 Anonym (A. Sidorov ?): Akademiia khudozestvennykh nauk, in: Nauka i iskusstvo (M), No. 1, 1926, S. 211. Hier zitiert nach: Misler, Nicoletta: A Citadel of Idealism. RAKhN as a Soviet Anomaly, in: Misler, Nicoletta/Bowlt, John E. (Hg.): Experiment. A Journal of Russian Culture, Los Angeles 1997, S. 14-30, hier S. 15.

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Der Erfolg der intellektuellen Debatten über das Wissen der Künste und ihr Verhältnis zur Naturwissenschaft lag vor allem auch in der konsequent interdisziplinären Ausrichtung der Forschungsinstitution, in der Künstler gemeinsam mit Mathematikern, Psychologen, Biologen, Philosophen, Physikern und Physiologen arbeiteten und in den – für ein Institut der künstlerischen Kultur – unüblichen Aktivitäten, wie Forschung, Laborexperimenten, Konferenzen, Publikationen und Ausstellungen der theoretischen Ergebnisse. Die Verwendung künstlerischer Experimente als spezifischer Methode erläutert Kandinsky in seinem Text ‚Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst‘325 aus dem Jahr 1921, die das Anliegen des Künstlers, eine Kunstwissenschaft zu etablieren, die unter dem Aspekt der Synthese Kunst und Wissenschaften einander annähert, schon im Titel trägt. Eine Wissenschaft der Kunst, deren Grundlage die Synthese bildet, ist vor folgende, klar definierte Aufgaben gestellt: „1. einer Verwendung der Elemente der einzelnen Künste auf der Grundlage ihrer Verwandtschaft im allgemeinen, 2. der Anwendung – neben dem Prinzip der Parallelität – jenes machtvollen Konstruktionsverfahrens, mit welchem die einzelnen Künste in ihren Gebieten ständig operieren, nämlich des Prinzips der Kontrastierung, 3. die Untersuchung der Unterordnung der einzelnen Elemente wie auch des Konstruktionsprinzips unter den das Werk insgesamt organisierenden Aspekt der Kompositionsidee.“ 326

In einem zweiten sich anschließenden Teil der Untersuchung der Elemente der Kunst, muss die Erforschung der Werke „im Sinne ihrer analytischen Zerlegung und des Versuchs, zu bestimmen, warum in einem gegebenen Werk diese oder jene Elemente zu Anwendung kommen,“327 im Zentrum stehen. Das Ziel der Untersuchung der Eigenschaften der Elemente liegt in der genauen Bestimmung ihrer psychophysischen Wirkung auf den Menschen. Um diese Aspekte angemessen nachvollziehbar zu machen, empfiehlt Wassily Kandinsky „Laborarbeiten durchzuführen [...] und unbedingt Labormethoden [anzuwenden], da sie flexibler und

325 Erstmals auf Deutsch veröffentlicht und mit einem Kommentar von Karlheinz Barck versehen in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8. 326 Kandinsky, Wassily: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8, hier S. 6. 327 Ebd., S. 6 f.

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leichter zu kontrollieren sind“. Das Unbewusste im kreativen Prozess lässt sich – so also seine Vermutung – durch Beobachtung im Laborversuch erkennen.328 Die Funktion der Intuition verändert sich mit diesem Positionspapier von Kandinsky. Indem die „brennendste, geheimnisvollste, strittigste und hartnäckigste Frage“ zur Disposition steht, nämlich die Frage nach der Kompositionsidee, verändert sich die Verwendung der Intuition als Methode. Kandinsky attestiert eine zwar in hohem Maße vorhandene, aber ebenso dilettantische Diskussion um die Rolle des intuitiven Aspekts der Komposition. Dies führe dazu, dass der intuitive Aspekt völlig verneint werde: „Wenn man sich dieser zugespitzten und doch unklaren Frage nähert, muß man sich wiederum sowohl der Labormethode als auch der Analyse besonders bedeutender Kunstwerke zuwenden. Die bisher unternommenen Analysen dieser Art sind noch nicht über die Grenzen von Dilettantismus oder reiner und kaum begründeter Spekulation hinausgekommen. Immer [...] gibt es im Werk jenseits der [...] offensichtlichen Baumaterialien noch ein gewisses X. Dieses X entzieht sich der Definition, hat sich aber als derjenige Faktor erwiesen, welcher auf unergründliche Weise ein totes Element in den lebendigen Bestandteil eines Werks verwandelt.“329

Eine systematischere und somit präzisere Aussage erwartet Kandinsky von einer Verschiebung der Untersuchungsanordnung vom Objekt der Kunst, also demjenigen, der Kunst wahrnimmt, hin zum Subjekt der Kunst, also des Künstlers und seinen Entscheidungen selbst. Für diese Untersuchungsperspektive sieht Kandinsky eine produktive Zusammenarbeit von Vertretern der verschiedenen Disziplinen vor. Im Verlangen danach, eine „gemeinsame Sprache“ zu finden, wird die Suche nach der Bestimmung des intuitiven Moments in der Komposition zu einer Recherche der ‚Empirie des Subjektiven‘. In ihr verbinden sich sinnesphysiologische Komponenten mit Fragen, die auf die Wahrnehmung der Kunst zielen. Mit der von Kandinsky formulierten experimentellen Einstellung gegenüber der Subjektivität des Künstlers geht es darum, dem Effekt von produktiver Wahrnehmungstätigkeit und den dadurch ausgelösten Empfindungen nachzugehen. Für Kandinsky ergibt sich folgende Wahrnehmungstätigkeit des Subjekts: Wenn die Komposition eines Kunstwerks im Unbewussten beginnt und äußerer Ausdruck

328 Dabei ging es nicht nur um Versuche im Sehen, sondern auch beim Hören, Riechen, Tasten usw. 329 Kandinsky, Wassily: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8, hier S. 7.

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innerer Erlebnisse ist, dann ist das innere Sehen des Künstlers die Fähigkeit, sich Objekte und Dinge in einer Weise vorzustellen, als ob sie realen Wahrnehmungscharakter hätten. Damit setzt Kandinsky das subjektiv bildhafte Erleben gegen die tatsächliche Wahrnehmung der Außenwelt.330 Durch diese Gegenüberstellung von subjektiv Erlebtem mit objektiv Vorhandenem lassen sich aber nun Aussagen über das Verhältnis von intuitiven Elementen auf der einen Seite und bekannten, formalen, in diesem Sinne bereits andernorts einmal erprobten Elementen in der Komposition auf der anderen Seite treffen. Die Kontrastierung und wechselseitige Bezugnahme von intuitiven mit bekannten, formalen Elementen befördert eine Pendelbewegung die die jeweilige Definition überhaupt erst ermöglicht. Die Intuition ist zudem jener Aspekt, der die Verflüssigung der festen Struktur der bekannten Elemente ermöglicht, die durch die Veränderung sinnlicher Wahrnehmung entsteht. Kandinsky beruft sich einerseits auf das Unbewusste für den Schaffensprozess – also einem Vor-Bewussten des Wissens – und dessen Notwendigkeit wird konstatiert, aber im gleichen Zuge wird die Intuition durch kalkulierbare Regeln zu einer ars combinatoria, die wiederum zu einer Methode der Intuition wird. Ganz im Sinne des Synthese-Gedankens kommt Kandinsky zu dem Schluss, dass „die großen Kunstepochen […] immer ihre ‚Lehre‘ oder ‚Theorie‘ [hatten], die ebenso selbstverständlich in ihrer Notwendigkeit war, wie es in der Wissenschaft der Fall war und ist.“ Und er fährt fort: „Diese ‚Lehren‘ konnten nie das Element des Intuitiven ersetzen, weil das Wissen an und für sich unfruchtbar ist. Es muß sich mit der Aufgabe begnügen, das Material und die Methode zu liefern. Fruchtbar ist die Intuition, die dieses Material und diese Methode als Mittel zum Zweck braucht. Der Zweck kann aber ohne Mittel nicht erreicht werden und in diesem Sinne wäre auch die Intuition unfruchtbar.“331

Da jedoch der in einer Komposition verwendete, formale Aspekt zum Bereich der Theorie gehört,

330 Vgl. zum inneren Sehen: Müller-Tamm, Jutta: Vision und Visualität. Zum Verhältnis von Wahrnehmungswissenschaft und Poetik bei Hermann Bahr und Robert Müller, in: Dotzler, Bernhard. J./Weigel, Sigrid (Hg.): ‚fülle der combination‘. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, S. 173-187, hier S. 175. 331 Kandinsky, Wassily: kunstpädagogik, in: bauhaus (Dessau) 2, 1928, Nr. 2/3, S. 8-10.

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„insoweit sie ein Resultat der Analyse bereits vorhandener Werke darstellt, auch nur für diese zuständig ist, daß sie nur Rückschau hält und unfähig ist, nach vorne zu blicken und somit eine Richtung für die Schaffung künftiger Werke anzugeben“332,

ist die Intuition in einer Komposition nicht einfach nur der innovative Aspekt, sondern ist vielmehr als eine Art Echoraum zu verstehen, in dem Vergangenes, gegenwärtige Potentiale und Zukünftiges erstmalig zusammentreffen.

4 I NTUITION

GEGEN

H ARMONIE

‚Korrekturen zu den Vorlesungen von Ostwald‘ übertitelt Kandinsky eines seiner Vorlesungsmanuskripte für seine Lehrtätigkeit am Bauhaus. In diesen Manuskripten nimmt er Bezug auf die Vorlesungen von Wilhelm Ostwald im Jahr 1927. Ostwald diskutierte am Bauhaus seine ‚Farbenlehre‘, die er vermittels exakter Methoden entwickelt hat: „Die Grundlage des in Rede stehenden Fortschrittes im Farbgebiet ist die Tatsache, daß Maß und Zahl hier ihren Einzug gehalten haben.“333 Ostwalds zu belegende Hypothese war es, Kunstgesetze auf der Grundlage der exakten Wissenschaft zu definieren. Dazu entwickelte er das Prinzip der „inneren Symmetrie“: „Mischt man zwei Farben des Farbkreises zu gleichen Teilen, so gehört die entstehende Mischfarbe in die Mitte zwischen den Teilfarben.“334 Dieses ermöglichte ihm die Aufstellung von Farbnormen. Im Unterschied zu seinem ersten Farbenatlas aus dem Jahr 1917/18, der auf einem 100-teiligen Farbkreis basierte und – obschon nur ein Teil des Farbkörpers realisiert werden konnte – immerhin 2500 Töne umfasste, ist der 1920 publizierte Farbnormenatlas auf nurmehr 680 „Farbnormen“ beschränkt. Jede Norm erhält hier ein eigenes Farbzeichen, eine Zahlen-Buchstaben-Kombination. Diese Ordnung macht die Farben schneller verfügbar als je zuvor. Auf der Basis eines mathematischen Verfahrens versuchte Ostwald, die Kunstwerken inhärente ‚Rhythmik‘ und ‚Harmonie‘ sowie die damit häufig intendierten Schwierigkeiten in der künstlerischen Umsetzung zu lösen. Harmonik im Werk entsteht nach Ostwald, wenn – etwa für die Farbe Grau – alle Grauwerte im selben Helligkeitsabstand zueinander stehen, so dass er dann – gleichsam folgerichtig aus seinem Regelwerk heraus – bemerken kann:

332 Kandinsky, Wassily: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 4, Berlin 2002, S. 4-8, hier S. 7. 333 Ostwald, Wilhelm: Farbnormen und Farbharmonien, Leipzig 1925, S. 19. 334 Ostwald, Wilhelm: Einführung in die Farbenlehre, Leipzig 1919, S. 91.

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„Wie soll und kann es die wahren Künstler stören, wenn die Tüncher und Schneider lernen, wie man angenehm wirkende Farbzusammenstellungen sicher erzielen kann, und wenn die Industrie ihre Erzeugnisse in harmonische Farben kleidet?“ 335 In Ostwalds Verständnis stellten die „Farbnormen“ einen Entwicklungssprung für alle Arten von Reproduktionen dar: selbst wenn die Vorlage verlorenginge, ließe sie sich anhand der notierten Farbnormen beliebig wiederholen – und in der Reproduktion sah er das Hauptgebiet zukünftiger künstlerischer Betätigung. Die Gesetzmäßigkeit, nach der Ostwald nicht nur die Farben, sondern die gesamte künstlerische Produktion verwaltet sehen wollte, formulierte er als ein ihn prägendes ästhetisches Erlebnis: „Es war mir unter den Händen Schönheit entstanden, wie dem Chemiker, in dessen Schale unversehens entzückende Kristalle anschießen.“ Und Ostwald fragte sich sodann: „Was habe ich denn eigentlich gemacht? Ich habe die tongleichen Farben [...] gleichabständig geordnet [...], dies ergab die Schönheit. Und durch zufällige Verwechslungen beim Aufkleben habe ich mich überzeugt, daß die Schönheit schwindet, sobald das Gesetz nicht streng befolgt wird. Also ist die Schönheit dadurch bedingt, daß das Gesetz erfüllt wird!“

Aus diesen Erfahrungen heraus postulierte er in seinem ‚Hauptsatz der Farbenharmonik‘: „[…] harmonisch oder zusammengehörig erscheinen solche Farben, deren Eigenschaften in bestimmten einfachen Beziehungen stehen.“ 336 Es wundert kaum, dass Kandinsky nicht nur der Klassifizierung der Farbe durch Ostwalds Systematik, sondern auch dessen Vision von der zukünftigen Betätigung des Künstlers äußerst kritisch gegenüberstand. So bemerkt er für das Ostwald’sche Farbenregelwerk: „graue stufen – o[stwald] bringt nur einfache harmonien in einfachem rhytmus [sic!] (2-4-6-…), es gibt aber kompliziertere harmonien mit kompl. rhytmus (1-3-7-…)“ und: „methode des ausrechnens: man bediene sich der grauen reihe von ostwald – lange, aber ziemlich exakte arbeit. / darf aber bei ausrechnungen nie vergessen werden, dass es zwei realitäten gibt!“ oder in noch deutlicher formulierter Kritik „ausserdem liegen im grunde der harmonie spannungen, die ‚innere‘ h[armonie] hervorrufen.“ 337

335 Ostwald, Wilhelm: Farbnormen und Farbharmonien, Leipzig 1925, S. 19. 336 Ebd., S. 11. 337 Kandinsky, Wassily: Bauhausvorlesungen (1927), zitiert nach: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 89, Hervorhebungen i. O.

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Zudem fügte er in seinen Vorlesungen an die Theorie Ostwalds eben jene benannten „Korrekturen“ an, die er gemeinsam mit seinen Studenten diskutierte.338 Einer seiner Einwände betonte die generelle Unmessbarkeit des Phänomens Farbe: „farbe kann trotz osswald [sic!] nicht gemessen werden überhaupt und ändert sich in zusammenstellungen [...]. nicht messbare einzelheiten (finessen!) sind das entscheidende.“339 Durch die Betonung der Finessen ist für Kandinsky genau jener Ort benannt, an dem sich die künstlerische Fähigkeit der Intuition zeigt. Und so notierte er als weiteren Einwand gegen Ostwald: „kunst und wissenschaft – intuition und positive kenntnisse – intuition in beiden fällen gleich notwendig.“340 Als Alternative zu Ostwalds System der Ausmessbarkeit der Farben entwickelt Kandinsky in seinen Vorlesungsmanuskripten ein Modell, in dem Intuition und Kalkül – wie Kandinsky nun formuliert – einander bedingen und im Austausch zueinander stehen. Grundsätzlich verweigert sich Kandinsky Ostwalds Harmoniestreben; die Kategorie der Schönheit sollte keinesfalls gegen die Überzeugung von Kunst als Modus der Erkenntnis eingetauscht werden. Eine kleine Bemerkung an einer Schemazeichnung Kandinskys gibt größeren Einblick in das subversive Moment, mit dem Kandinsky die Systematik Ostwalds unterlaufen wollte, als es das Schema suggeriert. Kandinsky vermerkt: „Le calcul: appréhension de la part des artistes et des savants.“ Diese Furcht – vor der Unbegründbarkeit des künstlerischen Prozesses – also ist es, die Künstler und Wissenschaftler das Kalkül in die Kunst einbringen lassen, die Formelhaftigkeit Ostwalds jedoch umfasst für Kandinsky nicht alles in der Kunst, vor allem „pas l’essentiel, et d’abord la formule doit être trouvée. De quelle façon? Correspondant au but: contenu, donc de façon intuitive.“341

338 Kandinsky, Wassily: Bauhausvorlesungen (1927), zitiert nach: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 88. An anderer Stelle des Manuskripts heißt es: besprechung der ostwaldschen farben und formelehre (nach seinen vorträgen im bauhaus). 339 Ebd., S. 88 f. 340 Kandinsky, Wassily: Bauhausvorlesungen (1927). korrekturen zu vorträgen von ostwald, zitiert nach: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Kandinsky, Bd. I, Berlin 2002, S. 88. 341 „Die Formel 2x4x6 umfaßt nicht alles, vor allem nicht das Wichtigste und solange muß die Gleichung noch gefunden werden. In welcher Art? Hinarbeiten auf das Ziel: Inhalt ist etwas von intuitiver Art.“

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Kandinsky bietet mit dem Beharren auf dem Vermögen der Intuition als unverzichtbarem Teil von künstlerischer Kultur bzw. dem Austauschprinzip, in das er Intuition und Kalkül versetzt, nicht nur eine Alternative zum Ostwald’schen Prinzip, sondern entwickelt auch eine Lösung für dessen Arbeit an den Farbnormen, die zu immer feineren, unendlichen Farbskalierungen führte und zeigte, dass rationale Analyse an einen Punkt kommt, wo es ohne Intuition nicht weitergeht, denn: In Kandinskys Konzept der Pendelbewegung ist Intuition das Kalkulierbarmachen des zuvor nicht Kalkulierbaren. Die Selbstverständlichkeit, mit der Kandinsky die Intuition in das System von Ostwald zurückführt, womit er letztlich die Aufmerksamkeit auf die Erkenntnisfähigkeit der Kunst zu lenken vermag, führt ihn zu einem Konzept der Synthese von Kunst und Wissenschaft, einer Synthese, welche in seiner Zeichnung durch die Vokabel „et“ angedeutet ist. Die Arbeit am Bauhaus ist für Kandinsky die gelungene Synthese der Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft und ihrer Wissenssysteme, indem Kunst, Wissenschaft und Industrie einander zuarbeiten und alle Bereiche, aus denen sich ein Wissen zusammensetzen kann, fördert und vorantreibt: „Die Arbeit am Bauhaus unterliegt im Allgemeinen der endlich beginnenden Einheit verschiedener Gebiete, die noch kürzlich als streng voneinander getrennte aufgefaßt wurden. Diese neuerdings zueinander strebenden Gebiete sind: Kunst überhaupt, in erster Linie die sogenannte bildende Kunst (Architektur, Malerei, Plastik), Wissenschaft (Mathematik, Physik, Chemie, Physiologie usw.) und Industrie, als technische Möglichkeiten und wirtschaftliche Faktoren. Die Arbeit am Bauhaus ist eine synthetische.“342

Kandinskys Konzept eines Wissens um künstlerisches Arbeiten setzt sich aus Komponenten zusammen, die sich idealerweise gegenseitig bedingen. Die Intuition ist dabei für ihn eine progressive Instanz, die immer dann ins Spiel kommt, wenn die konventionellen Systeme versagen. Da sie dann immer auch für zukünftige Modelle grundlegend ist, ist sie die Bedingung der rationalen Analyse, bzw. steht mit dieser in einem Austauschverhältnis. Die Reflexionen von Kandinsky zur Intuition zeigen, dass er sie weniger in je unterschiedlichen Systemen anwendet, sondern sich vielmehr in ihr aufhält und so ihr Potential auslotet:

342 Kandinsky, Wassily: Die Grundelemente der Form, in: Staatliches Bauhaus in Weimar (Hg.): Staatliches Bauhaus Weimar 1919-1923, München 1923, S. 26, Hervorhebungen i. O.

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„die notwendige eigenschaft des ‚neuen‘ menschen ist u.a. die verbindung von äusserst exakten [sic!] denken (analyse und synthese) mit [...] gefühlstätigkeit. [...] im bauhaus werden die möglichkeiten zu diesem normalen doppelwesen gegeben – exakte wissenschaften, exakte werkstattarbeit, exaktes kunstdenken und entwicklung der intuition.“343

343 Kandinsky, Wassily: Die Grundelemente der Form, in: Staatliches Bauhaus in Weimar (Hg.): Staatliches Bauhaus Weimar 1919-1923, München 1923, S. 26.

Abbildung 4: Wassily Kandinsky: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst, Ausschnitte, 1927.

Abbildung 5: Wassily Kandinsky: Schema zur Teilung, 1927.

Abbildung 6: Wassily Kandinsky: Fragebogen für das INChUK. Institut für Künstlerische Kultur, Ausschnitt, 1920.

Abbildung 7: Wilhelm Ostwald: Anzeige der Farbenorgel.

Abbildung 8: Wassily Kandinsky: Schema zu: Intuition und Kalkül.

Kapitel V Hors-Textes – Quellen der Sichtbarkeit jenseits des Sichtbaren „Ich habe noch nie eine Bemerkung darüber gelesen, daß, wenn man ein Auge schließt und ‚nur mit einem Auge sieht‘, man die Finsternis (Schwärze) nicht zugleich mit dem geschlossenen sieht“344 LUDWIG WITTGENSTEIN „Schwebt! Die weiße Tiefe, die freie Unendlichkeit liegt vor Euch.“345 KAZIMIR MALEVIČ

1 „D IE W ELT ,

DAS SIND UNSERE E MPFINDUNGEN , SIE BESTEHT AUS UNSEREN E MPFINDUNGEN .“ 346

„Als ich im Jahr 1913 in meinem verzweifelten Bestreben, die Kunst von dem Ballast des Gegenständlichen zu befreien, zu der Form des Quadrats flüchtete und ein Bild, das nichts als ein schwarzes Quadrat auf weißem Felde darstellte, ausstellte, seufzte die Kritik und mit

344 Wittgenstein, Ludwig: Zettel, in: Wittgenstein. Werkausgabe, hg. v. Joachim Schulte, Bd. VIII, Frankfurt am Main 1984, S. 419. 345 Malevič, Kazimir: Suprematismus. Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Gaßner, Hubertus/Gillen, Eckhart (Hg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 79-81, hier S. 81. 346 Kulbin, Nikolai, zitiert nach: Malevič, Kazimir S.: Malewitsch. Künstler und Theoretiker, übers. v. E. Glier, Weingarten 1991, S. 58.

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ihr die Gesellschaft: ‚Alles, was wir geliebt haben ist verloren gegangen: Wir sind in einer Wüste … Vor uns steht ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund!‘ […] Das Quadrat erschien der Kritik und der Gesellschaft unverständlich und gefährlich … und das war ja auch nicht anders zu erwarten. Der Aufstieg zu den gegenstandslosen Höhen der Kunst ist mühselig und voller Qualen … aber dennoch beglückend. Das Gewohnte bleibt immer weiter und weiter zurück … Immer tiefer und tiefer versinken die Umrisse des Gegenständlichen; und so geht es Schritt um Schritt, bis schließlich die Welt der gegenständlichen Begriffe – ‚alles was wir geliebt hatten – und wovon wir lebten‘ unsichtbar wird. […] Das beglückende Gefühl der befreienden Gegenstandslosigkeit riß mich fort in die ‚Wüste‘, wo nichts als die Empfindung Tatsächlichkeit ist … – und so ward die Empfindung zum Inhalte meines Lebens. Es war dies kein ‚leeres Quadrat‘, was ich ausgestellt hatte, sondern die Empfindung der Gegenstandslosigkeit“347,

schreibt Kasmir Malewitsch im mit ‚Suprematismus‘ betitelten zweiten Teil seiner Bauhausschrift Die gegenstandslose Welt im Jahr 1927. Das Quadrat wird also zum äußeren Zeichen einer künstlerischen Haltung, in der Empfindung nicht mehr mit einem Gegenstand der Wirklichkeit assoziiert wird, der die Empfindung allererst hervorruft, sondern es geht in diesen künstlerischen Recherchen nun mehr um die Empfindung selbst; als der Bedingung des Vermögens der Wahrnehmung. Malewitschs Interesse lag nicht mehr im Erfassen und der Wiedergabe eines Gegenstandes begründet, der eine Empfindung im Betrachter hervorruft, sondern der Wahrnehmungsakt selbst, die Empfindung als solche sollte analysiert, in den Schriften theoretisch erörtert, im malerischen Werk praktisch begründet werden, um zu einer umfassenden Analyse der Empfindung als Wahrnehmung zu gelangen, wie er sie an dem Leningrader Staatlichen Institut für Künstlerische Kultur (GINChUK) erarbeiteten Tafeln zur Theorie der Malerei erörterte.348

347 Malevič, Kazimir S.: Die gegenstandslose Welt. II. Teil. Suprematismus. Hier zitiert nach: Wingler, Hans M. (Hg.): Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher), S. 66. 348 Zur Geschichte der Tafeln und Malewitschs – fehlgeschlagenen – Anstrengungen, sich am Bauhaus zu etablieren, vgl. ausführlich: Wiese, Stephan von (Hg.): Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher). Malewitsch war zunächst Leiter des Museums für Künstlerische Kultur in Leningrad, welches 1924 auf sein Bestreben hin in das GINChUK – Staatliches Institut für Künstlerische Kultur –, welches ein Forschungsinstitut war, umgewandelt wurde. Das GINChUK gliederte sich in fünf Abteilungen; Malewitsch war der Leiter der formaltheoretischen Abteilung. Das Institut wurde 1926 aufgelöst.

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Malewitsch war bereits seit 1918, während seiner Tätigkeit an den Ersten Kunstwerkstätten Moskau (SWOMAS), die 1920 in die Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten (VChUTEMAS) umbenannt wurden,349 daran interessiert, eine künstlerische Tätigkeit zu entwickeln, deren Ziel die eine Reflexionsform war, in der das Künstlerische als Wissenschaft verstanden wurde, die wiederum über Künstlerisches reflektiert, um diese Ergebnisse sodann zunächst in einer neuen Unterrichtsform als pädagogische Praxis umzusetzen und später in andere Wissensbereiche diffundieren zu lassen. Diese neue Form der künstlerischen Tätigkeit und ihre Vermittlung sollte idealerweise gänzlich ohne außerkünstlerische Einflüsse und Bezugnahmen geschehen.350 Ein neues Selbstverständnis künstlerischer Praxis macht es möglich, „geschmäcklerischen Methoden vom Typ ‚gefällt – gefällt nicht‘ eine wissenschaftliche Herangehensweise gegenüber (zu stellen)“ mit der „die alte Vorstellung vom Maler (schwindet) und an dessen Stelle der Maler als Wissenschaftler (tritt)“, schreibt Malewitsch und formuliert damit eine der signifikanten Forderungen des GINChUK an den Künstler und die progressive künstlerische Tätigkeit. 351 Malewitsch formulierte in diesem Sinn folgende Aufgabenstellung für die institutionelle Forschungsarbeit: „Das Institut für künstlerische Kultur ist eine Einrichtung, in der wissenschaftliche Forschungsarbeit verrichtet wird auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Begriffsbestimmungen verschiedener Arten künstlerischen Schaffens. Das Institut für künstlerische Kultur hat zum Ziel:

349 Um 1920 gründete sich um Malewitsch ebenso die Gruppe UNOWIS – Verfechter der neuen Kunst. 350 Vgl. dazu: Chan-Magomedov, Selim O.: Vhutemas. Moscou 1920-1930, 2 Bde., Paris 1990. 351 Malewitsch, Kasimir S.: ‚Notizbuch‘, hier zitiert nach: Schadowa, Larissa A.: Das Staatliche Institut für Künstlerische Kultur (GINCHUK) in Leningrad, in: Probleme der Geschichte der sowjetischen Architektur. Sammelband wissenschaftlicher Artikel, Moskau 1978, Heft 4, S. 26. Siehe zum weiteren Verlauf des Zitats das Kapitel ‚Umkehrungen‘. Das Notizbuch befindet sich im Malewitsch-Archiv im Stedelijk Museum in Amsterdam. Vgl. Wiese, Stephan von: Vorwort. Zwei Standpunkte. Kasimir Malewitsch und das Bauhaus, in: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler, Frankfurt am Main/Berlin 1980 (Neue Bauhausbücher), S. VXIX, hier S. XIII.

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a) Wissenschaftliche Erforschung (Analyse) und wissenschaftliche Formulierung verschiedener Kulturarten im Bereich der Kunst. b) Wissenschaftliche Erforschung auf dem Gebiet der Einwirkung vorhandener Kulturarten auf den Menschen und seine Abhängigkeit und Verhaltensweise gegenüber dieser oder jener auf ihn einwirkenden Art, 1. in seinem Bewußtsein, 2. am Grad seiner organisch-physischen Veränderungen, 3. in seiner Psyche. c) Wissenschaftliche Formulierung (formal wie theoretisch) dieser oder jener Erscheinung auf dem Gebiet der Kunst, der Schaffung der Art; die Gründe des Aufbaus, das System seines Aufbaus. Erforschung des Prozesses der Einwirkung der zusätzlichen Elemente auf ihn. Spektralanalysen; die Ideologie einer jeden Kunstart, aller Verhaltensweisen des Menschen.“352

Mit diesen Charakterisierungen ist eine entscheidende Wende für das Bild des Künstlers vollzogen: Seine Tätigkeit wird als eine wissenschaftliche verstanden, die – nicht mehr vornehmlich oder ausschließlich der ästhetischen Erfassung der Welt verpflichtet – nun forschend vorangeht und somit Grundlagenforschung explizit aus der künstlerischen Arbeit heraus – und vornehmlich für den Zusammenhang der Erforschung der Sinnes- und Wahrnehmungstätigkeit des Menschen – erbringen sollte. „Der Suprematimus ist [...] eine neue Methode des Wissens, dessen Inhalt die eine oder andere Empfindung sein kann“, schreibt Kasimir Malewitsch in einem Brief an Konstantin Roschdestwenskij.353 Damit kommentiert Malewitsch die Veränderung, die dem Suprematismus in seinem eigenen Werk als auch für alle anderen

352 Das Manuskript lautet weiter: „Schlußfolgerungen und Methoden der pädagogischwissenschaftlichen ...“ An dieser Stelle bricht das Manuskript ab. Es handelt sich bei diesen Notizen um Formulierungen, die in ein von Malewitsch in Berlin hinterlassenes Notizbuch von einer anderen Person in deutscher Sprache eingetragen wurden, wobei davon auszugehen ist, dass Malewitschs Originalformulierungen gefolgt wurde. Vgl. Wiese, Stephan von: Vorwort. Zwei Standpunkte. Kasimir Malewitsch und das Bauhaus, in: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler, Frankfurt am Main/Berlin 1980 (Neue Bauhausbücher), S. V-XIX, hier S. XIII. 353 Malevič, Kazimir: Suprematismus. Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Gaßner, Hubertus/Gillen, Eckhart (Hg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 79-81, hier S. 80.

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künstlerischen Zusammenhänge zukommt. Von einem System der Malerei entwickelt sich der Suprematismus hin zu einer wissenschaftlichen Methode, in der genau über bzw. mit Malerei (und später der Architektur) das Potential angelegt ist, Aussagen zu treffen, die für die Wahrnehmungswissenschaft relevant sind. Von großer Bedeutung ist es hier, dass die Malerei Auskünfte über spezifische Formen der Wahrnehmung und Empfindung geben kann, die sich gerade nicht versprachlichen lassen. Suprematismus beruht für Malewitsch auf der Überzeugung, dass sich nur durch die bildende Kunst seelische Zustände und Empfindungen ausdrücken lassen, bzw. es nur auf diesem Weg möglich ist, ihnen einen allerersten Ausdruck zu geben. Suprematismus ist für ihn das Reich reiner Empfindungen, dass sich durch malerische Elementarisierungsprozesse354 erreichen lässt, in denen es also darum geht, durch Prozesse der stetigen Zerlegung jene Faktoren zu entbergen, die dem Auge verborgen bleiben mussten, da sie durch Konventionen und Repräsentationen der Darstellung überlagert waren. Um genau zu diesem Ort der reinen Empfindung zu gelangen, plädiert Malewitsch für ein ‚Optisch-Unbewußtes‘ avant la lettre, das sich für ihn in der Malerei durch den Einsatz von Verfahren der Objektreduktion ergibt. Dieser Prozess geht einher mit der Betonung der Intuition und Inspiration als Fähigkeiten, die zum einen den Künstler als eine in spezieller, bzw. ansonsten unzugänglicher, Weise empfindende Person kennzeichnen. Zum anderen ermöglicht die Erforschung von Empfindungen und Emotionen den Künsten, Inspiration und Intuition als jene Bereiche zu markieren, die den Wahrnehmungs- und Lebenswissenschaftlern durch die analytische Haltung, die das 19. Jahrhundert auszeichnete, nun fehlt und die als eine genuine Fähigkeit der Kunst verstanden wird. Dabei werden Einbildungskraft, Introspektion und das Vermögen der Intuition und Inspiration zu unabdingbaren Grundlagen psychophysischer Bedingungen der Wahrnehmung und Empfindungen.

354 Siehe zum Begriff der Elementarisierung: Münz-Koenen, Inge: Kreuzwege und Fluchtpunkte. Malevičs Reise nach Berlin, in: Asholt, Wolfgang et al. (Hg.): Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das Andere. Festschrift für Walter Fähnders zum 60. Geburtstag, Bielefeld 2004, S. 193-219.

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Diese spezifisch künstlerischen Fähigkeiten sind dabei weniger irrational, willkürlich oder emotional, sondern eher sensitiv vorrational und unterschwellig:355 Betont wird somit die Energetik einer speziellen Sensibilität, die sich durch die Rezeption ‚reiner‘, im vor- oder unbewussten liegender Sinneseindrücke ergibt. Der Künstler wird somit zum révélateur, enthüllt also das der dinglichen Welt Entzogene und stellt es durch das suprematistische Verfahren der Objektzerlegung dar. Gegenstand dieser Diskussionen waren häufig Wertigkeit und Wirkung der Farbe, denn es stand nichts Geringeres auf dem Spiel, als durch einen stetigen Vergleich von künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis anhand dieses sich etablierenden epistemologischen Apriori der Wahrnehmungsfähigkeit die psycho-physischen Bedingungen des Zusammenhangs von Empfinden, Wahrnehmen und Denken zu definieren. Mit dem Rückgriff auf das Bild des Malers als révélateur nimmt Malewitsch auf einen Begriff der Malkunst Bezug, der sich an jenen der Lebenskunst anbinden lässt. Dann jedoch wird die alte griechische Bezeichnung für Kunst rehabilitiert, nach der Kunst – also das zoon – immer schon etwas Lebendiges ist. Das Bild ist dann eben genau kein statisches Ab-Bild mehr, sondern ihm eignet eine permanente Prozessualität und Potentialität, ein Eigenleben, das sich immer dort zeigt, wo keine Sprache mehr hinreicht – in jenem schmalen Zwischenfeld zwischen Signifikat und Signifikant, welches überhaupt erst eine Projektionsfläche bieten kann für jenes, was in reiner Form zur Erscheinung kommen soll. Für die Kunsttheorie Malewitschs hat die Kunst das größere Vermögen, jene die Sinne des Menschen affizierenden Ereignisse zu vermitteln, weil sie neben den rationalen bzw. kalkulierbaren Aspekten – die sie mitunter durch reines Handwerk beherrscht – eben auch über das unverzichtbare Potential einer ästhetischen Erfahrung verfügt, die sich mit Phantasie und Einbildungskraft, d. h. mit bildnerischem Denken verbindet. Es geht also um zwei Formen der Sinnlichkeit: um ein äußeres Sehen, das sich z. B. mit dem Impressionismus in Verbindung bringen lässt, und um ein inneres Sehen, dessen Fähigkeit der anschaulichen Vorstellung erforscht werden sollte. Die Frage nach dem Zusammenspiel von Sehen, Wahrnehmen und Denken verband sich also unauflösbar mit der Wirkung von Emotionen und Einbildungskraft. In diesem Sinne kann die theoretische Erörterung Malewitschs, die sich strikt aus der Kunst heraus entwickeln lässt, als eine Kunstphilosophie gelten, jener Art, die

355 Vgl. Groys, Boris/Hansen-Löve, Aagen (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main 2005, S. 237.

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ihre Aufgabe darin sieht, konkrete Aussagen über Wahrnehmungsprozesse zu erlangen und somit Aktualität für Diskussionen, die bis heute über Wahrnehmungen anhalten. Relevant wurde also die Optimierung des konstruktiven Vermögens künstlerischer Forschung. Dies hatte jedoch zur Folge, das die künstlerische Praxis nicht mehr an ein Apriori des Sichtbaren gebunden war: Sichtbarkeit wurde zugunsten des Denkbaren zurückgestellt. Somit wurde die Überzeugung zurückgewiesen, dass Sichtbarkeit allein Wahrheit oder Erkenntnis vermittelt. 356

E XKURS: M ENTALE B ILDER 357 In einem Notizbuch aus dem Nachlass Ludwig Wittgensteins stellt der Philosoph eine Frage, deren Erkenntnisgehalt ihn nachhaltig beschäftigt haben muss; so sehr, dass sie ihm zu einem Wiedergänger wird und mit der – Wiedergängern eignenden – sowohl irritierenden wie penetrierenden Wirkmächtigkeit Wittgensteins Denken – und gleichermaßen seine Reflexivität über das eigene Wahrnehmen – so sehr umtreibt, dass die Frage gleich in zwei weiteren Manuskripten erneut erscheint.358 Im ersten Notizbuch, zwischen dem 24. März und dem 12. April 1950 verfasst, findet sich also erstmals jene insistierende Frage, die zwischen Bemerkungen über Farbe und Farbbegriffen zunächst aufscheint, um sodann bestimmender Parameter für ein Denken zu werden, das Denkpassagen zum Verhältnis von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ leitet:

356 Vgl. Reck, Hans Ulrich: Kunst als Kritik des Sehens. Zu Problemen des Bildbegriffs in (der Sicht) der Kunst, in: Breidbach, Olaf/Clausberg, Karl (Hg.): Video ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften. Interface 4, Hamburg 1999, S. 235-256, hier S. 238. 357 Vgl. Flach, Sabine: On Twilight, in: Flach, Sabine/Söffner, Jan (Hg.): Habitus in Habitat II. Other Sides of Cognition, Bern u. a. 2010, S. 31-47. 358 Das erste Notizbuch wurde von Georg Henrik von Wright als MS 173 klassifiziert. Derselben hier gestellten Frage ist Wittgenstein auch nochmals in den Notizbüchern MS 174 und 176 nachgegangen. Vgl. dazu präzise: Macho, Thomas: ‚Ist mir bekannt, daß ich sehe?‘ Wittgensteins Frage nach dem inneren Sehen, in: Belting, Hans/Kamper, Dietmar: Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 211-229.

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Die Frage, kurz aber wirkmächtig lautet: „Ist mir bekannt, daß ich sehe?“359 Sie findet sich in den Aufschreibungen Wittgensteins seltsam allein – aus der Ferne nur wird sie sekundiert von zwei weiteren Überlegungen, die zudem eng aufeinander bezogen scheinen. Sie lauten: „Könnte in einer Psychologie der Satz stehen: ‚Es gibt Menschen, welche sehen‘?“ und „Man könnte sagen wollen: Wenn es solche Menschen nicht gäbe so auch den Begriff des Sehens nicht.“ In ihrer Bezugnahme aufeinander umrundet die kleine Konversation über die Menschen und ihr Sehen unsere Frage und pointiert sie somit, hebt sie hervor. Denn während es offensichtlich scheint, dass die Frage, ob es wohl Menschen gäbe, welche sehen können, eine Außenperspektive einnimmt, deren Blickwinkel auf die Menschen und ihre Vermögen immer schon eine deskriptive Fremdwahrnehmung ist, richtet sich Wittgensteins Denkanstrengung an ihn selbst – bzw. an uns –, sofern wir diese Frage lesen und sie uns aneignen. Die Frage „Ist mir bekannt, daß ich sehe?“ impliziert also eine eminente Selbstwahrnehmung. Darüber hinaus jedoch spannt sie einen Konnex zwischen den Worten ‚bekannt‘ und ‚Sehen‘: Denn weit über die Bedeutung von ‚bekannt‘ im Sinne von ‚vertraut sein‘ hinaus, impliziert das von Wittgenstein verwendete ‚bekannt‘ hier explizit seine etymologische Wurzel, die das ‚Kennen‘ – als eine Form des Wissens – immer schon mit dem ‚Erkennen‘ – als einer Form der Wahrnehmung verbindet – und so nicht nur die Verwobenheit von Wissen und Wahrnehmen bezeugt, sondern diese Frage vorallem bewusstseinstheoretisch weitet: auf das „Verhältnis von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘, von ‚Sehen‘ und ‚Denken‘.“360 Die Frage, die sodann jedoch aufscheint, ist: Welcher Art ist ein Sehen, welches beständig zwischen ‚Außen‘ und ‚Innen‘ oszilliert? Welches Korrespondenzphänomen von äußeren Gegebenem und inneren Erscheinendem wird damit beschrieben?

359 Vgl. zu den folgenden Ausführungen über Wittgensteins Frage ausführlich: Macho, Thomas: ‚Ist mir bekannt, daß ich sehe?‘ Wittgensteins Frage nach dem inneren Sehen. in: Belting, Hans/Kamper, Dietmar: Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 211-229. 360 Macho, Thomas: ‚Ist mir bekannt, daß ich sehe?‘ Wittgensteins Frage nach dem inneren Sehen, in: Belting, Hans/Kamper, Dietmar: Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 211-229, hier S. 212.

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Damit wird von Wittgenstein die Frage nach dem mentalen Bild umkreist und genau an dieser Stelle zeigen sich die Erörterungen des Exkurses relevant für die Erörterung der Entstehung und Wirkmächtigkeit der künstlerischen Theorien zum Verhältnis von Wahrnehmung und Empfindung, wie sie von den Avantgardekünstlern geführt wurden. Wittgensteins Überlegung – verstanden als ein probeweises ‚Bildspiel‘ – konfiguriert also jenen inneren Bildsinn, der in der visuellen Konfiguration Sinn zu erkennen vermag.361 Sobald unstrittig ist, dass es zu den Vermögen des Menschen gehört, in Bildern zu denken, stellt sich die Frage nach deren Konstituiertheit in aller Schärfe: Gibt es ein inneres und ein äußeres Sehen? Und wäre das optische Sehen – als das Sehen von Gegenständen und Personen – dann ein Sehen erster Ordnung, während Bewusstsein – also Selbstbeziehung oder Reflexion – ein Sehen zweiter Ordnung definieren würde? Und spricht man im Zusammenhang der mentalen Bilder gerne auch weniger vom Sehen als vom Vorstellen und damit vom Empfinden,362 so gleicht all diesen Beschreibungen um die Fähigkeit, Vorstellungsbilder zu erzeugen, häufig genug die Erzeugung einer Distinktion: einer Abgrenzung zwischen einem „Ich-Bewußtsein“ von einem „Aufmerksamkeits-Bewußtsein“.363 Das „Ich-Bewußtsein“ wird hierbei definiert als: „Gefühl, daß ich es bin, der etwas tut und erlebt und daß ich wach und ‚bei Bewußtsein‘ bin“ und dabei differenziert von einem Bewusstsein, welches „sich auf bestimmte innere oder äußere Geschehnisse richtet wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Erinnern oder Vorstellen.“ Im Unterschied zum ‚IchBewußtsein‘ sei dieses zweite Bewusstsein „eng der Aufmerksamkeit verbunden

361 Boehm, Gottfried: Augenmaß. Zur Genese ikonischer Differenz, in: Boehm, Gottfried/Mersmann, Birgit/Spies, Christian (Hg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 15-43. 362 Vgl. dazu: Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main 1996. 363 Vgl. dazu: Macho, Thomas: ‚Ist mir bekannt, daß ich sehe?‘ Wittgensteins Frage nach dem inneren Sehen, in: Belting, Hans/Kamper, Dietmar: Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 211-229; Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main 1996.

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oder gar identisch mit ihm: je stärker die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Geschehen gerichtet ist, desto bewußter ist es.“364 Will man jedoch die Frage klären, was das ist und wie es um diese Fähigkeit bestellt ist, mentale Bilder erzeugen zu können, mit ihnen und durch sie hindurch zu denken, so genügt es weder, jene Distinktion zwischen einem Innen- und AußenSchema des Sehens etablieren und aufrechterhalten zu wollen – dieser schlichte Antagonismus, der somit eingeführt wird, führt eben gerade nicht zur Präzision sondern zur Unpräzision des Sehvermögens, weil diesem Trennungsakt zu viel entgeht –, noch genügt es, mentale Bilder auf rein optische Bewusstseinstheorien zu beziehen und Sehen somit auf einen physiologischen Prozess einzuschränken; dies wäre – so die folgende Argumentation – vielmehr eine unzulässige Reduktion. Es gilt vielmehr, dieses Sehen an einen Begriff des Visuellen anzuschließen, der sich – im Sinne Georges Didi-Hubermans – zurückführen lässt auf seine Ursprünglichkeit der Bedeutung: visio. In dieser Vorstellung des Sehens ist der eigentliche Bildsinn jedoch nicht nur das Auge, – daher kann man ja auch mit geschlossenen Augen sehen – sondern der Sinn für das Visuelle – und damit Bildhafte – selbst; und schließt dann Formen der Imagination, der Einbildung und Einfühlung immer schon ganz selbstverständlich ein. Diesem Sinn sind dann jedoch die genannten Distinktionen wesensfremd. „Man müßte also zurückkehren in das Diesseits des wiedergegebenen Sichtbaren (représenté), nämlich zu den Bedingungen des Blickens, des Vorführens (présentation) und einer Gestaltbarkeit. […] das Visuelle365 […] wäre der neu einzuführende Terminus, der sich vom Sichtbaren (als einem Element der Wiedergabe [représentation] im klassischen Sinne des Wortes) wie vom Unsichtbaren (als einem Element der Abstraktion) abhebt. […] Das Wesen des Visuellen neigt dazu, uns den ‚normalen‘ (besser gesagt: üblicherweise übernommenen) Bedingungen sichtbaren Erkennens zu entziehen.“ 366

364 Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main 1996, S. 213 f. Das Zitat lautet weiter: „Wir wollen diesen Zustand das Aufmerksamkeits-Bewußtsein nennen. Das Bewußtsein des eigenen Ich und der personalen Identität bildet hierzu einen ständig vorhandenen Hintergrund.“ 365 Didi-Huberman, Georges: Vor einem Bild, München 2000, S. 24, erste Kursivierung S. F. 366 Ebd., S. 25, Zitatverlauf S. 25 unten und S. 26.

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Zudem gilt es in der Expedition, das Mentale zu verstehen, eine doppelte Bewegung auszuführen: Angenommen, dass dem Mentalen eine grundlegend ikonische Struktur eignet, gilt es ebenso, den – im Mentalen wie in der Vorstellung – mitgeführten Bildbegriff einer Revision zu unterziehen. Einer Revision, die ihn abzieht von einer simplifizierenden Bezugnahme auf Gegenstände der äußeren Welt und hinführt zu einem Bildbegriff, der die Wesenseigenheiten des Bildes selbst umfasst und somit über das optische Phänomen ‚Bild‘ weit hinausreicht. Bilder dieser Art sind jedenfalls weder rein retinale Phänomene, noch ist das Bild hier eine Repräsentation als Blick auf das eigene Ich, das es sodann ermöglicht, die Seele erblicken zu können, um sich überhaupt als Erkenntnisorgan konstituieren zu können.367 Es geht also darum, eine Dimension zu eröffnen, in der das Sehen selbst einen optischen Mehrwert erhält und das Wissen die Gewissheit, dass Kunst nicht notwendig das Sichtbare wiedergibt, sondern vielmehr jenes, was man zuvor nicht gesehen hat. In diesem Sinne verweist eine bildnerische Praxis nicht nur auf etwas, sondern sie zeigt sich allererst auch selbst. Das Wesen des Bildes spielt also in einer Differenz. Es kann weder schlicht wie ein Stück Realität betrachtet werden, noch darf sich der Blick schlicht im Dargestellten verlieren; somit enthält ein Bild als solches immer schon eine innere Reflexion und den Ansatz zur Thematisierung von Wahrnehmungsweisen. Wenn das Wesenseigene des Bildes im Austragen der Spannung besteht, die sich zwischen dem Medium der Darstellung und dem Dargestellten ergibt, dann erst lässt sich der Zusammenhang erörtern nach den spezifischen Bedingungen, die Sichtbarkeit allererst erzeugen, d. h. den Voraussetzungen der bestimmten Konstruktionen für Sichtbarkeit. 368 Folgt man diesen Exemplifikationen, dann schließt sich ein solcher Bildsinn immer schon an eine doppelte Sichtbarkeit an, die sich im Wesentlichen im Ikonischen verwaltet sieht: dem Verhältnis zwischen Sichtbarem und Gemeintem, des

367 Macho, Thomas: ‚Ist mir bekannt, daß ich sehe?‘ Wittgensteins Frage nach dem inneren Sehen, in: Belting, Hans/Kamper, Dietmar: Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 211-229, hier S. 221 f. 368 Vgl. dazu: Flach, Sabine: Körper-Szenarien. Zum Verhältnis von Bild und Körper in Videoinstallationen, München 2003. Zum Zusammenhang von Medienspezifik des Bildes und Konstruktionen der Sichtbarkeit: Spielmann, Yvonne: Schichtung und Verdichtung im elektronischen Bild, in: Spielmann, Yvonne/Winter, Gundolf (Hg.): Bild – Medium – Kunst, München 1999, S. 59-75.

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Sich-Zeigens und des Gezeigten.369 Dann aber ist für diesen Bildsinn nicht primär das Auge der verwaltende Sinn, sondern eine solche Wahrnehmung generiert sich wesentlich atmosphärisch. Wie nun aber lassen sich innere Bilder denken, wenn man abwendet, dass sich damit unberechtigte Substantialisierungen eines prinzipiell Immateriellen verbinden? Ist es unzweifelhaft, dass Wahrnehmungsvorstellungen immateriell sind, so ist damit nicht gesagt, dass Wahrnehmungen als Vorstellungen nicht Struktureigenschaften besitzen, welche man von Bildern kennt. Und wer aber nun dem Mentalen ein Bild geben will, der muss sich allererst auf die Strukturmomente des Bildes selbst verpflichten: so für das statische Bild auf Formverhältnisse und das Empreinte.370 Die gemeinsame Eigenschaft von Vorstellungen und Darstellungen besteht also nicht in Bezug auf ein materielles Bild – sehr wohl aber ist der gemeinsame Bezugspunkt im Visuellen zu suchen: Denn mit und durch eine Anschauung sieht man nicht im Bewusstsein Bilder, sondern eine visuelle Anschauung ist zunächst das Bewusstsein von etwas Gesehenem – und dies kann bildlich sein. Wenn man also innere Bilder gar nicht erst dazu verwendet zu erklären, dass man etwas sieht, so lässt sich aber mit ihnen sehr wohl erklären, wie man in einer Wahrnehmung etwas sieht.371 Wahrnehmungen sind, dies ist ein Gemeinplatz, Resultate der Tätigkeit eines Subjekts. Versteht man nun innere Bilder als die Produkte eines Subjekts, so ist dieses dann ein ganz bestimmtes, sich in einem je spezifischen Zustand befindendes, individuelles Subjekt372 und genau dieses zeigt sich in jenen Bildern, die von diesem Subjekt erstellt werden. Eine aktive Gestaltung also, in der eine Wahrnehmung sich nur auf etwas richten kann, das in eine bildliche Form gebracht wurde: es geht also nicht um den Inhalt, sondern der Vergleich zwischen einer Darstellung und einer Wahrnehmung oder Vorstellung bezieht sich auf die strukturelle

369 Boehm, Gottfried: Augenmaß. Zur Genese ikonischer Differenz, in: Boehm, Gottfried/Mersmann, Birgit/Spies, Christian (Hg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 15-43, hier S. 33. 370 Für das bewegte Bild auf Pulsierungen, Prozesse, Rhythmen und Takte, siehe das Kapitel zum abstrakten Film. 371 Vgl. dazu: Wiesing, Lambert: Vom cogito zum video. Die bewußtseinstheoretische Bedeutung des Sehens nach René Descartes, in: Breidbach, Olaf/Clausberg, Karl (Hg.): Video Ergo Sum. Repräsentationen nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften. Interface 4, Hamburg 1999, S. 134-146, hier S. 140. 372 Vgl. dazu: ebd., hier S. 141.

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Weise der Anschauungen. Das heißt also, in ihrem immanenten Aufbau zeigen Wahrnehmungsvorstellungen stilistische Strukturen, die man von den Bildern her kennt. Wenn man so will, geht es also um spezifische Stileigenschaften eines solchen erweiterten Sehens, ohne die es überhaupt nicht zu einer Wahrnehmung von etwas kommen kann, oder, wie Maurice Merleau-Ponty kurz und präzise formuliert: „Die Wahrnehmung stilisiert schon!“ Dieser Verweis auf die Strukturähnlichkeit von Bildern und Wahrnehmungen verweist jedoch auf eine Bedingung, die für das mentale Bildvermögen konstitutiv ist: zwischen der Art der Wahrnehmung – also jenem, das Merleau-Ponty ‚Stilisieren‘ nennt – und dem wahrnehmenden Subjekt – also dem Sehenden – besteht ein Wechselverhältnis. Diese Form der Wahrnehmung aber reicht über jene der klassischen Phänomenologie hinaus, insofern, als sie weit mehr ist, als ein rein intentionaler Bezug zu klären vermag: Solche Formen der Wahrnehmung sind nicht nur Wahrnehmungen von etwas, sondern sie sind einerseits gegenüber der Intentionalität autonom, was heißt, dass die Art, wie man sieht, unabhängig davon ist, was man sieht. Andererseits ist diese Form der Wahrnehmung immer schon dynamisch, das heißt, man sieht nicht nur wandelnde Dinge, sondern diese zudem in sich ständig wandelnden Stilisierungen.373 Solches Sehen ist also ohne personales Subjekt nicht denkbar – und umgekehrt: Diese Beziehung zeigt, dass etwas „nur gesehen werden kann, wenn man […] in stilistischer Weise sieht und daß sich in dieser ein personales Ich ausdrückt, weil die stilistische Weise aus der Konstitution und Haltung, aus der Zuständlichkeit und Einstellung des Sehenden hervorgeht. Zum Sehen gehören immer Strukturierungen […] und Gewichtungen.“374

Die Konklusion lautet also, dass sich in solcher Stilisierung der Wahrnehmung das Subjekt zeigt, das heißt: „das momentane und individuelle Ich einer Person“375 – womit die Distinktion zwischen einem ‚Außen‘ und einem ‚Innen‘, die diesen

373 Vgl. dazu: Wiesing, Lambert: Vom cogito zum video. Die bewußtseinstheoretische Bedeutung des Sehens nach René Descartes, in: Breidbach, Olaf/Clausberg, Karl (Hg.): Video Ergo Sum. Repräsentationen nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften. Interface 4, Hamburg 1999, S. 134-147, hier S. 142. 374 Vgl. dazu: ebd., hier S. 143. 375 Vgl. dazu: ebd., hier S.142.

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Exkurs eingeleitet haben, negiert werden kann, ohne sie unterschiedslos ineinander konfundieren zu lassen. Erweist sich, dass das sehende Subjekt die Art und Weise bestimmt, wie ein inneres Bild aufgebaut wird376, und dass somit das Wie der Wahrnehmung immer zugleich auch die Aussage über Eigenschaften einer Person darstellt, dann lässt sich ein mentales Bild – und dies wäre die Definition – als einen Prozess beschreiben: Ein mentales Bild wäre dann ein permanentes distinktes Oszillieren: ein Schwingen, das einen Echoraum entstehen lässt, durch Pendelbewegungen zwischen einem wahrnehmenden Subjekt und den Explorationen seiner inneren Empfindungen hervorgerufen.

2 D IE T HEORIE DES ADDITIONALEN E LEMENTS BZW . E RGÄNZUNGSELEMENTS In Malewitschs Lithographieheft Suprematismus. 34 Zeichnungen findet sich ein Eintrag, der den Übergang seiner malerisch gemachten Erfahrung hin zu seiner Wahrnehmungstheorie markiert. Am 15. Dezember 1920 schreibt Malewitsch: „Das von mir gemalte weiße Quadrat ermöglichte es mir, dieses zu analysieren und ein Heft zur ‚reinen Handlung‘ zu verfassen. Das schwarze Quadrat definiert die Ökonomie der Mittel, die ich als 5. Dimension in die Kunst eingeführt habe. [...] Ich habe mich in die für mich neue Welt des Denkens zurückgezogen und werde im Rahmen meiner Möglichkeiten meine Erkenntnisse über den unendlichen Raum des menschlichen Gehirns darlegen.“377

Seit dem Beginn der 1920er Jahre stand für Kasimir Malewitsch weniger die malerische, als die theoretische Reflexion über künstlerisches Wissen im Zentrum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Als Leiter eben jener bereits erwähnten Abteilung für Malkunst (ab 1926 Formtheoretische Abteilung) des Institutes für künstlerische Kultur (GINCHUK) entwickelte er aus dem Suprematismus heraus

376 Vgl. dazu Wiesing, Lambert: Vom cogito zum video. Die bewußtseinstheoretische Bedeutung des Sehens nach René Descartes, in: Breidbach, Olaf/Clausberg, Karl (Hg.): Video Ergo Sum. Repräsentationen nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften. Interface 4, Hamburg 1999, S. 134-147, hier S. 143. 377 Malevič, Kazimir S.: Der Suprematismus. Hier zitiert nach der dt. Übersetzung, in: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarden in Mittel- und Osteuropa [Ausst.Kat.], Bd. III, Berlin 1994, S. 181 f., hier S. 182.

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die Theorie des additionalen Elements378 in der Kunst, die zugleich programmatischen Charakter für das gesamte Institut erhielt: der analytische Zugriff auf die künstlerischen Ausdrucksformen der Moderne und die Erforschung der ‚Evolutionsgeschichte‘ der Künste. Die konkreten Untersuchungen wurden in zwei Laboratorien durchgeführt: im Farblaboratorium, in dem die Zusammenhänge von Farbe, Farbton, Malerei und Licht untersucht wurden, und im Formlaboratorium, der Abteilung zur Untersuchung von Linie, Volumen, Komposition und Konstruktion einer künstlerischen Arbeit. Die zusammenfassende Darstellung der Systeme lag in der Arbeit des Theoretischen Studios, das für jedes System einen ‚Normaltyp‘ festlegte. Mit diesen Kenntnissen der Einzelsysteme und des Organisationsprinzips des Ganzen konnte das gewonnene Modell als eine Messskala eingesetzt werden. Danach ließ sich im Anschluss jedes beliebige Werk als zum System gehörig klassifizieren. Am 19. März1925 hielt Malewitsch auf dem Plenum der physisch-psychologischen Abteilung der Russischen Akademie einen Vortrag, in dem er seine Typologie erläuterte: „Für Cézannes Werk ist eine lockere Malkonsistenz mit einer charakteristischen faserigen Linie typisch, die ihr eigenes Farbspektrum hat und Cézannes gesamte Kultur formelhaft zusammenfasst. Für den Kubismus ist eine sichelförmige Linie typisch, die auf das Besondere kubistische Gesetz kontrastierender Kombination der die kubistische Kultur ausmachenden Elemente verweist. Was dieses kubistische Gesetz auszeichnet, ist die Kombination von zwei kontra-symmetrischen Elementen: Gerade und Kurve. Infolgedessen betrach-

378 Die Einführung in die Theorie des additionalen Elements ist ein auf 1923 datiertes Manuskript, dessen Publikation 1926 am Institut für künstlerische Kultur in Leningrad vorgesehen war. Vorhanden sind Fahnenabzüge der russischen Originalversion. Das Buch sollte mit weiteren Texten von anderen Mitarbeitern des Instituts versehen werden, wurde jedoch in Russland nie gedruckt. Das Manuskript stellte lediglich ein Kapitel – beziffert I/45 – einer Publikation mit dem Titel Die gegenstandslose Welt dar. Troels Andersen gelang es 1976, aus hinterlassenen Manuskripten in englischer Übersetzung die Publikation teilweise zu rekonstruieren. Das Kapitel I/45 der gekürzten Bauhaus-Fassung erschien bereits 1959 auf der Grundlage des deutschen Textes in Chicago. Vgl. Wiese, Stephan von: Vorwort. Zwei Standpunkte. Kasimir Malewitsch und das Bauhaus, in: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher), S. V-XIX, hier S. XIII; vgl. ferner: Andersen, Troels: K. S. Malevich: The World As Non-Objectivity. Unpublished Writings 1922-1925, Kopenhagen 1976.

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tet der Maler die Gegenstände nicht, wie sie sind, sondern als Summe kontrastierender Elemente, wobei alle anderen Elemente wegfallen; das ist der Grund, warum einige Elemente des Gegenstands auf der Abbildung fehlen. Anstelle der weggefallenen Elemente werden neue geradlinige und kurvenförmige Elemente als neues Kontrastelement eingeführt. Letzteres gibt der kubistischen Zeichnung ihr geschlossenes Aussehen. Der im Kubismus anzutreffenden sichelförmigen Linie entspricht eine bestimmte Farbskala. Der Suprematismus hat eine besondere Gerade mit einem für sie typischen dynamischen Zustand, mit dem auch ihre Farbgebung zusammenhängt: einen entspannten Zustand markiert eine intensivere Farbgebung, einen angespannteren Zustand, eine Rücknahme der farblichen Intensität, weshalb die suprematistische Zeichnung im letzten Stadium der Kolorierung völlig farblos ist.“379

Erarbeitet wurde also eine Typologie der Kunstsysteme, durch die Abweichungen erkennbar werden, denn „jedes Malsystem (...) besitzt ein spezielles Element, das im Vergleich zu den vorigen Systemen hinzukommt.“380 Im Zentrum der Theorie Malewitschs steht also nicht das Werk, sondern jene Faktoren im Kunstwerk, die Rückschlüsse über den Prozess der Herstellung, über Methoden und Verfahren, also letztlich über das Malverhalten zulassen, denn „[das] additionale Element hat die Gestalt einer Formel oder eines Zeichens, das auf die gesamte Zusammensetzung und das die Elemente verbindende Bauprinzip verweist.“381 Auf diese Weise konnte auch der Grad der Beeinflussung durch andere Systeme bzw. neu entwickelte Elemente festgelegt werden. Das Ziel der Arbeit Malewitschs lag in der wissenschaftlichen Erforschung künstlerischer Kreativität durch die Beobachtung der künstlerischen Produktion selbst, so dass sich Analogien zu den Forschungen der zeitgenössischen Gestaltpsychologie ergaben – die

379 Malewitsch, Kasimir S.: Staatliches Zentralarchiv der Oktoberrevolution, Leningrad, ZGAORL: F. 2555, Op. 1, D. 805, L. 216. Hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 50. 380 Malewitsch, Kasimir S.: Staatliches Zentralarchiv für Literatur und Kunst, ZGALI: F. 645, Op. 1, D. 221, L. 127. Hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 42. 381 Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Leningrad, LGALI: F. 244, Op. 1, D. 69, L. 21. Es handelt sich um eine handschriftliche Hinzufügung Malewitschs zum Plan der Abteilung Malkunst für das Jahr 1926/27. Hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 42.

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aktuellen Forschungen gehen hier davon aus, dass Malewitsch in Berlin Gestaltpsychologen wie Wertheimer oder auch Köhler getroffen und mit ihnen seine Theorie diskutiert hat.382 Die Anwendung der Theorie des additionalen Elements ermöglichte es unter Umgehung von traditionellen Analysemethoden der Kunst, einen eigenen Suchimpuls für die Praxisfelder und die Wendepunkte der Kunst zu etablieren. Künstlerische Strategien sollten – so Malewitsch – durch analytische Forschungen an den Fundamenten des künstlerischen Produzierens erschlossen werden. Am Beispiel eines Vergleichs der „Malerei Rembrandts“, die „das Normale“ darstellt, mit dem „Kubismus [der] […] für die Gesellschaft das Unnormale“ ist, erläutert er kulturell tradierte Normvorstellungen von Sehweisen, die immer auch Wertvorstellungen intendierten. Der Kubismus, der durch die Abstraktion von der gegenständlichen Darstellungsweise eine neue Norm einführt – also das additionale Element, das „den gesicherten Ruhezustand“ stört – „ignoriert die naturalistische Proportion“383 und bringt Veränderungen mit sich; zunächst für das System der Kunst selbst, d. h. für die künstlerische Produktion. Darüber hinaus ist die Klassifizierung, die sich durch das additionale Element erstellen lässt, auch ein Seismograph für die ansonsten kaum nachvollziehbaren Anzeichen einer Veränderung im „Seelenzustand“ eines Künstlers, mit der sich diese „in verschiedene Arten“ oder „Zustände“384 einteilen lassen. Die Theorie des additionalen Elements erfüllte also eine mehrfache Funktion. Sie war Instrument zur Freilegung der Arbeitsweise eines einzelnen Künstlers sowie der Konstruktionsmerkmale moderner Kunst und ermöglichte gleichzeitig die

382 Vgl. dazu Malewitschs Reise nach Berlin im Jahr 1927. In einem Brief an Judin vom 07.05.1927 schreibt Malewitsch: „Was das Interesse bei der Demonstration unserer Arbeiten betrifft, so erfüllte es alle Erwartungen. Es waren auch Wissenschaftler da, sie haben es voll und ganz akzeptiert.“ Stephan von Wiese vermutet, dass es sich bei jenen Wissenschaftlern um die Schule der Berliner Gestaltpsychologie handeln könnte, wie z. B. M. Wertheimer, K. Koffka, K. Lewin oder auch W. Köhler. Vgl. Wiese, Stephan von: Vorwort. Zwei Standpunkte. Kasimir Malewitsch und das Bauhaus, in: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher), S. V-XIX, hier S. XVIII. 383 Wingler, Hans M. (Hg.): Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, Frankfurt am Main/Berlin 1980 (Neue Bauhausbücher), S. 12, 14. 384 Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Leningrad, LGALI: F. 244, Op. 1, D. 69, L. 22. Hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 51.

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Entschlüsselung der Gesetze und Triebkräfte der Geschichte der Kunst, war Beschreibungsmodus der Systemwechsel und Wechselwirkungen der Systeme. Malewitsch beschreibt die Theorie des additionalen Elements: „Das additionale Element hat die Gestalt einer Formel oder eines Zeichens, das auf die gesamte Zusammensetzung und das die Elemente verbindende Bauprinzip verweist.“ 385 Das additionale Element ist also das dynamische Prinzip eines Systems. In ein anderes System eingeführt, kommt es zum bis dahin bestehenden Elementenbestand hinzu und löst eine Umgestaltung dieses Systems auf einer neuen Grundlage aus. Kasimir Malewitsch formuliert die Erkenntnis: „Wir haben festgestellt, daß in der neuen Kunst jedes Malsystem sein typisches formbildendes Element besitzt, das dem Künstler dazu verhilft, die verschiedenen Formen der Empfindungen in diesen oder jenen Inhalt umzusetzen. Wir haben dieses Element Ergänzungselement oder deformierendes Element genannt, weil dadurch ein System in ein anderes verwandelt wird, zum Beispiel der Kubismus in den ‚Suprematismus‘.“ 386

Relevant an seiner Theorie war für Malewitsch zudem, dass mit ihr nicht nur kunstimmanente Prozesse erläutert werden konnten: Sein Ziel war es, ein System zu entwickeln, das, aus der Kunst kommend, kulturelle und besonders wissenschaftliche Veränderungen erklären kann. Diese Übertragungsfunktion gab der Theorie des additionalen Elements seine wissenschaftliche Legitimation. Indem nur der künstlerische Bereich mit seinen Methoden und Verfahren als angemessen erachtet wird, Empfindungen des Menschen zu untersuchen und zu analysieren, erhält die ästhetische Praxis nicht nur eine Funktion für eine wissenschaftliche Recherche – auf diese Weise findet auch ein markanter Systemwechsel statt: Kunst ist selbst Wissenschaft.387

385 Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Leningrad, LGALI: F. 244, Op.1, D. 69, L. 21. Hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, 40-58, hier S. 42. 386 Malewitsch, Kasimir S.: Einführung in die Theorie des Ergänzungselements, in: Shadowa, Larissa A.: Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 19101930, Dresden 1978, S. 109. 387 Die Bedeutung, die Malewitsch der Untersuchung der Empfindung zumisst, fand ihre Entsprechung in wissenschaftlichen Forschungen. So war Empfindung ein Zentralbegriff der Biopsychologie jener Zeit. 1912 erschien Wilhelm Wundts Grundzüge der physiologischen Psychologie auf Russisch.

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Dieses Verständnis künstlerischer Tätigkeit sucht Malewitsch sodann auch im Film umzusetzen und schlug Hans Richter, dessen absolute – also abstrakte – Filme er in Berlin erstmalig gesehen hatte, nach einer ersten Begegnung im Mai 1927 vor, gemeinsam einen Film zu erarbeiten, für den Malewitsch offensichtlich umgehend ein Drehbuch entwarf.388 Ausgangspunkt des Drehbuches ist die avantgardistische Malerei, die als Medium bislang am konsequentesten die Aufhebung des klassischen, tradierten Kanons visueller Perzeptionen betrieben habe. Ist für den Kubismus die Wendung der Fläche zum Raum kennzeichnend, so stellt etwa der Suprematismus die Möglichkeiten bereit, Empfindung ‚dreidimensional‘, also räumlich, zu erfahren. Der von Malewitsch geplante Film sollte genau dieses dreidimensionale Empfindungspotential ermöglichen, das heißt, die drei Grundelemente des Suprematismus – das schwarze und rote Quadrat, und der weiße Kreis – sollten in den Film übertragen ein Wahrnehmungserlebnis ermöglichen, mit dem durch die Bewegung der Quadrate Kreise mit verschiedenen Färbungen entstehen. Das Prinzip der Dynamik der Bewegung, das Malewitsch an dieser Stelle nutzt, führt auch das filmische Prinzip auf die Theorie des additionalen Elements zurück: Beständig neue Elemente entstehen aus den Subelementen vorangegangener Formationen. Dies entspricht exakt seiner Theorie: es wird auf diese Weise nämlich gerade keine Teleologie, keine Evolutionsgeschichte der Formen, Farben und Stile als ein grand récit künstlerischer Ausdrucksformen postuliert, sondern vielmehr gelingt es auf diese Weise auch vorangegangene Elementenkonstellationen zum einen umzucodieren und zum anderen die ihnen inhärenten, aber noch nicht sichtbaren strukturalen Momente der Veränderung zu entbergen – und also quasi gegen den historischen Ablauf der Zeit – erfahrbar zu machen.389

388 Von diesem Entwurf sind drei Blätter erhalten, bestehend aus geometrischen, farbigen Zeichnungen und handschriftlichen Vermerken. Siehe dazu: Bulgakowa, Oksana (Hg.): Das weiße Rechteck. Schriften zum Film, Berlin 1997. Der Film sollte – entsprechend der Ausdehnung von Zweidimensionalität in den Raum – den Titel Künstlerisch-wissenschaftlicher Film ‚Malerei und Probleme der Architektur‘ tragen. 389 Es bleibt anzumerken, dass der Film nicht realisiert wurde. Hans Richter, dem das Drehbuch immerhin gewidmet war, konnte sich wohl an Zusammenkünfte mit Malewitsch im Haus der Familie von Riesen erinnern, nicht jedoch an die Filmpartitur. Einige Forscher gehen davon aus, dass Richter in den Entwürfen Malewitschs jene Aspekte wiedererkannte, die ihn bereits in den Jahren 1920/21 zu seinen Filmen, wie etwa Rhythmus 25 animiert hatten. Vgl. dazu: Münz-Koenen, Inge: Kreuzwege und Fluchtpunkte. Malevičs Reise nach Berlin, in: Asholt, Wolfgang et al. (Hg.): Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das Andere. Festschrift für Walter Fähnders

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Malewitsch war der Überzeugung, mit dem additionalen Element jenes Grundelement entdeckt zu haben, das konstituierend für den schöpferischen Prozess ist.390 Kunst kann für ihn zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden, da ihr das abstrakte Element eigen ist, wohingegen sich konkrete Elemente in der Religion und den Wissenschaften finden. Vor diesem Hintergrund betrachtet Malewitsch die Tätigkeit des Malers als „kombinierte Funktion des Bewußtseins und des Unterbewußtseins“, wobei es darum geht, „festzustellen, wie das Bewußtsein und das Unterbewußtsein auf all das, was die Umgebung des Künstlers bildet, reagieren und in welchem Verhältnis zueinander – das ‚Klare‘ und das ‚Unklare‘ (das Bewußtsein und das Unterbewußtsein) – stehen.“391 Seine Untersuchungen des künstlerischen Schaffens nennt er „die Wissenschaft der künstlerischen Kultur“392, in der Kunst, die bislang als etwas „Emotionelles“393 angesehen wurde, nun analytisch auf die Ursachen der Entstehung der künstlerischen Struktur hin erforscht werden soll. Es geht ihm also darum, zu klären, „welcher Art jenes neue, in den schaffenden Organismus des Künstlers eingedrungene, additionale Element ist, das die Umstellung der künstlerischen Auffassung hervorgerufen hat.“394 Die Wirkung des additionalen Elements vergleicht er mit derjenigen von Bakterien in einem Organismus:

zum 60. Geburtstag, Bielefeld 2004, 193-219; sowie: Richter, Hans: Köpfe und Hinterköpfe, Zürich 1967; Foster, Stephen C. (Hg.): Hans Richter. Activism, Modernism, and the Avant-Garde, Cambridge, Mass. 1998. Diese frühe Arbeit aus den Jahren 1920/21 entstand in Kooperation mit Viking Eggeling, der dazu in die Niederlausitz zu Richters Eltern reiste. Im November/Dezember war dann dort auch Theo van Doesburg zu Gast und schrieb im Anschluss an seinen Besuch für De Stijl einen Artikel mit dem Titel ‚Abstracte Filmbeelding‘ und beschrieb die Experimente von Eggeling und Richter als den Versuch, „die statische Natur der Staffelmalerei“ zu überwinden. Siehe dazu: Foster, Stephen C. (Hg.): Hans Richter. Activism, Modernism, and the Avant-garde, Cambridge, Mass. 1998. 390 Vgl. Wiese, Stephan von: Vorwort. Zwei Standpunkte. Kasimir Malewitsch und das Bauhaus, in: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher), S. V-XIX, hier S. XIII. 391 Wingler, Hans M. (Hg.): Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher), S. 9. 392 Ebd., S. 9. 393 Ebd., S. 10. 394 Ebd.

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„Die Wirkung neuer Formen der Gestaltung könnte man die ‚Psychotechnik‘ nennen und die neuen Formen selbst als die aktivierten Inhaltsteilchen des neuen additionalen Elements betrachten. Die Wirkung dieser aktivierten und aktivierenden Inhaltsteilchen ist der Wirkung der Bakterien im menschlichen Organismus (in einem krankhaften Sonderzustande desselben) zu vergleichen; jedoch mit dem Unterschiede, daß durch die Einwirkung des additionalen Elements alte Vorstellungen des Bewußtseins zerstört werden (d.h. von neuen Vorstellungen verdrängt werden), während die Krankheits-Vibrionen das Bewußtsein selbst (das Hirn) zerstören.“395

Ausgehend von der Kunst, steht für Malewitsch im Zentrum seiner Untersuchungen also eine Fragestellung, deren Ausgangpunkt und Erkundung nur im Bereich der Kunst gelingen kann: Jene nach der Empfindung, der Sensibilität, die für ihn im Suprematismus den nachhaltigsten Ausdruck finden sollte.

3 D IE T HEORIE

DES ERWEITERTEN

S EHENS (SOR-WED)

Michail Matjuschin war der Leiter der zweiten großen und für die Arbeit des Instituts für künstlerische Kultur bedeutenden Abteilung für organische Kultur. Die Forschungen beschäftigten sich mit der Psychophysiologie, vor allem der visuellen Wahrnehmung und ihrer Perfektionierung bzw. der Konditionierung der sinnlichen Erfahrung durch physiologische Grenzen mit Hilfe eines komplizierten Systems, für das die malerische Erfahrung die Grundlage stellte. Während Malewitschs Labor seinen Schwerpunkt auf die Existenzweise des Kunstwerks legte und darauf, wie sich das Verhalten des Künstlers während des Arbeitsprozesses niederschlägt, konzentrierte sich Matjuschins Abteilung zunächst auf das Subjekt der Wahrnehmung, also den Künstler selbst. Im Zentrum der experimentellen Forschungen stand für Matjuschin der Wunsch, die „allseitige Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen“ und die Möglichkeit, die „menschliche Physiologie selbst“396 zu ändern. Dazu entwickelte Matjuschin eine Organik, deren Optik in ein ‚erweitertes Sehen‘ mündete, die er als SOR-WED bezeichnete. Die Theorie des SOR-WED beruhte 395 Wingler, Hans M. (Hg.): Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, Mainz u. a. 1980 (Neue Bauhausbücher), S. 24. 396 Matjuschin, Michail, hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 44.

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auf einer Verbindung von Sehen und Wissen397 in der Abstraktion, verstanden als grundlegende Methode der Elementarisierung von komplexen Wahrnehmungsprozessen, mit der die Erforschung der Wahrnehmungen des Auges mit dem Ziel der Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen verbunden werden sollte. Die Möglichkeit einer ‚reinen Wahrnehmung‘ und die Möglichkeit von ‚Präsenz‘ in ihr wurde in den Künsten und Wissenschaften bereits um 1900 diskutiert. Teil dieses umfassenden Erkenntnisinteresses war somit auch eine Frage, die auch Matjuschin interessierte, nämlich, wie man über das Psychische objektiv gültige Erkenntnisse erzielen könne. Es geht hier also nicht mehr nur um die Aktivität des Auges, sondern um die Verbindung des Auges mit einem Körper und dessen Prozessen. Der Körper wurde zum Schauplatz und Produzent chromatischer Erlebnisse, die nicht an ein abbildendes Sehen gebunden waren, d. h., man machte die Erfahrung abstrakter optischer Erlebnisse. Auf der Grundlage der Methoden der Kunst wollte Matjuschin eine besondere Form des Sehens entwickeln, jenes ‚erweiterte, wissende Sehen‘, das nicht geistiger Zustand war, sondern durch die Ausbildung eines Raumsinns einen veränderten Gebrauch von Auge und Körper erreichen sollte. Mit seinen Forschungen und Beobachtungen wollte Matjuschin nachweisen, dass die Hirnzentren am Hinterkopf auf Raum, Licht, Farbe und Form reagieren. In seiner Deklaration ‚Nicht Kunst, sondern das Leben‘ erläutert der Künstler die Funktion des SOR-WED: „Auf den Sehakt selbst bezogen (Beobachtungsfeld: 360 Grad°), betritt ‚Sor-Wed‘ (‚wissendes Sehen‘) erfahrungsmäßiges Neuland. ‚Sor-Wed‘ bedeutet: physiologischer Wandel der früheren Sehweise und folglich eine völlig andere Darstellungsweise des Gesehenen. ‚Sor-Wed‘ bezieht erstmalig Beobachtung und Erfahrung des bisher verschlossenen ‚Hintergrundes‘ ein, des ganzen Raumes, der aufgrund von mangelnder Erfahrung ‚außerhalb‘ menschlicher Reichweite blieb. [...] Eine Reihe von Versuchen und Beobachtungen, die ‚Sor-Wed‘-Künstler angestellt haben, lassen eindeutige Rückschlüsse auf eine räumliche

397 Die Theorie des SOR-WED stellte Matjuschin am 13.04.1923 im GINChUK vor, vgl. dazu die entsprechende Heftnotiz Matjuschins von 1923 (Handschriftenabteilung des Instituts für russische Literatur; RO IRLI: F. 656; HRft Nr. 2, S. 58). Forschungen zum ‚erweiterten Sehen‘ stellte Matjuschin bereits in der Zeit von 1918 bis 1926 als Professor an der Kunstakademie in St. Petersburg an. SOR-WED ist eine Verkürzung der Begriffe ‚Zrenie‘ für Sehen und ‚Vedanije‘ für Wissen. ‚Vedanije‘ ist ein altrussisches Wort, das auch den Weisen meint. Damit intendiert Matjuschin ein Wissen, das Geheimes, Ahnungen und Verborgenes umfasst, um somit einen Begriff für eine Erweiterung des objektiv Wissbaren zu etablieren.

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Sensibilität der im Hinterkopfbereich liegenden Sehzentren zu. Das eröffnet dem Menschen überraschend die gewaltige Welt räumlicher Wahrnehmungen, und da für den Menschen und den Künstler die Erkenntnis des Raums die wichtigste Gabe ist, bedeutet dies einen neuen Schritt und Lebensrhythmus [...].“398

Es ging Matjuschin also um eine Vergrößerung des Sichtfeldes auf möglichst 180 bzw. 360 Grad, um so ein interessegebundenes Sehen zu überwinden. Dieses Training und die Ausbildung der bewussten Verwendung komplexer Wahrnehmungsformen nannte Matjuschin Organitscheskaja Kultura – Organische Kultur, die auch titelgebend für die von ihm ab 1923 geleitete Forschungsabteilung am MChK wurde. Nikolai Punin beschreibt in einem Überblick über die neuesten Kunstströmungen in Petrograd die Abteilung von Matjuschin folgendermaßen: „Matjuschins Atelier ist ein an Erfahrung, und zwar an konsequent durchdachter Erfahrung reiches pädagogisches Studio, das es sich zur Aufgabe macht, physiologisch auf das Bewußtsein einzuwirken. Eine Perfektionierung des Wahrnehmungsapparats durch ein kompliziertes System malerischer Erfahrung wird von Matjuschin als erster unerläßlicher Schritt auf dem Weg zu einer neuen Kunst angesehen. Daraus leitet sich eine intensive Arbeit am Auge ab; sie zielt in erster Linie auf eine Verbesserung der Sehschärfe und weiter auf eine Koordinierung des Auges mit den anderen Organen, die der Wahrnehmung von Welt und Leben dienen.“399

Der Zustand innerhalb des Sehprozesses, den Matjuschin zu erreichen versuchte, ist durch die Auflösung der funktionalen Gebundenheit und Bedeutung der Gegenstände charakterisiert. Diese sollen sich vielmehr in ein Feld von Hell-DunkelKontrasten einfügen, von Lichtmodulationen und Farbflächen, in der das perspektivische Sehen zugunsten der Wahrnehmung von Flächen- und Raumverhältnissen sowie Strukturgegebenheiten zurücktritt. Geht es in der Theorie des SOR-WED über die Analyse des Sehaktes hinaus auch um die Erforschung von Tast- und Gehörsinn mit dem Ziel einer Verbindung aller Sinne zu einer Erweiterung der sinnlichen Fähigkeiten des Menschen, zeigt sich hier der Gedanke der Synästhesie

398 Matjuschin, Michail: Nicht Kunst, sondern das Leben, in: Schisn iskusstva (Kunstleben), Nr. 20, 1923, S. 15. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 80-81 (Hervorhebungen nach dem russischen Original). 399 Punin, Nikolai, hier zitiert nach: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 94.

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unter neuen Vorzeichen. Wird Synästhesie nach wie vor als eine besondere Fähigkeit eines Menschen diagnostiziert, so geht es jetzt jedoch nicht mehr darum, sie dem Künstler als einer geniehaften Existenz zuzuschreiben. Stattdessen stellen die Kenntnisse der Kunst die Basis, von der aus solche Phänomene mit den Mitteln der Kunst überprüft werden können, um diese Wirkungszusammenhänge anschließend für andere Forschungszweige nutzbar zu machen. Die Synthese von Vorstellung und Wahrnehmung, Erkenntnis und Erfahrung sollte es ermöglichen, die Umwelt in jedem beliebigen Moment in ihrer Komplexität zu erfahren, sich der permanenten simultanen Wahrnehmungsprozesse, ihrer dauernden Interaktion sowie der Interdependenz von körperlicher Aktion mit neurologisch-kognitiven Prozessen stets bewusst zu sein; vielmehr noch: diese Bewusstheit sollte wiederum in den Wahrnehmungsablauf integriert werden, um ihn permanent zu optimieren.400 Für Matjuschin sollte diese neue Sehweise, die zu einer neuen Art des räumlichen Denkens überleiten sollte, zu einer Ausdehnung des menschlichen Vorstellungs- und Denkvermögens führen, und zudem zurückwirken auf die Kunst, um so eine neue Malkultur zu etablieren. Es ging also nicht mehr um das Erkennen von Objekten, sondern um eine Reduktion der Wahrnehmung, um das Sehen von Mustern und Strukturen, also um Elemente, die der Erscheinungsweise aller Dinge zugrunde liegen. Aber Michail Matjuschin arbeitete jedoch nicht nur an der Theorie des SORWED, sondern – aufbauend auf seiner Theorie – auch an einem Lexikon der Farbe, das er 1932 publizierte und das die Ergebnisse der Forschungen Matjuschins und seiner Mitarbeiter zu Farbwertkontexten, der Funktionsweise des opti-

400 „Das organische Verständnis des Lebens bedeutet den Einschluß seiner selbst als Teil in die Welt, in den gesamten Organismus. Daher geschieht die vollständige Wahrnehmung der Welterscheinungen nicht durch irgendwie eine Seite, sondern durch den ganzen Organismus. Diese Wahrnehmung der Welt bildet die Antwort auf das besonders komplizierte Nervensystem und fordert energisch die breiteste Entwicklung der funktionalen Apparate des Nervensystems: Tastsinn, Gehör, Sehen, Denken. Aufgabe und Ziel der Fakultät für Organische Kultur ist die Vermittlung der neuen Methoden des Studiums des gleichzeitig in alle vier Richtungen wirkenden Tastsinnes [sic!], Gehörs, Sehens und Denkens, um im Studierenden eine neue Kultur und Organismuswahrnehmung zu entwickeln und zu schaffen.“ (Matjuschin, Michail: Ob organicheskoi kul’tury – Über organische Kultur. 1920er Jahre; RO IRLI: F. 656. Hier zitiert nach: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 93-94).

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schen Apparates und den psycho-physiologischen Vorgängen der visuellen Wahrnehmung beinhaltete. Matjuschin unterscheidet für diese Studien zwischen direktem und indirektem Sehen 401 und folgert aus dem Aufbau und der unterschiedlichen Verteilung der Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut, dass der Mensch nur in einem „sehr kleinen Teil des Gesichtsfeldes genau sehen kann“: „Der eigentliche Wahrnehmungsapparat unserer Augen besteht aus einem System brechender Medien (Augenlinse, Hornhaut, Glaskörper) und der inneren Haut des Augapfels, der Netzhaut. Entsprechend ihrer Bestimmung besteht die Netzhaut aus Nervenfasern, Zellen und den eigentlichen licht- und farbwahrnehmenden Gebilden – den Stäbchen und Zapfen. […] Auf der Netzhautrückwand nahe der Stelle der Einmündung des Sehnervs, dem so genannten gelben Fleck, ist ein großes Übergewicht der Zapfen über die Stäbchen zu beobachten. In der zentralen Grube des gelben Flecks, der Stelle des genauesten Sehvermögens, bedecken die Zapfen den Boden durchgängig. An der Peripherie der Netzhaut werden die Zapfen weniger und herrschen die Stäbchen vor.“402

Matjuschin folgert aus seinen Untersuchungen, dass der Mensch seine visuellen Fähigkeiten trainieren und intensivieren müsse, um beide Weisen des Sehens bewusst miteinander zu verbinden: „Nur indem wir den Sehapparat bewusst in zwei handelnde Funktionen teilen und diese auch bewusst verbinden, beherrschen wir die uns von der Natur gegebenen Möglichkeiten in vollem Maße.“ 403 Matjuschin differenziert zudem zwischen dem direkten oder Tagessehen, das ausschließlich bei Tageslicht und hauptsächlich vermittels des gelben Flecks funktioniert, und dem indirekten, peripheren oder Dämmerungssehen, das durch die peripheren

401 Es zeigt sich hier eine Analogie zu den Forschungen von Hermann von Helmholtz, der in seinem Vortrag ‚Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens‘ von 1868 das Sehen in „das ‚direkte Sehen‘, bei dem das Auge so auf ein Objekt gerichtet wird, dass „das Bild jenes Objects sich auf der Stelle des deutlichen Sehens abbildet“ und das „‚indirekte Sehen‘“, wenn nur mit den „seitlichen Teilen der Netzhaut“ gesehen wird, unterscheidet. (Helmholtz, Hermann von: Vorträge und Reden, Bd. I, Braunschweig 1896, S. 281 f.) 402 Matjuschin, Michail: Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe, Moskau/Leningrad 1932, S. 16; dt.: Wünsche, Isabel: Kunst & Leben. Michail Matjuschin und die russische Avantgarde in St. Petersburg, Köln u. a. 2012, S. 230-240, hier S. 230 f. 403 Ebd., S. 17; dt.: Ebd., hier S. 232.

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Teile der Netzhaut bei schwachem Licht realisiert wird. Die Unterscheidungsfähigkeit der Farben verschwindet infolge der geringen Empfindlichkeit der Zapfen, so dass also nur die Wahrnehmung von Dunkelheit und Helligkeit bleibt: „Beim Tagessehen sehen wir aufgrund der Deutlichkeit der Wahrnehmung von Farben und Formen alles am besten, doch dafür eng begrenzt wie durch ein feines Röhrchen in einem winzigen Fleck, dem so genannten gelben Fleck. Beim nächtlichen Sehen umfasst das Auge die gesamte Breite von Rand zu Rand, gibt aber weder die Schärfe noch die klare Farbigkeit des zentralen Flecks, dafür aber jede Bewegung wieder.“ 404

Das periphere Sehen ist also für Matjuschin relevant für die Fähigkeit des Bewegungssehens. Nach seinen Überlegungen bedarf es nun der bewussten Einflussnahme auf den Prozess des menschlichen Sehens, um die Anzahl der Zapfen in der Netzhaut zu erhöhen, für das Ziel, dadurch die Wahrnehmungsprozesse zu maximieren; was bedeutet, dass eine verbesserte Wahrnehmung in größeren Sehfeldteilen und intensivere Wahrnehmung von Bewegung erreicht werden sollte. Evolutionsgeschichtlich argumentierte Matjuschin, dass die historische Entwicklung beider Formen des Sehens den Menschen gezwungen habe, in permanenter Anpassung an die Lebens- und Umweltbedingungen, immer fokussierter und somit also detaillierter zu sehen. Die Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der

404 Matjuschin, Michail: Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe, Moskau/Leningrad 1932, S. 16; dt.: Wünsche, Isabel: Kunst & Leben. Michail Matjuschin und die russische Avantgarde in St. Petersburg, Köln u. a. 2012, S. 230-240, hier S. 230. Einige Forscher vermuten hier Analogien zu den Arbeiten des deutschen Physiologen Johannes von Kries, der auf der Basis der Verteilung von Stäbchen und Zapfen in den 1880er Jahren seine Zonentheorie des doppelten Sehens entwickelt hatte. Zapfen sind in von Kries’ Verständnis die allein farbempfindenden Organe, die den „Hellapparat des Auges“ bilden und bei Tageslicht in einem kleinen Gesichtsfeldausschnitt das vollkommene Sehen ermöglichen. Das unbunte Dämmerungssehen bei schwachem Licht schrieb er der Tätigkeit der Stäbchen zu, die zwar äußerst lichtempfindlich sind, jedoch keine quantitativen Farbempfindungen, sondern nur farblose Helligkeitsempfindungen wahrnehmen können. Kris, Johannes von: Über die Funktion der Netzhautstäbchen, in: Kris, Johannes von: Abhandlungen zur Physiologie der Gesichtsempfindungen aus dem physiologischen Institut zu Freiburg i. B., Hamburg 1897, S. 1-43; Kris, Johannes von: Über die Physiologie der Sinnesorgane, in: Rosin, Heinrich: Bericht über das Studienjahr 1897-1898, Freiburg i. Br 1898, S. 34-40; Kris, Johannes von: Allgemeine Sinnesphysiologie, Leipzig 1923.

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Netzhaut betrachtete Matjuschin als ein Produkt der permanenten Anpassungsleistungen des Menschen an seine Umwelt, wobei in dieser Anpassung ebenfalls das phylogenetisch verzögerte Auftreten der Zäpfchen gegenüber der Stäbchen begründet lag. Zur Bestätigung dieser evolutionsbiologischen These führte Matjuschin Beispiele aus der Tierphysiologie an, um zu zeigen, dass die Ausbildung der Sehgewohnheiten von den Lebens- und Umweltbedingungen abhängt: „Falke, Möve, Bergfink, Gans, Ente, die einen besonders scharfen Blick benötigen, sind mit zwei gelben Flecken in jedem Auge ausgestattet; Tiere, die überfallen, und Tiere, die sich durch Flucht schützen müssen, sind mit verschiedenen Sehwinkeln ausgestattet. So beträgt die Abweichung der Sehachsen beim Löwen 10°, während sie beim Hasen 170° ausmacht.“405

Für seine Theorie abstrahierte Matjuschin von der These der Selektion – und damit Aufmerksamkeitslenkung – als Merkmal der visuellen Wahrnehmung und damit der Denkprozesse. In den veränderten Lebensbedingungen des modernen Lebens, seiner Schnelligkeit und Dynamik etwa, die für ihn die Expansion des Bewegungssehens unabdingbar machte, sah er Ursache und Notwendigkeit der grundlegenden Veränderung der physiologischen Vermögen des Menschen. Die „Empfindlichkeitsgrenzen der Netzhaut […] [sollten] durch Training bedeutend erweitert werden“406, ein Prozess, der genau durch die Kombination des direkten Tageslichtsehens mit dem indirekten Dämmerlichtsehen erreicht werden sollte. Diesen bewussten Akt der Verbindung beider Sehformen und ihrer gelungenen Realisierung nannte Matjuschin dann Rassschirennoje Srenije – erweitertes Sehen. Und

405 Matjuschin, Michail: Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe, Moskau/Leningrad, 1932, S. 18; dt.: Wünsche, Isabel: Kunst & Leben. Michail Matjuschin und die russische Avantgarde in St. Petersburg, Köln u. a. 2012, S. 230-240, hier S. 233. Vgl. zu diesem Aspekt Matjuschins auch: Tillberg, Margareta: Zwetnaja wselennaja. Michail Matjuschin ob iskusstwe i srenii [Farbiges Universum. Michail Matjuschin über Kunst und Sehen], Moskau 2008; und: Wünsche, Isabell: Michail Matjuschins Kunstkonzept der Organischen Kultur in der Kunst der russischen Avantgarde, Heidelberg 1997. 406 Matjuschin, Michail: Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe, Moskau/Leningrad 1932, S. 18; dt.: Wünsche, Isabel: Kunst & Leben. Michail Matjuschin und die russische Avantgarde in St. Petersburg, Köln u. a. 2012, S. 230-240, hier S. 233.

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genau durch dieses erweiterte Sehen sollte die visuelle Sinnestätigkeit des Menschen auf mindestens 180 Grad erhöht werden, um der Komplexität der Wahrnehmungsbedingungen begegnen zu können. „Das Erweitere Sehen gibt in der Wahrnehmung ein Verständnis von den Zusammenhängen der Dinge und ihrer Beziehung zur Umgebung. Das Erweitere Sehen ermöglicht die vollkommene Wahrnehmung eines beliebigen sich bewegenden Gegenstandes, weil kraft der physiologischen Besonderheiten des Auges gerade die Peripherie der Netzhaut sensibler für die Wahrnehmung der Bewegung ist.“407

Die Umsetzung dieses Erweiterten Sehens lag zunächst im Training der physiologischen Sinnesorgane. Dazu gründete Matjuschin – der an den SWOMAS im Herbst 1918 eine Assistentenstelle bei Malewitsch annahm – zunächst ebendort die Forschungsabteilung Prostranstwennyi realism – räumlicher Realismus, in der er mit seinen Studenten Boris, Maria und Xenja Ender und Nikolai Grinberg umfangreiche Forschungsstudien durchzuführen begann. Er etablierte in seinem Labor, wie später auch am GINChUK, Übungen zur Erweiterung des menschlichen Gesichtssinns und arbeitete daran, Methoden zu entwickeln, die es ermöglichen sollten, weit auseinanderliegende Objekte räumlich zu erfassen oder auch sich im Raum bewegende Objekte aus den Augenwinkeln zu erfassen. Die Übungen umfassten etwa das Training, mit beiden Händen gleichzeitig zu malen, aus dem Fenster schauend alle Objekte, Bewegungen und Strukturen gleichermaßen scharf zu sehen, auseinanderlaufende Bewegungen mit einem Blick zu erfassen, auf einer Brücke stehend, sowohl die Uferbebauung als auch den Himmel scharf zu sehen und vieles mehr.408 Diese Versuche wurden zudem mit speziell dazu entwickelten Apparaturen ausgeführt, die es ermöglichten, nicht nur im Außenraum, sondern auch im Labor unter konkret konstruierten Bedingungen zu analysierbaren Ergebnissen zu gelangen. Entwickelt wurde etwa eine Apparatur, mit der sich Formen auf einem Schirm horizontal vom Zentrum weg zu den Seiten hin bewegten; das Trainingsziel war dann, dass der Proband diese Bewegung zu keinem Zeitpunkt aus den Augen verlor. Vermerkt und protokolliert wurden die Ergebnisse vermit-

407 Matjuschin, Michail: Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe, Moskau/Leningrad 1932, S. 17; dt.: Wünsche, Isabel: Kunst & Leben. Michail Matjuschin und die russische Avantgarde in St. Petersburg, Köln u. a. 2012, S. 230-240, hier S. 232. 408 Vgl. dazu: Matjuschin, Michail: Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe, Moskau/Leningrad 1932.

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tels klassischer Laborprotokolle, aber – da es ja die Kunst selbst war, die als Forschungsinstrument eingesetzt werden sollte – mit Aquarellzeichnungen, Skizzen, und Malerei. Das Erweiterte Sehen sollte sich also vom realistischen, naturalistischen und figürlichen Seheindruck entfernen, um vielmehr Atmosphären, Umweltrelationen und Bewegungsmomente erfassen zu können, um letztlich zu einer grundlegenden Modifikation des Wahrnehmungsapparates und der tradierten Raumvorstellungen zu gelangen: „Detailliertes verschwindet infolge der Aufmerksamkeit auf das Ganze, doch dafür erhalten wir eine erheblich vollständigere Vorstellung über die Wechselwirkungen der Dinge.“ 409 Das Erweiterte Sehen vernachlässigte also das Sehen isolierter Gegenstände und somit eine – nach Matjuschins Überlegungen – traditionelle Wahrnehmung, diese Haltung implizierte eine Vernachlässigung der Form zugunsten der Farbe. Farbe und Farbwahrnehmung waren für Matjuschin und seine Schüler die eigentlichen künstlerischen Medien, um die neuen Raumvorstellungen ebenso wie die Konzentration auf Beziehungsgefüge und -relationen darzustellen. Diese Veränderung bildete dann die Grundlage für Studien zur Gesetzgebung der Farbe und Farbveränderungen, der Wechselwirkungen von Farbe und Form, dem Einfluss von farbigen Umgebungen auf eine einzelne Farbform und die Bedeutung der Bewegung auf die Veränderung und Wahrnehmung von Farbwerten. Getestet wurde dies an beweglichen farbigen Modellen in Matjuschins Laboren, mit denen Farberscheinungen in ihrer Abhängigkeit von Raum, Bewegung, Zeit und Beobachtungsbedingungen erforscht und analysiert werden sollten. Dargestellt wird diese sich verändernde Wirkungsweise einer Farbe im Lexikon der Farben im Zusammenhang zu unterschiedlichen Mittlerfarben oder Umrissformen der Farbfelder. Grundlage dieser Studien war die sich verbreitende Wahrnehmungspsychologie, vertreten durch den Chemiker Wilhelm Ostwald, dessen Farbnormenatlas bereits 1920 erschienen war. Dem Buch Matjuschins sollte ein zweiter Teil folgen, der sich mit der Synthesis von Klang, Farbe und Form befassen sollte, der jedoch nie verwirklicht wurde. Es gilt festzuhalten, dass die Forschungen Matjuschins in der Erarbeitung elementarer Grundformen der Form- und Farbwertanalyse lagen. Hier sind die Bestrebungen Matjuschins ähnlich denen der Bauhaus-Künstler, wie z. B. Paul Klee,

409 Matjuschin, Michail: Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe, Moskau/Leningrad 1932, S. 18; dt.: Wünsche, Isabel: Kunst & Leben. Michail Matjuschin und die russische Avantgarde in St. Petersburg, Köln u. a. 2012, S. 230-240, hier S. 232.

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Johannes Itten oder Hannes Meyer. Ihnen gemeinsam ging es darum, mit den Wirkungszusammenhängen der Farbe gleichzeitig die Basis der Kunst zu ermitteln. 410 Zudem interessierten Matjuschin die Abläufe der räumlichen Wahrnehmung, die Farbwahrnehmung in Bewegung und das Verhältnis bzw. die Abhängigkeit des Erkennens einer Form von der Farbe. Alle diese Aspekte wurden mit Farbanalysen in Verbindung gebracht, um Systematiken zu entwickeln. Vielmehr noch: Ohne eine Kenntnis der neuen Theorien des Raums, ist für Matjuschin eine Arbeit an einem neuen, erweiterten Sehen nicht möglich. Der Sehakt selbst ist dabei für Matjuschin „eine Fotografie“, wobei für den Vorgang des Sehens selbst nicht wichtig sei, „daß unsere Netzhaut alles Gesehene aufnimmt, sondern wie, was und wie viel von all dem die Maschine unseres Bewusstseins [...] wahrnimmt.“ 411 Um diese Erweiterung des Sehens durch die ‚Maschine unseres Bewußtseins‘ analysieren zu können, verband Matjuschin Observationen und Feldforschungen im Außenraum mit experimentellen Laborstudien, in denen alle Formen abstrakter Kunst als Analysemittel eingesetzt wurden.412 Eine Zusammenfassung der Forschungsaufgaben für die Abteilung für organische Kultur findet sich in der Kurzen Übersicht über die Geschichte von Museum und Institut für künstlerische Kultur: „Entwicklung des gesamten Organismus 1) verstärktes Trainieren des gesamten Wahrnehmungssystems der Organe: Tastsinn,

410 Zu den Besuchern des GINCHuK zählte auch der Neurologe, Psychiater und Psychologe Vladimir Bechterev (1857-1927), der sich besonders für die Forschungen der Abteilung für organische Kultur interessierte. Maria Ender, eine Assistentin Matjuschins, arbeitete für einige Zeit in Bechterevs Institution und untersuchte dort den Zusammenhang von Gehirnaktivitäten und psychischer Aktivität. Vgl. Povelikhina, Alla V. (Hg.): Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century [Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln], Köln 1999, S. 61. 411 Matjuschin, Michail: Erfahrung des Künstlers der neuen Dimension, in: K istorii russkogo awangarda. (The Russian Avantgarde), Stockholm 1976, S. 161-165, (Auszug). Hier zitiert in der deutschen Übersetzung nach: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 81-89, hier S. 84. 412 Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Leningrad (LGALI: F. 244, Op. 1, D. 51, L. 99.) Hier zitiert nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 44.

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Gehör und Sehsinn, 2) intensive Ausbildung des zentralen Organs, des Hirns, durch ständiges Üben aller Wahrnehmungsorgane auf einmal.“413 Das Ziel lag in der Veränderung des gesamten Nerven-Hirn-Systems des Menschen. Matjuschin stellte seinen Schülern und Mitarbeitern zum Beispiel folgende Aufgaben: „Auf der Straße einen entgegenkommenden Passanten herausgreifen und, beide Bewegungen verbindend, seine Bewegung und die eigene verfolgen; wenn der Passant vorbeigegangen ist, ihn nicht aus den Augen verlieren und, ohne sich umzuschauen, weiter seine und die eigene Bewegung verfolgen. Das war der erste Fall indirekten Sehens. Später (...) wurde der Versuch mit einem Entgegenkommenden ausgebaut, indem gleich mehrere in verschiedene Richtungen gehende Menschen in das Treffen einbezogen wurden.// Die zweite Etappe dieser Arbeit war ein Test auf die Sensibilität der hinteren Kopfpartie für Gegenstände, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befinden. Ohne Hinzuziehung der Augen gelang es, den Gegenstand zu beschreiben, wobei die präzisen Größenangaben frappierend waren.// Die dritte Etappe war: Suche nach einer im Rücken liegenden Lichtquelle. Man machte abends auf der Straße den Vorschlag, anzugeben, woher das Licht kommt. Und die Hand zeigte untrüglich auf die Lichtquelle.// In einer vierten Etappe (...) wurde […] untersucht, in welchem Wechselverhältnis Farbflächen sowie unterschiedliche Volumina vor und hinter dem Betrachter stehen.“414

Matjuschins Forschungen zum Prozess und der Bewegung des Sehens stellten letztlich die Frage nach der Organisation des Bewusstseins des Menschen; somit zielten seine Arbeiten nicht nur auf ein erweitertes Sehen, sondern mehr noch auf ein erweitertes Bewusstsein; das heißt: aus dem 180-Grad-Sehen des Erweiterten Sehens wird in der Verbindung mit Denkweisen und mentalen Bildprozessen, mit der Integration von Emotionen und Sinnestätigkeiten ein umfassender Begriff des Sehens: das 360-Grad-Sehen, also: SOR-WED.

413 Matjuschin, Michail: Arbeitsbericht vom Leiter der Abteilung für organische Kultur. Hier zitiert nach der dt. Übersetzung, in: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarden in Mittel- und Osteuropa [Ausst.-Kat.], Bd. III, Berlin 1994, S. 89. 414 Ender, Boris: Material zur Erforschung der Physiologie des ‚zusätzlichen Sehens‘, Staatliches Zentralarchiv für Literatur und Kunst; ZGALI: F. 2973, Op. 1, D. 163, L. 1/2.

Abbildung 9: Kasimir Malewitsch: Darstellungsveränderungen der „Natur“ unter dem Einflusse additionaler Elemente aus kubistischen und suprematistischen malerischen Kulturen, 1927.

Abbildung 10: Kasimir Malewitsch: Analytische Untersuchung der Formgestaltung bei den malerischen Kulturen Cézannes, des Kubismus und des Suprematismus. Additionale Elemente dieser Kulturen, 1927.

Abbildung 11: Kasimir Malewitsch: Darstellungsveränderungen der „Natur“ unter dem Einflusse additionaler Elemente der malerischen Kulturen Cézannes und des Kubismus, 1927.

Abbildung 12: Kasimir Malewitsch: Erste Seite der russischen Originalausgabe des Textes: Einführung in die Theorie des additionalen Elementes in der Malerei, Ausschnitt, 1927.

Abbildung 13: Kasimir Malewitsch: Seite 1 des Originalmanuskripts, Ausschnitt, 1916.

Abbildung 14: Kasimir Malewitsch: Umschlag der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920.

Abbildung 15: Kasimir Malewitsch: Text der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, Ausschnitt, 1920.

Abbildung 16: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920.

Abbildung 17: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920.

Abbildung 18: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920.

Abbildung 19: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920.

Abbildung 20: Ausstellung von Werken Matjuschins und der Gruppe KORN (Kollektiv: Erweitertes Sehen) im Zentralen Leningrader Haus der Künste, 1930.

Abbildung 21: Ausstellung von Werken Matjuschins und der Gruppe KORN (Kollektiv: Erweitertes Sehen) im Zentralen Leningrader Haus der Künste, 1930.

Abbildung 22: Michail Matjuschin: Arbeitsplan der Abteilung für Organische Kultur, ca. 1920.

Abbildung 23: Michail Matjuschin im Labor während einer Untersuchung zur Bewegung von Farbmodellen, 1927.

Abbildung 24: Michail Matjuschin: Arbeitsplan der Abteilung für Organische Kultur, ca. 1920.

Abbildung 25: Michail Matjuschin: Schema der Möglichkeiten visueller Wahrnehmung, 1924.

Abbildung 26: Michail Matjuschin: Schema der visuellen Raumwahrnehmung, 1924.

Kapitel VI Denken ÜberDenken – Gedankenphotographie als Gedankenexperiment „Das Wort >Bild< hat einen schlechten Ruf, weil man gedankenlos geglaubt hat, daß eine Zeichnung ein Abdruck, eine Kopie, ein zweites Ding sei, und das geistige Bild eine Zeichnung dieser Art in unserer privaten geistigen Rumpelkammer. Wenn nun aber das Bild nichts dergleichen ist, so gehören Zeichnung und Gemälde ebenso wenig wie das Bild dem Ansich an. Sie sind das Innen des Außen und das Außen des Innen, das die Doppelnatur des Empfindens möglich macht, ohne die man niemals die Quasi-Gegenwart und die imminente Sichtbarkeit verstehen könnte, die das ganze Problem des Imaginären ausmachen.“ 415 MAURICE MERLEAU-PONTY „Es ist […] wohl möglich, daß gewisse psychologische Phänomene physiologisch nicht untersucht werden können, weil ihnen physiologisch nichts entspricht.“416 LUDWIG WITTGENSTEIN

415 Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. v. Hans Arndt u. a., Hamburg 1984, S. 18. 416 Wittgenstein, Ludwig: Zettel (Nr. 609), in: Wittgenstein. Joachim Schulte, Bd. VIII, Frankfurt am Main 1984, S. 417.

Werkausgabe, hg. v.

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1 „ SEHEN –

IMMER SEHEN



IMMER MEHR SEHEN “ 417

„Was die Resultate in ihrer Gesamtheit bedeuteten, war mehr als eine völlig neue Erkenntnis von der Bedeutung der nervösen Organe; vielmehr handelte es sich um dies: man hatte an Geweben des Körpers experimentiert und hatte Reaktionen bekommen aus dem Gebiet des Seelischen; man hatte sich während der Arbeit mitten im Bereich der Physiologie dem Psychischen gegenübergesehen; man war an eine Stelle gekommen, da waren die beiden Lebensbereiche zusammengeknotet und man konnte von hier aus sich in das dunkle rätselhafte Reich des Psychischen tasten. Und damit stand man vor etwas unerhört Neuem in der Geschichte der Wissenschaften: das Psychische, das πνεῦμα, das Über- und Außerhalb der Dinge, das Unfassbare schlechthin ward Fleisch und wohnte unter uns.“418

Gottfried Benn beschreibt hier im Jahr 1910 – gerade zum Arzt approbiert – die Dimension der modernen Hirnforschung und skizziert somit das herausragende Phänomen der Lebenswissenschaften, das wie kein anderes eine solch andauernde Faszination ausübt: das Gehirn, seine Funktionen419 und die Auswirkungen dieses Faszinosums auf Vorstellungen über Emotionen und Gefühle, Gedanken, Bewusstsein, seelische Zustände, kurz: unsere kognitiven Vermögen.

2 „M ANCHMAL VERSUCHEN WIR JA AUCH , DER S EELE AUF DEM U MWEG ÜBER DEN K ÖRPER BEIZUKOMMEN ...“ 420 – G EHIRN , D ENKEN UND ZEREBRALE B ILDTECHNIKEN Den Funktionsweisen der Kognition auf die Spur zu kommen, erklärt die auratische Sphäre, die mit den Bildern und den Reden über das Gehirn und seinen Prozessen immer schon einhergeht: Scheint es doch um nichts anderes zu gehen, als 417 Didi-Huberman, Georges: Ein entzückendes Weiß, in: Didi-Hubermann, Georges: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern …, Köln 2001, S. 87-112, hier S. 88. 418 Benn, Gottfried: Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie, in: Gottfried Benn. Gesammelte Werke, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. IV., Wiesbaden 1977, S. 415-422, hier S. 417. 419 Hagner, Michael: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin 1997, S. 9. 420 Glauser, Friedrich: Matto regiert, Zürich 1995, S. 137.

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dass mit dem Blick auf das Gehirn das Subjekt selbst zur Anschauung gebracht wird und exakt über diese Anschaulichkeit – also einem ikonischen, bildhaften Wirken, mit dem eine Rede über das Subjekt abgelöst wird, die Verschränkungen der immateriellen Zustände Denken, Wissen, Emotionen, Erleben und Bewusstsein überhaupt erstmalig präzise erklärbar werden. Immer schon waren diese Versuche jedoch begleitet von dem – künstlerischen wie wissenschaftlichen – Begehren, „dem Geist im Gehirn“421 auf die Spur zu kommen. Die Erforschung des Denkens, der Gedanken und des Bewusstseins und des Wissens und des Unbewussten, wurden – und werden – sekundiert durch die Entdeckung oder Wieder-Entdeckung der Emotionen – als zentrale Basis oder Begleiterscheinung kognitiver Vorgänge. Emotionale Prozesse können als Kern von menschlichem Erleben, Erfahren und Verhalten angesehen werden. Sie bedingen unsere Handlungen und Kommunikationen grundlegend und rücken damit auch Fragen nach der Aufmerksamkeit, der Einfühlung, des Mitfühlens und der Konzentration in den Blickpunkt. Gleichermaßen gelangt nicht nur der gängige Katalog von Emotionen – wie Angst, Freude, oder Wut ins Zentrum des Interesses, sondern auch die Kehrseiten von Emotionen – wie etwa Apathie, Dämmerungszustände oder Langeweile. Mit dieser umfassenden Erkundung des Organs Gehirn ging und geht gleichzeitig auch eine Spurensuche nach den konstituierenden Faktoren der – scheinbaren – Unzugänglichkeit dessen einher, was ein Subjekt einzig und unverwechselbar sein lässt, d. h. es ging immer auch schon um die Erklärung des Erlebens von Atmosphären und Stimmungen, die von rein zerebralen Prozessen nicht trennbar sind. Jene Erregung, die mit der Vorstellung einhergeht, das Denken und Fühlen eines Subjekts tatsächlich sehen und somit erklären zu können, korreliert mit der Entwicklung medientechnischer Apparate, die vermittels der Technologie selbst zu sensiblen Agenten für Auskünfte über das Gehirn werden. Denn: entziehen sich die Funktionen des Gehirns und somit Denken, Fühlen und Bewusstsein den Methoden der exakten Wissenschaft und sind auf Deutung angewiesen,422 so scheinen erstmals die mit den frühen Medientechniken einhergehenden Vorstellungen der

421 Hagner, Michael: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin 1997, S. 9. 422 Weigel, Sigrid: Phantombilder zwischen Messen und Deuten. Bilder von Hirn und Gesicht in den Instrumentarien empirischer Forschung von Psychologie und Neurowissenschaft, in: Jagow, Bettina von/Steger, Florian (Hg.): Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne, Heidelberg 2004, S. 159-198.

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Durchdringung von Materie423 genau über und durch diese bildgebenden Verfahren die Aktivitäten des Gehirns der Beobachtung und somit Empirie zugänglich zu machen.424 Sowohl ‚um 1900‘ als auch in den aktuellen Forschungen werden diese Bemühungen, den Gedanken – und damit letztlich dem „Innersten“ eines Menschen – habhaft zu werden, von der Entwicklung fulminanter „cerebraler Bildtechniken“425 begleitet, deren Untersuchungstechniken einen neuen Darstellungsraum der Psyche etablieren sollen. Es geht also immer schon nicht um die schlichte Abbildung neuronaler bzw. physiologischer Prozesse in einem geeigneten Trägermedium, sondern vielmehr soll die Sichtbarmachung psychischer – also dem traditionellen Verständnis nach unzugänglicher Bereiche – gelingen: nämlich des Denkens und Fühlens. Diese Unzugänglichkeit – die dem Menschen attestiert, im Innersten allein zu sein, eben weil dieses Innerste unzugänglich ist – wird häufig mit einer Black Box426 verglichen. Dieser Vergleich der Psyche mit einer Black Box zeigt jedoch, dass eine solche Untersuchungsperspektive Ausschlüssen in den Beobachtungsverhältnissen geschuldet ist.427 Wenn zum Beispiel Erregungen als körperliche Zustände über physiologische Indikatoren, wie z. B. Herzschlag, Hormonausschüttungen oder den Blutdruck gemessen und somit der empirischen Forschung zugänglich gemacht werden, so ent-

423 Flach, Sabine: ‚Experimentalfilme sind Experimente mit der Wahrnehmung‘. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Visualisierungstechniken im künstlerischen Experiment, in: Becker, Sabine (Hg.): Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9, München 2004, S. 195-221. 424 Flach, Sabine/Wübben, Yvonne: Gehirnwahrheiten. Zur Wiederkehr der Phrenologie in den Neurowissenschaften, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 11, Berlin 2005, S. 10-20. 425 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 89-110, hier S. 101. 426 Vgl. zur Black Box im Verhältnis zur White Box: Wiener, Norbert: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und Maschine, Reinbek bei Hamburg 1968; sowie: Rieger, Stefan: Der Takt der Seele. Zur medialen Modellierung des Bewusstseins, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 177-201, hier S. 177. 427 Rieger, Stefan: Der Takt der Seele. Zur medialen Modellierung des Bewusstseins, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 177201, hier S. 177.

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ziehen sich Denken, Fühlen und Bewusstsein den Methoden der exakten Wissenschaft und sind – so die gängige These – auf Deutung angewiesen.428 Genau darum aber zirkulieren alle diese Überlegungen: um den unerschlossenen Bereich der Gedanken und des Fühlens, auf jene Bereiche also, die zwar objektiv vorhanden sind, sich aber zugleich beharrlich als beobachtungsresistent erweisen. Um diesen Schauplatz, das Faszinosum Gehirn, zugänglich zu machen, wurden (und werden) Aufschreibe-, Darstellungs- und Bildtechniken entworfen, deren gemeinsames Bemühen es ist, in der Korrelation von jeweiliger medialer Spur und Psyche die physiologischen Aspekte zu überspringen,429 um eine Versuchsanordnung zu entwickeln, in der Repräsentationsraum und Psyche miteinander gekoppelt, vielmehr noch: eins werden. D. h. auf diese Weise werden die neuronalen Korrelate des Bewusstseins und das Wechselspiel von bewussten und unbewussten Prozessen untersucht.430 In der Korrelation von Gehirn- und Seelenzustand – also einem kontinuierlichen Verweisungssystem zwischen zwei Registern 431 – geht es demnach um die Suche und das Finden eines Sinnbildes für Gemütszustände, die nun – und dies ist methodologisch entscheidend für die folgenden Ausführungen – nicht mehr zu lesen432, als vielmehr zutiefst ikonisch zu behandeln sind. Erstmals ist ein permanenter Austauschprozess zu sehen und somit dann zu diagnostizieren gegeben: es ist ein Austausch zwischen einer neurologischen Spur der Erregung im Gehirn und einem ikonischen Zeichen, das heißt also, es handelt sich um den Versuch, dem Mentalen als der bislang entzogenen, unerschließbaren

428 Weigel, Sigrid: Phantombilder zwischen Messen und Deuten. Bilder von Hirn und Gesicht in den Instrumentarien empirischer Forschung von Psychologie und Neurowissenschaft, in: Jagow, Bettina von/Steger, Florian (Hg.): Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne, Heidelberg 2004, S. 159-198. Erst über die These, dass das Bewusstsein an der Übersetzung physiologisch evidenter Erregungen in semantisch distinkte Gefühle beteiligt ist, ist die Erforschung von Gefühlen, Denken und Bewusstsein für die Hirnforschung anschlussfähig geworden, so Weigel. 429 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 89-110, hier S. 100. 430 Stafford, Barbara M.: Neuronale Ästhetik. Auf dem Weg zu einer kognitiven Bildgeschichte, in: Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 103-125. 431 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 89-110, hier S. 100. 432 Ebd.

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Vorstellung erstmals ein Bild zu geben; also auch der Vorstellung von einem Medium, das weder das rein Technische noch das Spirituelle meint, sondern eher auf seinen Ursprung zurückgeht, in dem das Medium jenen Ort bezeichnet, an dem ein Geschehen zu beobachten ist, ein Geschehen, das durch das Medium hindurchgeht und es in diesem Prozess ebenso verändert, wie es durch das Medium wiederum verändert wird. Damit sollte Wissen über die Psyche eines Individuums erlangt werden, um Subjektivität ergründen zu können. Diesem Bestreben wird in einem Objekt Sichtbarkeit gegeben: der Gedankenphotographie. Dieser Prozess wurde durch die Erfindung der Röntgenstrahlen angeregt, die in das Innere des menschlichen Körpers vorzudringen vermochten und somit an einer Ausweitung des Blicks nicht nur durch weitere mikroskopische Aufnahmen molekularer Bereiche des menschlichen Körpers arbeiteten, sondern vielmehr das Nicht-Sichtbare abbilden wollten. Medien, wie die Photographie und der Film, induzieren also immer schon ein neues Wissen vom Menschen. In diesem Fall das Bestreben, aus einer experimentellen Praxis sichtbare und somit erfahrbare Bilder des Geistes hervorzubringen. Geht es also um Formen der inneren und äußeren Repräsentation mentaler Bilder, lassen sich diese Bemühungen mit ästhetischen Verfahren erklären, in dem Sinne, als dass etwa für die Kunst ein Bild immer schon sowohl materielles Substrat als auch Vorstellungsbild ist. Genau dann lässt sich aber nicht nur darauf verweisen, dass auch die Bilder der Kognitionswissenschaften vor einem kulturwissenschaftlichen Hintergrund entstanden sind, sondern es kann auch gezeigt werden, dass das Gehirn ein Schauplatz ist, auf dem es zu intensiven Verhandlungen und Wechselwirkungen zwischen traditionellen Vorstellungen und den jeweils aktuellen Innovationen kommt. Und wer aber nun seelische Prozesse zu sehen geben will, der muss sie allererst visualisieren und sie auf Bekanntes hin verpflichten, in diesem Fall: auf die Strukturmomente des Bildes selbst verpflichten, im Sinne der Beweiskraft des Bildes wäre dies: das Empreinte. Ein Empreinte jedoch mahnt die innerste Konstitution jeden Bildes selbst an, denn diese Bilder zeigen das Zeigen selbst und lehnen sich somit an eine Bestimmung des Bildes an, die durch die eingesetzte Abbildhaftigkeit suggeriert wird: Indexikalität433.

433 Die Frage danach, ob ein wissenschaftliches Bild als ein Abdruck, in der das Bild zeigt, was vorgegeben ist oder als eine Gestaltung zu verstehen ist, in der Wissenschaftler selbst ihre Spuren hinterlassen, bildet aktuell eines der am meisten diskutie-

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Dieser wie auch immer erzeugte indexikalische Abdruck der Wirklichkeit im Bild ruft jedoch einen Urtopos des Bildes auf: Das Bild als Abdruck und Spur. Die Realitätsgebundenheit ist sein Zeuge, was es zeigt, existiert. Und auch die Bilder, die dem Denken auf die Spur kommen wollen, sollen durchaus Bezug nehmen zu jener ursprünglichen Bedeutung des Bildes: Auch diese Bilder sollen bezeugen: sie sollen zeigen, dass ihr Gegenstand genau so (und nicht anders) ist. Aber, und dies gilt es im Folgenden zu zeigen: Das Prinzip der materiellen Berührung, auf dem jeder Abdruck beruht, zeugt in seinem Innersten nämlich gerade nicht von Ähnlichkeit. Jedes Empreinte ist vielmehr ein „Experiment mit offenem Ausgang“ und nicht das Aufstellen einer „technischen Hypothese, um zu sehen, was sich daraus ergibt.“434 Genau diese Prozesshaftigkeit des Abdrucks verweist dann aber auf Differenz, auf eine Offenheit für mögliche Verwandlungen, das Herstellen von Repliken beruht nicht mehr auf Ähnlichkeit, sondern wird zum Paradigma der Veränderung. Denn einen Abdruck zu erstellen bedeutet, ein Netz von materiellen Beziehungen zu erzeugen, aus denen das Objekt erst hervorgeht, die sich aber auch mit abstrakten Beziehungen, Mythen, Phantasmen und Kenntnissen verknüpfen. „Insofern ist der Abdruck zugleich Prozeß und Paradigma: Er vereinigt in sich beide Bedeutungen des Wortes expérience – die naturwissenschaftliche Bedeutung als ‚Experiment‘ und die […] Bedeutung als ‚Erkenntnis der Welt‘.“435

3 D ENKEN Ü BER D ENKEN –

DAS

G EDANKENEXPERIMENT ,

IKONISCH Diese Bilder und Verfahren, die dem Denken auf die Spur kommen sollen, entstehen also aus jenem eingangs benannten Wechselverhältnis von inneren und äußeren Bildern; also aus Bildern der Vorstellung und materiellen Bildern. Dieses Zusammenspiel zu erklären, erlaubt das Konzept des Gedankenexperiments. In ihm nämlich korreliert eine mentale Versuchsanordnung mit der Durchführung, also dem empirischen Experiment, d. h. also, ein Gedankenexperiment findet nicht nur

ren Felder in der Analyse wissenschaftlicher Bilder. Vgl. dazu jüngst: Daston, Lorraine: Bilder der Wahrheit. Bilder der Objektivität, in: Huber, Jörg (Hg.): Einbildungen. Interventionen 14, Zürich 2005, S. 117-153. 434 Didi-Huberman, Georges: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 17. 435 Ebd.

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in Gedanken statt, sondern wendet sich auch der Frage zu, was Gedanken sind, bzw. wie Denken funktioniert, d. h. es geht neben der wissenschaftlichen Bestimmung des Denkens immer schon auch um eine generelle Verortung eines Denkens über das Denken. Exakt diese Markierung lässt somit Werkzeug und Gegenstand in eins fallen: Um Aussagen über das Denken – dem Gegenstand der Erörterungen – überhaupt treffen zu können, werden wiederum Gedanken verwendet: Das Werkzeug wird also in der direkten Anwendung Gegenstand der Untersuchung. Ein Gedankenexperiment eröffnet folglich ein Spannungsfeld zwischen den Vorstellungen vom Denken und den Darstellungen des Denkens.436 Um in diese bislang unverfügbaren Felder vorzudringen, übernimmt die Kombinatorik von Elementen eine entscheidende Funktion – sie ist eine Konstellation, durch die nicht zuletzt grenzüberschreitende Verfahren hervorgebracht werden. Das Gedankenexperiment eröffnet also insofern einen Möglichkeitsraum bzw. „Verschiebungen in der vertrauten Ordnung des Wissens“437. Für das Gedankenexperiment ist die Rolle von Annahme, Imagination und Fiktion unbestritten: Vorstellungen, die der Einbildungskraft oder Phantasie entspringen bzw. dem generellen Vermögen des Fingierens. Das Gedankenexperiment ist also immer schon ein Doppeltes: Es ist fingiertes Experiment oder Experiment im Raum der Fiktion.438 Im Gedankenexperiment werden Möglichkeiten – unabhängig davon, aus welchem der Bereiche sie kommen – im Modell erdacht und erprobt.

436 Und genau an dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung der Künste: Die Geschichte des Gedankenexperiments im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart zeigt einen Schauplatz, auf dem die Künste einen entscheidenden Anteil an der Generierung von – neuem – Wissen haben. Gerade für das Gedankenexperiment gilt, dass die unterschiedlichen Bereiche – für meine Beispiele ist das das Zusammentreffen von Kunst, Naturwissenschaft und Medien – an einer Modellbildung arbeiten, bei der die Komplexität menschlicher Artefakte und Leistungen befördert werden soll. 437 Weigel, Sigrid: Das Gedankenexperiment. Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und Literatur, in: Macho, Thomas/Wunschel, Annette (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt am Main 2004, S. 183-205, hier S. 184. 438 Vgl. ebd.

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Ebenso aber entwerfen Gedankenexperimente Szenarien, in denen das Denken schlechthin lokalisiert und dingfest gemacht werden soll. Im Gedankenexperiment – und dies wird häufig übersehen – wird das Vermögen der Fiktion auch in die wissenschaftliche Erkenntnis zurückgeholt. Mehr noch, die Fiktion ist ein unverzichtbarer Bestand der Wissenschaften, auch und gerade in der Erforschung der Naturgesetze. Denn: Für das wissenschaftliche Gedankenexperiment wird die Fiktion zu einem Erkenntnismedium. Insofern widerspricht es der Hauptlinie in der Genese moderner Wissenschaft, die über die Ausgrenzung und die Entgegensetzung zu jenen Erkenntnismodi geschah, die als subjektiv, künstlerisch, kulturell schöpfend bewertet und dem geisteswissenschaftlichen Vermögen von Deuten und Verstehen zugeordnet werden. Es geht also um die Erfahrung und Kenntlichmachung der Verwobenheit einander scheinbar ausschließender Denkmodelle. Das bedeutet konkret, dass z. B. Fakt nicht der Gegensatz von Fiktion ist, sondern beide einander bedingen und ineinander verwoben sind. Das heißt also, dass die Erfahrung von Realität ohne die Begegnung mit der Fiktion nicht zu haben ist.439 Vielmehr noch: Gedankenexperimente sind eben nicht per se kontrafaktisch,440 – so gedacht, beraubte man sie ihres subversiven Moments, setzte eine wohlbekannte, faktische Realität voraus und verschöbe die Gedankenexperimente in den Bereich des Gegen-Realen, des Fiktiven. Hier aber geht es in ihnen vielmehr darum, durch die Erprobung des Möglichen Strukturen des Faktischen zu erkunden.441 Vor diesem Hintergrund soll es in den im Folgenden skizzierten Beispielen um die Verschränkung von Experimenten in virtu bzw. im Modell gehen (d. h. Experimente in Gedanken oder im Virtuellen) als auch um die empirisch-experimentelle Erforschung des Denkens (d. h. Experimente des Denkens). Dabei wird die kreative Rolle von inneren und äußeren Bildern für die Erforschung des Denkens

439 Macho, Thomas/Wunschel, Annette: Zur Einleitung. Mentale Versuchsanordnungen, in: Macho, Thomas/Wunschel, Annette (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt am Main 2004, S. 914. 440 Vgl. dazu ausführlich: Griesecke, Birgit/Kogge, Werner: Was ist eigentlich ein Gedankenexperiment? Mach, Wittgenstein und der neue Experimentalismus, in: Krause, Marcus/Pethes, Nicolas (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 41-75. 441 Vgl. dazu: ebd., hier S. 44.

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eine wichtige Rolle spielen, ebenso ein Begriff von Fiktion, der nicht das Gegenteil von Fakten meint, sondern die ganze Spanne von fingere einschließt, d. h. Formen, Bilden, Gestalten, Annehmen, Hervorbringen und Vorstellen.442 Dieser berührt einen Bildbegriff, in dem Bilder eben nicht nur bloße Abbilder sind, sondern Konfigurationen, in denen Figuren des Denkens mit Dingen der äußeren Welt überhaupt erst zusammentreten. Mit dem Rückgriff auf den ursprünglichen Wortsinn von fingere wird zum einen die Bedeutung der Vermögen der Künste für das Gedankenexperiment evident, zum anderen kann – und soll – gezeigt werden, wie die Praxis des Fingierens – also Annahme, Hypothesenbildung, Anordnung von Objekten, Modellbildung – auch im Zentrum kognitionswissenschaftlicher Methoden steht, wenn Naturgesetze im status conditionalis beobachtet werden.443 Diese Überlegungen sollen nun an signifikanten Schauplätzen des Gedankenexperiments erörtern werden. Grundlegend für diese folgenden Beispiele ist die Schnittstelle von neurobiologischem, medientechnischem und bildwissenschaftlichem Diskurs an der Wende zum 20. Jahrhundert, mit der eine intensive Verschränkung von Ästhetik und Psychophysik vorangetrieben wurde. 444

442 Weigel, Sigrid: Das Gedankenexperiment. Nagelprobe auf die facultas fingendi in Wissenschaft und Literatur, in: Macho, Thomas/Wunschel, Annette (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt am Main 2004. S. 183- 209, hier S. 185. 443 Ebd. 444 Die maßgebliche Bedeutung der Gedankenphotographien, der Drang, dem Denken, der Seele, dem Fluidalen ein Bild zu geben wird von Beat Wyss ähnlich signifikant für die Entwicklung der Moderne verstanden und analysiert wie in der vorliegenden Studie. Unter dem Kapitel ‚Der doppelte Boden der Moderne‘ führt Wyss in seiner Monographie Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne aus, dass die Moderne eben nicht nur Fortschritt, sondern auch Mythologie produzierte und sich Aufklärung in der Tat mythologischer Arbeit verdankt. Wyss schreibt: „Wer die kulturhistorische Bedeutung der Geheimgesellschaften und esoterischen Bewegungen herunterspielt, verengt die Moderne auf das rationalistische Wunschbild einer Epoche, die es nie gegeben hat. >Moderne< wird dann mit jener >Aufklärung< gleichgesetzt, die Kant als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definiert. Das aber ist nicht die Moderne in ihrer historischen Realität, sondern in der programmatischen Selbstsetzung ihrer Vertreter, die – ein Nirgendwo im Nirgendwann – mythische Rede blieb. Der aufgeklärte Historiker neigt dazu, diese mythische

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4 „D IE S EELE IN DER S ILBERSCHICHT “ 445 „Wenn der Gedanke einfach in einem Bild festgehalten wird, so wird dieses Lichtbild, die leuchtende Hülle unseres Gedankens, eine photochemische Wirkung haben, die stark genug ist, um direkt oder unmittelbar durch das Glas auf den gelatinierten Film einzuwirken – und zwar auf eine für das menschliche Auge unsichtbare Weise. Die erhaltenen Bilder habe ich Psychikonen genannt, leuchtende und lebende Abbilder des Gedankens.“446

Mit dieser Beschreibung erläuterte der Arzt Hippolyte Baraduc während eines Vortrags in Bar-le-Duc am 25. Oktober 1896 seine Erfindung des „tragbaren Radiografen“ bzw. „tragbaren Strahlenfotografen“. Der tragbare Radiograf ist ein kleines Etui, das eine hochempfindliche Platte enthält, die auf der Stirn befestigt wird. Das Gerät wurde mit dem Ziel eingesetzt, den Denkprozess selbst im Gehirn zu lokalisieren, um Gedanken materialisieren zu können.

Rede der Moderne seiner geschichtlichen Analyse als ethisches Postulat voranzustellen; hier sei sie, umgekehrt, zum Gegenstand der Analyse gemacht.“ In der vorliegenden Untersuchung werden die Gedankenphotographien – im Gegensatz zu Wyss’ Argumentation – eben gerade nicht im Esoterischen belassen und damit dem traditionellen Kanon zugeordnet, der ja bei Wyss unterhinterfragt bleibt, nur eben positiv gewendet wird. Hier werden vielmehr Gedankenphotographien ganz generell dem Esoterischen entpflichtet und einem Bereich zugeordnet, in dem es um eine Versuchsanordnung geht, die – eben einem Gedankenexperiment gleich – überhaupt erst die Möglichkeit der Sichtbarkeit von mentalen Vorgängen erlaubt und damit erstmals einen radikal anderen Schauplatz im Denken über das Mentale erlaubt. (Wyss, Beat: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1996, S. 157, H. i. O; Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung? (1784), in: Berlinische Monatsschrift IV, 1784, S. 481-494. Reprint in: Hinske, Norbert (Hg.): Was ist Aufklärung? Beiträge aus den Berlinischen Monatsblättern, Darmstadt 1973.) 445 Arnheim, Rudolf: Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk, Frankfurt am Main 2004. 446 Baraduc, Hippolyte: Vortrag gehalten in Bar-le-Duc am 25. Oktober 1896. Zitiert nach: Annuaire général et international de photographie, 1897, S. 295, dt.: Chéroux, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1997, S. 11-22, hier S. 16, Hervorhebung S. F.

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Der Versuch, Gedanken sichtbar zu machen, wurde in Analogie zur Photographie bzw. der Röntgenstrahlen entwickelt und mündete in der Vorstellung, dass sich Gedanken durch konzentriertes Denken, bzw. die Fähigkeit zur starken Vorstellungskraft, indexikalisch – also einem Empreinte gleich – auf der Platte abbilden ließen. Was Hippolyte Baraduc, 1850-1909, Facharzt für Nervenkrankheiten an der Salpêtrière, theoretisch 1897 in seiner Méthode de radiographie humaine, la force courbe cosmique, photographie des vibrations de l’éther, loi des auras447 erläutert, kennzeichnet die Entstehung eines Schauplatzes, in dem das Gehirn und seine Funktionen im Zentrum stehen, derart, dass es nicht mehr darum geht, eine Möglichkeit für die Aufrichtigkeit einer Rede über Gehirnarbeit zu entwickeln, sondern mit dem indexikalischen Bild verbindet sich die Idee, per se Aufrichtigkeit über Unmittelbarkeit und Eindrücklichkeit zu erzeugen. Vielmehr noch: in dem Bestreben, das Nicht-Sichtbare sichtbar zu machen, sollen vermittels einer Untersuchung der Gedanken das Bewusste und das Unbewusste lokalisierbar gemacht werden. Die notorisch opaken Innenwelten der Seele würden also qua gedanklicher Fähigkeiten über das Denken – erzeugt durch Konzentration oder eben ihr genaues Gegenteil – die Physiologie des Gehirns auf die darin fixierten Gedanken transparent machen448 – und dies durch die Indexikalität der Einbildungskraft. Gedankenphotographien sind in diesem Sinne also tatsächlich perfekte Psychikonen, die den gesamten Kosmos von psychischen Zuständen mit den dinglichen Aspekten von Gehirnvorgängen und den symbolischen Ordnungen von Gedanken und Bildern in Deckung bringen.449 Topografisch lassen sich zwei Zentren der Forschungen zur Gedankenphotographie ausmachen: Zum einen das künstlerische Zentrum in Russland, vertreten etwa durch Wassily Kandinsky und El Lissitzky, zum anderen das medizinischkognitions- neurowissenschaftliche Zentrum in Frankreich, vertreten durch Louis Darget, den berühmten Neurologen Jules Bernard Luys, der zunächst Chefarzt

447 Baraduc, Hippolyte: Méthode de radiographie humaine. La force courbe cosmique. Photographie des vibrations de l’éther. Loi des auras, Paris 1897. 448 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 89-110, hier S. 92. 449 Vgl. dazu im Hinblick auf Sprache und sprachliche Prozesse: Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 89-110, hier S. 92.

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der Salpêtrière und später der Charité war und einen berühmten medizinischen Atlas zur Kartographie von Gehirnfunktionen entwickelte, sowie jenen bereits zitierten Hippolyte Baraduc.450 Interessanterweise unterhalten diese beiden Zentren zur Erforschung des Gehirns vielfältige Beziehungen untereinander: So sandte Louis Darget 1913 seine Schrift Exposé des differents méthodes und einige Farbphotoexperimente an Wassily Kandinsky,451 die vermutlich nicht ohne Einfluss auf dessen Entwicklung der Abstraktion waren. Hippolyte Baraduc, der wiederum abhängig von den Forschungen Dargets war, beeinflusste mit seinen ‚rayonnements divins‘ und den

450 In der Folge der Gedankenphotographien werden, veranlasst durch die Entwicklung weiterer technischer Apparate, die Möglichkeiten, sich das Gehirn bei der Arbeit zeigen zu lassen, maximiert. Technische Hirnschriften etwa erlangen Aufmerksamkeit unter dem Begriff der Psychographen und 1904 eröffnete Henry Lavery die Firma The Phrenology & Co und beantragte ebenfalls 1904 das Patent auf eine anatomische Mess- und Aufzeichnungsmaschine. Angeregt durch die Erfindung der Röntgenstrahlen wendet sich das Forschungsinteresse nun der Frage zu, ob es möglich sei, den Gedanken, den Prozess des Denkens, den Intellekt selbst fotografieren zu können, was durch Wissenschaftler wie den englischen Chemiker und Physiker William Crookes in seiner Rede vor der Londoner Gesellschaft für psychische Wissenschaften im Juli 1897 als Hypothese formuliert wurde. Nach 1896 lassen sich in ganz Europa und Amerika verschiedene Zentren ausmachen, die sich mit „Psychographie“ beschäftigen. 451 Wassily Kandinsky zeigte ein nachhaltiges Interesse an ‚transzendentaler Fotografie‘ und hat möglicherweise im Jahr 1907 in Paris an einer Vorführung Louis Dargets mit Photographien von Gedanken, Gefühlen, Krankheit usw. teilgenommen (vgl. dazu: Zimmermann, Reinhard: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Berlin 2002). Am 15. Februar 1913 fragt Kandinsky bei dem in Paris lebenden Bildhauer Arnold Rönnebeck nach Dargets ‚5000 fluides magnetiques‘. Rönnebeck, der Darget am 25. März 1913 sah, sendete Kandinsky daraufhin Dargets Publikation Exposé des différentes méthodes pour l’obtention de Photographies fluido-magnétiques et spirites Rayons V (Vitaux) für eigene Versuche. Neben dieser Publikation enthält die Bibliothek Wassily Kandinskys, die sich im Centre Georges Pompidou befindet, weitere Werke zu Gedankenphotographien, Geistererscheinungen usw., so z. B. auch Alexander Aksákows Animismus und Spiritismus aus dem Jahr 1898. In seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst hat Kandinsky sich – bekanntermaßen – eingehend mit der Frage der psychischen Wirkung eines Kunstwerks auseinandergesetzt. Kandinskys Bestreben war es, die Unmittelbarkeit des Kunstwerks und seine Einwirkung auf den Betrachter zu akzentuieren.

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‚fantômes lumineux‘ die Autoren Annie Besants und C. W. Leadbeaters bei der Abfassung ihrer okkulten Schrift Gedankenformen452, die wiederum von vielen Künstlern – wie etwa Mondrian oder Kandinsky – gelesen wurde. Deren ungegenständliche Malerei und medientechnischen Experimente, wie auch die Bragaglias und Man Rays, ermöglichten überhaupt erst die Darstellungen des Undarstellbaren und stellten somit das Dispositiv zur Verfügung, mit dem diese naturwissenschaftlichen Experimente als Kennzeichnen absoluter Modernität wahrgenommen werden konnten. Ausgangspunkt dieser intensiven Bemühungen um die Gedankenphotographie war die erneut bestätigte Annahme, dass die Wirklichkeit sich nicht auf Sichtbares beschränkte, die durch die Entdeckung der Röntgenstrahlen Ende Dezember 1895 gemacht wurde.453 Dem deutschen Physiker Wilhelm Konrad Röntgen, der sich bereits Monate vor seiner Entdeckung der Röntgenstrahlung mit fluoreszierenden Strahlungen beschäftigt hatte, die beim Durchgang eines elektrischen Funkens durch eine mit verdünntem Gas gefüllte Röhre – einer sogenannten Crookes’schen oder Geissler’schen Röhre – entstehen, gelang am 22. Dezember 1895 die erste Photographie von Knochen durch das Fleisch hindurch am Beispiel der beringten Hand seiner Frau Bertha Röntgen. Ging man vor dieser Erfindung davon aus, dass sichtbares Licht die photographische Platte schwärze, sah man nun durch unsichtbare Strahlung hervorgebrachtes Körperinneres, also die Freigabe des eigenen Blicks auf Unsichtbares. Relativ

452 „Dr. Baraduc in Paris hat nahezu die Grenzen, die uns von der übersinnlichen Welt trennen, überschritten und beginnt jetzt, astral-mentale Gebilde zu photographieren, um Bilder von dem zu trennen, was man vom materialistischen Standpunkte aus die Resultate der Schwingungen in der grauen Gehirnmasse nennen würde. Es ist allen denen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, schon lange bekannt, daß man unsichtbare Gegenstände durch die Brechung ultravioletter Strahlen nachweisen kann, deren Vorhandensein bei Benutzung der sichtbaren Strahlen des Spektrums nicht wahrgenommen werden kann. Hellsehende wurden gelegentlich durch den Umstand gerechtfertigt, daß Figuren, die sie neben dem zu Photographierenden gesehen und beschrieben hatten, auf empfindlichen photographischen Platten erschienen, während sie mit dem physischen Auge nicht wahrgenommen werden konnten.“ (Besant, Annie/Leadbeater, Charles Webster: Gedankenformen, Freiburg i. Br. o. J. [Neudruck der 2. Aufl. von 1926 oder 1927 (1. Aufl. 1908)]). 453 Am 22. Dezember 1895 gelang dem Physiker Wilhelm Konrad Röntgen die erste Röntgenaufnahme; die beringte Hand seiner Frau Berta Röntgen.

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schnell erfolgte eine Analogisierung der Röntgenstrahlen mit dem menschlichen Blick und dem Begehren, jenes zu sehen, das sich bislang den menschlichen Blicken entzog. So stellte Jules Bois in seinem Aufsatz ‚L’Ame scientifique‘ der in der Zeitschrift Revue spirite454 gedruckt wurde, die Frage: „Könnte es nicht auch X-Blicke geben, so wie es X-Strahlen gibt?“ Die Erfindung der Röntgenstrahlen verband sich also schnell mit einer mystischen Funktion, mit der alle ungeklärten Phänomene menschlicher Fähigkeiten geklärt werden sollten. P. Bloche, Autor der Revue spirite, geht von der „Möglichkeit [aus], daß Seher in Verbindung mit ihrem Gesichtssinn eine hochentwickelte Art Crookesscher Röhre besitzen, so daß dem normalen Blick verborgene Gegenstände durch Astrallicht den von diesen Medien erzeugten Kathodenstrahlen ausgesetzt sind.“455 Der kognitionswissenschaftliche Diskurs ermöglicht eine Wahrnehmungserweiterung durch die Verbindung von Medientechnik mit okkulten Fähigkeiten. Bildwissenschaftlich bedeutet dies: Die Bilder photographieren sich auf das Gehirn. D. h. sie erzeugen einen indexikalischen Abdruck im Gehirn, indem sie von außen in das Körperinnere und also das Gehirn eindringen und dann für die Testperson durch Introspektion sichtbar werden. Introspektion ist hier also zunächst die Methode, die im Denkprozess selbst angewandt und sodann abgebildet wird. So gesehen, handelt es sich also um den Versuch eines Selbstzugangs, der entsprechend bedacht wird.456 „Ein besonders interessantes Beispiel für die Unmöglichkeit, passive und aktive Beobachtung zu trennen, ist die Introspektion. Hier möchte man Vorgänge im eigenen Denksystem

454 Bois, Jules: L’Ame scientifique, in: La Revue spirite, 1896, S. 355, dt.: Chéroux, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1997, S. 11-22, hier S. 13. 455 Bloche, P.: Les Rayons cathodiques et la lumière astrale, in: La Revue spirite, 1897, S. 669, dt.: Chéroux, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1997, S. 11-22, hier S. 14. 456 Rieger, Stefan: Der Takt der Seele. Zur medialen Modellierung des Bewusstseins, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 177200, hier S. 178.

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gewissermaßen als Objekt beobachten, kann dies jedoch nur mit Hilfe des eigenen Denksystems, das man also durch die Beobachtung in einen anderen Zustand versetzt, als man eigentlich beobachten wollte.“457

Die Grundlage der Gedankenphotographie ist also die Annahme, dass der Gedanke als strahlende und unsichtbare Emanation die Hülle des ihn enthaltenden Schädels verlässt, um sich der photographischen Platte einzuprägen. Dabei kommt es zu unterschiedlichen Ergebnissen, die von reinen Farb- und Formveränderungen bis hin zur eindeutigen Identifizierung des gedachten Gegenstands reichen. Im Gegensatz zu den abstrakt anmutenden Abstufungen von Licht und Schatten, die Baraduc mit seinen Psychographien erzielte, erhält Louis Darget deutliche, manchmal sogar bildhaft anmutende Formen. Auch Darget beginnt zunächst damit, eine Platte auf die Stirn eines seiner Probanden zu legen, um einen indexikalischen Abdruck eines Gedankens zu erhalten, wie es die Psychographie ‚der Adler‘, die er seiner Frau entnahm, zeigt. Darget erzielte mit seinen Versuchen auch abstrakte Formen, wie eine Platte, entnommen von seinem Probanden mit dem Namen Herr Henning zeigt. Diese Abstraktion wurde durch eine auf die Stirn von Herrn Henning aufgelegte Platte erzeugt, während dieser auf dem Klavier eine Partitur von Beethoven spielte und parallel dazu ein Portrait von Beethoven betrachtete. Die Psychographie ist hier keine indexikalische Spur im Sinne eines Abbildes, das sich als Bild zeigt, sondern vielmehr versuchte Darget, eine Entsprechung eines Sinneseindrucks und seine Umsetzung im Gehirn darzustellen. Der Gedanke ist für Darget eine „leuchtende, schöpferische, fast materielle Kraft.“ 458 Ein Gedanke löst nach seiner Ansicht im Gehirn eine Vibration aus und die dadurch entstehenden Strahlen werden sodann nach außen projiziert; dargestellt wird auf diese Weise also nicht mehr ein zuvor Unbewusstes im Bild, sondern ein transitorischer Übergang, bei dem eine körperliche Tätigkeit – das Klavierspiel – eine geistige Tätigkeit anregt und umgekehrt.

457 Steinbuch, Karl: Automat und Mensch. Kybernetische Tatsachen und Hypothesen, Berlin, u. a. 1965, S. 331. 458 Darget, Louis, zitiert in: Anonym: La photographie transcendantale. Les êtres et les radiations de l’espace, Paris 1911, S. 31, dt.: Chéroux, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1997, S. 1122, hier S. 16; Vgl. dazu auch die Theorien der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts.

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An dieser Stelle zeigt sich die deutliche Verschränkung von geistiger und körperlicher Aktivität, bzw. genauer: die unabdingbare Verschränktheit von Körper und Gehirntätigkeit ineinander. Im Verlauf dieser extensiven Auseinandersetzung mit der Gedankenphotographie verschiebt sich am Körper interessanterweise der ideale ‚Austrittspunkt‘ der Gedanken. Favorisierte Hippolyte Baraduc nach wie vor die Stirn als Ausgangpunkt der Gedanken, so war Louis Darget der erste, der die Stirn als den exklusiven Ort der Ermittlung von Gehirntätigkeit und Gedanken aufgab und zugunsten der Augen verschob. Darget beginnt nun, Gedanken zu photographieren, indem er eine hochlichtempfindliche Platte mit den Augen fixierte. Sein Verfahren erläutert er in seinem Aufsatz: ‚Photographie des Radiations psychiques‘: „Wenn man seine Gedanken auf eine geistige Form von einfachen Umrissen, zum Beispiel eine Flasche konzentriert, dann wird diese Form sich durch die Augen in einer Leuchtspur auf der Platte verbreiten und dort ihr Abbild hinterlassen“, schreibt Darget zu seiner berühmtesten Gedankenphotographie, der ‚Flasche‘ und in einem weiteren Kommentar dazu: „Es scheint, daß die Flaschenform, die ich absichtlich im Gehirn behalten habe, auf die Platte projiziert wurde, daß sie als Leuchtspur das Gehirn verlassen und den Schädel nach Art der Röntgenstrahlen durchquert hat.“459

459 Darget, Louis: Exposé des différentes méthodes pour l’obtention de photographies fluido-magnétiques et spirites. Rayons V, in: L’Initiation, Paris 1909, S. 8, dt.: Chéroux, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1997, S. 11-22, hier S. 16; sowie: Darget, Louis: Photographie des Radiations psychiques, in: Le Spiritualisme moderne, H. 2, 20. Januar 1899, S. 18, dt.: Chéroux, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1997, S. 11-22, hier S. 17.

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Bildwissenschaftlich verändert sich hier das Paradigma der Gedankenphotographie. War sie zuerst dominiert von Strahlen, die den Gedanken im Gehirn materialisierten, so verlässt der Gedanke nun das Gehirn über die Augen und drückt sich auf der Platte ab.460 Menschliche Ausstrahlung hatte nach diesem Konzept dieselbe Fähigkeit wie Röntgenstrahlen und konnte Spuren hinterlassen. Das heißt also, es ging nicht mehr um Röntgenstrahlen, die Strahlenphotographien vom Inneren der Körper erzeugen, sondern der Körper selbst sendet Strahlen aus. Damit sollte es nun auch möglich werden, nicht nur Gedanken, sondern insbesondere Gefühle, Träume und insbesondere die Lebenskraft selbst abbilden zu können. In diesem Zusammenhang verschob sich der Austrittsort der Gedanken erneut, denn Baraduc und Darget führten nun Versuche durch, bei denen die Hand als der Körperteil angesehen wurde, an dem die Strahlung nach außen dringt. Während Baraduc ohne Entwicklerflüssigkeiten arbeitete, und die Fingerspitzen oder auch die ganze Handfläche – immer noch nach dem Modell der Röntgenfotografie – auf die empfindliche Platte auflegte, zögerte Darget nicht, die Hand oder einige Finger in das Entwicklerbad zu tauchen, um diese Strahlung auffangen zu können. Auf diese Weise erzeugte Darget farbige Strahlungen. Diese Forschungen zur Strahlkraft der Gedanken, bzw. der Fähigkeit, Gedanken photographieren zu können, wurden begleitet von der Bildung von Studiengesellschaften und Forschungslaboratorien sowie einer Reihe von Prüfausschüssen, denen bedeutende Forscher unterschiedlichster Wissenschaften angehörten, wie etwa: Pierre und Marie Curie, Étienne-Jules Marey oder auch Henri Bergson. D. h. es wurde versucht, der Subjektivität der Experimentatoren durch entsprechende Handlungen wissenschaftliche Objektivität entgegenzuhalten. Ein herausragendes Instrumentarium dazu war die Photographie als – wie G. Wilfried in Les Psychographies fluidiques schrieb: „absolut passives Werkzeug, deren getreue Wiedergabe nicht bezweifelt werden kann.“461

460 Möglicherweise steht dieser Wechsel in Zusammenhang mit Schriften wie etwa: Rochas, Albert de: L’Extériorisation de la sensibilité, étude expérimentale et historique, Paris 1895. 461 Wilfried, G.: Les Psychographies fluidiques, in: L’Echo du merveilleux, H. 308, 1. November 1909, S. 413, dt.: Chéroux, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1997, S. 11-22, hier S. 20.

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Die Photographie ersetzte hier also jene Personen, die bis dahin psychische Ereignisse in ein Bild setzten, wie die Hysterikerin, die Somnambule, die Hypnotisierte usw. Auf diese Weise wurde die Photographie selbst zum Medium und zu einem wichtigen Instrument des Erkenntnisprozesses eines immer erst zu erzeugenden Experimentalsystems. Gedankenexperimente dieser Art unterscheiden sich also signifikant von den zeitgleich firmierenden rein physiologischen Aufschreibesystemen: Als Verfahren an der Schnittstelle von Gehirn und Seele scheint ihnen ein Mehrwert eingeschrieben, der über physiologische Methoden hinausgeht. So erscheinen sie spektakulär, selbst dort, wo sie nicht preisgeben, was sie anzeigen, weil sie preiszugeben scheinen, was sie gar nicht anzeigen.462 Eben weil sie nicht um ontologische Dopplungen und damit auf die Repräsentation einer vorgängigen Wirklichkeit zu reduzieren sind, eröffnen sie ein Neuland im Wissen vom Menschen: hier die Möglichkeit, sein Unbewusstes zum Gegenstand von Erkenntnis zu machen.463

462 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 89-110, hier S. 109. 463 Vgl. Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main 2001, S. 55.

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So oder so: das anscheinend Unzugängliche des Subjekts ist nicht länger ein Vakuum, das unerreichbar und unzeigbar bleibt,464 sondern es ist vielmehr mit und durch Praktiken, Handlungen und Bilder benennbar und zeigbar.465 Es geht also

464 Rieger, Stefan: Der Takt der Seele. Zur medialen Modellierung des Bewusstseins, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S.177200, hier S. 179. 465 Der Versuch, Gedanken sichtbar zu machen und im Gehirn den Ort markieren zu können, an und in dem Gefühle, Träume, Bewusstsein oder auch der ‚freie Wille‘ entstehen, ist auch in der gegenwärtigen Forschung von Brisanz. Eine der gegenwärtig populärsten neurologischen Theorien betrifft die These von sogenannten Spiegelneuronen: Hier dienen Bilder der Hirnforschung als Beleg dafür, dass im Gehirn ‚Spiegelneuronen‘ existieren, die direkt die Handlungen anderer Personen nachahmen. Die These besagt, dass im prämotorischen Kortex bzw. im Broca-Zentrum Neuronengruppen nicht nur dann erregt werden, wenn eine Person sich selbst bewegt, sondern auf genau die gleiche Art und Weise aktiviert werden, wenn eine anderen Person eine Handlung vollzieht. Ausgelöst durch einen optischen Reiz, spiegele sich die Aktion einer Person im Gehirn einer anderen, die diese Aktion beobachtet. Dabei werden sowohl Bewegungen imitiert, als auch – bedingt durch Spiegelneuronen im Broca Zentrum, das für das Sprechen wichtig ist – Sprache. In Marseille wurde durch Bruno Wicker am Institut de Neurosciences Physiologiques et Cognitive die Bedeutung der Spiegelneuronen beim Verstehen von Gefühlen erforscht. Diese sogenannten ‚Nachahmerzellen‘ befinden sich im insularen Kortex, wo Emotionen verarbeitet werden. Diese Hirnregionen scheinen für das Mitfühlen verantwortlich zu sein, d. h. also für das empathische Einfühlungsvermögen in z. B. die Schmerzzustände einer anderen Person. Das heißt also, Spiegelneuronen eröffnen – so die neurowissenschaftliche These – einen direkten Zugang zum Handeln anderer Personen. Darüber hinaus eröffnen sie einen Zugang zu den Emotionen einer anderen Person, indem sie sie simulieren. Vielmehr noch: Jüngst gehen Wissenschaftler der University of California in Los Angeles davon aus, dass Spiegelneuronen eine weitere Funktion erfüllen: Sie sollen Aufschluss nicht nur über das Was, sondern auch über das Warum einer Aktion geben – und damit über die Absicht des Handelns. Die Theorien über die Funktion und Fähigkeiten der Spiegelneuronen entlehnen ihre Konzepte, mit denen die Funktionsweise von Spiegelneuronen überhaupt vorstellbar wird, einem eindeutig kultur-, bzw. kunstwissenschaftlichen Kontext: nämlich dem Prinzip der Mimesis. Es könnte also für Kognitions- und Neurowissenschaftler durchaus nützlich sein, sich mit den vielfältigen kulturhistorischen Befunden des Beobachtens und Vergleichens vertraut zu machen. Wenn nachahmende Darstellung die Herstel-

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darum, zu erkennen, dass dem Mentalen eine fundamentale visuelle Natur zugrunde liegt. Es zeigt sich, dass das Gehirn immer schon ein transdisziplinäres Objekt im ikonischen, neurologischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Subjektdiskurs der Moderne war und ist. Es zeigt sich gleichermaßen aber auch, dass es Gründe gibt, das Biologische im Kulturellen, oder schärfer: im Bild zu entdecken.

lung von Übereinstimmung zwischen dem Beobachteten und den inneren Simulationen bedeutet, ist dies als Mimesis bereits vielfach untersucht. Insofern stellt sich die Frage, in welcher Beziehung das ästhetische Verfahren der Mimesis und der Befund der Nachahmung der Spiegelneuronen zueinander stehen. Die Idee der Spiegelneuronen schließt also nicht nur an die vorgestellten Beispiele an, sondern lässt sich an weitere uns wohlbekannte Phänomene anschließen, in der sich eine Verschränkung von kulturellen und neurologischen Befunden erkennen lässt: in diesem Fall an eine bekannte gesellige Kultur, nämlich die Kultur der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts, in der es darum ging, sich in ein Gegenüber einzufühlen und dessen Handlungen vorauszusehen. Die Künstler des 18. Jahrhunderts hatten bekanntermaßen eine Vorliebe für eine intuitive Bilderzählung und gefühlsbetonte Gestik, das heißt, in ihren Werken ging es um die „Bemühungen, in das Gedächtnistheater des Gehirns“ vorzudringen. Sich in ein Gegenüber einzufühlen und Handlungen vorherzusehen ist also keineswegs eine Entdeckung der gegenwärtigen Neurowissenschaften, sondern kann bereits vielfältig erkannt werden. Unser mentales Vokabular ist also zutiefst historisch und ein Blick auf diese Geschichte ermöglicht, den Prozess der Bewusstwerdung der psychophysischen Beschaffenheit des Gehirns nachzuvollziehen. Vgl. dazu: Stafford, Barbara M.: Neuronale Ästhetik. Auf dem Weg zu einer kognitiven Bildgeschichte, in: Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 103-127, hier S. 109 und 116.

Abbildung 27: Hippolyte Baraduc: Der tragbare Radiograph, 1887.

Abbildung 28: Hippolyte Baraduc: Odische Wolke und Tupfen, gewonnen durch die Stirn eines jungen Mannes (mit Elektrizität, ohne Fotoapparat, elektro-attraktive Methode), 1896.

Abbildung 29: Louis Darget: Der Adler, Abbildung gewonnen durch zehnminütige Auflage einer Platte auf die Stirn der im mediumistischen Schlaf liegenden Madame Darget, 1896.

Abbildung 30: Louis Darget: La Première Bouteille, Gedankenfotografie, 1896.

Abbildung 31: Louis Darget: Gedankenfotografie. Planet und Satellit, geschaffen durch Gedanken des Herrn A., der einen Himmelsatlas betrachtete, während seiner Stirn eine Platte auflag, 1896.

Abbildung 32: Louis Darget: Gedankenfotografie. ca. 1896.

Abbildungen 33/34: Louis Darget: o. T. Fluidalfotografie, ca. 1896.

Abbildungen 35/36: Louis Darget: o. T. Fluidalfotografie, ca. 1896.

Abbildung 37/38: Jules-Bernard Luys/David: Fluidalfotografie von Fingern, 1897; Ohne Autor: o. T. Fluidalfotografie, 1897.

Abbildung 39: Hippolyte Baraduc: Les boulets vitaux, 1896.

Kapitel VII Exzentrisches Sehen – Avantgarde als Laboratorium der Wahrnehmung „Sähest du feiner, so würdest du alles bewegt sehen: wie das brennende Papier sich krümmt, so vergeht alles fortwährend und krümmt sich dabei.“466 FRIEDRICH NIETZSCHE „die ‚schicksalsfrage‘ ist meiner meinung nach nicht: ‚malerei oder film‘, sondern: das anpacken der optischen gestaltung an allen heute berechtigten ecken und enden. das sind heute fotografie und film, wie abstrakte malerei und optisches lichtspiel.“467 LÁSZLÓ MOHOLY-NAGY „Eine unbewußte Vorstellung ist dann eine solche, die wir nicht bemerken, deren Existenz wir aber trotzdem auf Grund anderweitiger Anzeichen und Beweise zuzugeben bereit sind.“468 SIGMUND FREUD

466 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1881. (15 [48]), in: Nietzsche. Sämtliche Werke, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. IX, München 1980, S. 651 467 Moholy-Nagy, László: Diskussion über Ernst Kállai’s Artikel ‚Malerei und Fotografie‘, in: i10. Internationale Revue 1, H. 6, Amsterdam 1927, S. 233 f., hier S. 234. 468 Freud, Sigmund: Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse (1912), in: Freud. Studienausgabe, hg. v. Mitscherlich, Alexander/Richards, Angela/Strachey, James, Bd. III, Frankfurt am Main 1975, S. 25-37, hier S. 29.

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1 S EHEN

UND

D ENKEN :

KINETISCH

Im Jahr 1923 veröffentlichte László Moholy-Nagy in der amerikanischen Zeitschrift Broom den Artikel ‚Light: A Medium of Plastic Expression‘, dessen Aussagen in einer Beobachtung münden, die vom ihm selbst in seinen folgenden Schriften präzisiert und weiterentwickelt und die 1931 von Walter Benjamin in seinem Essay über die Fotografie als Gedanke übernommen werden. MoholyNagy schreibt: „An dieser Stelle muß unterstrichen werden, daß unsere intellektuelle Erfahrung formal und räumlich die optischen Phänomene, die das Auge wahrnimmt, vervollständigt und zu einem homogenen Ganzen zusammenfügt, während die Kamera das rein optische Bild wiedergibt (die Verzerrung, die schlechte Zeichnung, die Perspektive).“ 469

Diese Formulierung der genuinen Poiesis, die aus einer Verbindung physiologischer und psychologischer Vermögen des Menschen mit den Medienkünsten entsteht, die zu einer Neuordnung der Sinne, zum Experimentieren mit und der Erforschung von Wahrnehmungsprozessen leiten sollte, gründete in der Forderung nach einem ‚Neuen Sehen‘, das, als „optische Wirksamkeit“ 470 – erstmals von Moholy-Nagy formuliert – zu einem Charakteristikum der Avantgarde wurde. Das Motiv dieser Suchbewegung lag in einer Antwort begründet, die man auf die Frage zu geben suchte, wie sich die Verbindung der Sichtbarmachung des Unsichtbaren mit der Bewusstwerdung des Unbewussten, also der Ausbildung eines ‚Optisch-Unbewussten‘ verbinden ließe, um im Anschluss – so das folgende Argument – eine neue Theorie des Blicks – als ein Sehen über den rein physiologischen Sehakt hinaus – zu etablieren. Walter Benjamin versuchte, diesen Prozess zu erklären, wenn er schreibt: „Es ist eine andere Natur, die zur Kamera als die zum Auge spricht; anders vor allem dadurch, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, sei es auch

469 Moholy-Nagy, László: Light. A Medium of Plastic Expression, hier zitiert nach: Rondolino, Gianni: László Moholy-Nagy. Malerei, Fotografie, Film, in: László MoholyNagy >Ausst.-Kat.@, Kassel/Ostfildern-Ruit 1991, S. 13-19, hier S. 16 f. 470 Moholy-Nagy, László: Die beispiellose Fotografie, in: i10. Internationale Revue 1, H. 3, Amsterdam 1927, S. 114-117, hier S. 115.

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nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Ist uns schon im Groben der Griff geläufig, den wir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wir doch kaum von dem, was sich zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiedenen Verfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.“471

Benjamin zielt mit seinem Vergleich des ‚Optisch-Unbewussten‘ mit dem ‚Triebhaft-Unbewussten‘ der Psychoanalyse auf die Veränderung der visuellen Wahrnehmung durch technisch produzierte Bilder. Was er beschreibt, ist der durch Apparate hervorgerufene Effekt einer Veränderung von Bild- und Zeitstrukturen. Diese bewirken deutliche Veränderungen in der Gestaltung des Zusammenhangs von technischen Bildern und den physiologisch-psychischen Grundlagen visueller Wahrnehmung.472 Das heißt also: Walter Benjamin bezeichnet hier den direkten Einfluss von Medien in die modernen Episteme und ihre Beteiligung an der Produktion von Wissen, hier eines Wissens um das ‚Optisch-Unbewusste‘, mit dem Reflexionen über eine

471 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann /H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 471-508, hier S. 500. 472 Vgl. zu Benjamins Medientheorie und ihrer Analyse: Weigel, Sigrid: Das Detail in Benjamins Theorie photo- und kinematographischer Bilder, in: Weigel, Sigrid: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München 2004, S. 39-62; Weigel, Sigrid.: ‚Nichts weiter als...‘. Das Detail in den Kulturtheorien der Moderne. Warburg, Freud, Benjamin, in: Weigel, Sigrid/Schäffner, Wolfgang/Macho, Thomas (Hg.): ‚Der liebe Gott steckt im Detail‘. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003, S. 91-115; Weigel, Sigrid: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt am Main 1997. Sigrid Weigel macht deutlich, dass die Techniken der technischen Bilder im Detail und im ‚Chockmoment‘ liegen. In dieser Arbeit liegt der Akzent hingegen auf einer Umkodierung des Sehprozesses zum komplexen Wahrnehmungsphänomen, das sich durch Prozesshaftigkeit und Körperlichkeit ergibt und seinen Ursprung zudem in einer Abstrahierung und Aufgabe der Abbildtheorie findet.

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neue Optik einsetzen. Was Benjamin beschreibt, ist der durch Apparate hervorgerufene Effekt einer Veränderung von Bild- und Zeitstrukturen. Diese bewirken deutliche Veränderungen in der Gestaltung des Zusammenhangs von technischen Bildern und den physiologisch-psychischen Grundlagen visueller Wahrnehmung. Mit Benjamins Analyse des Kamerabildes wird deutlich, dass die Kamera nicht an die Stelle des menschlichen Auges rückt, um dessen Leistungen zu maximieren, sondern ihre Technik macht sichtbar, was zuvor unsichtbar war. Das heißt, durch die Leistung der Kamera wird ein Ersetzen dessen ermöglicht, was hervorgebracht wird. Erst durch die Technik erfährt der Mensch vom ‚Optisch-Unbewussten‘ und seiner Wirkung im Bildraum. Die Erfahrungen des Menschen sind somit Produkt des Mediums.473 Dieses Wissen der technischen Bilder äußert sich in Abstraktionen und Mikrologien, die – etwa anstelle ikonografischer Codes und Motive – Materialität, Oberflächen und Spuren sichtbar machen; somit – und dies ist aber entscheidend – wird das Detail nicht mehr der Endpunkt, das Ergebnis der Analyse – im Sinne einer Sezierung und Bloßlegung, die zur erschöpfenden Beschreibung führt 474 –, sondern markiert vielmehr – als künstlerisch-wissenschaftliche Geste – den Beginn der Recherche, bringt sozusagen die Fragestellung der Untersuchung in sich selbst und kann somit überhaupt erstmals Etwas zum Erscheinen bringen – zum Erscheinen im Sinne einer Sichtbarkeit, die attestiert, dass jenes, was sichtbar werden

473 Vgl. Weigel, Sigrid: Das Detail in Benjamins Theorie photo- und kinematographischer Bilder, in: Weigel, Sigrid: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München 2004, S. 39-62, hier S. 46 ff. 474 Absolut konform gehend mit Georges Didi-Huberman wird ein solches Verständnis der Detailforschung hier als Interpretationsweise verstanden, die – die Eigentümlichkeiten des Bildes, des Ikonischen und Visuellen missverstehend –, davon ausgeht, man könne ein Bild oder das Visuelle ebenso in seine Details zerlegen und ausdeuten, wie man einen Satz in seine Bestandteile zerlegen kann. Georges Didi-Huberman beschreibt diese Haltung als das Ideal eines epistemologischen Modells, das „die logische Stabilität der repräsentierten Objekte voraussetzt.“ In anderen Worten, es ist ein Ideal, das möchte, dass man in der Malerei stets ‚ja‘ oder ‚nein‘, ‚es ist so‘ oder ‚es ist nicht so‘ sagen könne; ein kaum verhülltes positivistisches Ideal. (Didi-Huberman, Georges: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern …, Köln 2001, hier S. 95.)

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will, zuvor verborgen gewesen sein muss, denn jenes, was sich immer schon offenbart, kann nicht erscheinen.475 Schärfer noch: Das Detail fungiert dann als „Köder für den Blick“ in dem Sinne, daß jenes, das bereits vorhanden scheint und den Glauben der steten Beobachtbarkeit der Dinge und Objekte nährt, sich tatsächlich doch erst genau dann bildet und das zuvor Ungesehene nun den „Turbulenzen“ einer Art Phänomenologie des sinnlich Wahrnehmbaren aussetzt, noch bevor es eine Bedeutung entwickelt.476 Nur unter dieser Perspektive ist es – wie in dieser Studie exemplifiziert – überhaupt möglich, das Verfahren der Abstraktion nicht sofort als Ziel, sondern zunächst als Beginn, also als Untersuchungsverfahren und in einer doppelten Bewegung sodann erst als das Ziel zu beschreiben, ihren Einsatz also als maßgeblicher anzusehen, als es in der Forschung bislang angenommen wurde. Zudem setzt, erkenntnistheoretisch gewendet, genau unter diesen Annahmen eine Reflexion des Mediums qua Medium ein: Es werden nicht nur die Veränderungen, die technische Medien erzeugen, reflektiert, sondern innerhalb dieser Reflexion wird ein Medienwechsel immer bereits mitgedacht. 477 Dies bedeutet dann wiederum, Effekte künstlerischer Techniken, wie etwa der Abstraktion, nicht als bloße Abfolge, hier von der Malerei zur Fotografie zum Film denken zu müssen, sondern die Durchkreuzungen, die auf einem Schauplatz stattfinden, ermöglichen es,

475 Vgl. zur Missinterpretation des Details als Endpunkt der Interpretation: Didi-Huberman, Georges: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern …, Köln 2001, hier S. 91 ff. Georges DidiHuberman vermerkt, dass die Konzentration auf das Detail, die Analyse zunächst von Wölfflins Grundbegriffen befreien sollte, gleichermaßen aber – mit ihren Rückgriff auf Freud als ‚freudianische Methode‘ – missdeutet, dass hier die Analyse des Details nicht das Ergebnis jeder Untersuchung ist, sondern – ganz im Gegenteil – ihr Beginn. 476 Vgl. dazu ausführlich: Didi-Huberman, Georges: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern …, Köln 2001, hier S. 97 und 104. 477 Vgl. Flach, Sabine: Abstraktion zwischen Kunst und Lebenswissenschaften. Laborarbeiten von von Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch und Michail Matjuschin, in: Blümle, Claudia/Schäfer, Armin (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaft, Berlin/Zürich 2007, S. 115-140.

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mit den Worten Walter Benjamins „Gedanken zur Geschichte der Malerei auf die Geschichte der Photographie zu gründen.“478 Mit Hilfe der Technik werden im ‚Optisch-Unbewussten‘ Bilder hergestellt, deren Wahrnehmung vergessen lässt, dass ihre Sichtbarkeit in der Voraussetzung ihrer technischen Herstellung liegt. Dieser Drang nach einer Erweiterung des Sehens markiert eine Suchbewegung, die den physiologischen Sehprozess zu überwinden sucht und sich wendet: zu einer Erörterung von Wahrnehmungsprozessen, die sich an dynamische Phänomene der puren Bewegung ebenso anschließen lassen, wie an einen, an diesen Prozessen immer schon maßgeblich beteiligten Körper. 479 Brisant wird Walter Benjamins These vom ‚Optisch-Unbewußten‘ über seine medientheoretische Relevanz hinaus besonders für den Paragone um wissenschaftliche und künstlerische Erkenntnis, der sich in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ja vor allem auch an den neuen Wahrnehmungsmedien entzündete. Benjamins Reflexionen berühren sich eng mit avantgardistischen Experimenten des ‚abstrakten‘ bzw. ‚experimentellen‘ Films, bzw. es zeigt sich, dass hier eine wissenschaftliche Erkenntnisweise durch die Experimente der Medien-Kunst hindurchgegangen ist. Beides: Benjamins kunstwissenschaftliches Denken und das Erfinden neuer künstlerischer Formen für die technikgestützte optische Wahrnehmung lassen sich im experimentellen Film, mit dem neue Regionen des Bewusstseins sichtbar gemacht werden sollten, zusammenführen. Es ging diesen Künstlern um nichts weniger als um eine Neuordnung der Sinne, um das Experimentieren mit und die Erforschung von Wahrnehmungsprozessen. In diesem Experimentierfeld übernahm der Film die Funktion, den Rezipienten das Sehen als Prozess selbst sichtbar zu machen, in dem die Techniken der Wahrnehmung zur Anschauung gebracht werden. Es findet eine Auflösung der bekannten Codierung der Bilder zugunsten einer Behandlung von Spuren, Materialitäten und Oberflächen statt; die Medien-Künste erlangen also eine eigene Poiesis, die zu einer ‚Vertiefung der Apperzeption‘ führt, indem z.B. Bilder oder sichtbare Konturen sich durch das Detail einer vergrößerten Aufnahme in Hell-Dunkel-Kontraste auflösen.

478 Benjamin, Walter: Pariser Brief 2. Malerei und Photographie, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Bd. III, 1972, S. 495-507, hier S. 499. 479 Vgl. dazu konstitutiv: Flach, Sabine/Margulies, Daniel/Söffner, Jan (Hg.): Habitus in Habitat I. Emotion and Motion, Bern u. a. 2010;

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Dies bedeutete sowohl die Abkehr von traditionellen Wahrnehmungsmustern, als auch, Wahrnehmung nun mehr als Prozess permanenter visueller Differenzierung aufzufassen, wie es Walter Benjamin – wiederum mit dem Rückgriff auf MoholyNagy – in der ‚Kleinen Geschichte der Photographie‘ formuliert, wenn er diesen zitiert: „Die schöpferischen Möglichkeiten des Neuen, sagt Moholy-Nagy, werden meist langsam durch solche alten Formen, alten Instrumente und Gestaltungsgebiete aufgedeckt, welche durch das Erscheinen des Neuen im Grunde schon erledigt sind, aber unter dem Druck des sich vorbereitenden Neuen sich zu einem euphorischen Aufblühen treiben lassen. So lieferte z.B. die futuristische (statische) Malerei die später sie selbst vernichtende, festumrissene Problematik der Bewegungssimultaneität, die Gestaltung des Zeitmomentes; und zwar dies in einer Zeit, da der Film schon bekannt, aber noch lange nicht erfaßt war… Ebenso kann man – mit Vorsicht – einige von den heute mit darstellerisch-gegenständlichen Mitteln arbeitenden Malern (Neoklassizisten und Veristen) als Vorbereiter einer neuen darstellerischen optischen Gestaltung, die sich bald nur mechanisch technischer Mittel bedienen wird, betrachten.“480

Die Grundlage für eine Theorie des ‚Optisch-Unbewussten‘ bildete eine Dominanz der Prozesshaftigkeit, die auf mehrfache Weise Geltung beanspruchte: im technischen Medium selbst, als auch in der Verbindung des kunsthistorisch tradierten Topos der Lebendigkeit mit Vorstellung der Wirkmächtigkeit des Mediums beziehungsweise des Bildes, mit dem insbesondere Benjamin arbeitet, 481 sowie in der Verschränkung des Optischen mit dem Taktilen. Hinzu kommt eine Analogisierung des Medialen oder auch des Bildes mit körperlichen Prozessen

480 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Schöttger, Detlev: Walter Benjamin. Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002, S. 300-324, hier S. 313. Bedeutsam ist hier, dass Benjamin sich an dieser Stelle mit Riegl trifft. Wie Wolfgang Kemp gezeigt hat, bestimmen beide das Kunstwerk nach den Bedingungen seiner Rezeption. Dass sich Geschichte am Werk ablagert, ist für beide nicht Hindernis, sondern Voraussetzung und Förderungsgrund jeglicher Rezeption (Riegl) bzw. einer noch herrschenden Wahrnehmungsweise, deren Ablösung bevorsteht oder schon vollzogen ist (Benjamin). Kemp, Wolfgang: Kritische Berichte 1, H. 3, 1973, S. 30. 481 Vgl. dazu: Zumbusch, Cornelia: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004.

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sowie ein Verständnis des Sehaktes, in dem dieser über die physiologischen Komponenten hinaus an den Körper ebenso angebunden ist, wie an einen Habitus, also einen Akt der Handlung, der jeder performativen Struktur zugrundeliegt und in einer Untersuchung jener Wahrnehmungsprozesse, die dazu zunächst auf ihre Basis zurückgeführt werden und sich also Abstraktion zur conditio sine qua non etablieren kann. Von Benjamin wird die Prozesshaftigkeit explizit in einer engen Verschränkung von technischer Reproduktion und einer eindeutigen Hierarchie der Sinne gesehen, denn: „Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem [ins Objektiv blickenden – d. Vf.] Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, […] wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion […] ungeheuer beschleunigt […].“482

Auch für Moholy-Nagy bildete die Kinetik in Zusammenhang mit der Bevorzugung eines neuen künstlerischen Materials – des Lichts – die Basis, die den Film zu jenem Medium etablierte, mit und in dem sich die neue Wahrnehmung umsetzen ließ, denn, so formuliert László Moholy-Nagy in seinem Artikel ‚Die beispiellose Fotografie‘ aus dem Jahr 1927: „die erschließung einer neuen dimension des optischen setzt der film in potenzierter weise durch.“483 Zu diesem Ergebnis kommt auch Walter Benjamin, wenn er im gleichen Jahr die Bruchstellen der Kunstentwicklung an den technischen Revolutionen misst und über den Film schreibt: „Die technischen Revolutionen – das sind die Bruchstellen der Kunstentwicklung, an denen die Tendenzen je und je, freiliegend sozusagen, zum Vorschein kommen. In jeder neuen technischen Revolution wird die Tendenz aus einem sehr verborgenen Element der Kunst wie von selber zum manifesten. Und damit wären wir denn endlich beim Film. Unter den

482 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 463. 483 Moholy-Nagy, László: Die beispiellose Fotografie, in: i10. Internationale Revue 1, H. 3, Amsterdam 1927, S. 114-117, hier S. 117.

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Bruchstellen der künstlerischen Formationen ist eine der gewaltigsten der Film. Wirklich entsteht mit ihm eine neue Region des Bewußtseins“.484

Deutlich wird also, dass die Ausarbeitung einer Theorie des ‚Optisch-Unbewussten‘ einer doppelten Bezugnahme bedarf: jener der Interdependenzen von Bild und Blick, die das ‚Optisch-Unbewusste‘ überhaupt erst konstituieren, so wie jedoch andererseits jener des ‚Optisch-Unbewussten‘, die die Bedingung für die neue Konstellation von Bild und Blick bildet. So aufschlussreich und spannend eine weitere Ineinanderführung der Beobachtungen, Argumente, Methoden und Ergebnisse von László Moholy-Nagy und Walter Benjamin auch wäre,485 um eine Theorie des ‚Optisch-Unbewussten‘ zu begründen, geht es an dieser Stelle nicht um eine solche Lektüre und auch nicht um eine Skizzierung einer – möglichen – Einflussgeschichte, sondern vielmehr darum, aufzuzeigen, dass beide Autoren sensible Beobachter einer künstlerischen Kultur gewesen sind, in der die Kunst sich aus ihren tradierten Verbindungen, Bezügen, Medien und Materialien zu lösen begann und für sich selbst eine neue Definition und Legitimation reklamierte, also ihren Anspruch, aus den eigenen Kapazitäten heraus Aussagen über Phänomene und Bedingungen der Wahrnehmung zu treffen und zu der Wissenschaft vergleichbaren Ergebnissen zu gelangen. An dieser Stelle erhält die These des ‚Optisch-Unbewussten‘ über die rein medientheoretische Relevanz hinaus besonders für diesen Paragone um Erkenntnis, der sich in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ja vor allem auch an den neuen Wahrnehmungsmedien entzündete, besondere Brisanz.

484 Benjamin, Walter: Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz (1927), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Frankfurt am Main, Bd. II.2, 1977, S. 751-755, hier S. 752. 485 Herbert Molderings hat darauf verwiesen, dass Benjamin die Veröffentlichungen Moholy-Nagys aufmerksam verfolgte und sich mit dem Begriff des ‚Optisch-Unbewussten‘ an dessen Terminologie des ‚Optisch-Zeitlichen‘ bzw. ‚Optisch-Kinetischen‘ anlehnte. (Vgl. Molderings, Herbert: Fotogeschichte aus dem Geist des Konstruktivismus. Gedanken zu Walter Benjamins ‚Kleiner Geschichte der Fotografie‘, in: Kern, Margit/Kirchner, Thomas/Kohle, Hubertus (Hg.): Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, München u. a. 2004, S. 443-461.)

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2 E XZENTRISCHES E MPFINDEN Benjamins Reflexionen berühren sich eng mit avantgardistischen Experimenten des ‚abstrakten‘ beziehungsweise ‚experimentellen‘ Films, und es zeigt sich, dass hier eine wissenschaftliche Erkenntnisweise durch die Experimente der MedienKunst hindurchgegangen ist. Beides: Benjamins kunstwissenschaftliches Denken und das Erfinden neuer künstlerischer Formen für die technikgestützte optische Wahrnehmung lassen sich im experimentellen Film, mit dem neue Regionen des Bewusstseins sichtbar gemacht werden sollten, zusammenführen. Es ging diesen Künstlern um nichts weniger als um eine Neuordnung der Sinnesvermögen, um das Experimentieren mit und die Erforschung von Wahrnehmungsprozessen. Somit ist der medientechnische Aspekt künstlerischer Arbeit kein bloßer Zusatz, sondern vielmehr unverzichtbares Instrumentarium in der Erforschung der Wahrnehmung; vielmehr noch: In diesem Zusammenhang erlangen die Medien-Künste eine eigene Poiesis. Die Visualisierungstechniken der Medien stehen in engem Zusammenhang zu den Erkenntnisinteressen der zeitgenössischen Wahrnehmungswissenschaften: Beide eint das Bestreben zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren, zur Bewusstwerdung des Unbewussten. 486 Indem also

486 An der Etablierung dieses Schauplatzes haben auch die empirischen Naturwissenschaften teil. Das physikalische Weltbild, geprägt von Protonen, Neutronen und Elektronen, bestimmt einen Antimaterialismus, der den Bereich des vormals Nicht-Sichtbaren zum Sichtbaren durch technische Verfahren im Mikro- und Nanobereich weiter ausdehnt. Für Wassily Kandinsky war u. a. die Atomphysik von besonderem Interesse, da er hier ähnliche abstrakte Vorgänge beobachtete wie in seiner Kunst. „Hier finden sich auch professionelle Gelehrte, die die Materie wieder und wieder prüfen, die keine Angst haben, vor keiner Frage, und die endlich die Materie, auf welcher noch gestern alles ruhte und das ganze Weltall gestützt wurde, in Zweifel stellen. Die Theorie der Elektronen, d.h. der bewegten Elektrizität, die die Materie vollständig ersetzen soll, findet momentan kühne Konstruktoren, die hier und da über die Grenze der Vorsicht gehen.“ (Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1912), Bern/Neuilly-sur-Seine 1952, S. 40.) Gleichzeitig entwickelt sich ein Feld, in dem die Kognitionsforschung immer größere Bedeutung gewinnt. Mit der Frage danach, wie das Gehirn funktioniert und wie Gedanken sichtbar gemacht werden können, rückt das Gedankenexperiment – als Verbindung von wissenschaftlichen, künstlerischen, medientechnischen und sakralen bzw. prärationalen Aspekten – ins Zentrum des wissenschaftlichen und künstlerischen Interesses. Vgl. dazu: Flach, Sabine: Reisen in den Mikroraum. Kunst und Wissenschaft der Avantgarde, in: Luckow, Dirk/Gördüren, Petra (Hg.): Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Köln 2010, S. 47-59.

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die Erforschung neuer Seherfahrungen im Mittelpunkt der künstlerischen und auch der wissenschaftlichen Arbeit steht, werden Medien, und explizit der Film beziehungsweise die Filmkamera, erzeugende und bezeugende Instrumente, mit denen Prozesse und Bereiche des bislang nicht Sichtbaren sichtbar werden. 487 Die Untersuchung der Sinnesfunktionen wird zum – künstlerischen – Experimentierfeld, in dem der Film die Funktion übernimmt, die Rezipienten nicht nur mit neuen Weisen zu sehen zu konfrontieren, sondern das Sehen als Prozess selbst sichtbar zu machen, indem die Techniken der Wahrnehmung zur Anschauung gebracht werden. Dieses ‚neue Sehen‘ meint weder nur die naturalistische Wiedergabe der Umwelt noch lediglich den Versuch einer Darstellung der Optik. Vielmehr verbindet sich im ‚neuen Sehen‘ der Sehsinn mit allen anderen Sinnen zur „allseitigen Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen.“488 Äußeres Sehen wird mit mentalen Bildern in Zusammenhang gebracht und die Frage nach der Funktion der Wahrnehmung mit Funktionen des Gehirns und der Nerven verbunden. Der Überzeugung, dass es in der Natur Phänomene gibt, die sich der Wahrnehmungsfähigkeit des Auges entziehen, wird also nicht nur mit der Entwicklung immer empfindlicherer technischer Aufzeichnungsgeräte begegnet, sondern ebenso mit einem Konzept des Sehens, in dem die Sinne sich immer schon zur Wahrnehmung verschränken. Benjamin kannte diese Formation eines neuen Kunstbegriffs und die damit verbundenen Künstler, wie etwa seine Mitgliedschaft in der Gruppe G. Material zur elementaren Gestaltung nahelegt. Diese Gruppe proklamierte einen neuen Kunstbegriff, der sich aus dem Konstruktivismus heraus entwickelte und mit dem das Schöpferische künstlerischer Arbeit durch wissenschaftliche Forschung und Training des physischen und psychischen Vermögens ersetzt werden sollte. Entscheidend ist jedoch, dass Benjamin durch diese Mitgliedschaft Kenntnis von Filmkünstlern wie etwa Viking Eggeling haben konnte, dessen Werke paradigmatisch für genau dieses ‚Neue Sehen‘ stehen.

In den theoretischen Reflexionen zum Gedankenexperiment wird deutlich, dass dieses – von Künstlern wie von Wissenschaftlern – als Wissenschaft angesehen wurde, als experimentell messbares Phänomen des Geistes. 487 Eine ähnliche Funktion übernahmen um die Jahrhundertwende die Röntgenstrahlen. Deren Entdeckung Ende Dezember 1895 zeigte, dass die Wirklichkeit sich nicht auf Sichtbares beschränkte. Mit Röntgenstrahlen verband sich zudem die Vorstellung, endgültig das Innere des Menschen, ohne zu sezieren, sichtbar zu machen. 488 Matjuschin, Michail: Künstlerischer Werdegang, Manuskript, Privatarchiv St. Petersburg. Hier zit. nach: Karassik, Irina: Das Institut für Künstlerische Kultur. GINCHUK, in: Klotz, Heinrich (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, München 1991, S. 40-58, hier S. 44.

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Benjamins und Moholy-Nagys Diagnose dieser skizzierten künstlerischen Situation präzisiert diese Eingriffe, Rupturen und die Veränderungen, die durch technische Innovationen in den Bildmedien für die Gesamtstruktur der – wie Benjamin es nennt – „künstlerischen Formationen“489 ausgelöst werden. Diese Aufnahme technischer Medien in eine sich formierende, experimentelle künstlerische Praxis erfüllte zunächst die Forderung Benjamins nach der Überwindung der „Abdichtung der Kunst gegen die Entwicklung der Technik“. 490 Gleichzeitig wurde mit dieser Integration medientechnischer künstlerischer Verfahren in die künstlerische Arbeit ein Schauplatz etabliert, auf dem – entgegen der Teleologie des konventionellen historiografischen Gedankens von der Entwicklung und Ablösung von Apparaten, Instrumenten, technischen Praktiken und Medien – eine synchrone Verschränkung von Medien-Techniken, künstlerischen Verfahren, Wissensfeldern und Kulturtechniken einsetzt, deren gemeinsames Ziel in der Erkundung des Zusammenhangs von Aisthesis und Medialität liegt. 491 Etabliert wurde ein neuer, universeller, antiidealistischer und antinaturalistischer Kunstbegriff. In diesem Sinne umfasst der Begriff des Mediums nicht nur ein Material oder Mittel der Vermittlung, sondern ebenso die Struktur und Anordnung von Techniken und Apparaturen sowie die Rezeption und Verwendung, also all jenes, das mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet wird. So werden (Medien-)Künste nicht nur zu sensiblen Wahrnehmungsmedien einer modernen Kultur, sondern es sind somit alle Bereiche, also Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medientechnologie, unmittelbar an der Produktion von Wissen – hier einem Wissen um das Wahrnehmbare – beteiligt.

489 Benjamin, Walter: Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz (1927), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt am Main 1977, S. 751-755, hier S. 752. 490 Benjamin, Walter: Exposé Paris. Die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts (Anmerkungen zum Passagenwerk) [1935], in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. V.1, Frankfurt am Main 1982, S. 45-59, hier S. 56. 491 Für die Bestimmung dieses Zusammenhangs geht es also nicht darum, in den Gestus einer ‚großen Erzählung‘ zu verfallen, sondern vielmehr um eine Spurensicherung von Verbindungen. Dieser damit notwendig einhergehenden Zufälligkeit von Ereignissen sollte man – so Foucault – nichts von ihrer Zufälligkeit nehmen, um gerade so ihre Stringenz zu erkennen. (Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I: 1954–1969, Frankfurt am Main 2001, S. 112.) Die Wissenskonstitution einer historischen Phase erklärt Foucault in Ärchäologie des Wissens aus den jeweils kopräsenten diskursiven Praktiken.

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Die Avantgarde wird in dieser Lesart zu einer sich durch Personen, Medien, Techniken und Institutionen formierenden Suchbewegung für eine Arbeit am ‚OptischUnbewussten‘, deren Kennzeichen durch Walter Benjamin und Moholy-Nagy präzise markiert werden: Neben der Prozesshaftigkeit als Handlungsakt eines Körpers in einer räumlichen Umgebung, bildet die vollständige Aufgabe der Abbildtheorie eine weitere Bedingung. Diese Abkehr vom Postulat der Mimesis erlaubt eine Reflexion über den Status des Bildes und seiner Episteme – in der Kunst ebenso wie in der Wissenschaft, die sich nun beide mit einer Erforschung des Blicks als nicht mehr nur rein optisches, sondern körperliches Vermögen – ausgelöst durch das Postulat des ‚Neuen Sehens‘ – verbinden. In Benjamins Schriften verdichtet sich diese Beobachtung von den „neuen Regionen des Bewusstseins“ in der ‚Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz‘ hin zur konkreten Benennung des ‚Optisch-Unbewussten‘ in der ‚Kleinen Geschichte der Photographie‘.492 Fotografie und Film stellen das bislang Unverfügbare und Unvermittelbare dar und suggerieren somit absolute Sichtbarkeit. Dargestellt aber werden keine bekannten und vertrauten Bilder, sondern gänzlich unbekannte, die zudem durch technische Aufzeichnungsverfahren verfremdet sind. Mit dieser Sichtweise wird aber selbst wiederum eine Unverfügbarkeit erzeugt, 493 die nun als das ‚OptischUnbewusste‘ wahrnehmbar wird. Es ist genau diese Unverfügbarkeit, die als Grundlage für eine Theorie des Unbewussten wirksam wird, und allererst die Beziehung von Bild und Blick somit grundlegend neu organisiert. Es findet eine Auflösung der bekannten Kodierung der Bilder zugunsten einer Behandlung von Spuren, Materialitäten, Oberflächen statt; die Medien-Künste erzeugen eine ‚Vertiefung der Apperzeption‘, die die Bühne für das ‚Optisch-Unbewusste‘ bereitete. Das ‚Optisch-Unbewusste‘ bildet sich also überhaupt erst durch das Ineinandergreifen von Prozesshaftigkeit und Abstraktion heraus, dem des Weiteren Phänomene wie strukturelle Reduktion, Mikrologien und das Optisch-Taktile folgen, um den Schauplatz des ‚Optisch-Unbewussten‘ zu entwickeln. Darum soll es im

492 Vgl. zu dieser Entwicklung auch: Gnam, Andrea: Der Kameramann als Operateur, in: Schulte, Christian (Hg.): Walter Benjamins Medientheorie, Konstanz 2005, S. 171187, hier S. 183. 493 Vgl. hierzu: Pethes, Nicolas: Medium Benjamin. Forschungspolitische Anmerkungen zur Historizität von Theorie, in: Pethes, Nicolas/Kerekes, Amália/Plener, Peter (Hg.): Archiv – Zitat – Nachleben. Die Medien bei Walter Benjamin und das Medium Benjamin, Frankfurt am Main 2005, S. 185-201, hier S. 197.

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Weiteren gehen, um auf dieser Basis einer Verschränkung von Prozess, Abstraktion, struktureller Reduktion, Mikrologien und Optisch-Taktilem eine Theorie des ‚Optisch-Unbewussten‘ zu entwickeln.

3 „O HNE DIE B EDEUTUNG DES F ILMS LEBENDIG , SONDERN TOT “

WAR ES NICHT

„Ich stellte mir Farben in Bewegung vor und bemerkte, daß nichts dieses Werden von Farbe besser vermitteln konnte als das Kino. So füllte ich hunderte von quadratischen Blättern, alle derselben Größe, mit der Absicht, in jedem Film einen Augenblick der Entwicklung zu zeigen.“494

Zeitgleich mit den frühen Filmversuchen der Italiener Arnaldo Gianna und Bruno Corra entwickelte der aus Russland stammende Maler Léopold Survage, der bis dahin dem Orphismus etwa Robert und Sonja Delaunays nahestand, 1913 eine Folge von insgesamt 104 Blättern495 unterschiedlichen Formats.496 Die Rythme coloré hatte er – zeitgleich mit der Musica cromatica entstanden – aus einem kubistischen Bild mit dem gleichen Titel heraus entwickelt. Manche der Blätter fügen sich als eine konsequente Folge zusammen, die einen Bewegungsvorgang darstellen. Mit dem Rythme coloré intensivierte Survage seine Recherchen über das Licht, die er auf einer naturwissenschaftlichen Basis durchführte. 1914 publizierte Survage eine Abhandlung unter dem Titel La couleur, le mouvement, le rythme. Er wollte die Bewegungen des Lichts erforschen, die er nur durch den Film in adäquater Weise wiedergegeben sah. Apollinaire, ein Fürsprecher der Arbeiten Survages, sieht ihn inspiriert durch „die Pyrotechnik, die Brunnen, die Leuchtschil-

494 Survage, Léopold: Le Rythme coloré, Rom, 1981. Zitiert nach: Verdone, Mario: Der ‚farbige Rhythmus‘ von Léopold Survage, in: Schirn Kunsthalle Frankfurt/Loers, Veit (Hg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915 [Ausst.Kat.], Ostfildern-Ruit 1995, S. 553-557, hier S. 553. 495 Die Blätter verteilen sich auf mehrere Besitzer: 12 in der Cinémathèque Française, Paris; 59 im Museum of Modern Art, New York; 32 in Privatbesitz in Paris, in New York und Neuilly-sur-Seine und ein Blatt im Musée d’Art et d’Industrie, Saint-Étienne. 496 Zwischen 20 und 47 cm hoch sowie 25 und 45 cm breit.

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der, die die Augen daran gewöhnen, sich an den kaleidoskopischen Veränderungen der Farbtöne zu erfreuen. Wir sind hier außerhalb der statischen Malerei.“ 497 Mit seinen Experimenten machte Survage sowohl die Académie des Sciences als auch – durch eine Vermittlung Apollinaires – den Filmproduzenten Léon Gaumont auf sich aufmerksam, dem er im Juli 1914 einen Teil der Blätter überbrachte. Gaumont war sehr an der Realisierung eines Experimentalfilms über die Bewegung des Lichts interessiert.498 Die den Experimenten und dem Film zugrunde liegende Idee war nicht die Darstellung von direktem Sehen im Sinne einer Nachahmung, sondern Survage experimentierte vielmehr mit den filmischen Möglichkeiten, Darstellungsformen für die spezifischen Eigenschaften des Lichts zu finden, die er als Rhythmus verstand. Dieser Rhythmus determinierte die Form der Darstellung. Survage formulierte seine Vorstellungen wie folgt: „Der Film endete zum Kreis hin oder der Kreis verschwand, um anderen Formen Platz zu machen. Der Rhythmus des Films war einmal schnell, einmal verlangsamt. Ein Film sollte drei bis fünf Minuten dauern. Ich berechnete, daß 16 Zeichnungen in der Sekunde ablaufen = 960 in der Minute, 2880 in drei Minuten. Die Bedeutung des Rythmé colore war, das Kino, eine lebende Sache zu finden. Ohne die Bedeutung des Films war es nicht lebendig, sondern tot.“499

In diesem Sinne ist Rhythmus dann nicht die Umsetzung von Musik in Malerei – mit Survage: „Es liegt eine Analogie zu diesen Dingen vor, aber es ist nicht dasselbe“500 –, sondern Rhythmus verweist hier auf ein – von den Künsten wie den Wissenschaften gleichermaßen eingesetztes – Wahrnehmungsmodell, mit dem sich insbesondere die Umbrüche und Fragmente, die sich für die Sinne durch das einsetzende Medienzeitalter ergaben, zur Sichtbarkeit bringen lassen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Rhythmus als Wahrnehmungsmodell auf die

497 Apollinaire, Guillaume: Le Rythme coloré, in: Paris Journal, Paris, 15. Juli 1914. Zitiert nach: Verdone, Mario: Der ‚farbige Rhythmus‘ von Léopold Survage, in: Schirn Kunsthalle Frankfurt/Loers, Veit (Hg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915 [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1995, S. 554. 498 Dieser Film wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch nie realisiert. 499 Survage, Léopold: Le Rythme coloré, Rom, 1981. Hier zitiert nach: Verdone, Mario: Der ‚farbige Rhythmus‘ von Léopold Survage, in: Schirn Kunsthalle Frankfurt/Loers, Veit (Hg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915 [Ausst.-Kat.], Ostfildern-Ruit 1995, hier S. 554. 500 Ebd.

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Annahme der Notwendigkeit einer umfassenden Neustrukturierung der Sinne zurückverweist. Es werden Formen der Strukturierung von Wahrnehmung gesucht, vermittels derer ästhetische Äußerungen auf ihre Ursprünge zurückgeführt werden können. Fordert Walter Benjamin „Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren […]“501, so ist damit gleichzeitig dezidiert nicht eine Technikfeindlichkeit, sondern vielmehr die Ursprünglichkeit von Sinneswahrnehmungen gerade durch die Beherrschung der Technik gemeint, so dass László Moholy-Nagy fordern konnte: „Nicht der Schrift- sondern der Photographieunkundige wird der Analphabet der Zukunft sein.“502 Es geht also um die Erschließung von neuen Modellen des Sehens, die sich gegen eine Automatisierung der Wahrnehmung,503 gerade durch die Verwendung der technischen Medien richtete. Für den Film bedeutet dies, dass es um Darstellungsmedien jenseits erzählerischer Narration oder fotografischer Reproduktion geht, die vielmehr Materialität, Medialität und Dinglichkeit des Objekts betonen.

501 Benjamin, Walter: Erfahrung und Armut (1933), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. II.1, S. 213-219, hier S. 215. – Parallel zur Forderung Walter Benjamins nach einem Medien- bzw. Technobarbaren setzten eine Reihe weiterer Forderungen nach der Rückführung der Wahrnehmung auf ihre Ursprünge ein. Vgl. dazu: Boccioni, Umberto: „Wir sind aber die Primitiven einer neuen, völlig verwandelten Sensibilität“ (Boccioni, Umberto: Die futuristische Malerei. Technisches Manifest (1909), in: Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde. 1909-1938, Stuttgart 1995, S. 16); oder auch Boris Ejchenbaum, der forderte, dass der Film als neue Kunstform als „neuer Primitiver“, der sich „revolutionär den alten, isoliert lebenden Künsten entgegenstellt“, auftreten solle. (Ejchenbaum, Boris: Probleme der Filmstilistik (1927), in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1979, S. 97-138, hier S. 101.) 502 Moholy-Nagy, László, hier zitiert nach: Benjamin, Walter: Neues von Blumen (1928), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. III, Frankfurt am Main 1972, S. 151-153, hier S. 151. 503 Grundlegend für diesen Gedanken ist Victor Šklovskijs These, dass die Grundlage aller kulturell vermittelten Erfahrung unbewusste und unreflektierte automatisierte Wahrnehmung ist.

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Die Arbeit Survages hat für den abstrakten oder absoluten Film, obwohl nicht verfilmt, eine fundamentale Bedeutung. Dargestellt werden sollten nicht nur Bewegungsabläufe, sondern mit dem Film sollte eine ganz neue Kunst geschaffen werden, die in der Lage sein sollte, den veränderten Möglichkeiten und Vorstellungen dessen, was sichtbar gemacht werden kann, zu begegnen. Diese neue Kunst sollte ‚die neue Geistigkeit‘ der Zeit ausdrücken.

4 „P ASSAGE DER Z EIT CHARAKTERISIERT UND K REATION DER F ORM “ 504

DIE

E RFINDUNG

Formuliert wird diese Erkenntnis zuerst von Moholy-Nagy am Beispiel der experimentellen beziehungsweise abstrakten Filme, für welche die Produktionen von Viking Eggeling paradigmatisch standen. Im Jahr 1919 – nach einigen Quellen auch bereits 1917 – arbeitete Eggeling an seiner Idee, aus gezeichneten Einzelbildern einen filmischen Ablauf zu schaffen. Eggeling hatte bereits seit Längerem abstrakte Zeichnungen entwickelt, mit denen er prinzipielle grafische Grundformen, insbesondere Analogien und Polaritäten zur Anschauung bringen wollte. Grundlage dieser Darstellungen war die Implikation von Dynamik. Damit waren die Arbeiten Eggelings im Wesentlichen verschieden von den abstrakten künstlerischen Vorstellungen der Malerei der 1910er und 20er Jahre, die auf die Bewegungsaspekte des Sujets verweisen oder aber dem Auge des Betrachters sukzessive Wahrnehmungsprozesse innerhalb des Bildes vermitteln. Zusammen mit Hans Richter erfolgten zunächst noch die ersten Versuche, Rollenbilder zu entwickeln, in denen sich – in Anlehnung an ostasiatische Modelle – Bewegungsphasen abstrakter Figuren aneinanderreihten. Die filmische Umsetzung dieser Abstraktionen – das Horizontal-Vertikale-Orchester aus dem Jahr 1920 – ist verloren. Diese ersten Experimente im Bereich des absoluten Films wurden durch theoretische Reflexionen Eggelings begleitet, wie etwa im Artikel ‚Theoretische Präsentation der Bewegungskunst‘, der 1921 in der ungarischen Zeitschrift MA gedruckt wurde. In dieser Zeit führten Eggeling und Richter ebenfalls diverse Versuche in der Trickfilmabteilung der Ufa durch, um zu ihren Vorstellungen auch technisch die entsprechenden Verfahren zu entwickeln.

504 Eggeling, Viking in seinen Notizen zum Stichwort Film. Zitiert nach: Scheugl, Hans/Schmidt, Ernst jr.: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Bd. I, Frankfurt am Main 1974, S. 242.

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Im Jahr 1921 entsteht Eggelings Schwarz-Weiß-Film Symphonie Diagonale.505 Der etwa 8 Minuten lange Film wurde Kader für Kader produziert. Die dargestellten Figuren sind komplexe zeichenhafte, teilgeometrische Figuren. Eggeling schnitt die Figuren in die Folie ein, legte diese auf eine Glasplatte und erhellte sie von unten. So entstand der Eindruck, die Figuren seien hell auf dunklem Grund abgebildet. Durch Auf- und Abblenden der Kamera vermittelte er den Eindruck von Auftauchen und Verschwinden der Elemente. Innerhalb der Bildfläche laufen an verschiedenen Stellen kleine Prozesse ab. Vermieden werden sollte der Eindruck einer ‚Beseelung‘ der Formen ebenso, wie jedwede narrativen Elemente. Vielmehr sollten universelle Polaritäten wie offen/geschlossen, voll/leer, schwer/leicht, groß/klein, heftig/schwach, gerade/gekrümmt, symmetrisch/asymmetrisch, einfach/mehrfach, horizontal/vertikal, diagonal/rechtwinklig dargestellt werden. Grundlage der filmischen Arbeit Eggelings – ebenso wie der Hans Richters – war die Visualisierung elementarer Strukturen. Der Kunstkritiker Alfréd Kemény bescheinigte den Filmern in einer seiner Kritiken dann auch Arbeit an einer Grundlagenforschung zur Wahrnehmung: „Durch die Intensitäts-Verschiedenheiten des Lichts und die Bewegungsgegensätze des Raums entstehen ganz neue spezifische räumliche Funktionen des sich im Raume bewegenden Lichts, als elementarste Fassung der Einheit von Raum, Zeit und Materie. Von da aus können wir die abstrakte Bewegungs-Gestaltung der Zukunft erwarten. Als kinetische Gestaltung mit den jede Form zertrümmernden Geschwindigkeiten des sich bewegenden Lichts“.506

Im Mittelpunkt steht also eine Erforschung von Wahrnehmungsstrukturen, die sich nicht außerhalb des Mediums ereignete und von diesem schlicht aufgezeichnet wurde, sondern die medialen Eigenheiten – das Bild selbst – standen im Zentrum der künstlerisch-experimentellen Arbeit an der Erkundung der Sinnestätigkeit.

505 Ohne Hans Richter, da diesem Film das Zerwürfnis der beiden vorangegangen war. Vermutlich durch die Vermittlung von Moholy-Nagy erschienen die Piktogramme zur Symphonie Diagonale 1921 in der MA. 506 Kemény, Alfréd: Die abstrakte Gestaltung vom Suprematismus bis heute, in: Das Kunstblatt 8, Weimar 1924, S. 245-248, hier S. 248.

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Diese experimentellen Filme Eggelings kennzeichnen für Moholy-Nagy exakt den gesuchten Umbruch der Wahrnehmung, so dass er zu Eggelings Arbeiten bemerkt: „Am wichtigsten aber waren die Arbeiten des früh verstorbenen Viking Eggeling (Schweden), der die alle bisherige Ästhetik umstürzende Wichtigkeit des Zeitproblems – nach den Futuristen als erster weiterentwickelt und dessen wissenschaftlich strenge Problematik aufgestellt hat. Er fotografierte auf dem Tricktisch eine aus einfachsten linearen Elementen aufgebaute Bewegungsfolge und versuchte das aus dem Einfachen sich entwickelnde Komplizierte durch Auswägen der Entwicklungsverhältnisse in Größe, Tempo, Wiederholung, Sprung usw. den Augen fassbar zu machen. […] Langsam setzte sich bei ihm die Erkenntnis des Optisch-Zeitlichen durch, und so wurde seine erst auf Formdramatik aufgebaute Arbeit zu einem ABC der Bewegungsphänomene in Hell-Dunkel und Richtungsvarianten.“ 507

Moholy-Nagy, der in seinen Schriften deutlich zwischen einem ‚äußeren physikalischen Bild‘, dem Netzhautbild des Auges und einem ‚inneren psycho-physischen Bild‘, das erst im Gehirn entsteht, unterscheidet, erkannte in seiner Publikation Malerei – Fotografie – Film die Bedeutung, die die ersten Filmexperimente und theoretischen Reflexionen Viking Eggelings auf die avantgardistische Kunstpraxis und die Erschließung einer gänzlich neuen Wahrnehmungsdimension hatten, indem er dessen Versuch betont, das dem Auge Unsichtbare einer Bewegungsabfolge durch die spezifischen Möglichkeiten der Medientechnik sichtbar zu machen. Eggelings Darstellung abstrakter Bewegungsfolgen ist einer Reduktion künstlerischer Ausdrucksformen verpflichtet, in der Medialität selbst zu einem Grundbegriff der Ästhetik, die sich längst zur Aisthesis gewandelt hat wird. Gegenständlichkeit wird neutralisiert oder dekonstruiert. Das abstrakte Element fungiert als ein Widerstand, an dem sich das Licht bricht, an dem das Primärmedium der Sichtbarkeit deutlich wird. Medialität wird hier von Eggeling allerdings nicht auf den Bereich technischer Bildproduktion reduziert, vielmehr zeigt gerade die Verbindung von handwerklichen mit medientechnischen Bearbeitungsschritten, dass Medialität hier auf vielfältige Weise eingesetzt wird, um einen Medienbegriff zu produzieren, in dem Medialität auf ihren Ursprung hin verpflichtet wird: als Medium das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen – in diesem Fall die strukturellen Bedingungen abstrakter Wahrnehmungsphänomene als Bedingung jeden Sehens. Es ging also nicht mehr um das Erkennen von Objekten, sondern um eine Reduktion der Wahrnehmung, um das Sehen von Mustern, Strukturen, Pulsierungen und

507 Moholy-Nagy, László: Malerei, Fotografie, Film (1927), München 1967, S. 18 f.

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Rhythmen, also um Elemente, die der Erscheinungsweise aller Dinge in der Wahrnehmung selbst zugrunde liegen. Dieses Ausloten struktureller Bedingungen erlaubt, einen Anschluss an Benjamins Überlegungen zur Kunst als Reflexionsmedium zu bilden: Ist die Reflexion einem Kunstwerk nicht äußerlich, sondern inhärent, dann heißt dies, dass die Reflexion nicht über ein Objekt sondern in einem Objekt gebildet wird. Genau diese Differenz zwischen über und in steht für Benjamin in enger Beziehung zum Begriff des Medialen, indem die Reflexion in einem Objekt eine prinzipiell unendliche Bewusstseinssteigerung ist, die Unmittelbarkeit der Erkenntnis gewährleistet. Zum Charakter der Reflexion gehören zudem Unendlichkeit und Unabschließbarkeit. Unmittelbarkeit, Unabschließbarkeit und die Realisierung von Beziehungen und Zusammenhängen stellen für Benjamin wesentliche Grundzüge des Medialen dar,508 Komponenten, die von Eggeling zur Anschauung gebracht werden. Im Mittelpunkt seiner Filme steht eine Erforschung von Wahrnehmungsstrukturen, die Visualisierung elementarer Strukturen, die sich nicht außerhalb des Mediums ereignete und von diesem schlicht aufgezeichnet wurde. Die medialen Eigenheiten – das Bild selbst – standen im Zentrum der künstlerisch-experimentellen Arbeit an der Erkundung der Sinnestätigkeit. Die Polarität von Kontrast und Analogie der Formen war für Eggelings Recherchen das erste Prinzip des Sehens und der Bewegung. Bilder fungieren hier als jene Akteure, an denen sich ein Wahrnehmungsprinzip nicht nur erläutern lässt, vielmehr: Ihre expliziten Wesenseigenheiten bilden die Basis jedweder Wahrnehmungsstruktur, die über den rein physiologischen Sehakt hinausgeht und darauf verweist, dass es Bilder selbst sind, die den Wahrnehmungsprozess intendieren. Diese strukturelle Reduktion wird erzeugt durch den Einsatz der Montage in Eggelings Film, die sich mit einem weiteren Kennzeichen verbindet: der Mikrologie. Mikrologien ermöglichen eine andere Optik, als sie sich etwa im Verhältnis des Teils zum Ganzen zeigt. Ihnen eignet ein spezifischer Blick und eine ganz eigene Epistemologie: Kleinste Partikel werden zum Signum der Erkenntnis.509

508 Vgl. zu diesen Ausführungen grundlegend und ausführlich: Zumbusch, Cornelia: Benjamins Strumpf. Die Unmittelbarkeit des Mediums und die kritische Wendung der Werke, in: Pethes, Nicolas/Kerekes, Amália/Plener, Peter (Hg.): Archiv – Zitat – Nachleben. Die Medien bei Walter Benjamin und das Medium Benjamin, Frankfurt am Main 2005, S. 11-37, hier S. 20 f. 509 Vgl. dazu: Weigel, Sigrid/Schäffner, Wolfgang/Macho, Thomas: Das Detail, das Teil, das Kleine. Zur Geschichte und Theorie eines kleinen Wissens, in: Weigel,

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Struktur und Mikrologie korrespondieren als Medien sowohl künstlerischer als auch wissenschaftlicher Erkenntnis. Um der „gegenseitigen Durchdringung von Kunst und Wissenschaft“510 gerecht zu werden, müssen beide denselben Gesetzen unterstellt werden. Dargestellt wird bei Benjamin wie bei Eggeling die Ungleichzeitigkeit der auf dem Wege der filmischen Wahrnehmung produzierten Optik zum Bewusstsein, denn erst das ‚Optisch-Unbewusste‘ macht Details sichtbar, die dem „mit Bewusstsein durchwirkten Raum“ verborgen bleiben.511 Sichtbar wird, so Benjamin, „Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen Technik, Medien zu rechnen pflegen – all dieses ist der Kamera ursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaft oder das seelenvolle Portrait.“512 Mikrologien verleihen dem Film also eine Interdependenz, eine Gleichzeitigkeit der Erfahrung von entmythologisierendem Effekt mit dem zugleich doch wieder eine magische Faszination erzielt wird.513 Das ‚Optisch-Unbewusste‘ eröffnet also eine Dimension, indem das Sehen einen optischen Mehrwert erhält und das Wissen die Gewissheit, dass das Bild nicht das Sichtbare wiedergibt, sondern jenes, was man zuvor nicht gesehen hat. Das ‚Optisch-Unbewusste‘ ist also eine Schwelle der Wahrnehmung, die Konvertierung schlechthin: Kleines wird in Großes und Unlesbares, Unerkanntes wird in Erkanntes konvertiert und es findet somit eine Destabilisierung der bekannten Wahrnehmungscodes statt. Wahrnehmung zeigt in diesem Sinne nicht mehr die Dinge der Außenwelt, sondern zuerst sich selbst und lässt somit Vertrautes und Fremdes des Sehsinns changieren, Bekanntes unkenntlich werden und Neues eröffnen. Somit stellt das ‚Optisch-Unbewusste‘ einen Schauraum dar, in

Sigrid/Schäffner, Wolfgang/Macho, Thomas: ‚Der liebe Gott steckt im Detail‘. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003, S. 7-17, hier S. 7. 510 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 471-508, hier S. 499. 511 Weigel, Sigrid: ‚Nichts weiter als...‘. Das Detail in den Kulturtheorien der Moderne. Warburg, Freud, Benjamin, in: Weigel, Sigrid/Schäffner, Wolfgang/Macho, Thomas: ‚Der liebe Gott steckt im Detail‘. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003, S. 91-115, besonders S. 105 u. 106. 512 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1977, S. 368-385, hier S. 371. 513 Vgl. dazu: Elo, Mika: Die Wiederkehr der Aura, in: Schulte, Christian (Hg.): Walter Benjamins Medientheorie, Konstanz 2005, S. 117-137.

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dem Sehen und Wissen neue Allianzen bilden und der Film eine psychologische Tiefendimension der Betrachtung bietet.514 Mikrologien verbinden sich mit einem weiteren Aspekt, der konstitutiv für eine Theorie des ‚Optisch-Unbewussten‘ ist, dem Optisch-Taktilen. Am Film interessierte Walter Benjamin nicht das Zusammenspiel von Visualität und Akustik, sondern vielmehr die Allianz des Visuellen mit dem Taktilen.515 Auch an dieser Stelle erweist sich Benjamins Kunst- und Medientheorie als Konzeption, die nicht nur Bezug auf andere Kunsttheoretiker nimmt, sondern vor allem als Theorie, die auch an dieser Stelle aus den Erfahrungen der Medienkünste hervorgegangen ist. Denn auch die Künstler des abstrakten und experimentellen Films stellten mit dem Herstellungsprinzip von Montage und Collage eine Verbindung von Visuellem mit dem Taktilen ins Zentrum ihrer Forschungen. Benjamin attestiert dem Film eine haptische Qualität, die mit dem Visuellen verbunden, die „Organisation der Wahrnehmung“ 516 in einem wissenschaftlichen Sinne präzisiert und schärft. Eben genau diese optische Taktilität der Wahrnehmung wird von der Kamera dargestellt, wenn sie, „tief ins Gewebe der Gegebenheit“ 517 eindringt. Optische Taktilität ist also ein Prozess, den Benjamin eben aufgrund seiner haptischen Qualität mit Metaphern aus der Biologie und Medizin charakterisiert518 – und auch hier lassen sich Parallelen finden zu der Charakterisierung ihrer Arbeitsweise

514 Vgl. zur Tiefendimension: Gnam, Andrea: Der Kameramann als Operateur, in: Schulte, Christian (Hg.): Walter Benjamins Medientheorie, Konstanz 2005, S. 171187, hier S. 184. 515 Vgl. Innerhofer, Roland: Walter Benjamin oder: Die Liebe zum Film. Zu einer Ökonomie der Sinne, in: Pethes, Nicolas/Kerekes, Amália/Plener, Peter (Hg.): Archiv – Zitat – Nachleben. Die Medien bei Walter Benjamin und das Medium Benjamin, Frankfurt am Main 2005, S. 97-111, hier S. 108. Benjamins Bevorzugung der Verbindung des Visuellen mit dem Taktilen zeigt sich auch in seiner intensiven Beschäftigung mit den Schriften Alois Riegls (vgl. dazu ausführlich Kemp), hier jedoch steht die Verbindung zu den Avantgardekünsten im Mittelpunkt. 516 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 471-508, hier S. 478. 517 Ebd., hier S. 496. 518 Cornelia Zumbusch stellt eine Verbindung her von der organologischen Metapher zum Prozesshaften her, um die Lebendigkeit des Films darstellen zu können, die Verbindung zum Optisch-Taktilen lässt sie allerdings außen vor.

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durch die Avantgardekünstler, die nicht nur der Wissenschaft ähnliche Arbeitsbedingungen forderten, sondern ihre Arbeitsweise mit organologischen Metaphern darstellten, und den Kameramann schließlich zum „Operateur“ werden ließen. Eingriffe, die ‚tief ins Gewebe‘ dringen, kennzeichnen auch das Prinzip der filmischen Montage, wie es von Eggeling gezeigt wird. Vor allem aber wird die Bild-Produktion von der Dominanz des Dispositivs der Neuzeit – des Perspektivischen – gelöst und mit der Montage wird ein Kunstraum eröffnet, der die Objekte einander näherbringt. Montage und Schnitt präsentieren eine objektive „Natur zweiten Grades“519, einen „ungeheure[n] Gewinn an Spiel-Raum“520, in dem die neuen Wahrnehmungsweisen sich als das „unerschöpfliche Reservoir aller experimentierenden Verfahrensweisen“521 zeigen. Die Verbindung von Optik und Haptik dient dem Streben, das Verborgene, Unverfügbare zu präsentieren. Umformuliert wird damit auch ein tradierter künstlerischer Topos: jener der Einfühlung, der nun ganz und gar einem Dispositiv des Sehens verpflichtet wird, indem es um die Vorstellung komplexer Wahrnehmungsphänomene geht. Um die Produktivität der neuen Medien zu erschließen, lässt sich eine Elementarisierung diagnostizieren, die als künstlerisches Verfahren, die Möglichkeit einer Re-Vision des Formenkanons zu eröffnen, verstanden werden kann. Neue Techniken und Materialien ermöglichen immer auch neue Verbindungen und Funktionen zwischen den Künsten. Dies gilt insbesondere für die Arbeiten Walter Ruttmanns, der ebenfalls an einer Etablierung eines Schauplatzes für das ‚Optisch-Unbewusste‘ arbeitete und mit seinen Arbeiten schärfer als Eggeling eine Analogie zur wissenschaftlichen Forschung einforderte. Der erste in Deutschland aufgeführte abstrakte Film ist 1921 das Lichtspiel Opus I. Im gleichen Jahr folgt Opus II, 1923 und 1924 folgen Opus III und Opus IV.

519 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 471-508, hier S. 495. 520 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. VII.1, Frankfurt am Main 1991, S. 350-384, hier S. 369. 521 Ebd., hier S. 368.

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In seinem Manuskript ‚Malerei mit der Zeit‘ entwirft Walter Ruttmann seine Vorstellung von einer kinematografisch beeinflussten Malerei, die sich abstrakt, aber vor allem rhythmisch-dynamisch entfalten sollte. In allen Filmen sollte der ZeitRhythmus des optischen Geschehens, dargestellt und gleichzeitig zu einem der wichtigsten Elemente seiner Kunst werden. Auch Ruttmann ging es nicht um narratologische Aspekte des Films, sondern vielmehr „lehnte [er] den Film als Roman ab[…]. So kam er, der den Film optisch auffaßte, dazu, ein ‚bewegtes‘ Bild schaffen zu wollen.“522 Dazu experimentierte Ruttmann mit der Kamera und erfand einen Tricktisch „zum Herstellen kinematografischer Bilder“, der 1920 so ausgereift war, dass er patentiert wurde. Der Tisch besteht aus drei übereinander montierten, zum Teil verschiebbaren Glasplatten, die von unten beleuchtet sind. Damit ist die Kombination verschiedener Bildebenen möglich, wobei je nach Bedarf auf allen oder nur auf einer Ebene Veränderungen der aufzunehmenden Motive erfolgen können.523 Lichtspiel Opus I ist etwa 9,5 Minuten lang und koloriert. Die dargestellten Elemente sind durch, von der Glasplatte weggewischte, dunkle Farbe entstanden. Die Figuren sind sowohl geometrisch-stereometrisch als auch organisch, biomorph. Zur Darstellung gelangen soll Bewegung; der Rhythmus der erscheinenden Elemente bestimmt das Tempo des Films. Von großer Bedeutung für Ruttmann ist die Darstellung der Bewegungskonturen. Damit sollen grundsätzliche visuelle Polaritäten, wie beispielsweise Licht/Dunkelheit, Farbe/Schwarz-Weiß, Kante/Rundung, Linie/Fläche visualisiert werden. Opus III, 1923–1924 unter der Mitarbeit der Bauhaus-Schülerin Lore Leudesdorff entstanden, war ursprünglich 3,5 Minuten lang. Im Gegensatz zu Opus I finden sich in Opus III, obwohl auch koloriert, keine handkolorierten Akzentuierungen.524

522 Butting, Max in einem undatierten Brief an die Filmhistoriska Samlingarna, Stockholm 1949. Hier zit. nach: Scheugl, Hans/Schmidt, Ernst jr.: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Bd. II, Frankfurt am Main 1974, S. 798; Hvh. S. F. 523 Die über dem Tricktisch angebrachte Einzelbild-Kamera ist zwar fest verschraubt, aber durch Verstellen der Plattenhöhe lässt sich die Distanz zwischen Objekt und Objektiv verändern, so dass im projizierten Film der Eindruck von Heran- oder Hinwegbewegung simuliert werden kann. 524 Manche der Form- und Strukturprinzipien aus Opus I werden für diesen Film übernommen. Im Gegensatz zu Opus I, in dem die Elemente als solche im Bild dargestellt

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Der experimentelle Ansatz, der die Filme von Walter Ruttmann bestimmt, wurde von ihm auch in seinen theoretischen Schriften – parallel zur Bereitstellung von Laboratorien für die filmische Forschung programmatisch gefordert. Explizit formuliert Ruttmann eine Analogie der künstlerischen zur wissenschaftlichen Arbeitsweise, die somit auch über ähnliche Analysebedingungen verfügen müsse. Ganz grundsätzlich fordert er für die filmische Arbeit die Bereitstellung von Laboratorien, in denen – ähnlich einem naturwissenschaftlichen Labor – das Objekt selbst, hier der Film, untersucht wird. Ruttmann schreibt in seinem Text ‚Technik und Film‘: „So überrascht vor allen Dingen an der [Film]Industrie bei einem Vergleich […] das vollkommene Fehlen des Laboratoriums. […] Und doch wäre gerade das Laboratorium für den Film der Nährboden, auf dem er sich aus sich selbst heraus […] entwickeln und befestigen könnte. […] Es wäre nicht etwa die Aufgabe dieses Laboratoriums, die Verbesserung und Erweiterung der Apparaturen zu studieren. […] Wohl aber müßte hier eine Versuchs- und Untersuchungswerkstätte geschaffen werden, in der das Ausdrucksmittel ‚Film‘ von allen Seiten […] auf seine Entwicklungsmöglichkeiten geprüft wird.“525

Diese Entwicklungsmöglichkeiten galt es vor allem in Hinblick auf die neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten zu optimieren. Diese Möglichkeit der Untersuchung filmischer Eigenschaften unter Laborcharakter eröffnete sich den Avantgardisten in der Kulturfilmabteilung der Ufa, in der seit ihrer Gründung im Jahr 1918 und unter der Leitung von Nicholas Kaufmann526 ästhetische und technische

wurden, wird hier das Bild selbst zu einem Prozess verwandelt. Die Formensprache ist – im Gegensatz zu Opus I – kaum mehr organisch oder biomorph, viel eher geht es jetzt um tektonische Konstruktionen. 525 Ruttmann, Walter: Technik und Film. Zitiert nach: Goergen, Jeanpaul (Hg.): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, 87-89, hier S. 87 f., Hervorh. i. O. 526 Der Schweizer Nicholas Kaufmann, der Medizin und Naturwissenschaften studiert hatte, praktizierte zunächst an der Berliner Charité. 1919 wechselte er zur neu gegründeten Kulturabteilung der Ufa. Sein Interesse galt dort dem medizinischen und naturwissenschaftlichen Film. Nicholas Kaufmann baute das Medizinische Filmarchiv bei der Kulturabteilung der Ufa auf. Die Themen der Filme kommen aus der Chirurgie, der Gynäkologie, der Bakteriologie und Pathologie. Zusammen mit Filmern wie Wilhelm Prager, Ulrich K. T. Schulz, Curt Oertel, Ulrich Kayser und Martin Rikli kann Kaufmann als gattungs- und stilbildend für den Kulturfilm angesehen werden. Der Kulturfilm ist eine spezifisch in Deutschland produzierte, nicht-fiktionale Form des

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Neuerungen wie Mikroaufnahmen, Farbfilme und Zeitlupen experimentell erprobt wurden. Die Arbeit dieser Abteilung diagnostizierte Walter Ruttmann dann auch als „der Zeit voraus: Sie ist die Experimentierbude der Ufa.“527 In dieser Laborarbeit am Film stand für Walter Ruttmann, der dafür plädierte, dass ein „Kunstwerk nur dann entstehen [kann], wenn es aus den Möglichkeiten und Forderungen seines Materials geboren wird“528, der Prozess der zu formenden Materialien im Mittelpunkt:529

Films. Die Kulturfilme der Ufa sind kurze Informationsfilme, die als Beiprogramm vor dem regulären Hauptfilm im Kino gezeigt werden. Informationsfilme decken das Spektrum von Forschungs-, Lehr- und Unterrichtsfilm ab. An ihnen werden die mikro- und makroskopisch verfahrenden Methoden der Filmtechnik der Kulturfilmpraxis besonders deutlich. Wissenschaftliches Wissen sollte sich durch diese Filme in praktisch anwendbares Alltagswissen umsetzen. Vgl. hierzu ausführlich: Flach, Sabine: Zwischen Norm und Abweichung. Medizinische Körperdarstellungen im Kulturfilm der UfA, in: Sicks, Kai M./Cowan, Michael (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld/Wien 2004, S. 305-321. 527 Töteberg, Michael: ‚Wie werde ich stark. Die Kulturfilm-Abteilung‘, in: Bock, HansMichael/Töteberg, Michael (Hg.): Das Ufa-Buch, Frankfurt am Main 1992, S. 64-67, hier S. 67, zitiert nach: Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Walter Ruttmann. 1929, in: Andriopoulos, Stefan/Dotzler, Bernhard J. (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main 2002, S. 316-349, hier S. 327. 528 Walter Ruttmann: Kunst und Kino (1917). Zitiert nach: Goergen, Jeanpaul (Hg.): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 73. 529 Thomas Elsaesser und Malte Hagener weisen darauf hin, dass die Verbindungen der Avantgarde-Filmer zur Großindustrie und den politischen Parteien kein „rein deutsches oder rechtsextremes Phänomen ist. [Dies] zeigt ein Blick auf die Nachbarländer: auch in Rußland, Holland, Frankreich und besonders in Großbritannien finden – wie schon angedeutet – die Avantgardisten des Films vor allem als Werbefilmer oder im Auftrag der Regierung und Parteien ihre größten künstlerischen Aufgaben und ideologischen Konflikte, aber auch ihr ökonomisches Auskommen und ihren artistischen Ruhm. Die Namen Vertov, Eisenstein, Ivens, Storck, Painlevé, Clair, später Grierson, Lye, Jennings stehen dafür stellvertretend. In Deutschland gehören dazu Julius Pinschewer, Hans Richter, Georg Pal, Lotte Reiniger und natürlich Walter Ruttmann.“ (Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Walter Ruttmann. 1929, in: Andriopoulos, Stefan/Dotzler, Bernhard J. (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main 2002, S. 316-349, hier S. 326 f.)

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„[Der] spezifische Zeichencharakter [des modernen geistigen Lebens] ist in der Hauptsache hervorgerufen durch das ›Tempo‹ unserer Zeit. Telegraf, Schnellzüge, Stenografie, Fotografie, Schnellpressen […] haben zur Folge eine früher nicht gekannte Geschwindigkeit in der Übermittlung geistiger Resultate. Man sucht sich zu helfen durch eine Flucht zum […] historischen Vergleich, [der] die Bewältigung der neuen Erscheinungen erleichtert und beschleunigt. […] Da aber die erdrückende […] Überhäufung eine direkte associationslose intuitive Erledigung der einzelnen Resultate nicht zuläßt, die Erfassung durch Analogie aber unzulänglich ist, erwächst die Notwendigkeit einer ganz neuartigen Einstellung. Und diese neue Einstellung bildet sich […] dadurch, daß sich infolge der erhöhten Geschwindigkeit, mit der die Einzeldaten gekurbelt werden, der Blick von den einzelnen Inhalten abgezogen und auf den Gesamtverlauf der aus den verschiedenen Punkten gebildeten Kurve als eines sich zeitlich abwickelnden Phänomens gelenkt wird. Das Objekt unserer Betrachtung ist also jetzt die zeitliche Entwicklung und die im steten Werden begriffene Physiognomie der Kurve und nicht mehr das starre Nebeneinander einzelner Punkte.“530

Sein wichtigstes Ziel ist also das der „Physiognomie der Kurve“, deren höheres Abstraktionsniveau durch einen technologisch vermittelten Zeitbegriff und eine neue Zeitbezogenheit erreicht werden kann. Das ‚Optisch-Unbewusste‘, sein Zustandekommen, sein filmischer Mehrwert ergibt sich also – so haben die Beispiele gezeigt – gerade nicht durch die tradierten Verfahren der Übertragung, Akkumulation, Übersetzung und Transfer, sondern vielmehr durch Konvertierung von einer Dimension in eine andere, das heißt durch Tausch, Ersetzung, Reduktion, Umwandlung. Diese, wie Benjamin schreibt, von ‚unerforschten Ungetümen wimmelnde Hölle des Details‘ findet ihren künstlerischen Ausdruck im experimentellen Film. Alle Beispiele zeigen, dass sich Methoden des künstlerisch-medientechnischen Wissens durch die modernen Postulate der Abstraktion, der Mikrologie und der Prozessualität erklären lassen, mit der jedoch auch eine Berufung auf elementare Formen generell einherging. Kunst sollte aus obsoleten Imitationsverfahren gelöst und auf Grundsätzliches zurückgeführt werden. Kennzeichnend für diese elementaren Methoden und Theorien ist es, dass sie nicht auf den Raum der Kunst bezogen bleiben. Vielmehr wurden sie zunächst im Raum der Kunst entwickelt, um

530 Ruttmann, Walter: Malerei mit der Zeit (1919/20). Zitiert nach: Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Walter Ruttmann. 1929, in: Andriopoulos, Stefan/Dotzler, Bernhard J. (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main 2002, S. 334, Hvh. S. F.

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sodann Teil eines kulturell/künstlerisch-wissenschaftlich-medientechnischen Wissens zu sein. Für die hier exemplarisch dargestellten Positionen der Entwicklung künstlerisch-medientechnischen Wissens bedeutet dies, dass diese Positionen keine Reaktion auf naturwissenschaftliche oder technische Entdeckungen darstellen, vielmehr wurde mit der transdisziplinären Erforschung von Wahrnehmungsmodalitäten ein Fundament für das Wissen der Kunst als kulturelles Wissen zur Frage nach der Sichtbarkeit des Unsichtbaren erarbeitet.

Abbildung 40: Viking Eggeling: DiagonalSymphonie. Schwarz-weiß Film, 1921.

Abbildung 41: Walter Ruttmann: Opus I. Lichtspiel, 1921.

Abbildung 42: Walter Ruttmann: Opus II. Lichtspiel, 1925.

Kapitel VIII Episteme der Zeichnung

„Der Lehrfilm ist das idealste Lehrmittel der Gegenwart, für den Dozenten ebenso wie für den Schüler. Und besonders auf dem Gebiete der Medizin gibt’s nichts halbwegs Gleichwertiges. Ein paar Beispiele bekunden dies am besten: Chirurgisches Kolleg, sagen wir in Buenos Aires: Der Professor operiert, alles drängt um den Operationstisch, reckt Hälse und Zehenspitzen, verdreht die Augen und sieht: n i c h t s, oder bestenfalls viel weiße Mäntel und etwas blutige Flecken. Die Operation ist vorüber. Der Professor winkt, der Saal verdunkelt sich und bequem im Sitz zurückgelehnt, durch die riesige Vergrößerung bis ins kleinste erkennbar, rollt dieselbe Operation auf der Leinwand ab. ‚Mein Kollege X. in Berlin pflegt etwas andres zu operieren‘ verkündet der Professor und auf sein Klingelzeichen folgt als nächster Film die gleiche Operation nach der Methode des Berliner Chirurgen. ‚Leider können wir im aseptischen Operationssaal keine anatomischen Studien an Leichen machen, aber gerade die Topographie der Nerven ist in unserem Falle so sehr wichtig!‘, fährt der Professor fort, greift in den Filmschrank und läßt einen der anatomischen Filme des Herrn Dr. von Rothe aus dem wissenschaftlich-kinematographischen Institut der Berliner Charité abrollen. [...] Dasselbe bietet der Film in der Frauenklinik, wo der Student an Hand der meisterhaften Döderleinschen Zeichenfilme jede Geburt in allen Lagen, mit allen irgendmöglichen Komplikationen nicht nur von außen, sondern gewissermaßen i n dem durchsichtigen Mutterleib verfolgen kann; in der Hautklinik wird die Wassermannsche Reaktion, die sonst Tage, mit ihren Vorbereitungen sogar Wochen dauert, in einer halben Stunde demonstriert; in dem hygienischen Institut wird Lymphbereitung und Pockenimpfung in einigen Kollegstunden gelehrt, [...] die Bewegung der Stimmbänder im Kehlkopf, [...] die zytoskopische Innenansicht der Harnblase [...]; die ‚Zeitlupe‘ mit ihrer zwanzigfachen Verlangsamung des Bewegungsablaufs, wodurch Analysen komplizierter, schneller Bewegungen, die sonst mit dem Auge gar nicht faßbar sind, was besonders den Nervenarzt

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und Forscher interessiert. [...] Alle solche Vorteile machen die Auswertung des Lehrfilms im medizinischen Kolleg [...] zur Selbstverständlichkeit.“531

Dr.med. Curt Thomallas euphorische Bewertung des Mediums Film zur Unterstützung der lehrenden und forschenden Tätigkeit des Arztes bezieht sich neben der Praktikabilität seiner Anwendung im pädagogischen Bereich insbesondere auf die spezielle filmische Technik, die erstmals eine adäquate Möglichkeit der Bewegungsdarstellung532 der chirurgischen Praxis ermöglicht und somit explizit mit dieser verbunden ist: „Die chirurgische Technik besteht ausschließlich aus Bewegungsvorgängen, so daß es ohne weiteres klar ist, daß es nur ein Mittel gibt, dieselbe wirklich naturgetreu zum Zwecke des Lehrens darzustellen: die Kinematographie.“533 Die medizinischen Filme der Ufa – ebenso wie etwa die der Charité und des Hygienemuseum, Dresden – sind hybride Zwitter zwischen wissenschaftlicher Information und technischer Imagination. Der Blick auf und in den Körper, die Darstellung von Krankheitsbildern und ihre vermeintlichen Reparaturen werden z. B. durch Collage-Techniken, die Modelle in Realsituationen einblenden, bestimmt. Der Film bzw. der filmische Blick, der Nähe und Ferne, Struktur und Bild, Eindruck und Ausdruck ineinander blendet, gewinnt Einfluss auf die Entwicklung der medizinischen Didaktik. Der Einsatz dieser Filme ist dabei keineswegs auf den Bereich der Medizin beschränkt. Vielmehr kommt der Kulturfilm auch als populär-wissenschaftlicher Belehrungsfilm in die Kinos. Das Kino ist dabei einer unter vielen Schau-Plätzen, andere sind Hörsäle und Schulzimmer – Abspielorte, die die Kulturfilmer in den

531 Thomalla, Curt: Arzt und Film, in: Beyfuss, E./Kossowsky, A. (Hg.): Das Kulturfilmbuch, Berlin 1924, S. 217-222, S. 217 f. 532 Bewegungsabläufe in der Zeit technisch darstellen zu können erzeugt verändertes Wissen von Menschen und wird zum Stigma einer Episteme, deren Zentrum der Mensch ist. Dies ist die Generalthese von Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Vgl. zum Zusammenhang von Bewegung, Komplexität und Wissen, sowie der Verbindung zu Foucault: Rieger, Stefan: Optische Komplexität. Zur (psycho)technischen Unvermeidlichkeit der Bilder um 1900, in: Graevenitz, Gerhart von/Rieger, Stefan/Thürlemann, Felix (Hg.): Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001, S. 207-222, hier besonders S. 208 f. 533 Rothe, Alexander von: Operationsfilme, in: Das Kulturfilmbuch, hg. v. E. Beyfuss/A. Kossowsky, Berlin 1924, S. 229-234, hier S. 229.

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1920er Jahren besonders umwerben. Seit den ersten Nachkriegsjahren sind die auf eine lange Tradition zurückblickenden ‚Kulturfilme‘ der Ufa kurze, d. h. ein- bis zweiaktige ‚Informationsfilme‘, die als etwa 15-minütiges Beiprogramm vor dem regulären Hauptfilm im Kino gezeigt werden. ‚Informationsfilme‘ decken das Spektrum von Forschungs-, Lehr- und Unterrichtsfilm ab und werden ebenso in Museen vorgeführt wie in Krankenhäusern, auf Fortbildungs- und Lehrveranstaltungen, in Schulen, auf Betriebs- und Gewerkschaftsabenden. An ihnen werden die mikro- und makroskopisch verfahrenden Methoden der Filmtechnik der Kulturfilmpraxis besonders deutlich. Thematischer Fokus sind didaktisch verwertbare Aspekte der Medizin und Biologie. Wissenschaftliches Wissen soll sich in praktisch anwendbares Alltagswissen umsetzen. Im Mittelpunkt der Kulturfilme der Ufa534 steht der ‚medizinische Körper‘, der auf der einen Seite die Grenzen zwischen den individuellen, sozialen, kulturellen und politischen Interessen seiner Zeit markiert. Auf der anderen Seite wird dieser ‚medizinische Körper‘ zum Schauplatz535 einer sich durch Personen, Medien, Techniken und Institutionen formierenden Kultur experimenteller Praxis, deren Kennzeichen die Entstehung einer Wissenskultur ist, in der unterschiedliche Diskurse aufeinandertreffen.536 Eng mit diesen Wissenschaft, Kunst und Kultur dominierenden Diskursen von Körperphänomenen verbunden ist die Ausbildung von scientific communities mit Lehrstühlen, Zeitschriften, Forschungslaboratorien, Instituten usw.; somit entwickelt sich ein trilaterales System aus Industrie, Universität und Regierung.537 Da-

534 Neben den medizinischen Filmen finden sich Themen der Botanik, der Biologie, der Zoologie aber auch Sport- und Landschaftsfilme. 535 Vgl. Flach, Sabine: Körper-Szenarien. Zum Verhältnis von Körper und Bild in Videoinstallationen, München 2003, S. 269-389. 536 Vgl. Flach, Sabine: Zwischen Norm und Abweichung. Medizinische Körperdarstellungen im Kulturfilm der Ufa, in: Sicks, Kai M./Cowan, Michael (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld/Wien 2004, S. 305-321. 537 Am Beispiel der Physiologie lässt sich zeigen, dass es in der Beobachtung des Körpers und seiner Leistungen – wie hart und objektiv die Ergebnisse der vielfältigen Untersuchungen auch sein mögen – immer schon um das kulturelle und historisch spezifische Zusammenspiel eines Diskurses handelt, also um die geregelte Art und Weise, wahre Aussagen herzustellen. Das Laboratorium erfährt in diesem Zusammenhang als

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mit erhalten die Kulturfilme der Ufa um den ‚medizinischen Körper‘ eine eindeutig politisch motivierte, soziale Verhältnisse regulierende Funktion, insbesondere im Sinne des in der Weimarer Republik sich etablierenden demokratischen Verständnisses von Aufklärung. Die Kulturfilmabteilung der Ufa wird in diesem Sinne zu einer epistemischen Institution. Auf vielfältige Art und Weise gerät der ‚medizinische Körper‘ in den Kulturfilmen der Ufa538 zu einem Schauplatz. Insbesondere wird er zum Experimentierfeld mannigfacher medialer Operationen. Seine organischen und physiologischen Norm- und Abweichungsverhältnisse werden mit unterschiedlichsten Werkzeugen, Techniken und Prozessen ins Bild gesetzt. Um körperliche Funktionen überhaupt zur Darstellung bringen zu können, wird das gesamte Repertoire der Filmtechnik verwendet: Mikroskopische und Röntgenaufnahmen ebenso wie Zeitraffer und Zeitlupen-Effekte, extreme Großaufnahmen, Montagen, Farb- und Toneinsatz sowie Aufnahmen mit dem Teleobjektiv. Körperfunktionen und -abläufen wird durch die medientechnischen Prozesse selbst überhaupt erst ein Bild gegeben. Die Visualisierungstechniken der Medien stehen somit in engem Zusammenhang mit den Erkenntnisinteressen der zeitgenössischen Naturwissenschaften: Beide eint das Bestreben zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren, zur Bewusstma-

‚epistemische Institution‘ einen Bedeutungszuwachs. Ersetzt wird das instrumentenorientierte Beobachten von Naturphänomenen durch den direkten Eingriff und die experimentelle Intervention in – lebende – Organismen. Vgl. Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998: besonders S. 18 f.; zur epistemischen Institution, vgl. Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main 1984; Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980. 538 Diese Untersuchung des Körpers vermittels aktueller Filmtechniken ist natürlich nicht nur für die Filmpraxis der UfA kennzeichnend. Lehrfilme, Propagandafilme, Werbeund Industriefilme gehörten seit den 1920er Jahren zum festen Repertoire des Kinoprogramms. Lehrfilme wurden – gefördert von der Kinoreformbewegung – für die schulische und berufliche Ausbildung sowie für die rein wissenschaftliche Tätigkeit hergestellt und bedienten sich für ihre Themen aller technischen Möglichkeiten des Mediums Film.

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chung des Unbewussten. Medien, und explizit der Film bzw. die Filmkamera, werden hier zu wissenschaftlichen und vor allem Objektivität bezeugenden Instrumenten.539 Im Mittelpunkt stand bei all diesen Forschungen und Theorien immer wieder auch der dynamische Kamera-Blick. Dieser ermöglichte es, durch exakte Aufzeichnungsbedingungen von Prozessen sowie Abstraktionen und Mikrologien, durch extreme Perspektiven und Kompositionen sowohl die Eigengesetzlichkeit der Technik als auch bislang nicht wahrnehmbare Prozesse, hier des Körpers, zu visualisieren. Immer ging es darum, bis dahin Unbekanntes, Unsichtbares sichtbar zu machen. Dieses wissenschaftliche Objektivitätsparadigma qua Medientechnik weitet sich in den medizinischen Filmen der Ufa innerhalb des technischen Ensembles aus. Neben der Parallelisierung der genuinen Technik der Medien mit Körperprozessen durch den Einsatz der Trickfilmtechnik werden immer wieder Collage- und Montagetechniken durch – animierte – Zeichnungen sowie die Präsentation von Moulagen, Präparaten, kranken und gesunden Organen, Knochen und Schädeln und der menschliche Körper im Ganzen mit den Malen der Krankheit gezeigt. Es findet also innerhalb des Films ein permanenter Wechsel der Darstellungsmedien statt, der immer mit der Notwendigkeit, den körperlichen Zustand zu visualisieren, in eins fällt. Vielmehr noch: Wissen um das körperlich Kranke wird somit nicht nur aus dem Körper nach außen projiziert und repräsentiert, sondern vielmehr auch in ihn hineingelesen.540 Innerhalb dieses medialen Dispositivs wird der Körper zum Medium.541

539 Eine ähnliche Funktion übernahmen um die Jahrhundertwende die Röntgenstrahlen. Deren Entdeckung Ende Dezember 1895 zeigte, dass die Wirklichkeit sich nicht auf Sichtbares beschränkte. Mit Röntgenstrahlen verband sich zudem die Vorstellung, endgültig das Innere des Menschen, ohne zu sezieren, sichtbar zu machen. 540 Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, S. 19 ff. 541 Zur These vom Körper als ‚Medium der Medien‘, schreibt Stefan Rieger: „Warum sollen nicht die Kulturwissenschaften ein Medienkonzept denken, das Zäsuren zwischen apparativen Umsetzungen erst einmal vernachlässigen kann, um statt dessen, in einer wundersamen Rückwendung, den Menschen in den Blick zu nehmen; keinen Menschen einer unausgewiesenen Ganzheit, keinen Menschen anthropologischer Konstanten, keinen Menschen in der Funktion eines ausgelieferten oder gar kritischen Medienbenutzers, sondern den Menschen in seiner gar nicht so neuen Bestimmung:

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Mit solchen Inszenierungen seiner Bildlichkeit und Modellierung zeigt der Körper nicht nur einen degenerierten Zustand an, sondern wird – ganz im Sinne des prophetischen Sozialauftrags dieser Filmproduktion an die Gesellschaft – zum Schauplatz einer projektierten, versprochenen, besseren, weil hygienischen, Zukunft. 542 Somit stellt sich immer wieder auch die Frage nach der Medienkonkurrenz von neuen, medientechnischen und tradierten, handwerklichen Darstellungsmedien. Gemeinsam mit der in der theoretischen Reflexion geführten Auseinandersetzung um die vermeintliche Objektivität der Aufzeichnungsapparate gegen die Subjektivität der künstlerischen Bildherstellung, entzündete sich ein Wettbewerb der Medien, der vor allem auch an der medizinischen Bildpraxis deutlich wurde. Der Medienvielfalt, mit der insbesondere medizinische Phänomene aufgezeichnet wurden, soll am Beispiel des Films Die Ausbreitung der Geschlechts-

als Medium der Medien.“ (Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main 2001, S. 17, Hervorhebung im Original). Der hier angewandte Medienbegriff setzt voraus, ein Medienkonzept nicht nur als die Konkretion von Apparaturen, sondern auch als unterschiedliche Kulturtechniken zu verstehen. 542 Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main 1984; Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1995. Mit Bruno Latour gedacht heißt das, dass Wissenschaft in dieser Form der Produktion von Bildern zum Teil eines kulturellen Prozesses wird, in dem Wissenschaft als ein Faktor integriert ist. Wissenschaftlichkeit vom menschlichen Körper ist somit immer Teil der kulturellen Kodierungen, die in die wissenschaftlichen Diskurse ebenso einfließen, wie diese selbst an der Kodierung teilhat. Durch diese Form der materialen Kultur der Wissenschaft rückt ihre soziale Konstruiertheit in den Vordergrund. Anthropologische Beobachtungen in Laboratorien, wie eben jene von Bruno Latour oder auch Karin Knorr-Cetina, haben gezeigt, dass die wissenschaftliche Tätigkeit eng mit einer Kultur des Alltags verbunden ist; vielmehr noch: Die Rationalität der Vorgehensweise in wissenschaftlichen Entscheidungsprozessen findet ihre Basis in einer Alltagsrationalität. Wird Naturwissenschaft nicht mehr länger als ein – historisch – fortschreitender Prozess der Annäherung an Natur verstanden, sondern als Produktion von sozial relevantem Wissen, müssen Wissenschaft und Kunst als gleichwertige Komponenten kulturellen Wissens angesiedelt werden. Zum Verhältnis von naturwissenschaftlichem und künstlerischem Wissen, vgl. auch: Flach, Sabine/Weigel, Sigrid (Hg.): WissensKünste. Das Wissen der Künste und die Kunst des Wissens [Ausst.Kat.], Weimar 2011.

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krankheiten und ihre Folgen von Nicholas Kaufmann aus dem Jahr 1919 nachgegangen werden, um das Verhältnis von technischen Aufzeichnungsverfahren und der Zeichnung zu untersuchen. Die These, die die folgenden Ausführungen leitet, sieht den Film von Nicholas Kaufmann daher auch nicht nur als ein technisches Medium zur Darstellung eines Krankheitsverlaufs und seiner Behandlungsmethoden, sondern geht vielmehr davon aus, dass in diesem Film ganz explizit alle zur Verfügung stehenden Darstellungsmethoden eingesetzt wurden, um ihre jeweiligen Kompetenzen gegeneinander auszuloten. Indem der Fokus der Ausführungen auf einem Ineinandergreifen von wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Entdeckungen und Erfindungen liegt, werden alle Bereiche – Kunst, Wissenschaft und Medientechnologie – unmittelbar an der Produktion von Wissen – hier einem Wissen um das Wahrnehmbare, Sichtbare543 – beteiligt. Der Zeichnung kommt in dem medizinischen Medienensemble des vorgestellten Films dann eine exponierte Stellung zu, die dahingehend verstanden wird, dass die Zeichnung ihre herausragende Stellung durch die technischen Medien nicht verloren hatte, sondern vielmehr ein Bildwissen zur Anschauung bringen kann, das allen anderen Medien nicht eignet.

1 N ICOLAS K AUFMANN AN DER U FA

UND DIE

K ULTURFILMABTEILUNG

Die Kulturfilmabteilung der Ufa544 wurde am 1. Juli 1918, also direkt im Anschluss an das Ende des 1. Weltkriegs und nur ein Jahr nach der Firmengründung überhaupt, unter der Leitung von Major a.D. Ernst Krieger gegründet.545 Den

543 Also exakt konträr zu jenem Kapitel der Studie, in der das ‚Optisch-Unbewußte‘ verhandelt wurde. 544 Also exakt jener Abteilung, an der auch Viking Eggeling und Hans Richter tätig waren. 545 Am 11. Juni 1919 gründete sich in Berlin unter der Leitung von Dr. Hans Cürlis zudem das Institut für Kulturforschung. Das Institut war nach Auskunft seines Direktors „die erste deutsche wissenschaftliche Institution, die bewusst den Film als Ausdrucksform für die Ergebnisse ihrer Arbeit gewählt hatte.“ (Cürlis, Hans: Zehn Jahre Institut für Kulturforschung, in: Der Bilderwart. Blätter für Volksbildung, H. 6, 1929, S. 1.)

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Schwerpunkt der Abteilung bildeten von Beginn an wissenschaftliche und populäre Aufklärungsfilme über unterschiedliche Geschlechtskrankheiten. 546 Diese medizinischen Filme wurden durch den Schweizer Nicholas Kaufmann, der Medizin und Naturwissenschaften studiert hatte, hergestellt. Kaufmann praktiziert zunächst an der Berliner Charité. 1919 wechselte er zur Kulturabteilung der Ufa. Sein Interesse galt dort medizinischen und naturwissenschaftlichen Filmen, die er in der Ausführung an die bereits bestehenden Kulturfilme der Ufa anlehnte – dennoch durften seine Darstellungen von medizinischen Symptomatiken aufgrund der Drastik der gezeigten Bilder häufig nur in Verbindung mit wissenschaftlichen Vorträgen gezeigt werden. Nicholas Kaufmann nutzte seine Kontakte zu früheren Kollegen der Charité und baute das Medizinische Filmarchiv bei der Kulturabteilung der Ufa auf. Für die dort entstehenden Produktionen, die häufig als Lehrfilme für die ärztliche Fachausbildung konzipiert waren, strebte Kaufmann immer wieder Kooperationen mit Medizinern, Kliniken und Universitäten an. Die Kulturfilmabteilung der Ufa galt als „der Zeit voraus“547. In dieser Abteilung wurden ästhetische und technische Neuerungen wie Mikroaufnahmen, Farbfilme und Zeitlupen experimentell erprobt. Die Themen der medizinischen Filme

546 Abschreckung durch drastische Darstellung körperlicher Leiden war das Mittel, um die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung zu regulieren. Fehlleistungen jeder Art, Leiden und Krankheit, Störungen der Wahrnehmung und des Gefühls oder einfach nur ein Körper, der wahrnimmt, spricht, sieht, fühlt, werden in den Filmen der Ufa unhintergehbar. Scheinbar dokumentarisch, realitätsnah und objektiv, jedoch vielmehr dramatisch, mitunter drohend, aber immer mit imperativem Gestus werden die Folgen sozialen Fehlverhaltens dargestellt. Und dies nicht ohne mit dem aufgezeigten möglichen Korrektiv der unangemessenen Lebensweise durch Prophylaxe die bessere Zukunft eines – in vielerlei Hinsicht – sozialen Körpers in Aussicht zu stellen. Vor allem der populärwissenschaftliche Tonfilm bietet mit der Denkfigur der ‚Gesellschaft als Organismus‘ hinreichend Gelegenheit zur biologistischen Metaphorik in Bildmontage und Kommentar. Am ‚medizinischen Körper‘ wird der Fortschrittsgedanke, der die Weimarer Republik prägte, sichtbar. In diesem Sinne stellen die Filmer der Kulturfilmabteilung der Ufa die Avantgarde des Projekts der Modernisierung. 547 Töteberg, Michael: ‚Wie werde ich stark. Die Kulturfilm-Abteilung‘, in: Bock, HansMichael/Töteberg, Michael (Hg.): Das Ufa-Buch, Frankfurt am Main 1992, S. 64-67, hier S. 67, zitiert nach: Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Walter Ruttmann. 1929, in: Andriopoulos, Stefan/Dotzler, Bernhard J. (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main 2002, S. 316-349, hier S. 327.

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Nicholas Kaufmanns kamen aus der Chirurgie, der Gynäkologie, der Bakteriologie und Pathologie. Auch an dem die Psychoanalyse thematisierenden Film Geheimnisse einer Seele von Georg Wilhelm Pabst war Kaufmann als wissenschaftlicher Berater beteiligt. An den medizinischen Filmen Kaufmanns werden die mikro- und makroskopisch verfahrenden Methoden der Filmtechnik der Kulturfilmpraxis besonders deutlich, denn es wurden vornehmlich seltene oder behandlungsaufwändige Krankheiten und komplizierte Behandlungsmethoden dokumentiert. Fehlleistungen jeder Art, Leiden und Krankheit, Störungen der Wahrnehmung und des Gefühls oder einfach nur ein Körper, der wahrnimmt, spricht, sieht, fühlt, wurden in den Filmen der Ufa unhintergehbar. Das Medizinische Filmarchiv bei der Kulturabteilung der Ufa verfügte nach nur fünf Jahren der Produktion bereits über 135 Titel und wurde permanent ausgebaut. Parallel zu dieser umfassenden Vermittlung medizinischen Wissens entwickelte die Filmabteilung neue Medientechniken für die Dokumentation der medizinischen Praxis, wie etwa eine Kamera, die über dem Operationstisch schwebte und vom Chirurg während der Operation vermittels eines Fußpedals bedient werden sollte.

2 M EDIALE O BJEKTIVITÄT DES K ÜNSTLERS

GEGEN

S UBJEKTIVITÄT

„Aus den ca. 20.000 Einzelbildern, aus denen ein solcher Film besteht, werden die wesentlichsten für die Kinegrammata medica ausgewählt, führen so den naturgetreuen Verlauf der Handlung weit klarer und anschaulicher vor Augen als das geschriebene Wort und ermöglichen eine genaue Orientierung in wenigen Minuten.“548

Diese euphorische Bewertung des von Dr. von Rothe – Direktor des städtischen Krankenhauses in Berlin – herausgegebenen Atlaswerks Kinegrammata medica, das auf dokumentarischen Filmbildern von medizinischen Krankheitsverläufen aufbaut, wirbt damit, das Bild prominent zu platzieren und somit die Ablösung der die Krankheit beschreibenden Rede durch einen diagnostischen – nun filmischen – Blick, der ins Bild gesetzt wird, zu forcieren. In jenen Atlaswerken wird – ebenso wie in dem zeitgleich erscheinenden Publikationsorgan Medizin und Film sowie den Film-Radio-Abenden Medizinische

548 Rothe, Alexander von: [Anzeigentext für die ‚Kinemmata Medica‘], in: Medizin und Film, Nr. 1, November 1926, o. S.

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Filmwoche – das technisch erzeugte Bild der Kinematographie als jene Visualisierungsform aufgefasst, die Krankheitsverläufe, wissenschaftliche Analysen und medizinische Behandlungspraktiken angemessen darstellen kann, da sie erstmals eine adäquate Bewegungsdarstellung der chirurgischen Praxis ermöglicht und somit explizit mit dieser verbunden ist: „Die chirurgische Technik besteht ausschließlich aus Bewegungsvorgängen, so daß es ohne weiteres klar ist, daß es nur ein Mittel gibt, dieselbe wirklich naturgetreu zum Zwecke des Lehrens darzustellen: die Kinematographie“549, formulierte diesen Anspruch Dr. von Rothe im Kulturfilmbuch aus dem Jahr 1924, das die Filmtechnik ausführlich diskutierte. Grundlegend für diese Bewertung ist also die Tatsache, dass es sich sowohl bei Krankheiten, als auch bei ihren wissenschaftlichen Erkundungen und medizinischen Behandlungsstrategien um Prozesse handelt, deren Entstehung und Entwicklung im Film ein angemessenes Darstellungsmedium fanden. Der durch Apparate hervorgerufene Effekt einer Veränderung von Bild- und Zeitstrukturen bewirkte deutliche Veränderungen in der Gestaltung des Zusammenhangs von technischen Bildern und den physiologisch-psychischen Grundlagen visueller Wahrnehmung. Sichtbar wird mit der Sequentialisierung des Filmbildes nicht nur der Bewegungsablauf an sich, sondern gleichermaßen wird an einer Ausweitung des Sichtbaren gearbeitet, indem die Kamera minimale, dem normalen Bewusstsein nicht zugängliche Veränderungen nicht nur aufzeichnet, sondern diesen Abläufen durch ihre spezifischen technischen Möglichkeiten überhaupt erst ein Bild und diese damit zu sehen gibt. Vielmehr noch: Sie werden nicht nur im Film, sondern genauer als Film wiedergegeben. Daher konnten die an den jeweiligen filmischen Produktionen Beteiligten in ihren schriftlichen Äußerungen klar formulieren, dass sich mit der Kinematographie der Anspruch verband, Naturtreue der Darstellung zu gewährleisten. In dem Maße, indem man mit technischen Aufzeichnungsgeräten – dem ihnen inhärenten Maschinenideal entsprechend – Neutralität, Transparenz, Naturtreue und somit gerade höchste Beweiskraft verband, wurde diese Fähigkeit der Zeichnung abgesprochen und durch die Vorstellung der Willkür ersetzt, die mit der beobachtenden Subjektivität eines Betrachters einhergeht. Damit markiert die Kinematographie einen Höhepunkt im Paragone von Zeichnung und technischem Auf-

549 Rothe, Alexander von: Operationsfilme, in: Beyfuss, E./Kossowsky, A. (Hg.): Das Kulturfilmbuch, Berlin 1924, S. 229-234, hier S. 229.

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zeichnungsgerät, der vor allem in der medizinischen und biologischen Praxis geführt wurde, denn dort wurde die Konkurrenz der Darstellungsmedien letztlich erst durch den Einsatz der Photographie begründet. Schon William Henry Talbot beschrieb in seiner Publikation Pencil of Nature Photographien als sich selbst herstellende Objekte: „[It] is not the artist who makes the picture, but the picture which makes itself. “550 Photographien sind für Talbot „impressed by the Nature’s Hand.“551 Die Mikrophotographie wurde genau durch diese Naturtreue das Symbol für wissenschaftliche Objektivität, sie galt als neutrale, extrem genaue Instanz der Wahrheit mit ideologischer Kraft.552 Durch ihren

550 Talbot, William Henry Fox: Photogenic Drawing. To the Editor of the Literary Gazette, in: The Literary Gazette, 1839, S. 72-75, hier S. 73. 551 Talbot, William Henry Fox: The Pencil of Nature, London 1844. 552 Vgl. dazu ausführlich: Daston, Lorraine/Galison, Peter: Das Bild der Objektivität, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main, 2002, S. 29-99, hier S. 78. Die Autoren stellen die These auf, dass sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein neues Ideal der Objektivität entwickelte, für das die Mikrophotographie das Zentrum ‚objektiver‘, weil mechanischer Aufzeichnung stellte. Mit dem Ideal der mechanischen Objektivität ist für die beiden Autoren immer auch eine moralische Dimension verbunden. Die These der mechanischen Objektivität – im englischen Original 1992 formuliert - wurde von Lorraine Daston ausgebaut. Dem ‚Regime of Objectivity‘ stellt sie in jüngeren Publikationen ein ‚Regime of Truth‘ entgegen, das der Objektivität vorausgeht. Peter Galison hingegen veränderte in seinem Aufsatz ‚Judgment against Objectivity‘ die These dahingehend, dass er konstatiert, dass die mechanische Objektivität des 19. Jahrhunderts bereits im frühen 20. Jahrhundert durch die Bevorzugung der Urteilskraft abgelöst worden sein. Die Autorin Jutta Schickore hingegen kann in ihren Forschungen zeigen, dass es diese Voranstellung der technischen Medien gegenüber der Zeichnung auch im 19. Jahrhundert nicht gegeben hat. Schickore, Jutta: Fixierung mikroskopischer Beobachtungen. Zeichnung, Dauerpräparat, Mikrofotografie, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 285-310; Galison, Peter: Judgement against Objectivity, in: Galison, Peter/Jones, Caroline A. (Hg.): Picturing Science. Producing Art, New York/London 1998, S. 327-359; Daston, Lorraine: Objectivity versus Truth, in: Bödeker, Erich (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750-1900, Göttingen 1999, S. 17-31. Die Verfasserin dieses Aufsatzes geht von einer Gleichzeitigkeit der Darstellungspraktiken aus. Nur unter dieser Prämisse nämlich ist in der synchronen Verschränkung und Verwendung von Darstellungspraktiken auch die Arbeit an einem

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Einsatz – vor allem in der wissenschaftlichen Bildproduktion – veränderte sich das Selbstverständnis der Wissenschaft ebenso wie der Umgang mit dem Bild selbst. Für das apparativ erzeugte Bild der Photographie galt ein spezieller erkenntnistheoretischer Status: als beweiskräftiges Objekt und objektiver Befund, sowohl für die medizinische Diagnose, als auch für die wissenschaftliche Argumentation. Für die Mikrophotographien der frühen medizinischen Apparaturen sollte sich der Status herausbilden, als mediale Instanz nicht nur naturgetreues Aufzeichnungs-, sondern auch objektives Beobachtungsinstrument zu sein, mit dem sich nicht nur die Leistungsfähigkeit der Hand des Zeichners, sondern auch die Wahrnehmungsmöglichkeiten des menschlichen Auges leicht übertreffen ließen, wie sich prägnant an den Äußerungen des Begründers der Bakteriologie, Robert Koch, ablesen lässt:553 Die „photographische Platte“ so Koch, gibt „das mikroskopische Bild besser oder vielmehr sicherer wieder [...], als es die Netzhaut des Auges zu empfinden vermag. Die lichtempfindliche Platte ist gewissermaßen ein Auge, welches nicht durch helles Licht geblendet wird, welches nicht bei der anhaltenden Unterscheidung der geringsten Lichtunterschiede ermüdet [...] “554.

Für Koch, der als Biologie ein geübter Zeichner war und seinem Artikel über den Erreger der Milzbrandkrankheit eine Farblithographie mit eigenen Zeichnungen beilegte, erschienen diese bald mangelhaft, so dass er – mit der Unterstützung der Firma Seibert und Krafft – eine Kamera für Mikrophotographien entwickelte, deren Fähigkeiten er euphorisch bewertete.555 Durch die Photographie schien ihm

Wissen um das Wahrnehmbare erkennbar. In diesem Prozess sind dann Sinnes- und Wissenskulturen immer schon eng aufeinander bezogen. 553 Vgl. zu Koch ausführlich: Brons, Franziska: Das Versprechen der Retina. Zur Mikrofotografie Robert Kochs, in: Bredekamp, Horst/Werner, Gabriele (Hg.): Instrumente des Sehens (Bildwelten des Wissens. 2.2), Berlin 2004, S. 19-28. 554 Koch, Robert: Verfahren zur Untersuchung, zum Conserviren und Photographiren der Bacterien, in: Cohns Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. II, H. 3, 1877, S. 399434, hier S. 408, Hervorhebung im Original. 555 Koch, Robert: Verfahren zur Untersuchung, zum Conserviren und Photographiren der Bacterien, in: Cohns Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. II, H. 3, 1877, S. 399434. Diesem Artikel fügte Koch drei Tafeln mit 24 Photographien bei. Seinem fünf Jahre später erschienenen Artikel ‚Zur Untersuchung von pathogenen Organismen‘ (Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte I, 1881, S. 1-48.) fügte er bereits 84 Abbildungen bei.

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das Repräsentationsverhältnis aufgehoben, das Objekt ist im Sinne der Selbstrepräsentation die Photographie; somit Realpräsenz. Waren ihm Zeichnungen Beispiele der „Willkür“ oder sogar „Lügen“ 556, so war für ihn „[das] photographische Bild eines mikroskopischen Gegenstandes [...] unter Umständen wichtiger, als dieser selbst.“557 Die Authentizität der Mikrophotographie gründet sich also auf absoluter NichtIntervention, deren Wahrheitsgrad wurde durch den Verzicht auf Korrekturen und Retuschen gesteigert; gerade dadurch sichtbar werdende Fehler galten vielmehr als Zeichen absoluter Authentizität.558 Es scheint sich für die wissenschaftlichen Darstellungen also eine Haltung zu etablieren, in der die Parallelität der Bildbeschreibung von künstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit – als ein ‚parallel search of knowledge‘ verstanden – in der die ästhetische Erfahrung der klassischen Moderne, Einblicke in die Bedeutung des Sichtbaren zu gewährleisten,559 sich hin zu einer Prominenz mechanischer Aufzeichnungsgeräte wandelt. Das Ideal mechanischer Objektivität bestimmt sich negativ als Abwehr des Subjektiven, die These der mechanischen Objektivität impliziert eine vollständige Ersetzung des wissenschaftlichen Beobachters, einen bewussten Ausschluss menschlicher Intervention, die Ersetzung menschlicher Aktivität. Mechanische Objektivität richtet sich gegen die Subjektivität wissenschaftlicher und ästhetischer Urteile und Anthropomorphismen.

556 Koch, Robert: Zur Untersuchung von pathogenen Organismen, in: Mitteilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte I, 1881, S. 1-48. 557 Ebd. 558 Dennoch ist es selbstverständlich, dass diesem Streben nach mechanischer Objektivität die eigene Tätigkeit entgegenstand. Auch Robert Koch kam um die Intervention in den darzustellenden Gegenstand nicht herum: Die Auswahl und Isolation des Objekts, das Verfahren der Einfärbung oder Lichtgebung, die Wahl des Ausschnitts für die Darbietung, all dies setzt Zurichtungen des Materials, Einflussnahmen auf den Prozess der Visualisierung voraus, die der Idee der Objektivität zuwiderlaufen, die eine produktive Erkenntnis aus dem zu Sehenden jedoch erst ermöglichen. 559 Huerta, Robert D.: Giants of Delft. Johannes Vermeer and the natural philosophers. The parallel search for knowledge during the age of discovery, Lewisburg/London 2003; siehe auch: Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985; sowie: Deicher, Susanne: Mikroskopische Bilder der Nervensysteme in Sigmund Freuds Publikationen der 70er und 80er Jahre, in: Bredekamp, Horst/Werner, Gabriele (Hg.): Instrumente des Sehens (Bildwelten des Wissens. 2.2), Berlin 2004, S. 29-36.

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Nicht nur, dass mit dem Regime der mechanischen Objektivität, der Wissenschaftler in der Folge in seiner Tätigkeit als „gefährlich subjektiv“ 560, als willentlich intervenierend, eingeschätzt werden konnte, mechanische Objektivität setzt den technischen Aufzeichnungsapparat absolut: „Wo immer es möglich war, wurden Bilder und Vorgänge mechanisiert. Camera-obscura-Zeichnungen, Aufzeichnungen auf Milchglas und schließlich Fotografien ersetzten Freihandzeichnungen [...].“561 Lässt sich in der naturwissenschaftlichen Darstellungspraxis eine lange und gegenseitig einflussreiche Tradition von bildender Kunst und insbesondere den medizinischen Wissenschaften nachzeichnen, so scheint des Künstlers Tätigkeit unter dem Diktum der mechanischen Objektivität überflüssig geworden zu sein; vielmehr noch: „Das wissenschaftliche Wissen hatte nicht nur die künstlerischen Einsichten überflüssig gemacht, sondern hatte auch gezeigt, daß der Künstler sich sogar als eine Belastung erweisen konnte.“562 Unter der Prämisse der mechanischen Objektivität entsteht mit künstlerischer und somit subjektiver Tätigkeit das Problem des Urteilens, da subjektive Veränderungen, Phantasie und künstlerisches Ermessen die Darstellungen – unter der Annahme einer Vorrangigkeit der Medientechniken – verzerrten. Die Kontrolle des Abbildungsvorgangs liegt im Rahmen des Objektivitätsparadigmas also in der Eliminierung der Interpretation. Die neue Allianz von technischer Aufzeichnung und medizinischer bzw. biologischer Darstellung scheint mit der Kinematographie, durch ihre Fähigkeit, Prozesse objektiv zur Anschauung zu bringen, einen Höhepunkt erreicht zu haben. Mit der Kinematographie verband sich der Anspruch, nicht nur einen körperlichen an einen wissenschaftlich-medizinischen Prozeß anzuschließen, sondern auch, die

560 Daston, Lorraine: Objectivity versus Truth, in: Bödeker, Erich (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750-1900, Göttingen 1999, S. 17-31, S. 31. 561 Daston, Lorraine: The Moralized Objectivities of Science, in: Carl, Wolfgang/Daston, Lorraine (Hg.): Wahrheit und Geschichte: Ein Kolloquium zu Ehren des 60. Geburtstages von Lorenz Krüger, Göttingen 1999, S. 78-100, hier S. 83. 562 Daston, Lorraine/Galison, Peter: Das Bild der Objektivität, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 29-99, S. 58.

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Eigenarten und Funktionsweisen des Mediums Film zu verdeutlichen.563 Dazu wurden filmische und wissenschaftlich-medizinische Techniken und Vorgehensweisen als einander gleich charakterisiert, wie etwa Vsevolod Pudovkin – der Regisseur des psychophysiologischen Film-Experiments ‚Die Mechanik des Gehirns‘ – erläutert. Für ihn stehen Wissenschaft und Film in einem engen Austauschverhältnis zueinander, was für ihn in der Überzeugung mündete, „daß diese beiden Formen menschlicher Erkenntnis um ein vielfaches enger miteinander verbunden sind, als es viele glauben.“564 Offensichtlich scheint, dass zwischen technischen Aufzeichnungsgeräten und medizinisch-biologischen Sachverhalten eine derart enge und sinnvolle Beziehung besteht, dass klassische Verfahren, wie das der Zeichnung, aus dem Repertoire der Darstellungspraktiken verschwinden mussten. Interessanterweise ist jedoch das Gegenteil der Fall. Nicht nur, dass Zeichnungen oder auch Präparate nach wie vor eine prominente Stellung im medizinischen Bildensemble besetzen, vielmehr findet sich vor allem die Zeichnung als animierte Darstellung, etwa eines Körper-Schemas, direkt in filmisches Material integriert. Die Fragen, die sich nun stellen, lauten also: Warum wurde in diesen Filmen, in denen das Bildrepertoire zudem häufig aus der bildenden Kunst entnommen wurde, auf die Zeichnung, eingesetzt als Bildtafel oder partiell auch als animierte Darstellung, zurückgegriffen? Welche Rolle spielt die Zeichnung in Filmen, in denen alle Möglichkeiten der Körper-Präsentation – wie z.B. Modelle, Präparate, Organpräsentationen, Mikro- und Makroaufnahmen in den Körper – zur Herstellung von Körper-Wissen ausgelotet werden? In welchem Verhältnis steht die Zeichnung gegenüber dem Film bzw. der Filmkamera, die als wissenschaftliche und vor allem Objektivität bezeugende Instrumente galten? Welches Wissen vermittelt die Zeichnung gegenüber dem filmischen Bild?

563 Vgl. dazu: Flach, Sabine: ‚Experimentalfilme sind Experimente mit der Wahrnehmung‘. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Visualisierungstechniken im künstlerischen Experiment, in: Becker, Sabine (Hg.): Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9, München 2004, S. 195-221 564 Pudovkin, Vsevolod: Wie ich Regisseur wurde, in: Pudovkin, Vesevolod: Die Zeit in Großaufnahme. Erinnerungen. Aufsätze. Werkstattnotizen, Berlin 1982, S. 30 f. (russisches Original 1946). Vgl. zu Pudovkin ausführlich: Vöhringer, Margarete/Hagner, Michael: Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns – Film als psychophysiologisches Experiment, in: Bredekamp, Horst/Werner, Gabriele (Hg.): Bildtechniken des Ausnahmezustandes (Bildwelten des Wissens. 2.1), Berlin 2004, S. 82-93.

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3 E IN F ILM ALS D ARSTELLUNG DER M EDIENKONKURRENZ – ‚D IE AUSBILDUNG DER G ESCHLECHTSKRANKHEITEN UND IHRE F OLGEN ‘ Der Film Die Ausbildung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen565 zeigt in zwei Akten zunächst die Auswirkungen der Gonorrhö, im Anschluss die der Syphilis auf den Körper. Inszeniert wird diese Krankheitsdarstellung in einem Milieu, in dem Labor und Filmstudio einander auffallend ähnlich werden. Der Film präsentiert die technischen Bedingungen und notwendigen Apparaturen und verweist auf die äußerste Präzision, mit der die notwendigen Arbeiten des Mediziners und des jeweiligen Herstellers des Bildmaterials verrichtet werden. Der Film Die Ausbildung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen ist daher weniger eine bloße Darstellung eines Krankheitsverlaufs, als vielmehr ein Schauplatz, an dem zunächst medizinisch-biologisches mit künstlerisch-technischem Wissen verschränkt wird, um die unterschiedlichen Darstellungsmöglichkeiten der Diagnostik gegeneinanderzusetzen; mit dem Ziel, ihre epistemischen Fähigkeiten auszuloten, auch, um sie in das Bildverständnis des Betrachters einzufügen. Der Zeichnung kommt in dieser Medienkonkurrenz eine bedeutende Rolle zu. Alle medialen Darstellungsformen der Körperinszenierungen werden im Film realisiert, um das Wechselverhältnis von Erkrankung im Körperinneren durch wandernde Erreger und der Sichtbarkeit entzündlicher Prozesse, Defekte und Deformationen auf der Körperoberfläche zeigen zu können. Durch diesen Wechsel der Körperdarstellung erhält der Zuschauer ein Körperwissen, welches durch die unterschiedlichen Bilder produziert und organisiert wird. Gleichzeitig aber geben die Bilder nicht nur ein schon vorhandenes Wissen um den Körper preis, sondern erzeugen zuallererst ein Bild des Körpers. Anders formuliert: Die Kamera zeichnet zugängliche Veränderungen nicht nur auf, sondern gibt diesen Abläufen durch ihre spezifischen technischen Möglichkeiten überhaupt erst ein Bild. Die wechselseitige Bedingtheit von Kameratechnik, physiologischem Prozess und Bildlichkeit wird somit zu sehen gegeben, ganz so, wie es Benjamin formuliert: „Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen

565 Siehe zum Verhältnis von Körperdarstellung und Medientechnik in diesem Film ausführlich: Flach, Sabine: Zwischen Norm und Abweichung. Medizinische Körperdarstellungen im Kulturfilm der UfA, in: Sicks, Kai M./Cowan, Michael (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld/Wien 2004, S. 305-321.

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Technik, Medizin zu rechnen pflegen – all dieses ist der Kamera ursprünglich verwandter als die stimmungsvolle Landschaft oder das seelenvolle Portrait.“ 566 Die Visualisierungstechniken der Medien stehen somit in engem Zusammenhang mit den Erkenntnisinteressen der zeitgenössischen Lebenswissenschaften: Beide eint das Bestreben zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Die wechselseitige Bedingtheit von Kameratechnik, physiologischem Prozess und Bildlichkeit wird somit zu sehen gegeben. Die Erfahrungen des Menschen sind also auch hier Produkte des Mediums. Dabei wechseln in beiden Filmteilen die Darstellungsmedien von mikroskopischen Aufnahmen aus dem Körperinneren, die etwa die Verbreitung der Erreger in den Blutbahnen zeigen, mit zeichnerischen Darstellungen des gleichen Erregerbefalls ab. Ebenfalls gezeichnet sind Darstellungen von Organen sowie organische Prozesse, durch die sich die Erreger verbreiten können. Diese werden ergänzt durch Präsentationen von Organmodellen, aber auch gerade entnommenen Organen – wie etwa der Leber oder der Bauchschlagader –, sowohl in gesundem als auch in krankem Zustand. Diese Bilder von Krankheitsbefall und Krankheitsverlauf werden mit Darstellungen in Verbindung gebracht, die die Auswirkungen am Körper zeigen. So wird der Betrachter mit Präsentationen von Schädeln, an denen die Schädeldecke durch Krankheit zerstört wurde, konfrontiert. Nah-, Detail- und Makroaufnahmen zeigen die Degenerationen am Körperaußen, wobei die Kamera die erkrankte Person oder aber einzelne Extremitäten wie ein Modell – und somit mit größerer sinnlicher Präsenz als es etwa eine zweidimensionale Abbildung vermag – erfasst. Diese drastischen Darstellungen des Krankheitsverlaufs – durch die Male am Körper veranschaulicht – begleiten Bilder, in denen die Gefahren für die geistige Gesundheit, etwa das Erkranken an Paralyse, vorgeführt werden. Parallel dazu kommen Visualisierungen unterschiedlicher Verläufe und Stadien der jeweiligen Erkrankung zur Darstellung; so z. B. durch Sequenzen, in denen Arzt und Patient im den Kranken belehrenden Gespräch gezeigt werden. Die den Krankheiten vorbeugende Maßnahme, ‚absolute Hygiene‘, wird durch die Darstellung des – in der Intensität fast schon manisch wirkenden – Händewaschens vorgeführt. Texttafeln unterstützen diese Arzt/Patienten-Situation durch die Erläuterung von Gesundheitsregeln.

566 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1977, S. 368-385, hier S. 371.

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Ziel der szenischen Belehrung des Zuschauers ist seine Befreiung von der Unwissenheit. Als Partizipierender am Wissen über den Körper können nicht nur die Probanden des Films, sondern auch die Zuschauer in den Aufführungssälen als „geheilt“ nach Hause entlassen werden. Zum anderen werden dem Zuschauer die Orte und Medien der Krankheitserforschung und -erkennung vorgeführt, indem ihm Einblick in die Arbeitsweise eines Forschungslabors gewährt wird. 567 Der Körper wird hier zum vermittelten Instrument, seine Funktionsweise durch Testreihen, Analyseverfahren, Medien und Materialien zu seiner Erkundung vorgeführt. Dargestellt wird der Beginn einer ‚neuen Wissenschaft vom Leben‘, in der der Körper weniger als eine wahrnehmende Existenz, denn vielmehr als ein ‚Set von Instruktionen‘ verstanden wird.568 Gleichzeitig wird anhand der wechselnden Bilderfolge im Film deutlich, dass alle gewählten Darstellungsmedien sichtbarer Teil einer Verfahrenskette sind, in der der Hersteller der Bilder – ob Arzt, Kameramann oder Zeichner – zum Produzenten einer Realität wird, die weniger den Gegenstand selbst, als vielmehr eine Information darstellt, an deren Herstellung der Produzent – entgegen dem Paradigma der mechanischen Objektivität – immer schon erheblichen Anteil hatte. Der

567 Eine interessante Funktion kommt hier der Darstellung des Arztes als Wissenschaftler zu, die in eine kunst- und wissenschaftsgeschichtliche Tradition eingebunden ist. Verbunden mit einer medialen Konkurrenz von Malerei und Photographie wurde der Anspruch auf Autorität und Verbindlichkeit zur Wahrheit und Glaubwürdigkeit des Wissenschaftlers seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich über die physiognomisch getreue Wiedergabe vor allem seines Gesichts erreicht, sondern zum einen über die verbindende Darstellung des Wissenschaftlers mit den Objekten, Modellen und Instrumenten seiner Forschung und zum anderen über die Integration des Wissenschaftlers in seine professionellen Umgebung, die ihm Bedeutung verleiht. Beide Funktionen dienen der eindeutigen Identifikation. Die Darstellung der Person wird zudem häufig mit einer – mitunter für den Arbeitsprozess typischen – Geste in Richtung der Objekte verbunden. Diese Form der Darstellung inauguriert den Wissenschaftler zusammen mit seinem Objekt in einen bestimmten Forschungszusammenhang und ermöglicht gleichzeitig seine Darstellung als Repräsentant einer Disziplin. 568 Vgl. dazu ausführlich: Flach, Sabine: Zwischen Norm und Abweichung. Medizinische Körperdarstellungen im Kulturfilm der UfA, in: Sicks, Kai M./Cowan, Michael (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld/Wien 2004, S. 305-321.

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Vorgang der Visualisierung beruht auf aktiver Einflussnahme durch das Verfahrenswissen als dem Wissen um Handlungsfolgen, durch den Produzenten. 569 Für die Erzeugung eines ‚wahren‘ Bildes ist die aktive Intervention im Rahmen eines komplexen Herstellungsprozesses also unabdingbar, wie der Film etwa an den Vorbereitungen des Arztes im Labor deutlich werden lässt. Die Sichtbarkeit des Objektes ist demnach keine wie auch immer gegebene subjektunabhängige Qualität, sondern wird in Ateliers und Laboratorien einem experimentellen Gestaltungsprozess unterworfen. Genau an dieser Stelle setzt die unabdingbare Notwendigkeit der Zeichnung ein: Ist der Aussagewert der filmisch erzeugten Bilder oft schwer oder gar nicht zu kontrollieren, bietet die Zeichnung das notwendige Kontrollorgan bzw. zeigt erst an, dass sich alle eingesetzten Bilder aufeinander beziehen. Vermittels ihrer Aussagekraft wird erst deutlich, dass auch die technisch erzeugten Bilder nicht das Leben selbst präsentieren, sondern festgelegte, ausgewählte und kontrollierte Bewegungsabläufe und Körperprozesse darstellen. Entgegen der medial erzeugten Bilder, deren Charakteristikum es ist, zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht selektiv vorgehen zu können – d. h. also für den Zusammenhang immer auch nicht relevante Körperprozesse präsentieren zu müssen – und zudem immer auch ihre Medialität zu zeigen, stellt nur die Zeichnung den Gegenstand in einer Bildschärfe dar, die sich durch bewusste Selektion des Materials und Präzision der Darstellung auf die wesentlichen Details einstellt. Die Zeichnung bindet somit auch die Medienbilder an den Erfahrungswert der Kunst an, dass Realität immer konstruiert und produziert ist und hergestellt werden muss.570 Dieses Wissen vermittelt die Zeichnung an die Betrachter des Films. An diesem Film wird deutlich, dass die unterschiedlichen Darstellungspraktiken, die im Film eingesetzt werden, sich ergänzen, um den Krankheitserreger dingfest zu machen, d. h. es findet eine stetige Beeinflussung statt. 571 In diesem

569 Ähnliches gilt im Übrigen für die Herstellung von Dauerpräparaten. Vgl. dazu: Schickore, Jutta: Fixierung mikroskopischer Beobachtungen. Zeichnung, Dauerpräparat, Mikrofotografie, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 285-310. 570 Vgl. dazu: Flach, Sabine, ‚It’s not easy being green!‘ Schnittpunkte von Kunst, Medientechnik und Naturwissenschaften am Beispiel der Transgenic Art, in: Heßler, Martina (Hg.): Das Technische Bild, München 2005, S. 281-303. 571 Es zeigt sich daran auch, dass der wissenschaftliche Naturalismus und der Kult um vereinzelte individuelle Details der photographischen Technologie lange vorausgingen.

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Film geht es also um gezielte Sichtbarmachung, was gesehen wird ist abhängig davon, welche Apparate und Messmethoden eingesetzt werden. Deutlich wird, das die Bilder einer Abfolge epistemischer Stile entsprechen, bei der es darum geht, die bildnerischen Strategien, wie sie durch veränderte Apparate erzeugt wurden, zu unterscheiden. Gefragt werden sollte nun, in welchem Sinne die Zeichnungen im Film Die Ausbildung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen beweiskräftig sind.572 Die Herstellung und die Produktion neuer wissenschaftlicher Tatsachen – in diesem Fall der Einblick in die jeweiligen Krankheitsverläufe – war nur möglich, wenn der Mediziner über die spezifische Fähigkeit verfügte, medientechnisch erzeugte, bewegte Bilder zu sehen. Grenzen der Erkennbarkeit sind also die Grenzen der Visualisierungstechnik. Es ging also immer um eine Einübung des Auges, darum, die neue Art und Weise zu sehen zu trainieren. Stellt die Vieldeutigkeit des technisch erzeugten Bildes einen ‚Raum des Wissens‘573 her, in dem gerade die Unbestimmtheit Experimenten und Deutungen offen steht, ist die Zeichnung, als die Materialisierung eines ‚sehenden‘ und somit ‚wissenden Auges‘ jene Instanz der Verifikation im Film, die Auskunft über Gesetzmäßigkeit gibt. Es geht also nicht mehr um subjektfreie Messung, sondern die wissenschaftliche Leistung, die im Film mit der Zeichnung verbunden wird, wird nun darin gesehen, aus den zuvor erhobenen Daten das Wesentliche und Interessante herauszufiltern und gleichzeitig alles Unnötige und Zufällige zum Verschwinden zu bringen. Dazu bedarf es eines interpretierenden Auges und einer ordnenden Hand, um das Wesentliche optisch hervorzuheben. Zeigt das mikrophotographische Bild des Films zum einen Details aus dem Prozess der Ausbreitung der Krankheit im Körperinneren, indem für den Betrachter eine Gewebeumgebung, Blutbahnen und fließendes Blut und zum anderen die Aufnahme einer für die mikroskopische Analyse angelegten Bakterienkultur mit vergrößerten Krankheitserregern sichtbar gemacht werden, so sind diese Bilder gleichzeitig Einzelinformationen, die vor allem Aufschluss über die verwendete Medientechnik geben.

572 Vgl. dazu ausführlich: Flach, Sabine: Die Zeichnung im Medienverbund. Nicholas Kaufmanns Film ‚Die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen‘ als Beispiel der Medienkonkurrenz in der Medizin, in: Busch, Werner/Jehle, Oliver/Meister, Carolin (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 375-393. 573 Vgl. dazu: Rheinberger, Hans-Jörg/Wahrig-Schmidt, Bettina/Hagner, Michael (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997.

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Im Anschluss an die technisch erzeugten Bilder, wird dem Rezipienten eine – teils animierte – vom Gegenstand abstrahierende Zeichnung präsentiert, die nicht nur alle zuvor gesehenen technischen Bilder zusammenführt, sondern diese im doppelten Sinne an die Körperprozesse anbindet: Zum einen wird durch sie der Prozess der Krankheit und seiner Ausbreitung im Körper überhaupt erst anschaulich, zum anderen ermöglicht es die Zeichnung, in komprimierter Form auch jene (Krankheits-)Prozesse in das Bild zu integrieren, die generell außerhalb des Bildes liegen. In diesem Fall ist es der Prozess der Ansteckung, der der Ausbreitung der Krankheit vorausgeht, zu ihrem Verständnis jedoch notwendig ist. Grundlegend für den Einsatz der Zeichnung ist also eindeutig der Anschluss an das Erfahrungswissen der Mediziner ebenso wie an das der Rezipienten des Films – ein Anschluss in dem Sinne, als dass an ein Arsenal von Bildvorstellungen angeknüpft wird, das kulturell und historisch kodiert ist. Erst durch den Einsatz der Zeichnung wirkt die Verwendung unterschiedlicher Medien im Film typisierend und normierend auf die Darstellung der Krankheiten. Der in das Körperinnere eindringende und ihn durchdringende Blick und die Dekonstruktion seiner Funktionen in kleinste Einheiten dienen der Fixierung eines normativen Rahmens. Somit wird auch Naturdurchdringung und Naturbeherrschung über den diagnostischen Blick in und auf den Körper dargestellt. Die Zeichnung erreicht die Funktion durch das Verfahren der Abstraktion, das im Film gegen die mimetische Darstellung der technischen Bilder gestellt wird. Scheinen diese abstraktes Material zu präsentieren, so liegt diese Form der Abstraktion vor allem in der Tatsache begründet, dass die Bilder aus dem Körperinneren als Mikrologien einen Ausschnitt präsentieren, der jedoch in engem Bezug zum Dargestellten steht. Sie als Abstraktionen zu verstehen, liegt in der Tatsache ihrer Medialität begründet; sie präsentieren nicht nur bis dahin unbekanntes Material, sondern dieses zudem durch ein ungewohntes Medium. Die Leistung der im Film eingesetzten Zeichnungen hingegen besteht darin, bildimmanent als gewähltes Verfahren der Darstellung – gerade wegen ihrer Anschaulichkeit – von der mimetischen Bezugnahme zum Objekt abzuweichen und genau dadurch Informationen in die Darstellung integrieren zu können, die zu ihrem Verständnis zwar notwendig, am Körperbild selbst jedoch nicht sichtbar sind. Die Abstraktion der Zeichnung ist Resultat des trainierten Auges eines Experten; gerade dieses Expertenwissen lässt sich nun über die Zeichnung vermitteln, die dieses Wissen verobjektiviert. Die Zeichnung ist somit ein reflexives, aktives Medium, in das Entscheidungen, Gelerntes und Überlegungen eingehen können, in ihr verbindet sich Anschauung von, mit Denken über das zu Zeigende.

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Das heißt: Die Zeichnung im Film ist eine charakteristische Darstellung der Krankheit und des Krankheitsverlaufs; gleichermaßen ist sie jedoch keine ideale Abbildung, in dem Sinn, dass sie aus einer Vielzahl von Einzelkomponenten unterschiedlicher Faktoren die Repräsentation einer Krankheit generiert. Der Abstraktionsgrad der Zeichnungen im Film vermeidet alles Akzidentelle und konzentriert sich auf das Wesentliche. Das wesentliche Erkenntnismoment sind die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Betrachters durch die mikroskopische Wiedergabe. Die Naturtreue der Zeichnung zeigt sich weniger in ihrer Relation zum Gegenstand, es geht also nicht mehr um ein mimetisches Vermögen, sondern um die konkrete, gemachte Erfahrung, eine neue Theorie des Sehens: Naturgetreu ist die Zeichnung in diesem Film genau dann, wenn sie die Erfahrungen des mikroskopischen Sehens und seiner Prozessualität im Film repräsentiert. Die Zeichnung ist im Film die Synthesis, in der die Einzelerfahrungen aus filmischem Bild, Mikroskop und Kamera verschmelzen; sie gibt nicht den einzelnen Sinneseindruck wieder, sondern reproduziert die Naturerfahrung.574 Die Zeichnung vermittelt die Ikonographie des bislang unbekannten Krankheitsverlaufs, sie wird auf diese Weise zu einem unverzichtbaren Regelwerk, das – medizinisches – Verständnis und Wissen überhaupt erst produziert, indem sie Anschaulichkeit ermöglicht. Die Zeichnung ist also keine Kopie eines zuvor gesehenen Bildes, sondern ihre Funktion bestimmt sich durch die Aufnahme und Wiedergabe aller Erfahrungswerte der Beobachter – in einem weiteren Schritt vor allem auch jener Erfahrungen, die nicht im Bild selbst sichtbar sind. In diesem Sinne wird an ihr deutlich, dass sie keine Kopie des zuvor Gesehenen darstellt, sondern eine vollzogene, subjektive Naturerfahrung wiedergibt und in eine Gesamtanschauung überführt. Das Paradigma der mechanischen Objektivität ist also insofern überholt, als dass das Subjektive nicht als Gegenbegriff zum Objektiven verstanden werden kann. Die Subjektivität, die sich mit der Zeichnung verbindet, ist vielmehr die Bedingung zur Herstellung von Objektivität.575 Die Zeichnung ist somit als die Summe dessen zu verstehen, was die weiteren eingesetzten Techniken als typisch oder charakteristisch herausgestellt haben; sie ist dann insofern ein Ideal, weil sie das wiedergibt, was an einem einzelnen Objekt, durch verschiedene Medien wahrgenommen wurde. Somit reproduziert sie eine

574 Vgl. dazu: Schickore, Jutta: Fixierung mikroskopischer Beobachtungen. Zeichnung, Dauerpräparat, Mikrofotografie, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 285310. 575 Ebd., hier S. 294.

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konkrete Erfahrung. Nur mit der Zeichnung verbindet sich die produktive Einbildungskraft, in der die verschiedenen Sinneseindrücke zu einer Erfahrung synthetisiert werden. Der Film macht also mit seinem forcierten Einsatz der Zeichnung deutlich, dass es die vielbeschworene Objektivität der technischen Medien nicht gibt, denn es zeigt sich im Film, dass Zeichnung, Dauerpräparat und Mikrophotographie das jeweilige Objekt zugänglich halten können. Alle Produktionstechniken bergen unterschiedliche Fehlerquellen, sie liefern unterschiedliche Formen von Belegen, deren Beweiskraft vom jeweiligen Kontext abhängig ist, die in der Zeichnung aufgehoben werden. Deutlich wird, dass es um einen Pluralismus von Verfahren zur Darstellung von Beobachtung geht. Die Zeichnung hatte ihren Status für die Darstellung medizinischer Phänomene keineswegs verloren, vielmehr galt sie vielen Forschern als das überlegene Medium, weil sie – ganz im klassischen kunsttheoretischen Sinne der Sinn produzierenden Verbindung von Auge und Hand – eine Erfahrung, somit Erkenntnis und nicht nur einen Sinneseindruck reproduziert.

Abbildung 43: Nicolas Kaufmann: Die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen, 1919.

Abbildung 44: Nicolas Kaufmann: Die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen, 1919.

Kapitel IX Abstraktion – The Missing Link „Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Daß diese sie etwas zu lehren haben; kommt ihnen nicht in den Sinn.“576 LUDWIG WITTGENSTEIN

In seinem Essay ‚The Nature of Abstract Art‘ von 1937 stellte Meyer Schapiro Barrs Konzept von ‚Cubism and Abstract Art‘, vor allem dessen Anspruch auf Exklusivität rigoros in Frage.577 Gegen Barrs Beschreibung der Geschichte der abstrakten Kunst als stetige Fortentwicklung gab Schapiro zu bedenken, dass trotz der dem Anschein nach historischen Entwicklung Barrs Konzept grundlegend ahistorisch sei. Die Geschichte als einen internen, rein kunstimmanenten Prozess zu erläutern, stellte in Schapiros Augen ein Missverständnis dar: So lasse Barr etwa alle sozialen Konditionen, die auf die Kunst Einfluss nehmen könnten, außer Acht: „He excludes as irrelevant to its history the nature of the society in which it [abstract art – d. Verf.] arose, except as an incidental obstructing or accelerating atmospheric factor. The history of modern art is presented as an internal, immanent process among the artists; abstract art arises because, as the author says, representational art had been exhausted. Out of

576 Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen, in: Wittgenstein. Werkausgabe, hg. v. Georg Henrik von Wright, Bd. VIII, Frankfurt am Main 1989, S. 501. 577 Siehe zu Barr die Schlusspassagen des Kapitels II dieser Studie. An diese Überlegungen wird nun angeschlossen.

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boredom with ‚painting facts‘, the artists turned to abstract art as a pure aesthetic activity.“578

Meyer Schapiro wendet sich gegen die Vorstellung, Entwicklungen der Kunst stellten – systemimmanent – eine Reaktion auf Vorausgegangenes dar. Attestiert er der Theorie der Abstraktion durchaus entscheidende Bedeutung für die allgemeine Kunsttheorie, ist er gleichzeitig in ihrer Bewertung im Verhältnis zu realistischer Kunst um einen ausgleichenden Standpunkt bemüht, denn „the aesthetic of abstraction has itself become a brake on new movements.“579 Für Schapiro ist das Statut der Abstraktion – dass der Geist dann die größte Reinheit erlangt, wenn er von äußerlichen Gegenständen unabhängig ist – einseitig und beruht auf einem falschen Begriff von Wiedergabe: „The scientific elements of representation in older art – perspective, anatomy, light-andshade – are ordering principles and expressive means as well as devices of rendering. All renderings of objects, no matter how exact they seem, even photographs, proceed from values, methods and viewpoints which somehow shape the image and often determine its contents.“580

Wiedergabe als ein Faksimile der Natur zu verstehen, übernehme, so Schapiro, den Irrtum der vulgären Kritik des 19. Jahrhunderts, die die Malerei anhand eines äußerst beschränkten Realismusverständnisses bewertet habe. Für ihn jedoch sind die realistische und die abstrakte Kunstform in ihren Voraussetzungen nicht weit voneinander entfernt, vor allem nicht, wenn man z. B. die Vorliebe religiöser Kunst für Übernatürliches bedenke. „Both realism and abstraction affirm the sovereignty of the artist’s mind, the first, in the capacity to recreate the world minutely in a narrow, intimate field by series of abstract calculations of perspective and gradation of color, the other in the capacity to impose new forms on nature, to manipulate the abstracted elements of line and color freely, or to create shapes corresponding to subtle states of mind. But as little as a work is guaranteed aesthetically by its resemblance to nature, so little is it guaranteed by its abstractness or ‚purity‘.

578 Schapiro, Meyer: The Nature of Abstract Art (1937), in: Schapiro, Meyer: Modern Art. 19th and 20th Centuries, London 1978, S. 185-211, hier S. 188. 579 Ebd., hier S. 187. 580 Ebd., hier S. 195 f.

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Nature and abstract forms are both materials for art, and the choice of one or the other flows from historically changing interests.“581

Meyer Schapiro wehrt eine Haltung ab, die in der Abstraktion lediglich eine Reaktion auf die erschöpfte Nachahmung der Natur oder die Entdeckung einer absoluten, reinen Form sieht, und verortet sie in einem System mit ähnlichen Entwicklungen in der Philosophie und in der Literatur.

1 P OSITIONSBESTIMMUNGEN 1a Abstraktion als Ausdruck von Unmittelbarkeit Auch in den Nachkriegsjahren galt Paris als das Zentrum abstrakter Kunst, zum einen, weil es Zufluchtsort vieler durch die totalitären Regimes von Hitler und Stalin verfolgter deutscher und russischer Künstler war, zum anderen, weil die surrealistische Kunst hier ihr Zentrum hatte; jedoch ergab sich auch eine Veränderung, die mit der ‚zweiten heroischen Phase‘ der Abstraktion eintrat. Ein weiteres geographisches Zentrum bildete sich nun, wie Serge Guil bauts Publikation mit dem sprechenden Titel How New York Stole the Idea of Modern Art belegt, in den USA heraus.582 Nicht nur durch einen kunstimmanenten Prozess, sondern vor allem durch das Trauma des Zweiten Weltkriegs ausgelöst, wurde die geometrische Abstraktion, die eines ihrer größten Foren nach wie vor in Paris hatte, von vielen Künstlern als zu einschränkend hinsichtlich der Ausdruckmöglichkeiten empfunden. Gesucht wurden jetzt erneut abstrakte Darstellungsweisen für psychologische Empfindungen und Erlebnisse. Diese Suche nach einem offeneren, unmittelbareren Ausdruck mündete in der bildenden Kunst in einer gestischen Malerei. Mit Künstlern wie Jean Dubuffet, Jean Fautrier und Wols (eigentlich Alfred Otto Wolfgang Schulze) fand diese expressive Abstraktion vielfältigen Ausdruck, der sich in unterschiedlichen Bezeichnungen manifestierte: Matter Painting, Tachismus, lyrische Abstraktion und Informel (bzw. peinture informelle). Im Gegensatz zur distanzierten,

581 Schapiro, Meyer: The Nature of Abstract Art (1937), in: Schapiro, Meyer: Modern Art. 19th and 20th Centuries, London 1978, S. 185-211, hier S. 196. 582 Vgl. Guilbaut, Serge: How New York Stole the Idea of Modern Art: Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, Chicago 1983.

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kühlen, geometrischen Abstraktion stand hier die eine, unwiederholbare Geste eines subjektiven Empfindens. In seiner Publikation Die Grundlagen der modernen Kunst spricht Werner Hofmann von „romantisch-expressiven Richtungen“, die die Kunst in Europa und Amerika mehr und mehr beherrscht hätten. Er definiert für diese Form der Abstraktion eine andere Genealogie: „Der Konnex mit der Vergangenheit trifft also nicht nur den entscheidenden historischen Drehpunkt, die dramatischen Improvisationen Kandinskys, er erstreckt sich auch auf den späten Monet der Seerosen-Bilder (wodurch die ambivalente Rolle der impressionistischen ‚confused modes of execution‘ in Erinnerung gebracht wird) und reicht in außereuropäische Bereiche, etwa in die aphoristisch zugespitzte Pinselschrift des Fernen Ostens. Eine wichtige Quelle sind die Experimente der Surrealisten, in erster Linie die sich zufällig ereignenden Farbgerinnsel der ‚décalcomanies‘ – gegenstandlose Abziehbilder in der Art des Rorschach-Testes – von Oscar Dominguez, sodann das Verfahren der ‚écriture automatique‘, das von Masson während des Krieges wieder aufgegriffen und den amerikanischen Malern vermittelt wurde.“583

Mit dem Verfahren der ‚écriture automatique‘ wird auf eine Abstraktion verwiesen, die das Unbewusste des Künstlers zum Ausdruck bringen soll. Eine automatische Schreibweise, die durch die psychische Energie des Künstlers erzeugt wird, verzichtet auf jeden Stil und bevorzugt die Formlosigkeit. Abstraktion ist somit jetzt weniger eine Formsprache als vielmehr die Unmittelbarkeit eines subjektiven Ausdrucks. Parallel zu diesem europäischen Phänomen entwickelt sich in den USA der Abstrakte Expressionismus. Ebenso wie die europäischen Strömungen setzt auch diese Bewegung auf eine Emphase der Impulsivität und Spontaneität, auf eine Konzentration der subjektiven, individuellen Geste, auf ein expressives Potential, auf die Unmittelbarkeit der Ausführung. Die Gegenwärtigkeit eines direkten physischen Kontaktes des Künstlers mit der Oberfläche der Leinwand manifestierte sich in den USA im Action Painting. Bei allen Unterschieden in der Ausführung der künstlerischen Arbeit ist all diesen Entwicklungen der Abstraktion – den europäischen wie den US-amerikanischen – doch der Bezug zu kubistischen und surrealistischen Traditionen und, damit einhergehend, die Ablehnung realistischer Tendenzen gemeinsam. Grundlegend für

583 Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 1987, S. 436 f.

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alle Ausdrucksformen ist überdies der Bezug zu den psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, die den intellektuellen Kontext für die Suche nach einem subjektzentrierten künstlerischen Ausdruck bildeten.

1b Abstraktion als Weltsprache Abstraktion als weltweit rezipierbares, Freiheit und Fortschritt symbolisierendes, alle Künste umfassendes ästhetisches System war das Paradigma, an das – Werner Haftmann zufolge – die Nachkriegskunst anzuschließen versuchte. Entsprechend fasste der Kunsthistoriker Laszlo Glozer eine ästhetische Produktion, mit der das Phänomen der Modernität in öffentliche Geltung eintrat und die für das Publikum eine Begegnung mit dem insgesamt ‚Neuen‘ darstellte, dann auch unter dem Titel ‚Abstraktion als Weltsprache‘ zusammen.584 Diese Moderne ist Vermittler und Darsteller des neuen Lebensgefühls, wie die dokumentarische Ausstellung Modern Art in Your Life des Museum of Modern Art in New York 1949 belegen wollte. Diese moderne Welt sollte der Spiegel und die Formgebung des Fortschritts sein. Werner Haftmann beschrieb im Katalog zur ersten documenta die Entwicklung der Ästhetik als einen Dualismus, dessen Formsprache „auf der einen Seite durch die rein harmonikale abstrakte Konstruktion, auf der anderen Seite durch das Ding-Bild mit dem Charakter magischer Realität“ 585 bestimmt ist. Moderne Kunst mit einem Antinaturalismus zu charakterisieren, der die Negation des Gegenstands forciert, ist Haftmann zu kurz gegriffen. Abstraktion ist für ihn Ausdruck einer Verhaltensweise des modernen Menschen. In der Kunst folgt daraus die Integration der Rezeption in das künstlerische Konzept: „Man wäre angesichts des deutlich zutage liegenden Antinaturalismus der modernen Kunst versucht zu sagen, – die Negation des Gegenstandes. Das aber träfe die Sache nicht. Vielmehr handelt es sich gerade um eine vertiefte Erlebnisweise der gegenständlichen Welt aus einer besonderen, die gesamte Verhaltensweise des modernen Menschen zur ihn umstehenden Erscheinungswelt verändernden Erfahrung. Die Einsicht war, daß die gegenständliche Welt gar nicht so fraglos existiere, daß sich erst hinter ihrer Erscheinung das Reich größerer

584 Vgl. Glozer, Laszlo: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939 [Ausst.-Kat.], Köln 1981, S. 172. 585 Haftmann, Werner: Einleitung, in: documenta. Kunst des XX. Jahrhunderts [Ausst.Kat.], München 1955, S. 15-25, hier S. 21.

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Erkenntnis erschlösse, daß sie sich allein schon durch die Art des Betrachters und die Weise des Betrachtens in oft unerwarteter Weise definierte. Letzteres ging den bildenden Künstler insbesondere an. Denn hier gerieten Mensch und Natur in ein beziehungsreiches Kontaktverhältnis, in dem eins das andere definierte und ein Drittes herbeirief.“

Jenes Dritte ist nach Haftmann entweder die Entscheidung des Künstlers, durch Verwendung von Maß, Zahl und Form in den Bereich der Objektivierung vorzudringen; als historische Referenz gelten ihm hier Künstler wie Cézanne und Seurat. Oder aber der Künstler wählt die Subjektivierung als Ausdrucksform, mit der Haftmann „ein leidenschaftliches Heranwerfen an die Dinge im Zustand des hohen dichterischen Pathos“ verbindet. Als Beispiel für die Form der künstlerischen Tätigkeit wählt er van Gogh und Gauguin. Für den Kunsthistoriker führen jedoch beide Wege folgerichtig auf rein bildnerische Mittel: „Daß die Rhythmik wohlgelagerter Formkristalle, die Gebärde einer Linie, der Ruf einer Farbe die Empfindungen des Menschen auf sich nehmen konnten, auch ohne metaphorisch auf die verursachenden Gegenstände und ihr Erscheinungsbild zurückgreifen zu müssen, war das entscheidende stimulierende Erlebnis.“586

Die Bewertung der künstlerischen Produktion durch Haftmann und auch durch andere Theoretiker wird zur documenta II deutlich radikaler: Im Zusammenhang mit einer Formsprache für kulturelle Entwicklungen sei es generell darum gegangen, „sich nicht auf irgend etwas bereits sichtbar Vorhandenes und demzufolge Reproduzierbares oder Deutbares [zu] richten, sondern auf etwas, was überhaupt erst zur sichtbaren Erscheinung gebracht werden muß. [...] So entstand in über viele Jahrzehnte hin vollzogenen Arbeitsgängen eine Malerei, die unser so radikal verwandeltes Verhältnis zur Wirklichkeit und zur menschlichen Existenz in sich hineinnehmen konnte und aus ihr – niegesehene – Bilder evozieren konnte. Weil diese Bilder aber aus der Mitte des zeitgenössischen Weltund Daseinserlebnisses stiegen, weil sie in eigentümlicher Spiegelung den unanschaulichen Entwürfen der Wissenschaft und den Tatsachen des modernen Lebens mit ihren verborgenen Wirkkräften in Welle, Kraftfeld, Umlauf und Geschwindigkeit und den neuen Erlebnisund Erkenntnistatsachen von Raumgestalt und Kosmos und der Strukturen, die den Stoff begründen und zusammenhalten, antwortende und anschaubare Vorstellungsbilder entgegenhielten, die das alles in dichterischer Verwandlung in sich enthielten, deshalb konnte die

586 Haftmann, Werner: Einleitung, in: documenta. Kunst des XX. Jahrhunderts [Ausst.Kat.], München 1955, S. 15-25, hier S. 18 f.

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sie erschaffende Kunst im letzten Jahrzehnt zu dem bestimmenden Stilausdruck unserer Zeit werden und diese große Faszination in die zeitgenössische Gesellschaft hinein und insbesondere auf die jungen Generationen ausüben.“587

Basierend auf der Behauptung einer tiefgreifenden Übereinstimmung zwischen der abstrakten Kunst und der Gesellschaft, sei „moderne Kunst heute bereits zum tragfähigen Grund weltweiter zwischenmenschlicher Beziehungen geworden [...]. Im letzten Jahrzehnt ist gerade sie es gewesen, die über all die hemmenden Besonderheiten von Sprache, Sitte, Geschichte, Rassegefühl und Folklore hinweg ein menschheitliches Bewußtsein hat herstellen können. Ihre Ausdrucksformen und Erlebnisweisen haben zum erstenmal der seit der Romantik aufleuchtenden Idee einer Weltkultur eine gewisse Wirklichkeit gegeben. Von Europa über die beiden Amerika, über Afrika und Asien bis hin zum Fernen Osten hat sie innere Übereinstimmungen wachrufen können und diese Übereinstimmungen in eine Sprachform einbetten können, die eine unmittelbare Kommunikation möglich macht. Sie kann als erster Modellfall von Menschheitskultur gelten.“588

Abstraktion wird über die ästhetische Voranstellung hinaus ein politischer Begriff, zur Kunst eines ‚freien‘, weltweit kommunizierenden Westens. Die documenta II versteht sich dann auch als die „Apotheose der Abstraktion“, denn „ihre Sprache [...] wird in der ganzen Welt gesprochen und verstanden“589. Solche „Qualität“, so Haftmann, sei in einem „Kunstwerk nur möglich [...], wenn es unbehindert von außerkünstlerischen Forderungen in Freiheit vollzogen wird“. „Repräsentanz“ könne ihm nur dann zugesprochen werden, wenn es „die geistigen Bedingungen“, die „der Zeit und ihrer Lebens- und Wirklichkeitsbewältigung eigentümlich“ seien, „spiegelt, deutet und vorantreibt. Das bedeutete den Verzicht auf die politisch reglementierende Kunstübung des ‚sozialistischen Realismus‘.“590 Mit der Abstraktion verbindet sich in der Folge ein absolutes Qualitätsverständnis mit einem uneingeschränkten Autonomiepostulat für aktuelle Bildproduktion. In

587 Haftmann, Werner: Malerei nach 1945, in: II. documenta ’59. Kunst nach 1945. Malerei, Skulptur, Druckgrafik [Ausst.-Kat.], Bd. I, Köln 1959, S. 11-19, hier S. 13. 588 Ebd., S. 14. 589 Sello, Gottfried: Am Beginn der Weltkunst, in: Handelsblatt, 17. 7. 1959. 590 Haftmann, Werner: Malerei nach 1945, in: II. documenta ’59. Kunst nach 1945. Malerei, Skulptur, Druckgrafik [Ausst.-Kat.], Bd. I, Köln 1959, S. 11-19, hier S. 15.

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seiner theoretischen Einführung – in der er das historische Fundament der modernen Kunst mit dem französischen Fauvismus, dem Kubismus und Orphismus, dem russischen Suprematismus, der holländischen Bewegung De Stijl, dem Bauhaus sowie der italienischen Pittura metafisica angibt – postuliert Haftmann „die Verwandlung vom reproduktiven zum evokativen Bild“ 591. Die gegenwärtige Kunst ruhe auf der Evokation. In diese abstrakte Kunst, für die Haftmann als Vorläufer Mondrian für die konkrete Kunst und Kandinsky für die Darstellung der inneren expressiv abstrakten Bildwelt festlegte, „brach mit erstaunlicher Gewalt eine ganzneue, dramatisch-dynamische abstrakte Ausdrucksmalerei ein. Sie wurde völlig unabhängig voneinander und in sehr persönlichen Ausprägungen vorgetragen durch Hartung, Wols und Pollock. [...] Seit etwa 1950 hat dieser neue abstrakte Expressionismus sich mit verblüffender Schnelligkeit über die ganze Welt ausgebreitet. Er hat die verschiedensten Spielarten hervorgebracht, die sich in zahlreichen Stilbezeichnungen spiegeln: – ‚art autre‘, ‚art informel‘, ‚révolution de l’infiguré‘, ‚action painting‘, ‚tachisme‘ usw. Er hat die im Nachkubismus ausgearbeiteten bildnerischen Kategorien und dessen Ästhetik erneut in Frage gestellt oder über den Haufen geworfen und in einer oft zügellosen und die schon einmal vergessenen provokatorischen Verfahren des Dadaismus wieder heranholenden Experimentiersucht die sonderbarste Exzentrik zu Tage gefördert. Er hat der modernen Sensibilität eine neue Sprache geliefert, mußte aber in Kauf nehmen, daß die Menge seiner Mitläufer seine oft gewaltsamen und ganz von der Kraft der künstlerischen Individualität lebenden Sprachmittel als Abzeichen wahrer Modernität mißverstand.“592

Die unterschiedlichen Stilrichtungen der direkten Nachkriegskunst, wie etwa Surrealismus, expressiver Realismus und konkrete Kunst, münden nach Haftmann ungefähr im Jahr 1950 in die abstrakte Kunst, die – da sie sich aus so vielen unterschiedlichen Richtungen zusammensetzt – eine vielfältige innere Gliederung besitzt: „So reich aber die Inhalte sind, so einheitlich ist doch die Richtung des Weges. Es ist der Weg vom reproduktiven zum evokativen Bild. Das Bild ist nicht mehr das Reproduktionsfeld einer wiederzuerschaffenden Außenwelt, es ist das Evokationsfeld von Erscheinung. ‚Le peintre ne tâche pas de reconstituer une anecdote, mais de constituer un fait spirituel‘,

591 Haftmann, Werner: Malerei nach 1945, in: II. documenta ’59. Kunst nach 1945. Malerei, Skulptur, Druckgrafik [Ausst.-Kat.], Bd. I, Köln 1959, S. 11-19, hier S. 16. 592 Ebd., hier S. 17 f.

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– sagt Georges Braque. Das ist die Schlußfolgerung eines langen Weges, der mit Cézanne begann.“593

Im Katalog der Ausstellung 50 Ans d’Art Moderne im Rahmen der Brüsseler Weltausstellung 1958 wird Abstraktion zum Ausdruck von Wissenschaftsgläubigkeit. Aus der Gleichstellung der geometrisch abstrakten Bildwelt von Antoine Pevsner, Naum Gabo und Barbara Hepworth mit den Forschungen von Mathematikern wird gefolgert: „l’artiste contemporain, se fiant à sa seule intuition, prouve sa prescience des mystères de la cosmogonie“. Im Zeichen der totalen Wissenschaftsgläubigkeit der 1950er Jahre kommt es mit dem Hinweis auf „les révélations étonnantes que l’art moderne a faites sur l’âme humaine et sur les remous les plus secrets du subconscient“ zur völligen Vereinnahmung der Kunst: „jamais l’homme-artiste n’a dominé aussi pleinement, aussi gravement la Création entière, avec tout ce que cette conscience comporte d’angoisse et d’extase, d’orgueil et de désespoir“.594 Die Basler Ausstellung Kunst und Naturform aus dem Jahr 1958 markiert ebenfalls den Einsatz der Abstraktion für die Kunst und für die Wissenschaft aus dem Geist der Fortschrittsjahre seit Beginn der 1950er Jahre.595 Sie erklärt die Relevanz der Abstraktion für das naturwissenschaftliche Forschungsmaterial, da im Rahmen mikroskopischer Aufnahmen über Abstraktion allgemeine Verständlichkeit hergestellt werden kann. Die Stilisierung der Abstraktion als absolutes Zeichen der Moderne wird durch die sie protegierenden Institutionen intensiviert. Die Weltausstellung in Brüssel 1958, die Biennale in Venedig 1958 und die documenta II 1959 in Kassel präsentieren abstrakte Kunst mit internationalem Anspruch, positionieren sie bewusst gegen den Sozialistischen Realismus und inszenieren sie als telelogische Manifestation der Weltsprache. Diese allgemeine Stilisierung der Abstraktion als Kunst und Ausdruck des ‚freien Westens‘, hat Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie kritisch reflektiert: „Neue Kunst ist so abstrakt, wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind.“596

593 Haftmann, Werner: Malerei nach 1945, in: II. documenta ’59. Kunst nach 1945. Malerei, Skulptur, Druckgrafik [Ausst.-Kat.], Bd. I, Köln 1959, S. 11-19, hier S. 19. 594 Langui, Emile: [Conclusion], in: 50 Ans d’Art Moderne [Ausst.-Kat.], Brüssel 21958, nicht pag. 595 Vgl. Schmidt, Georg/Schenk, Robert (Hg.): Kunst und Naturform, Basel 1960. 596 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (1970), in: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Gretel Adorno, Bd. VII, Frankfurt am Main 1970, S. 54.

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Gegen die euphorische Bewertung der Abstraktion wurde anhand der Präsentation von Kunstwerken auf der Biennale zeitgleich polemisiert.597 Künstlerische Ausdrucksform wurde politisiert, wurde zu einem Argument der Agitation in beiden deutschen Staaten. Die politische Bedeutung der Abstraktion für Deutschland verdichtete Maurice Blanchot anhand des Mauerbaus und benannte so „Berlin als Problem der Teilung“598:

597 So kritisierte Henri Nannen in einem Artikel in der Zeitschrift Stern die künstlerischen Werke, die in Venedig präsentiert wurden und unterstellte den Befürwortern der abstrakten Malerei ‚Gleichmacherei‘ in dem Sinn, dass alle Kunst, die naturalistisch arbeite, rigide abgelehnt werde. Diese Tendenz vergleicht Nannen sodann mit der Kunstpolitik Adolf Hitlers: „Und nun begann die Gleichmacherei noch einmal, diesmal aber von der anderen Seite her. Hatte Hitler in der naturgetreuen Postkartenmalerei den Ausdruck der ‚erhabenen und zum Fanatismus verpflichteten Mission‘ gesehen – nun wurde mit dem gleichen Fanatismus jeder Künstler verfemt, auf dessen Bildern auch nur noch Reste von Naturformen zu erkennen waren. [...] Der Mensch aber, der dem Künstler einmal als das von Gott gesetzte Maß aller Dinge galt, ist für die modernen Kunstaugen nichts als ein Zufallsprodukt der Natur oder besser: der Biochemie, um deren Formeln und ihre symbolhafte Niederschrift es dem abstrakten Künstler weit mehr zu gehen scheint als um eine Anschauung der Welt, als um eine Weltanschauung.“ (Nannen, Henri: Blech und Bluff und Jutesäcke, in: Stern 11, H. 36, 9. 9. 1958.) In den staatssozialistischen Systemen hingegen firmierte der Sozialistische Realismus als offizielle Ausdrucksform, mit der das politische Selbstverständnis umgesetzt wurde. Er bildete den Gegensatz zur offiziell abgelehnten Abstraktion. Sozialistischer Realismus war die bildhafte Vergegenwärtigung des politischen und gesellschaftlichen Fortschritts. Paradigmatisch wurde dies anlässlich Schillers 200. Geburtstag an dessen „realistischer, künstlerischer Praxis“ gezeigt und gefeiert. Sie sei „auf solche Weise wahrhaft modern für den sozialistischen Künstler, gerade weil sie im tiefsten geistigen Gegensatz [steht] zu dem spätbürgerlichen Modernismus mit seiner Flucht in die lebens- und kunstfeindliche Abstraktion in unseren Tagen“. Im Zusammenhang der seit den frühen 1950er Jahren einsetzenden Formalismusdebatte in der DDR wird Abstraktion als ein „abstrakter Freiheitsbegriff, der praktisch zu nichts verpflichtet“. (Abusch, Alexander: Festansprache des Kulturministers zum Festakt zum 200. Geburtstag Friedrich Schillers, Originalübertragung des Fernsehens der DDR aus dem Nationaltheater Weimar v. 10. 11. 1959 [Bestand Fernsehen, Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg, IDNR 62350]). 598 Barck, Karlheinz: Schreiben wie träumen. Blanchots Alternativen zur ‚littérature engagée‘, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 10, 2005, S. 34.

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„L’édification presque instantanée du mur a substitué à l’ambiguïté encore indécise la violence de la séparation décisive. [...] Mais quelque chose, je crois, a échappé (peut-être aussi à bien des Allemands): c’est que la réalité de ce mur était destiné à frapper d’abstraction l’unité d’une grande ville mouvante [...]. Or, le mur a voulu abstraitement concrétiser la division [...]. Le ‚scandale’ et l’importance du mur, c’est que, dans l’oppression concrète qu’il représente, il est lui-même essentiellement abstrait et qu’ainsi il nous rappelle, à nous qui l’oublions constamment, que l’abstraction, ce n’est pas un simple mode fautif de penser ou une forme apparemment appauvrie de langage, mais que l’abstraction, c’est notre monde, celui où nous vivons et où nous pensons quotidiennement.“599

So eindeutig, wie eine politische Inanspruchnahme Kunst vereinheitlichen möchte, stellt diese sich selbstverständlich nicht dar. Zeigen sich im ‚Westen‘ immer wieder figurative Werke, avancierte die Abstraktion im ‚Osten‘ zu einem Gegenpart zur offiziellen Kulturpolitik: „Obwohl die abstrakte Kunst in unserem Land wie ein geheimer Strom nur selten die Oberfläche erreichte, durchzieht diese L’art autre das gesamte Kunstgeschehen.“600

1c Clement Greenbergs amerikanische Abstraktion In den USA galt die Unterstützung der abstrakten Kunst auch als ein patriotischer Gestus. Eine der Standardpublikationen der Bewegung, Irving Sandlers Abstract Expressionism ist mit The Triumph of American Painting untertitelt, und auch die Kritikerin Eva Cockcroft schreibt: „Links between cultural cold war politics and the success of Abstract Expressionism are by no means coincidental [...]. They were consciously forged at the time by some of the most influential figures controlling museum policies […].“601 Einer der wichtigsten Kritiker der USA, Clement Greenberg, verwendete für den Abstrakten Expressionismus den Begriff ‚American Type Painting‘. Für

599 Blanchot, Maurice: Berlin (entstd. 1962), in: Blanchot, Maurice: Écrits politiques. Guerre d’Algérie. Mai 68. etc. 1958-1993, Paris 2003, S. 74 f.; vgl. Blanchot, Maurice: Le nom de Berlin, 1964/Der Name Berlin, frz.-dt., Berlin 1983, S. 10-13. 600 Blume, Eugen: Eine Landkarte des inneren Raumes. Anmerkungen zur ungegenständlichen Kunst in der DDR, in: Konturen. Werke seit 1949 geborener Künstler der DDR [Ausst.-Kat.], Berlin 1989, S. 28-35, hier S. 28. 601 Cockcroft, Eva: Abstract Expressionism. Weapon of the Cold War, in: Artforum 12, Nr. 10, 1974, S. 39.

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Greenberg ist das ‚American Type Painting‘ ein Synonym für eine weitere Vokabel, die er in den Kunstkontext einführt, den Modernismus, mit dem er durch die Abstraktion eine Konzentration auf die formalen, medialen und strukturellen Möglichkeiten der künstlerischen Praxis verbindet. Abstraktion und Modernismus oder auch Modernity sind Synonyma. „Writing about abstraction will already be to write about the nature of modernity.“602 Greenbergs Interesse am faktisch Vorhandenen lässt ihn die abstrakte Kunst bevorzugen. Für Greenberg verzichtet diese Kunst – im Gegensatz etwa zu einem Malereiverständnis seit der Renaissance – auf jeden Illusionismus, verzichtet darauf, ein imaginäres Fenster zu fiktiven Realitäten zu sein. Sie lenkt vielmehr den Blick auf das, was tatsächlich ist: Verteilung von Farben auf Fläche.603 Zwei der grundlegenden Kennzeichen künstlerischer Praxis, die Greenberg fordert und in der Abstraktion findet, sind damit gewährleistet: ‚flatness‘ und ‚purity‘.604 Wichtigstes Ziel der Kunst ist für Greenberg Selbstbestimmung, die notwendigerweise zu Selbstbesinnung führt. Kunstgattungen müssen nachweisen, dass sie etwas jeweils Eigentümliches und Unersetzbares besitzen. Deshalb sollten die Künstler beginnen, die ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ ihres jeweiligen Metiers zu erforschen. Diese selbstkritische Besinnung der Kunst auf ihre ureigenen und spezifischen Möglichkeiten ist Greenberg zufolge das Charakteristikum des Modernismus: „Realistic, naturalistic art had dissembled the medium, using art to conceal art; Modernism used art to call attention to art. The limitations that constitute the medium of painting – the flat surface, the shape of the support, the properties of the pigment – were treated by the Old Masters as negative factors that could be acknowledged only implicitly or indirectly. Under Modernism these same limitations came to be regarded as positive factors, and were acknowledged openly.“605

602 Benjamin, Andrew: What is Abstraction?, London 1996, S. 7. 603 Vgl. Lüdeking, Karlheinz: Vorwort, in: Clement Greenberg. Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, übers. v. C. Hollender, Dresden 1997, S. 9-29, hier S. 11. 604 Vgl. Greenberg, Clement: Towards A Newer Laocoon (1940), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. I, Chicago/London 1995, S. 23-41, hier S. 23, 35. 605 Greenberg, Clement: Modernist Painting (1960), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. IV, Chicago/London 1995, S. 8593, hier S. 86.

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Dem Modernismus ist eine Logik der permanenten Weiterentwicklung inhärent, so dass die daraus folgende Bezugnahme auf vergangene Epochen – sei es in einer affirmativen Begegnung oder durch eine ablehnende Haltung – der Logik des Wechsels der Stile folgt. Dementsprechend konstruiert Greenberg einen Prozess, in dem auf jeder Stufe des Erreichten immer wieder neu zu beurteilen ist, was in der Folge geschehen soll und kann. Greenberg suchte in der Kunst also eine strenge Entwicklungslogik; ein Werk ist für ihn nur dann von Bedeutung, wenn es einen Beitrag zur historischen Evolution seiner Gattung leistet. Greenberg unterstellt, dass in der Geschichte der Kunst rational rekonstruierbare Gesetzmäßigkeiten am Werk seien, und zwar unabhängig von den erklärten Zielen und den bewussten Absichten der Künstler. Und seit dem Beginn der Moderne entwickelt sich die Kunst eben nach dem Gesetz, dass in jeder Gattung nach und nach alle für sie geltenden Konventionen in Frage gestellt und verletzt werden müssen, um zu prüfen, welche entbehrlich sind und welche nicht. Durch diesen Prozess wird alles Unnötige und Überflüssige ausgeschieden: „The history of the avant-garde painting is that of a progressive surrender to the resistance of its medium.“606 In dieser These mündet Greenbergs ‚grand récit du modernisme‘, erstmals und bereits sehr prägnant im Jahr 1940 in ‚Towards A Newer Laocoon‘ formuliert, später, differenziert und konkretisiert, in den Grundsätzen aber nie verändert, u. a. in ‚American Type Painting‘ (1955) und in ‚Modernist Painting‘ (1960). Bereits in ‚Towards a Newer Laocoon‘ verfolgt Greenberg zwei Argumentationsstränge, einen historisch-ideologiekritischen und einen systematisch-geschichtsphilosophischen. In der ersten Lesart beschreibt Greenberg zunächst jene Entwicklungen, die – seiner Deutung nach – seit dem späten 17. Jh. zu einer Degeneration der Malerei „from the pictorial to the picturesque“607 geführt haben. Ursache für diesen fundamentalen Verfall der Malerei sind nach Greenberg gesellschaftliche Veränderungen, vor allem das Aufstreben des Bürgertums, das das Medium Literatur favorisiert habe, um damit im ‚Paragone‘ der Künste zu einer bis zur Romantik gültigen Vormachtstellung des Literarischen – auch in den anderen Künsten, also der Malerei oder der Skulptur – beizutragen. Erst ab 1848 hätten die Avantgarden dann mit ihrem anti-bürgerlichen Impuls gegen die ideologische Vereinnahmung der Künste revoltiert und damit die Vormachtstellung

606 Greenberg, Clement: Towards A Newer Laocoon (1940), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. I, Chicago/London 1995, S. 2341, hier S. 34. 607 Ebd., hier S. 28.

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des Literarischen in der etabliert-akademischen Malerei überwunden und somit eine Autonomisierung der Künste ermöglicht. „‚Literature’s‘ corrupting influence is only felt when the senses are neglected. The latest confusion of the arts was the result of a mistaken conception of music as the only immediately sensuous art. But the other arts can also be sensuous, if only they will look to music, not to ape its effects but to borrow its principles as a ‚pure‘ art, as an art which is abstract because it is almost nothing else except sensuous.“608

Greenbergs zweite Argumentationslinie ist mit der ersten eng verknüpft. Denn jene Vormachtstellung des Literarischen, die in historischer Lesart als Konsequenz gesellschaftspolitischer Veränderungen gilt, ist in systematischer Lesart zugleich das Kriterium, an dem sich, ex negativo, die Identität der Künste bemisst. Die Künste sind für Greenberg avantgardistisch in eben dem Maß, in dem sie sich vom Literarischen lösen, d. h. die Eigengesetzlichkeit ihres Mediums nicht nur in Anspruch nehmen, sondern artikulieren. Anders gewendet: Avantgardistische Kunst ist medienspezifisch differenzierte Kunst. Der Malerei nun – so seine These – sei die Auseinandersetzung mit bzw. im Medium wesentlich; ja, das Medium sei die eigentliche Inspirationsquelle aller Kunst. Mit der Moderne habe sich die mediale Auseinandersetzung noch einmal intensiviert, ja radikalisiert. Denn die moderne Malerei, „more conscious of itself“609, habe die mediale Identität der Malerei als Suche nach dem Absoluten zugleich zu ihrem Thema gemacht, indem sie die traditionellen Grenzsetzungen des eigenen Mediums immer weiter herausgefordert habe. „It has been in search of the absolute that the avant-garde has arrived at ‚abstract‘ or ‚nonobjective‘ art – and poetry, too. The avant-garde poet or artist tries in effect to imitate God by creating something valid solely on its own terms, in the way nature itself is valid, in the way a landscape – not its picture – is aesthetically valid; something given, increate, independent of meanings, similars or originals. Content is to be dissolved so completely into form that the work of art or literature cannot be reduced in whole or in part to anything not itself. But the absolute is absolute, and the poet or artist, being what he is, cherishes certain

608 Greenberg, Clement: Towards A Newer Laocoon (1940), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. I, Chicago/London 1995, S. 2341, hier S. 32. 609 Greenberg, Clement: Modernist Painting (1960), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. IV, Chicago/London 1995, S. 8593, hier S. 89.

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relative values more than others. The very values in the name of which he invokes the absolute are relative values, the values of aesthetics. And so he turns out to be imitating, not God – and here I use ‚imitate‘ in its Aristotelian sense – but the disciplines and processes of art and literature themselves. This is the genesis of the ‚abstract‘“610.

Für die bildende Kunst – auf die sich Greenberg in seinen Ausführungen konzentriert – bedeutet dies: „purity in art consists in the acceptance, willing acceptance, of the limitations of the medium of the specific art“611. Damit verweist Greenberg auf die notwendige Unverwechselbarkeit, die ein Charakteristikum der künstlerischen Arbeit ist. „It quickly emerged that the unique and proper area of competence of each art coincided with all that was unique in the nature of its medium.“612 Diesen Bereich der Kompetenz, den Greenberg als Anspruch an eine künstlerische Arbeit stellt, erlangt sie eben durch die Ausarbeitung von Spezifika, die sie gegenüber jeder anderen Arbeit unverwechselbar werden lässt. Im Mittelpunkt seiner Forderungen nach „reductionism and essentialism“ 613 steht der Abstrakte Expressionismus, da dieser – nach Greenberg – jene Standards am eindrucksvollsten umsetzt und daher als avancierteste Kunst der Nachkriegszeit charakterisiert wird. Einer der bekanntesten Vertreter des Abstrakten Expressionismus war Jackson Pollock. Ausgangspunkt seiner Abstraktionen war das Unbewusste und die daraus entspringende Kreativität des Automatismus. Harold Rosenberg, neben Greenberg der zweite Theoretiker der Abstraktion der Nachkriegszeit, prägte dafür die Bezeichnung ‚Action Painting‘.614

610 Greenberg, Clement: Avant-Garde and Kitsch (1939), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. I, Chicago/London 1995, S. 422, hier S. 8. 611 Greenberg, Clement: Towards A Newer Laocoon (1940), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. I, Chicago/London 1995, S. 2341, hier S. 32. 612 Greenberg, Clement: Modernist Painting (1960), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. IV, Chicago/London 1995, S. 8593, hier S. 86. 613 Fried, Michael: How Modernism Works. A Response to T. J. Clark, in: Frascina, Francis (Hg.), Pollock and after. The Critical Debate, 1985, London/New York 22000, S. 87-101, hier S. 91. 614 Vgl. Rosenberg, Harold: The American Action Painters, in: Art News 51, December 1952, S. 22-23 u. S. 48-50.

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Für Greenberg ist das zentrale Charakteristikum die Reinheit des Optischen – die ‚purity‘ – eines jeden Kunstwerks, die sich durch Selbstkritik und das Streben nach Verbesserung erhalten lässt: „The task of self-criticism became to eliminate from the specific effects of each art any and every effect that might conceivably be borrowed from or by the medium of any other art. Thus would each art be rendered ‚pure‘, and in its ‚purity‘ find the guarantee of its standards of quality as well as of its independence. ‚Purity‘ meant self-definition, and the enterprise of self-criticism in the arts became one of self-definition with a vengeance.“615

Die von Greenberg geforderte reine Optikalität impliziert die Präsenz einer essentiellen Form, gleichsam ein atemporales ästhetisches Objekt. Diese durch konservative Wertvorstellungen dominierte, formalistische Kunstkritik gab der künstlerischen Praxis einen konstitutiven, reglementierenden Kanon vor. Außerkünstlerische Bezüge einer artifiziellen Intention sollten durch eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der reinen Visualität eines Werkes ersetzt werden. Reinheit und Selbstkritik findet Greenberg am eindrucksvollsten in der Malerei vertreten, da sie zusätzlich über eine ontologische Kategorie verfügt, die jeder anderen Gattung fremd sein muss, der ‚flatness‘: „It was the stressing of the ineluctable flatness of the surface that remained, however, more fundamental than anything else to the processes by which pictorial art criticized and defined itself under Modernism. For flatness alone was unique and exclusive to pictorial art. The enclosing shape of the picture was a limiting condition, or norm, that was shared with the art of the theatre; color was a norm and a means shared not only with the theater, but also with sculpture. Because flatness was the only condition painting shared with no other art, Modernist painting oriented itself to flatness as it did to nothing else.“616

Die von Greenberg geforderte Selbstreferenz schloss zwangsläufig gesellschaftliche Bezüge einer künstlerischen Arbeit aus, da der Kritiker in einer solchen Nähe zur ‚Lebenswelt‘ die Auflösung der traditionellen Grenzen der Kunst, die jedoch den qualitativen Standard garantieren, gefährdet sah. Modernistische Kunst ist für Greenberg eine künstlerische Praxis, die sich ihrer medienspezifischen Differenz

615 Greenberg, Clement: Modernist Painting (1960), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. IV, Chicago/London 1995, S. 8593, hier S. 86. 616 Ebd., hier S. 87.

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nicht nur bewusst ist, sondern diese auch im Kunstwerk artikuliert. Dem ästhetischen Empfinden Greenbergs vermochte lediglich reine Optikalität zu genügen, die sich unabhängig von jeder externen Referenz zeigte, sei sie politisch, psychologisch oder ökonomisch. Greenbergs systematisch-geschichtsphilosophische Argumentation mündet in der These einer selbstkritischen, selbstreferentiellen Kunst, die an die Stelle der tradierten Kategorie der Repräsentation tritt. Die modernistische Kunst führt also eine Kritik am Medium durch das Medium; dieser Prozess der medialen Selbstbestimmung führt zu einer Entfaltung des Mediums durch Selbstkritik. Indem der Abstrakte Expressionismus zunehmend in Frage gestellt wurde, artikulierte sich im Lauf der 1960er Jahre zugleich deutliche Kritik an Greenbergs Thesen des ‚modernism‘, deren Auswirkungen Martin Jay wie folgt zusammenfasst: „[Greenbergs] Standards konnte man nicht bloß zur Definition von echter Kunst verwenden, sondern auch zur qualitativen Entscheidung über gute und schlechte Kunst. Hand in Hand mit diesem Argument für visuelle Reinheit ging ein Bann von Bewegungen wie dem Surrealismus, den Greenberg eine ‚reaktionäre Tendenz‘ nannte, weil er versuche, ‚äußerliche Stoffe‘ wie das Unbewußte zu restaurieren. Bewegungen wie Dada könne man wegen ihres radikalen Anti-Formalismus und ihrer feindlichen Gesinnung gegenüber der differenzierten Institution der Kunst im allgemeinen und der Malerei im Besonderen ebenso nicht ernst nehmen. [...] Ähnliches gilt für die Kritik der minderwertigen Theatralik in der Kunst, ihrer Degeneration zu Zuschauerspektakeln anstelle absolut selbständiger Präsenz.“617

Die Kritik an Greenberg lässt sich im Wesentlichen in zwei Ansatzpunkten darstellen: Eine erste Kritik wendet sich gegen die unverhohlen lineare Lesart der Geschichte, eben gegen jenen ‚grand récit du modernisme‘, der von Manets malerischer Flächigkeit über Cézannes protokubistische Aufteilung der Bildfläche und den analytischen Kubismus von Picasso und Braque eine geradlinige, im Zeichen von ‚purity‘ und ‚flatness‘ stehende Entwicklung bis zu Pollock und der New York School sehen will. Rosalind Krauss bezeichnet Greenbergs Idee von der Abstraktion als Ausdruck des ‚modernism‘ in ihrer Publikation The Originality of the Avant-garde and Other Modernist Myths (1985) kritisch als ‚formalism‘ oder

617 Jay, Martin: Den Blick erwidern. Die amerikanische Antwort auf die französische Kritik am Okularzentrismus, übers. v. C. Höller, in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 154-174, hier S. 157.

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‚dogmatism‘.618 Sie begann in heftigem Widerspruch eine Auffassung der Moderne zu konzipieren, in der die Kunst eben nicht länger nur als optisches Phänomen, sondern vor allem als physisches Relikt und als indexikalisches Zeichen in Betracht gezogen wird. Rosenberg benannte – ebenfalls in scharfer Opposition zu Greenberg – die künstlerische Psyche als Impuls der Werkästhetik der Avantgarde und Neo-Avantgarde.619 Greenberg selbst hat der Kritik an seiner Kritik mit uneingeschränkt polemischen Aussagen zur Kunst der 1960er Jahre immer wieder Anlass geboten. Zwar distanzierte er sich selbst in späterer Zeit von seinem Aufsatz ‚Towards a Newer Laocoon‘: „J’ai beaucoup regretté certaines des choses que j’ai écrites autrefois. Elles sont présomptueuses. ‚Towards a Newer Laocoon‘ me gêne... Il n’était pas suffisamment argumenté. Il faut le considérer comme un résumé sur l’art abstrait.“620 Aber seine Haltung gegenüber einer Kunst, die nicht Abstraktion und somit kein Ausdruck von Selbstreferenz war, blieb polemisch. So nannte er die zweite Generation des Abstrakten Expressionismus „mannered, imitative, uninspired and repetitious“621, der Minimal Art warf er gemeinsam mit Michael Fried ‚theatricality‘ vor, mit der Pop Art sah er die von ihm so genannte ‚high-art-Avantgarde‘ als beendet an. Der Annäherung von Kunst an Fragen der Kultur, der Natur, der Naturwissenschaften usw. stand er äußerst skeptisch gegenüber. Die Pop Art und die Minimal Art wurden als „minor arts“ abqualifiziert: „Not bad art, but on a low level“622. Abstraktion fand sich in der künstlerischen Praxis in der Folge z. B. in der Minimal Art, mit der Pop-Art wurden neue Formen der Figuration in die Kunst eingeführt, die sich in Deutschland an den Malern der ‚Neuen Wilden‘ – einer vornehmlich

618 Vgl. Krauss, Rosalind: A View of Modernism, in: Artforum 11, Nr. 1, 1972, S. 4851; Krauss, Rosalind: The Originality of the Avant-garde and Other Modernist Myths, Cambridge, Mass. 1985. 619 Vgl. Rosenberg, Harold: The Anxious Object, Chicago 1966. 620 Greenberg, Clement, zit. nach: Jones, Caroline A.: La Politique de Greenberg et le discours postmoderniste, in: Les Cahiers du Musée National d’Art Moderne 45/46, 1993, S. 105-137, hier S. 134. 621 Greenberg, Clement: The ‚Crisis‘ of Abstract Art (1964), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. IV, Chicago/London 1995, S. 176-187, hier S. 180. 622 Greenberg, Clement, Interview Conducted by Edward Lucie-Smith (1978), in: Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, hg. v. J. O’Brian, Bd. IV, Chicago/London 1995, S. 277-282, hier S. 281.

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in Berlin angesiedelten Gruppe von Künstlern, die figurativ arbeiteten – ablesen lässt.

2 AUSBLICK 2a Figuration durch Abstraktion Die Bedeutung der Abstraktion in Theorie und Praxis wird gegenwärtig unterschiedlich bewertet. Mit ihrer Institutionalisierung durch Großausstellungen wie der Biennale in Venedig und der Brüsseler Weltausstellung 1958 sowie der documenta 1959 gingen renommierte Auszeichnungen an Vertreter der Abstraktion. So erhielt etwa Mark Tobey 1958 den Malerei-Preis der Biennale, und Hans Hartung wurde im gleichen Jahr mit dem ‚Rubens-Preis‘ der Stadt Siegen ausgezeichnet. Für den Kunsthistoriker Glozer, der im Katalogbuch Westkunst (1981) eine Bestandsaufnahme der Kunst von 1937 bis zur documenta V im Jahr 1972 unternahm, ging die mit der Abstraktion verbundene Perspektive, ein „mit weltweiter Geltung verkündeter Epochenstil“ zu sein, gleichzeitig mit der Diagnose ihres Niedergangs einher: „Daß diese Phase des Triumphs so kurz sein und daß die Entfaltung der abstrakt-informellen Kunst auf der 59er documenta nicht bloß einen Höhepunkt, sondern bereits den Kollaps bedeuten würde, bleibt als Überraschung der Zeitwende in die sechziger Jahre hier zu konstatieren. Auf der Strecke blieben der Anspruch auf Weltstil und auch jener Rezeptionsrahmen, in den die zeitgenössische Kunst als ein Produkt der offiziösen Fortschritts- und Freiheitsideologie eingepaßt wurde.“623

Parallel zur Feier der abstrakten Kunst als demokratischer ‚Weltsprache‘ entwickelte sich seit den 1960er Jahren in Deutschland, genauer in Berlin, eine Kunstrichtung, die bald weltweit Aufmerksamkeit erregte und unter dem Stichwort ‚Neue Figuration‘ eine narrative, gegenständliche Bildsprache gegen die Abstraktion setzte.624 Der gleichnamige Katalog aus dem Jahr 1989 bietet erstmals eine Zusammenfassung und Differenzierung der verschiedenen Richtungen neuer Fi-

623 Glozer, Laszlo: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939 [Ausst.-Kat.], Köln 1981, S. 219. 624 Vgl. Krens, Thomas/Govan, Michael/Thompson, Joseph (Hg.): Neue Figuration. Deutsche Malerei 1960-88 [Ausst.-Kat.], München 1989.

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guration, die jedoch eines gemeinsam hatten: „Gegen die zunehmende Unverbindlichkeit des Informel setzten [...] junge Künstler [...] neue gegenstandsgebundene Bilder, die sich an den Erfahrungen der Wirklichkeit orientierten.“625 Künstler wie Georg Baselitz, Markus Lüpertz und Karl Horst Hödicke, Gerhard Richter und Sigmar Polke verwendeten in ihren Arbeiten figurative Elemente, womit sie sich gegen den allgemeinen Kunstmarkt richteten. Thomas Krens brachte die Tatsache, dass diese Entwicklung in Deutschland stattfand, mit der speziellen Geschichte der deutschen realistischen Kunst in Zusammenhang: „Der abstrakte Expressionismus, der 1958 anläßlich einer Ausstellung in der Berliner Hochschule der Künste vorgestellt wurde, die informelle Kunst stützte und den Tachismus in Deutschland verankerte, provozierte einen Widerstand, der auf der mächtigen Tradition des deutschen Realismus gründete. Berlin war der Nährboden für verschiedene neue Formen figurativer und realistischer Kunst, wie zum Beispiel des kritischen oder des dramatischen Realismus: Dieser Begriff wurde erstmals in den frühen Sechzigern gebraucht, um das Werk von Baselitz und Schönebeck oder Richters und Polkes ironischen ‚kapitalistischen Realismus‘ zu charakterisieren.“626 Die figurative Kunst wurde von Beginn an heftig diskutiert, wobei insbesondere Benjamin Buchloh, Donald Kuspit und Craig Owens die Diskussion beherrschten. Für Heinrich Klotz ist es „eine Eigenart der deutschen Malerei seit 1960, daß sie mit ihren prominenten Äußerungen kaum je die Errungenschaften des Konstruktivismus oder ähnlicher Tendenzen aufgenommen hat.“627

Denn: „Die Absicht war erkennbar, der eigenen geglätteten Wiederaufbauwelt, wo die Technik triumphierte und bald jedes Ding glänzte und perfekt erstrahlte, eine Kunst des Nicht-Perfekten und der subjektiven Charakteristik entgegenzusetzen.“628 Deutlich wird in der Betrachtung der Malerei die Tendenz zur Narration, zu erzählerischen Themen, zur Fiktion. Wenngleich Künstler, wie paradigmatisch

625 Krens, Thomas/Govan, Michael/Thompson, Joseph (Hg.): Neue Figuration. Deutsche Malerei 1960-88 [Ausst.-Kat.], München 1989, S. 7. 626 Krens, Thomas: Deutsche Malerei. Paradox und Paradigma in der Kunst des späten 20. Jahrhunderts, in: Krens, Thomas/Govan, Michael/Thompson, Joseph (Hg.): Neue Figuration. Deutsche Malerei 1960-88 [Ausst.-Kat.], München 1989, S. 9-19, hier S. 12. 627 Klotz, Heinrich: Abstraktion und Fiktion, in: Krens, Thomas/Govan, Michael/Thompson, Joseph (Hg.): Neue Figuration. Deutsche Malerei 1960-88 [Ausst.-Kat.], München 1989, S. 47-56, hier S. 47. 628 Ebd.

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Gerhard Richter, Abstraktion und Figuration nicht notwendig als Ausschlussverfahren für das eigene Werk verstanden, gilt doch für einen großen Teil der Kunstproduktion, dass „das Vermitteln der eigenen Welterfahrung [...] wieder zum Anliegen [wird]. An die Stelle höchster Objektivierung in der gegenstandslosen Malerei tritt nun das subjektive Selbstbekenntnis. Mit dem Rückweg zur Erzählung und zur Deutung der Welt ist eine Naivisierung verbunden, die von den theoretischen Verästelungen der Moderne fortführt.“

Wichtig für diese künstlerische Praxis ist jedoch das Verhältnis von Abstraktion und Figuration, denn sie refiguriert sich aus den Formen und Fragen der Abstraktion. So definiert Klotz diesen Prozess: „Die Rückkehr zur narrativen Malerei durch die Abstraktion hindurch – nicht hinter sie zurück – ist das entscheidende Ereignis der Postmoderne.“629 Klotz ist es dann auch, der einer Gruppe von Berliner Künstlern, die mit häufig aktionistischer Geste gegenständlich malten, wie z.B. Salomé, Helmut Middendorf, Lüpertz, Hödicke, Rainer Fetting u. a., den Begriff ‚Neue Wilde‘ als Charakterisierung ihrer Malerei zuwies 630 und sie damit auch gegen andere, ebenfalls gegenständlich arbeitende Künstler – wie z. B. Walter Dahn und Jiri Dokoupil – der Gruppe Mühlheimer Freiheit in Köln absetzte. In der gegenwärtigen Kunstproduktion ist es wiederum ein neuer Realismus, der besonders die Photographie und Malerei auszeichnet. Photographen wie Wolfgang Tillmanns, Maler wie Elizabeth Peyton, Nobert Bisky und Eberhard Havekost bereiten mit ihren Werken – so unterschiedlich sie im Einzelnen auch sind – einem neuen Realismus eine Bühne, auf der unter anderem das Portrait eine Renaissance erfährt, soziale und politische Belange neue Brisanz erlangen und Fragen der Malerei wie der Photographie über die Gegenständlichkeit des Werks verhandelt werden. Vor dem Hintergrund dieser sich seit den 1960er Jahren vollziehenden ReFiguration der Kunst kann Abstraktion gegenwärtig als „ein Phänomen unter vielen“631 bewertet werden.

629 Klotz, Heinrich: Abstraktion und Fiktion, in: Krens, Thomas/Govan, Michael/Thompson, Joseph (Hg.): Neue Figuration. Deutsche Malerei 1960-88 [Ausst.-Kat.], München 1989, S. 47-56, hier S. 49. 630 Vgl. Klotz, Heinrich: Die Neuen Wilden in Berlin, Stuttgart 1984. 631 Wagner, Monika: ‚Abstraktion‘, in: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen – Methoden – Begriffe, Stuttgart u. a. 2003, S. 1-3, hier S. 2.

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2b Worringer Re-read: Gilles Deleuze und Felix Guattari Parallel zu diesen Bewertungen ist Abstraktion nicht nur nach wie vor eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch die bevorzugte gedankliche Operation, um die Auswirkungen der Medialisierung der Gesellschaft beschreibbar zu machen. In diesem Sinne spricht der Philosoph Vilém Flusser in seiner Publikation Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien (1993) vom „Abstraktionsspiel“632, wenn er die in der Kulturgeschichte vorhandene Fähigkeit beschreibt, ‚unwirkliche‘ Universen herzustellen. Gilles Deleuze und Félix Guattari greifen in ihren gemeinsamen Publikationen – Deleuze auch in seinen Monographien – immer wieder auf Worringers Analysen der Abstraktion zurück, sei es in ihrer Bestimmung des ‚glatten‘ oder ‚gekerbten‘ Raums, bei der Unterscheidung von ‚Abstrakt‘ und ‚Konkret‘ oder auch in der Bestimmung des ‚organlosen Körpers‘. In ihrer ‚Philosophie der Differenz‘ gehen beide Autoren auf das Ornament ein, das sie in Mille Plateaux als adäquaten Ausdruck nicht-linearen Denkens beschreiben. Mit ihren Überlegungen beziehen sich beide auf Worringers Primat der Abstraktion vor der Einfühlung. Nomadische Kunst als Modell der Ästhetik ermöglicht den Autoren eine Diskussion räumlicher Vorstellungen unter den Begriffen des ‚Glatten‘ (‚le Lisse‘) als „l’objet d’une vision rapprochée par excellence et l’élément d’un espace haptique“ und des ‚Gekerbten‘ (‚le Strié‘) im Sinne einer „vision plus lointaine“, eines „espace plus optique.“633 Ausgehend von Worringers Interpretation der abstrakten Linie, mit der er den Ausdruck eines künstlerischen Wollens benennt, skizzieren beide Philosophen die weitere Entwicklung dieser Linie. Ist sie zunächst geometrisch kristallin, macht sie dann eine Wandlung durch und bildet die ‚gotische‘ oder ‚nomadische‘ Linie. Deleuze und Guattari setzen sich an dieser Stelle in ihrer Interpretation von Worringer ab: „Pour nous au contraire, la ligne abstraite est en premier lieu ‚gothique‘, ou plutôt nomade, et non rectiligne. Dès lors nous ne comprenons pas de la même manière la motivation esthétique de la ligne abstraite, ni son identité avec le commencement de l’art. Alors que la ligne égyptienne rectiligne (ou ‚régulièrement‘ arrondie) trouve une motivation négative

632 Flusser, Vilém: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien (1993), in: Vilém Flusser. Schriften, hg. v. S. Bollmann/E. Flusser, Bd. I, Mannheim 2

1995, S. 9.

633 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie, Paris 1980, S. 615.

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dans l’angoisse de ce qui passe, flue ou varie, et érige la constance et l’éternité d’un En-soi, la ligne nomade est abstraite en un tout autre sens, précisément parce qu’elle est d’orientation multiple, et passe entre les points, les figures et les contours: sa motivation positive est dans l’espace lisse qu’elle trace, et non dans le striage qu’elle opérerait pour conjurer l’angoisse et se subordonner le lisse. La ligne abstraite est l’affect des espaces lisses, et non le sentiment d’angoisse qui appelle au striage. D’autre part, il est vrai que l’art ne commence qu’avec le ligne abstraite; mais ce n’est pas parce que le rectiligne serait la première manière de rompre avec une imitation de la nature, imitation non esthétique dont dépendraient encore le préhistorique, le sauvage, l’enfantin comme ce qui manque d’une ‚volonté d’art‘. Au contraire, s’il y a pleinement un art préhistorique, c’est parce qu’il manie la ligne abstraite, bien que non rectiligne.“634

Deleuze und Guattari sind deshalb der Überzeugung, dass „les empires“ – auf die sich Worringer mit seiner Verortung der abstrakten Linie als Ausdruck ägyptischer Geometrie bezieht – „convertissent déjà la ligne abstraite, l’arrachent à son espace lisse et lui confèrent des valeur concrètes.“ 635 Jedoch sind die Imperien der abstrakten Linie nicht vorgängig und bringen sie erst hervor, sondern beides sind zeitgleiche Erscheinungen. Die Linie als Gegenstand, als Synthesis und Einheit ihrer Teile ist gerade das Gegenteil der gotischen Linie. Hier folgen Deleuze und Guattari Worringers Definition. Die Linie ist unbegrenzt und maßlos und damit – im Wortsinn Worringers – mit einer „Unendlichkeitspotenz“636 ausgestattet.637 Auch sind Abstraktes und Figuratives für Deleuze und Guattari nicht trennbar: „Abstrait ne s’oppose pas directement à figuratif: le figuratif n’appartient jamais comme tel à une ‚volonté d’art‘; si bien qu’on ne peut opposer en art une ligne figurative et une qui ne le serait pas. Le figuratif ou l’imitation, la représentation, sont une conséquence, un résultat qui vient de certains caractères de la ligne quand elle prend telle ou telle forme.“

Eine ‚wahrhaft abstrakte Linie‘ ist für die Autoren jene, die den glatten Raum beschreibt, „qui ne délimite rien, qui ne cerne plus aucun contour“, eine „ligne

634 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie, Paris 1980, S. 619 f. 635 Ebd., S. 620 f. 636 Worringer, Wilhelm: Formprobleme der Gotik, München 1911, S. 36. 637 Vgl. Vogl, Joseph: Anorganismus. Worringer und Deleuze, in: Böhringer, Hannes/Söntgen, Beate (Hg.): Wilhelm Worringers Kunstgeschichte, München 2002, S. 181-193, hier S. 184.

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mutante sans dehors ni dedans“638. Daraus ergibt sich die Frage: „que doit-on appeler abstrait dans l’art moderne? Une ligne à direction variable, qui ne trace aucun contour et ne délimite aucune forme ...“639. In diesem Sinne plädieren beide für die Einschätzung des Kunsthistorikers und Greenberg-Schülers Fried, wonach sich die abstrakte Linie bei Jackson Pollock findet640: „multidirectionnelle, sans intérieur ni extérieur, sans forme ni fond, ne délimitant rien, ne décrivant pas un contour, passant entre les taches et les points, emplissant un espace lisse, brassant une matière visuelle haptique et proche, qui ‚tout à la fois attire l’œil du spectateur et ne lui laisse aucun lieu pour se reposer‘“641.

Auch in seinem Essay ‚Francis Bacon. Logique de la Sensation‘ (1981) wendet sich Deleuze Worringer zu, diesmal in Zusammenhang mit seinen Reflexionen über den organlosen Körper. Schon bei Worringer besteht das Wesentliche der abstrakten oder abstraktiven Funktion der gotischen Linie darin, Körper zu entkörperlichen und den Raum zu enträumlichen. Das Korrelat dieser Linie ist die Fläche. In ihr wandelt sich das extensive Verhältnis von Körper und Raum zu einem intensiven Verhältnis von Linie und Fläche. Im 7. Abschnitt (‚L’Hystérie‘) erläutert Deleuze den organlosen Körper: „Le corps sans organes s’oppose moins aux organes qu’à cette organisation des organes qu’on appelle organisme. C’est un corps intense, intensif. Il est parcouru d’une onde qui trace dans le corps des niveaux ou des seuils d’après les variations de son amplitude. Le corps n’a donc pas d’organes, mais des seuils ou des niveaux“. Den organlosen Körper sieht Deleuze in der Malerei Bacons: „Contrairement à une peinture misérabiliste qui peint des bouts d’organes, Bacon n’a pas cessé de peindre des corps sans organes, le fait intensif du corps.“642

638 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie, Paris 1980, S. 621. 639 Ebd., S. 624. 640 Vgl. Fried, Michael (Hg.): Three American Painters [Ausst.-Kat.], Cambridge, Mass. 1965, S. 14. 641 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie, Paris 1980, S. 624. 642 Deleuze, Gilles: Francis Bacon. Logique de la Sensation, Bd. I, Paris 1981, 33 f.

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Dieses dargestellte nicht-organische Leben begründet Deleuze mit Worringers Analyse der gotischen Kunst, der „nordischen, gotischen Linie“ 643. Sie steht der Kunst der organischen Repräsentation gegenüber, „l’art barbare, ou gothique (au sens large de Worringer), défait aussi la représentation organique. [...] L’art barbare déborde la représentation organique de deux façons, soit par la masse du corps en mouvement, soit par la vitesse et le changement de direction de la ligne plate. Worringer a trouvé la formule de cette ligne frénétique: C’est une vie, mais la vie la plus bizarre et la plus intense, une vitalité non organique. C’est un abstrait, mais un abstrait expressionniste.“644

Diese Linie, die sich auch bei Bacon findet, ist keine Kontur, sondern ein Zickzack zwischen den Dingen, die diese in die Form- und Grundlosigkeit zieht. Die gotische Linie dokumentiert eine defigurierende Wirkung, sie durchkreuzt die Klarheit und bringt hinter dem Sichtbaren das Zerrbild hervor. In diesem Sinn analysiert Deleuze mit dem Rückgriff auf Worringers Idee der gotischen Linie als anorganisches Leben Bacons Bilder nicht als Reproduktion einer Form, sondern als das Einfangen einer Kraft.

2c Abstraktion als ‚Schlüsselphänomen‘ In jüngster Zeit erlebt die Abstraktion als Denkfigur auch eine Renaissance in der Kunstgeschichte bzw. Kunstphilosophie und einer Wissenschaftsgeschichte, die von der bildenden Kunst aus argumentiert. In der ästhetischen Theorie wird sie für Gottfried Boehm das „Schlüsselphänomen“, um das Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne analysieren zu können. Seine These lautet daher: „Die abstrakte Kunst ist eine genuine Deutung von Realität. Sie impliziert eine eigene Weise des Erkennens.“645 Entgegen der Polemik, die der abstrakten Kunst Weltverlust bescheinigt, wird der Geste der Verweigerung abbildlicher Bestätigungen eine „tiefgreifende Veränderung im Wirklichkeitsbezug“646 attestiert, in der das Prozesshafte eines Werks

643 Worringer, Wilhelm: Formprobleme der Gotik, München 1911, S. 32. 644 Deleuze, Gilles, Francis Bacon: Logique de la Sensation, Bd. 1, Paris 1981, S. 82 f. 645 Boehm, Gottfried: Abstraktion und Realität. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne, in: Philosophisches Jahrbuch 97, 1990, S. 225-237, hier S. 226, Hervorhebung i. O. 646 Ebd., hier S. 227.

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betont wird. In der Kunst gehe es also nicht mehr darum, zu zeigen was ist, sondern etwas sichtbar zu machen. Hier kommt der Abstraktion dann eine neue Bedeutung zu: „Die Zuordnung des abstrakten Bildes zur Realität vollzieht sich im Medium der Kraft, die sich bildlich äußert, als Wirklichkeit manifestiert. Kraft ist in den genannten Bildern deshalb nicht eine Qualität neben anderen. Sie ist die Essenz der Bildform wie ihrer Realität gleichermaßen, dasjenige, was beide im Innersten zusammenhält, sich in der Sichtbarkeit sowohl zeigt wie verbirgt.“647 Eine besondere Bedeutung erhält Abstraktion in Forschungen, die sich um den Zusammenhang von naturwissenschaftlicher bzw. medizinischer und künstlerischer Theorie und Bildpraxis bemühen. So sieht hier etwa Stafford einen markanten Zusammenhang insbesondere für die Visualisierung von Wissen seit der Aufklärung. Die Veränderungen der Bilder vom menschlichen Körper versteht sie als Schlüssel, um den veränderten Status des Körpers in der westlichen Gesellschaft der Moderne zu begreifen. Abstraktion ist dabei eine von fünf Metaphern, die zu diesem Verständnis führen. „Abstraction was a social and aesthetic purgative. As a sobering philosophical cathartic, it watered the opulence and equivocation of Baroque and Rococo art into denominated, distinguishable and abstemious prose.“648 Abstraktion spielt zudem in Forschungen eine bedeutende Rolle, die sich mit möglichen Schnittpunkten von künstlerischem und naturwissenschaftlichem Wissen der Avantgardekünste unter dem Einfluss von Medientechnologie auseinandersetzen. Im frühen 20. Jh. finden nicht nur maßgebliche Veränderungen in den Künsten statt, die einen Fokus auf Wahrnehmungsveränderungen legen und so das „Verhältnis von Aisthesis und Ästhetik neu konfigurieren“; neue Wahrnehmungsmodi, ausgelöst durch wissenschaftliche Erkenntnisse und neue Medientechniken bilden sich auch in den Naturwissenschaften, explizit in den Kognitions- und biologischen Forschungen. Erzeugt wird damit neues Wissen – vom Menschen –, das „mit der Abstraktion als Verfahren erzeugt, dargestellt und vermittelt wird.“ 649

647 Boehm, Gottfried: Abstraktion und Realität. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne, in: Philosophisches Jahrbuch 97, 1990, S. 225-237, hier S. 235. 648 Stafford, Barbara M.: Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge, Mass. 1991, S. 137. 649 Flach, Sabine/Margulies, Daniel/Söffner, Jan: Habitus in Habitat I – Emotion and Motion, Bern u. a. 2010; Flach, Sabine/Söffner, Jan (Hg.): Habitus in Habitat II. Other Sides of Cognition, Bern u. a. 2010.

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2d Abstraktion als Epoché In der ästhetischen Theorie und künstlerischen Praxis hat Abstraktion also nach wie vor ihre Brisanz und Aktualität nicht verloren, im Gegenteil: Abstraktion ist ein Oszillationsphänomen in dem Sinne, dass sie einerseits immer an die ganz grundsätzliche Disponiertheit der Welt in einer Erfahrung angebunden ist. Andererseits ist sie genau das Medium durch das sich diese je spezifische Erfahrung überhaupt erst aufbauen kann. Abstraktion ermöglicht dann die jeweilige Situiertheit eines Subjekts in der Erfahrung und ist genau damit – im Sinne Gottfried Boehms – ‚eine eigene Weise des Erkennens‘, die eben auch die Wahrnehmung selbst erkennen lässt.650 Alle Beispiele der Studie zeigen, dass Methoden des künstlerischen Wissens sich durch die Entwicklung eben jener von Kandinsky so genannten ‚elementaren Elemente‘ auszeichnet, die durch das moderne Postulat der Abstraktion, mit der eine Berufung auf elementare Formen generell einherging, erklärt werden können. Kennzeichnend für diese elementaren Methoden und Theorien ist es, dass sie nicht notwendig auf den Raum der Kunst bezogen bleiben. Vielmehr wurden sie zunächst im Raum der Kunst entwickelt, um sodann Teil des Wissens der Wahrnehmungs- und Lebenswissenschaften zu werden. Die vorgestellten Theorien, Instrumentarien und Anwendungen von Medien stellen einen Aspekt jeweils explizit künstlerischen Wissens dar, das erkenntnisleitend für jenen Schauplatz des Wissens sein sollte. Die Abstraktion kann dabei als Reaktion auf die epistemischen Krisen und Umbrüche der Repräsentation verstanden werden. In diesem Sinne ist Abstraktion nicht mehr nur ein Phänomen der Bildkunst und der ästhetischen Theorie. Für die wissenschaftliche Erkundung des Zu-

650 An dieser Stelle gilt es der Untersuchung von Jutta Müller-Tamm markant zu widersprechen. Für die Autorin entsteht das Abstraktionspostulat überhaupt erst aus der Psychologie und Physiologie der Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts, dies ist, so die Autorin, ihre „grundlegende These“ (S. 66). Genau dann aber wird erneut die Voranstellung der Wissenschaften gegenüber den Künsten nicht nur stillschweigend akzeptiert, sondern nachgerade untermauert. Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005.

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sammenhangs komplexer Phänomene, die zwischen Kunst und Wissenschaft oszillieren, kann vielmehr von einem abstract turn651 gesprochen werden, der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte und in den Unruhezonen, die um Kenntnis um die Wahrnehmung entstanden und die sie selbst erzeugte, mit dem Wissen der künstlerischen Avantgarden eine adäquate Suchbewegung fand. Im Bemühen, die bloße, tradierte künstlerische Produktion – also die Bildererzeugung als mimetisches Imitationsverhältnis einer Realität gegenüber – zu verlassen, arbeiteten die Avantgarden vornehmlich an der Ausbildung ihrer eigenen Episteme, um deren Dignität im System aller anderen Wissenschaften kenntlich zu machen und sogar zum Einsatz zu bringen. Dieser ebenso forcierte, wie ehrgeizige und anspruchsvolle Anspruch an die eigenen Episteme wurde durch die Künstler im Projekt der Großaufklärung über Wahrnehmungen und Sinneserfahrungen umgesetzt. Mit der Konzentration auf das künstlerische Wissen für die Erörterung von Wahrnehmung und Sinneskulturen ließ sich – neben der den Einzelanalysen inhärenten Aussagen über die Gegenstände selbst – ein markanter Aspekt zeigen, der jeder zeitgenössischen Forschungslage entging: Die je aktuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungserfahrung bedeutet immer schon mehr als bloße Rezeption. Überall dort nämlich, wo die Recherche über Wahrnehmungsphänomene mehr hervorbringt, als Daten, Messergebnisse, Protokolle und Zeichen – überall dort also, wo sie über das Gewohnte hinausgeht – lässt sie eines entstehen: ein Wahrnehmungsfeld, dass das Subjekt allererst konstituiert und durch das es gleichermaßen konstituiert wird. Künstlerisches Wissen kann also zeigen, dass es – entgegen einem nach wie vor vorherrschenden Innen-Außen-Schema als Analyseschema der Wahrnehmung – genau diese Interdependenz ist, mit der ein Wahrnehmungseindruck sich immer formiert, und ein Wahrnehmungsfeld entstehen lässt, und dies in einer Weise, dass nicht die einzelnen Teile eines Reizmusters, sondern ihr Beziehungsgefüge zu einer strukturellen Ganzheit, also einer Gestalt erkannt werden, ganz so, wie Rudolf Arnheim es in seiner Abhandlung Kunst und Sehen beschreibt: „Die Kräfte, die die Bedeutung des Geschehens kenntlich machen, werden auch im Betrachter lebendig und ergeben jene Art der erregten Teilnahme, die

651 Vgl. Sabine Flach: ‚abstrakt/Abstraktion‘, in: Barck, Karlheinz et al.: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. VII, Stuttgart 2006, S. 1-40.

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das künstlerische Erleben vom teilnahmslosen Aufnehmen einer Information unterscheidet.“652 Das künstlerische Wissen zeigt, dass Sichtbarwerden nicht notwendig mit technischer oder ikonischer Sichtbarmachung zusammenfällt;653 Empfinden, Wahrnehmen – und Sehen – sind also keinesfalls bloße Konstrukte, deren Konstruierheit es bloß zu erkennen gälte, um ihre interne Verfasstheit zu verstehen. Was einer solchen Perspektive fehlt oder verstellt wird – und auf was die Kunst aber verweist – ist der Modus der Erfahrung des Empfindens und Wahrnehmens, der sich eben nie nur informieren lässt.654 „Letztlich wird das Sehen neu definiert als die Fähigkeit, von Sinneserfahrungen affiziert sein zu können, die nicht notwendigerweise einen Bezugspunkt in der äußeren Welt haben, wodurch jedes kohärente Bezugssystem gefährdet ist“655; auf diese Weise lässt sich wohl diese durch die Künste willkürlich herbeigeführte Gefährdung der Kohärenz als Umstrukturierung der Wahrnehmung summieren. Unter diesem Blickwinkel kreierten die Künstler ihre ganz eigene Epoché, indem auch sie vermittels ihrer Tätigkeit, die Gegebenheitsweise einer Sache thematisch werden ließen, d. h. auch für sie sollte durch das Erzeugen einer Epoché ein Objekt, auf das ein Bewusstsein gerichtet ist, „eingeklammert“656 werden, um die Objekteigenschaften selbst, zugunsten der Ermöglichung, die Voraussetzungen des Bewusstseins wahrnehmbar

652 Rudolf Arnheim: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin/New York 32000, S. 464 f., Kursivierung S. F. Vgl. auch: Arnheim, Rudolf: Gestaltpsychologie und künstlerische Form (1951), in: Heinrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hg.): Theorien der Kunst, Frankfurt am Main 1999, S. 132-147, hier S. 145. „Isomorphischen Symbolismus“ nannte Arnheim diesen Vorgang in seiner Studie „Gestaltpsychologie und künstlerische Form“ und legt dar: „Diese Methode ist nicht von angeblichen Assoziationen eines Gegenstandes mit einem anderen abhängig, sondern von den Wahrnehmungsqualitäten in der visuellen Form selbst“. 653 Vgl. dazu: Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 1999, S. 164 654 Vgl. dazu: ebd., S. 148 f. 655 Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, übers. v. Anne Vonderstein, Dresden 1996, S. 97. 656 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913). § 60, Tübingen 1980, S. 115.

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werden zu lassen, die den intentionalen Bezug auf ein Objekt überhaupt erst gestatten, vernachlässigen zu können.657 So ist also Malewitschs ‚additionales Element‘ weit mehr, als die ihm bislang attestierte Beobachtung der Veränderung malerischer Elemente im Sinne einer bloßen historischen teleologisch operierenden Stilgeschichte. Unter der Perspektive der Epoché macht Malewitschs Extrahierung der Elementengefüge überhaupt erst Sinn, denn er stellt das additionale Element frei, um unter einer wissenschaftstheoretisch orientierten Kunstwissenschaft (diese ist an dieser Stelle durchaus in Anlehnung an Kandinskys Verwendung des Begriff zu sehen, ohne das Malewitsch selbst auf ihn Bezug nimmt) seine Wahrnehmungsbedingungen beobachten zu können.658 Folgt man an dieser Stelle erneut Maurice Merleau-Pontys Diktum „Wahrnehmung stilisiert schon“659, ist Stil nicht als individuelle Handschrift zu verstehen, sondern Stil ist hier ein interdependentes Phänomen: Sichtbares wirkt auf die Wahrnehmung ein und stilisiert sie, aber ebenso geht es um Wahrnehmung als neurologische, stilisierende Vorbedingung des Visuellen schlechthin. Das heißt, Malewitsch führt letztlich aus, dass die Kunst dem Menschen die Möglichkeit gibt, im Medium seiner Sinne eine Erfahrung zu machen und sich so seiner Wahrnehmungsakte gegenwärtig zu sein, denn: Kunst „macht sichtbarer Weise etwas sichtbar“; Kunst „besitzt eine […] doppelte Sichtbarkeit. […] [man kann] nicht nur sehen, was es zeigt, sondern auch, wie es zeigt, was es zeigt.“ 660

657 Vgl. zur Epoché im Hinblick auf die Bildbetrachtung: Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild, München 2000, bes. S. 67 f. 658 In diesem Sinne lassen sich dann auch die in der Konklusion angeführten Entwicklungen der Abstraktion für das 20. Jahrhundert verstehen: Unter welchem Stichwort auch immer, ist letztlich die Recherche nach den Wahrnehmungsbedingungen unabdingbar. Alles – so die These – geht durch die Abstraktion hindurch. Und seien es dann künstlerische Debatten um das Verhältnis von Figuration versus Abstraktion, die Abstraktion als ‚Weltsprache‘, die Strukturen des Abstrakten, wie Unschärfe oder ähnliches mehr – inkludiert ist eben immer die Bedingung der Wahrnehmung in einem je spezifischen Moment, also der Vollzug und Nachvollzug der Epoché; oder, wie Maurice Merleau-Ponty es formulierte: „Wovon spricht denn die abstrakte Kunst, wenn nicht von einer gewissen Art, die Welt zu verneinen oder zurückzuwerfen“ (Maurice Merleau-Ponty: Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort, München 1993. S. 84.). 659 Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort, München 1993, S. 83. 660 Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild, München 2000, S. 72.

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Dies wäre dann also der Erkenntnisgewinn, den diese durch künstlerische Theorie erzeugte Epoché ermöglicht: durch zunächst rein bildkünstlerische Abstraktion wird sodann das abstrahierende Moment der Wahrnehmung erreicht; es geht also nicht um ein bloß formales Sehen, sondern um ein Sehen in Strukturen. Mit diesem „Brandopfer aus Gegenständen“661 wird jedoch auf der anderen Seite etwas gewonnen, dessen man ohne dieses Brandopfer nicht hätte habhaft werden können: die Sichtbarkeit einer menschlichen Sichtweise. In diesem Sinne zeigt Malewitsch bereits mit seiner Theorie des ‚additionalen Elements‘, was Merleau-Ponty später in seiner Phänomenologie ausführt: bildende Kunst ist eine Tätigkeit, die mit ihrer Sichtbarkeit auf die „unsichtbare Ausdruckstätigkeit in den menschlichen Anschauungen Bezug nimmt, also eine Fortsetzung der Sehtätigkeit ist.“662 In einer Variation ist auch Matjuschins Theorie des SOR-WED der Emanzipation der Wahrnehmung verpflichtet: aus der Stilisierung des Bildes als der Rekonstruktion von Sehweisen im Bild, wird in seiner Theorie eine Konstruktionsleistung von Weisen sichtbarer Wirklichkeit, die sich gänzlich unabhängig davon generieren lassen, was bislang je gesehen wurde. Ein Experiment also im Experiment, das Matjuschin generiert; eine doppelte Perspektive der Beobachtung, in der der Teilnehmer selbst immer schon Beobachter und Proband zu gleichen Teilen ist. Er selbst wird zum Erzeuger, zum Generator der eigenen luminösen Phänomene eines Sehens, das – durch einen äußeren Impuls ausgelöst – sich wandelt und zu einem subjektiven Sinnesphänomen wird. Der Sehraum des Auges wird zu einem sich emphatisch auszeichnenden Ort transformiert, zur Bühne gleichermaßen, auf der sich das aufregende Spektakel einer allein dem Körper entsprungenen Sensation abspielt.663 Sich selbst sehend Sehen, das zuvor Nicht-Sichtbare zur Sichtbarkeit bringen, bedingt allerdings notwendigerweise, das Sehen an Konzeptionen der Wahrnehmung zurückzubinden, für die es nicht nur – wie es Walter Benjamin

661 Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort, München 1993, S. 84. 662 Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild, München 2000, S. 73. 663 Flach, Sabine: Realfiktionen. Versuchsanordnungen von Olafur Eliasson, in: Bruhn, Matthias/ Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld 2008, S. 287-299; und zum emphatischen Subjekt: Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005.

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weiter beschreibt – „auf das Sehen, sondern auf das Durchspüren von Strukturen“664 ankommt. Das Sehen wird so aus dem klassischen Regime der Visualität und der Skopophilie herausgelöst und an die Dichte und Materialität des Körpers angebunden. Diese Erkenntnis der Strukturen führt die Wahrnehmung auf das oszillierende Feld zwischen Ästhetik und Aisthesis, zwischen äußeren und inneren Sinnesdaten, auf dem es nicht mehr um die Wahrnehmung selbst, als vielmehr um die Empfindung der Wahrnehmung geht. Der autonome Entwurf einer Ordnung der Sichtbarkeit und eben nicht mehr Abbild einer menschlichen Sichtweise der Außenwelt, prägt die Idee der ‚Psychikonen‘; sind Wahrnehmungsvorstellungen grundsätzlich unbestritten immateriell, so können sie aber auf Eigenschaften verpflichtet werden, die visuelle Strukturen aufweisen; denn genau damit werden sie beschreibbar, exakt im Moment der mentalen Bilderzeugung selbst, vermittels einer Haltung – in ihrer immer schon doppelten Bezogenheit: als Einstellung, physiologisch und psychisch zugleich. Auf diese Weise lässt sich also eine mentale Disposition in Zusammenhang bringen mit einem physiologischen Prinzip körperlicher Elastizität – die Haltung wäre: Konzentration.665 Sichtbarkeit ohne Anwesenheit von realen Dingen zeichnet also die Phantome der Gedankenexperimente aus666 – diese delikate Form der Sichtbarkeit verlangt ebenso das exzentrische Sehen. Wahrnehmung anders zu fassen, als eine reine Tätigkeit eines ‚geistigen Auges‘, war der Versuch Walter Benjamins in seinem Aufsatz ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘667; um dies zu erreichen, führte er den Sehsinn nah an Taktilität heran. Obwohl er über technisch reproduzierte Bilder sprach, blieb er damit durchaus ganz und gar in der Geschichte der optischen Medien verhaftet. Das ‚Optisch-Unbewußte‘, das

664 Benjamin, Walter: Strenge Kunstwissenschaft. Zum ersten Bande der ‚Kunstwissenschaftlichen Forschungen‘ (1931), in: Benjamin Walter. Gesammelte Schriften, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Bd. III, Frankfurt am Main 1972, S. 363-369, hier S. 368. 665 Also eben gerade nicht die von Jonathan Crary diagnostizierte Aufmerksamkeit. 666 Wie im Übrigen – unter phänomenologischer Perspektive – jedes Bild. Bilder sind so gesehen „physikfreie Zonen“ (Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt am Main 2009, S. 204) – im Gedankenexperiment wird Sichtbarkeit ohne Anwesenheit jedoch maximal potenziert. 667 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 431-471.

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in den künstlerischen Arbeiten verhandelt wird, zeigt darüber hinaus eines in aller Deutlichkeit: dass ein einzelner Sinn nicht ein einzelner Sinn im Sinne einer stabilen Entität ist, sondern dass die Wahrnehmung unterschiedliche Grundqualitäten aufweisen kann. Es ging also in den künstlerischen Reflexionen immer darum, das Visibilitätskriterium durch ein funktionales Kriterium zu ersetzen,668 indem sowohl die apparativ erkennbaren und indirekt wirkenden Sinne erkundet werden können als auch jene, die unsichtbar wirken und an kein diskretes Organ gebunden sind. Damit aber stellten diese künstlerischen Ansätze immer schon ein profundes Instrumentarium zur Verfügung, das zeigen konnte, dass Sinneswahrnehmung sich nie nur mit einem Einzelsinn verknüpfen lassen. Erweist sich die Fünfzahl der Sinne als eine Konstruktion – deren kulturelle Orientierung im Übrigen durch optische Unterscheidungskriterien (Auge, Ohr, Hand usw.), also Sichtbarkeit herbeigeführt wurde – so geht der Impuls für eine Erweiterung der Sinneszahl im Hinblick auf eine Pluralisierung der Sinne für eine spezielle Wahrnehmung, jedoch wiederum von der Ästhetik aus.669 Dann aber geht es immer schon darum, nach neuen, diesen sensiblen Qualitäten entsprechenden Wahrnehmungssystemen im Körper zu suchen. Der entscheidende Punkt war also, die Sensorien für Atmosphären oder Stimmungsveränderungen ausfindig zu machen, mit denen die Erforschung des komplexen Wechselspiels in solchem Sensorium gelingt. In den Epistemen der Zeichnung schließlich liegt eine Wirkkraft und ein Wissen, dem sich wissenschaftliches Wissen nicht entziehen kann. In der Zeichnung kulminiert die Haltung zur Welt und als Körper mit dem induzierten Wissen, das sich nur im Vollzug, also einer konkreten, erlebten und erdachten Handlung auszudrücken vermag. In der Klärung der Frage nach Wahrnehmung und Empfindung im frühen 20. Jahrhundert, bedarf es, die Eigenständigkeit und Radikalität der Neuorientierungen zu betonen, die diese Entwicklungen für die Kunst bedeuteten. Sie wurden nicht als Anforderung an sie herangetragen, sondern vielmehr aus der Kunst selbst heraus formuliert. Künstlerisches Wissen war also hier den Wissenschaften voraus, indem man erkannte, dass ein experimenteller Umgang mit der Erforschung von Wahrnehmungsgewohnheiten gänzlich andere Methoden, Verfahren, Denkweisen und

668 Vgl. dazu: Naumann-Beyer, Waltraud: Anatomie der Sinne. Im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln u. a. 2003, S. 13. 669 Vgl. dazu etwa: Külpe, Olswald: Vorlesungen über Psychologie, Leipzig 1922; und: Marinetti, Filippo Tommaso: Il Tattilismo, zitiert nach: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, hg. v. Charles Harrison/Paul Wood, Ostfildern-Ruit 1998, S. 183-188.

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letztlich auch Objekte und Gegenstände benötigte, um diese Veränderungen überhaupt erkennen und bestenfalls sichtbar machen zu können. Wissenschaft und Kunst können also schon lange nicht mehr als inkommensurable Systeme gegenübergestellt werden. Das bedeutet jedoch auf der anderen Seite nicht, dass die sie auszeichnenden Wissenssysteme miteinander identisch – und somit austauschbar wären. Eine Annäherung beider Bereiche aneinander erwartet letztlich das Bemühen, eine künstlerische und eine szientifische Denkweise über das Wahrnehmen, Fühlen und Denken gegeneinander zu führen. Sodann erst ereignen sich Verknüpfungen von künstlerischen mit wissenschaftlichen Vorstellungen, mit denen sich die Episteme der Künste zeigen lässt. Dies lässt sich – wie ich gezeigt habe – nicht über Ähnlichkeiten bestimmen, es geht vielmehr um das Erkennen einer nicht-konvertierbaren Differenz. Genau mit dieser Anerkennung gelingt aber, was Kasimir Malevich formulierte: „Und so ist der moderne Künstler ein Wissenschaftler.“ 670

670 Malewitsch, Kasimir S., zitiert nach: Bojko, Szymon: Materialien zur Geschichte des GINChUK, in: Kasimir Malevich zum 100. Geburtstag, Köln 1978, S. 280.

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C Campe, Rüdiger/Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen (Freiburg 1996); Carl, Wolfgang/Daston, Lorraine (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Ein Kolloquium zu Ehren des 60. Geburtstages von Lorenz Krüger (Göttingen 1999); Cassierer, Ernst, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. III. Geschichte, Mythos. Mit Beilagen. Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, Zeit, hg. von K.-Ch. Köhnke u.a. (Hamburg 2002); Cézanne, Paul, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet, Briefe, hg. v. Walter Hess (Mittenwald 1980); Chambers, Ephraim: ‚Abstract‘, in: Chambers, Ephraim, Cyclopaedia. Or an universal dictionary of arts and sciences, Bd. I, 1728, nicht pag. Chan-Magomedov, Selim Omarovič, Vhutemas. Moscou 1920-1930, 2 Bde. (Paris 1990); Cheetham, Mark, The Rhetoric of Purity. Essentialist Theory and the Advent of Abstract Painting (Cambridge, Mass. 1991); Christ, Thomas, Wladimir Lebedew und die russische Avantgarde (Basel 2004);

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Darget, Louis, Photographie des Radiations psychiques, in: Le Spiritualisme moderne, H. 2. (Paris 20. Januar 1899) 18; dt. : Chéroux, Clément, Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997) 11-22; Darwin, Charles R., On the origin of species by means of natural selection (London 1859); Darwin, Charles R., The Descent of Man (London 1871); Das Kunstblatt 8, hg. v. Paul Westheim (Weimar 1924); Daston, Lorraine, Bilder der Wahrheit. Bilder der Objektivität, in: Huber, Jörg (Hg.), Einbildungen. Interventionen 14 (Zürich 2005) 117-153; Daston, Lorraine/Galison, Peter, Das Bild der Objektivität, in: Geimer, Peter (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie (Frankfurt am Main 2002) 29-99; Daston, Lorraine, Objectivity versus Truth, in: Bödecker, Erich (Hg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750-1900 (Göttingen 1999) 17-31; Daston, Lorraine, The Moralized Objectivities of Science, in: Carl, Wolfgang/Daston, Lorraine (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Ein Kolloquium zu Ehren des 60. Geburtstages von Lorenz Krüger (Göttingen 1999) 78-100; Daston, Lorraine, Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität (Frankfurt am Main 2001); Däubler, Theodor, Simultanität, in: Die weißen Blätter 3, H. 1 (1916) 108-121; Daum, Andreas W., Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und deutsche Öffentlichkeit 18481914 (München, 1998); Davis, Douglas, Vom Experiment zur Idee. Die Kunst des 20. Jh. im Zeichen von Wissenschaft und Technologie; Analysen, Dokumente, Zukunftsperspektiven (Köln 1975); Deicher, Susanne, Mikroskopische Bilder der Nervensysteme in Sigmund Freuds Publikationen der 70er und 80er Jahre, in: Bredekamp, Horst/Werner, Gabriele (Hg.), Instrumente des Sehens (Bildwelten des Wissens. 2.2) (Berlin 2004) 29-36; De Stijl 4 (1921); De Stijl, Manifest I (1. 11. 1918); dt. zit. nach: Harrison, Charles/Wood, Paul/Zeidler, Sebastian (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. I (Ostfildern-Ruit 1998) 375; Delacroix, Eugène, zitiert nach: Kandinsky, Wassily/Marc, Franz (Hg.): Der Blaue Reiter (München 1912) 20;

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Dotzler, Bernhard, Explorationen. Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen 9, Sonderdruck B (Berlin 2002) 311-327; Dotzler, Bernhard J./Weigel, Sigrid (Hg.), ‚fülle der combination‘. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte (München 2005); Dotzler, Bernhard, Explorationen. Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften, in: Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen 9, Sonderdruck. B (Berlin 2002); Douglas, Charlotte, Wilhelm Ostwald und die Russische Avantgarde, in: Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde. Die Sammlung Costakis aus dem Staatlichen Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki [Ausst.-Kat.] (Köln 2004) 30-39; Dror, Otniel, Affekte des Experiments. Die emotionale Wende, in: Schmidgen, Henning/Geimer, Peter/Dierig, Sven (Hg.), Kultur im Experiment (Berlin 2004) 338-373; Dülmen, Richard van (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Buch zur Ausstellung: Prometheus. Menschen, Bilder, Visionen (Wien 1989); Duncker, Ludwig, Die Kultur des Sammelns und ihre pädagogische Bedeutung, In: Neue Sammlung 30 (1990) 450-465; Dürbeck, Gabriele u.a. (Hg.), Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800 (Dresden 2001);

E Ebeling, Werner/Rainer Feistel, Chaos und Kosmos. Prinzipien der Evolution (Heidelberg u.a. 1994); Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk (Frankfurt am Main 1973); Edgerton, Samuel/Lynch, Michael, Aesthetics and digital image processing. Representational craft in contemporary astronomy, in: Fye, Gordon/Law, John (Hg.), Picturing Power. Visual Depiction and Social Relations (London 1988); Eggenschwyler, Luzius, Der wissenschaftliche Prophet. Untersuchungen zu Kandinskys Kunsttheorie unter besonderer Berücksichtigung seiner zweiten theoretischen Hauptschrift ‚Punkt und Linie zu Fläche‘ Lizentiatsarbeit (Zürich 1991); Eigen, Manfred, Zwei Kulturen?, in: Grenzübertritte. Göttinger Universitätsreden 1991 (Göttingen 1991); Einstein, Carl, Über Paul Claudel (1913), in: Carl Einstein. Werke, hg. v. H. Haarmann/K. Siebenhaar, Bd. I (Berliner Ausgabe) (Berlin 1994) 186;

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Einstein, Carl, Werke, hg. v. H. Haarmann/ K. Siebenhaar, Bd. I (Berlin 1994); Ejchenbaum, Boris, Probleme der Filmstilistik (1927), in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.), Texte zur Theorie des Films (Stuttgart 1979) 97-138; Elo, Mika, Die Wiederkehr der Aura, in: Schulte, Christian (Hg.), Walter Benjamins Medientheorie (Konstanz 2005) 117-137; Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte, Walter Ruttmann. 1929, in: Andriopoulos, Stefan/Dotzler, Bernhard J. (Hg.), 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien (Frankfurt am Main 2002) 316-349; Elsner, Norbert, Natur und Geist – spricht man so zu Christen? Ernst Haeckel oder die theologische Versuchung eines Naturforschers, in: Mölk, Ulrich (Hg.), Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900 (Göttingen 1999) 35-66; Endell, August, Formenschönheit und dekorative Kunst, in: Bruckmann, Hugo/Meier-Graefe, Julius (Hg.), Dekorative Kunst, Bd. I (München 1898); Endell, August/David, Helge (Hg.), Vom Sehen. Texte 1896-1925 über Architektur, Formkunst und ‚Die Schönheit der großen Stadt‘ (Basel/Berlin/Boston 1995); Ender, Boris, Material zur Erforschung der Physiologie des ‚zusätzlichen Sehens‘. Staatliches Zentralarchiv für Literatur und Kunst; ZGALI: F. 2973, Op. 1, D. 163, L.1/2. Engelhardt, Dietrich von, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus (München 1979); Ersti´c, Marijana, Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Bielefeld 2005); Eser, Albin (Hg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht (Freiburg u.a. 1989); Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarden in Mittel- und Osteuropa [Ausst.-Kat.], Bd. III (Berlin 1994); Eysteinsson, Astradur, The Concept of Modernism, in: Vargish, Thomas/Mook, Delo E., Preface, in: Vargish, Thomas/Mook, Delo E.: Inside Modernism. Relativity Theory, Cubism, Narrative (Yale 1999); Eyth, Max von, Zur Philosophie des Erfindens. Vortrag, gehalten im Verein für Handelsgeographie (Stuttgart 1903), in: ders.: Lebendige Kräfte. Sieben Vorträge aus dem Gebiete der Technik (Berlin 1905) 249-284;

F Fechner, Gustav Theodor, Vorschule der Aesthetik (Leipzig 1925); Fiebig, Wilfried, Abstrakte Arbeit und Abstraktwerden der Kunst, Diss. Univ. Frankfurt am Main 1974;

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Frascina, Francis, (Hg.), Pollock and after. The Critical Debate (London/New York 1985, 22000); Freud, Sigmund, Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse (1912), in: Freud. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. III (Frankfurt am Main 1975) 2537; Fried, Michael, How Modernism Works. A Response to T. J. Clark, in: Frascina, Francis, (Hg.), Pollock and after. The Critical Debate (London/New York 1985, 22000) 87-101; Fried, Michael (Hg.), Three American Painters [Ausst.-Kat.] (Cambridge [Mass.] 1965). Frizot, Michel (Hg.), Neue Geschichte der Fotografie (Paris 1994); Fulda, Daniel/Prüfer, Thomas (Hg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne (Frankfurt am Main u. a. 1996); Fye, Gordon/Law, John (Hg.), Picturing Power. Visual Depiction and Social Relations (London 1988);

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I I 10. Internationale Revue I (Amsterdam 1927); Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (OstfildernRuit 1997);

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Merleau-Ponty, Maurice, Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort (München 1993); Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin 1965); Merlio, Gilbert, Kultur- und Technikkritik vor und nach dem ersten Weltkrieg, in: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, hg. von Friedrich Strack (Würzburg 2000) 19-41; Meyer, Christian, Schönberg, Kandinsky, Blauer Reiter und die Russische Avantgarde. Die Kunst gehört dem Unbewussten – Art Belongs to the Unconscious (Wien 2000); Miller, Daniel (Hg.), Material cultures: why some things matter (Chicago 1989); Misler, Nicoletta, A Citadel of Idealism. RAKhN as a Soviet Anomaly, in: Misler, Nicoletta/Bowlt, John E. (Hg.), Experiment. A Journal of Russian Culture (Los Angeles 1997) 14-30; Misler, Nicoletta/Bowlt, John E. (Hg.), Experiment. A Journal of Russian Culture (Los Angeles 1997); Mitchell, William, Was ist ein Bild?, in: Bohn, Volker (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Bd. III (Frankfurt am Main 1990) 17-68; Möbius, Hanno (Hg.), Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie (Marburg 1990); Moholy-Nagy, László, Malerei, Fotografie, Film (1927) (München 1967); Moholy-Nagy, László, Die beispiellose Fotografie, in: i10. Internationale Revue , H. 3 (Amsterdam 1927) 114-117; Moholy-Nagy, László, Diskussion über Ernst Kállai’s Artikel ‚Malerei und Fotografie‘, in: i 10. Internationale Revue I H. 6 (Amsterdam 1927) 233 f.; Moholy-Nagy, László, Light. A Medium of Plastic Expression, hier zitiert nach: Rondolino, Gianni, László Moholy-Nagy. Malerei, Fotografie, Film, in: László Moholy-Nagy >Ausst.-Kat.@ (Kassel/Ostfildern-Ruit 1991) 13-19; Moholy-Nagy, Lászlò, Von material zu architecture (Müchen 1929); Molderings, Herbert, Fotogeschichte aus dem Geist des Konstruktivismus. Gedanken zu Walter Benjamins ‚Kleiner Geschichte der Fotografie‘, in: Kern, Margit/Kirchner, Thomas/Kohle, Hubertus (Hg.), Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag (München u. a. 2004) 443461; Mondrian, Piet, Die neue Gestaltung. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung, in: Piet Mondrian. Neue Gestaltung, Neoplastizismus. Niuewe Beelding, übers. v. R. F. Hartogh/M. Burchartz (München 1925) 5 f.; Monets Vermächtnis. Serie – Ordnung und Obsession [Ausst.-Kat.] (Hamburg, 2001);

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Rodčenko, Aleksandr M., ‚Losungy‘ und ‚Programma organizatsij laboratorij pri Gosud. Chudožestvennych masterskich‘ (1920/1921); dt.: ‚Losungen‘ und ‚Organisationsprogramm‘ der Arbeitsgruppe für das Malereistudium in staatlichen Kunstanstalten, übers. v. A. Friedrich, in: Noever, Peter (Hg.), Die Zukunft ist unser einziges Ziel [Ausst.-Kat.] (München 1991); Roethel, Hans Konrad/Hahl-Koch, Jelena (Hg.), Wassily Kandinsky. Die gesammelten Schriften, Bd. I (Bern 1980); Rieger, Stefan, Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen (Frankfurt am Main 2001); Rinofner-Kreidl, Sonja, Zwischen Orientierung und Krise. Zum Umgang mit Wissen in der Moderne (Wien u. a. 1998); Rippl, Daniela/Ruhnau, Eva (Hg.), Wissen im 21. Jahrhundert (München 2002); Rode, Eric, A history of the Cinema (Harmondsworth 1978); Romanschko, Sergej A., Experiment und Erfahrung in der Tradition der russischen Avantgarde 2000, in: Hyperplastik, hg. v. Elisabeth von Samsonow, (= Trans Art 2 [2000]), 163-171; Rosenberg, Harold, The American Action Painters, in: Art News 51 (December 1952) 22-23 u. 48-50; Rosenberg, Harold, The Anxious Object (Chicago 1966); Rosin, Heinrich, Bericht über das Studienjahr 1897-1898 (Freiburg i. Br. 1898); Roth, Gerhard, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen (Frankfurt am Main 1996); Rothe, Alexander von, [Anzeigentext für die ‚Kinemmata Medica‘], in: Medizin und Film, Nr. 1 (November 1926) o. S; Rothe, Alexander von, Operationsfilme, in: Beyfuss, E./Kossowsky, A., Das Kulturfilmbuch (Berlin 1924) 229-234; Walter Ruttmann, Kunst und Kino (1917). Zitiert nach: Goergen, Jeanpaul (Hg.): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation (Berlin 1989) 73; Ruttmann, Walter, Malerei mit der Zeit (1919/20). Zitiert nach: Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte, Walter Ruttmann. 1929, in: Andriopoulos, Stefan/Dotzler, Bernhard J. (Hg.), 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, (Frankfurt am Main 2002) 334; Ruttmann, Walter, Technik und Film. Zitiert nach: Goergen, Jeanpaul (Hg.), Walter Ruttmann. Eine Dokumentation (Berlin 1989) 87-89; Rouse, Joseph, Engaging Science. How to Understand its Practices Philosophically (Ithaca 1996); Rouse, Joseph, What are Cultural Studies of Scientific Knowledge?, in: Configurations 1 (1993) 1-22.

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Abbildungsverzeichnis

Abbildungen Kapitel II Der abstract turn als missing link Abb. 1: Aufnahme der Ausstellung des Leningrader GINChUK in Moskau, 1925. Aus: Klotz, Heinrich (Hg.), Matjuschin und die Leningrader Avantgarde (München 1991), S. 122. Abb. 2: Aufnahme GINChUK. Abteilung für organische Kultur, ca. 1925. Aus: Klotz, Heinrich (Hg.), Matjuschin und die Leningrader Avantgarde (München 1991), S. 121. Abb. 3: GINChUK, ca. 1925; Schrifttafel über der Tür: „Abteilung für organische Kultur: Erforschung des Organismus und dessen Wahrnehmung“. Aus: Klotz, Heinrich (Hg.), Matjuschin und die Leningrader Avantgarde (München 1991), S. 120. Abbildungen Kapitel IV Umkehrungen – Kunst als Erkenntnis des Erlebens Abb. 4: Wassily Kandinsky: Über die Arbeitsmethode der Synthetischen Kunst. Ausschnitte, 1927. Aus: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung 4, April 2002, S. 5/7. Abb. 5: Wassily Kandinsky: Schema zur Teilung, 1927. Aus: UND. Einiges über Synthetische Kunst, in: i10. Internationale Revue 1, Amsterdam, 1927, S. 5. Abb. 6: Wassily Kandinsky: Fragebogen für das INChUK. Institut für Künstlerische Kultur, Ausschnitt, 1920. Aus: Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde. Die Sammlung Costakis aus dem Staatlichen Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki [Ausst.-Kat.] (Köln 2004), S. 251. Abb. 7: Wilhelm Ostwald: Anzeige der Farbenorgel. Aus: Lehr- und Lernmittel zur Ostwaldschen Farbenlehre, Grossbothen, 1930. Abb. 8: Wassily Kandinsky: Schema zu: Intuition und Kalkül. Aus: Wassily Kandinsky. Cours du Bauhaus, Paris, 1975, o. S.

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Abbildungen Kapitel V Hors-Textes – Quellen der Sichtbarkeit jenseits des Bildes Abb. 9: Kasimir Malewitsch: Darstellungsveränderungen der „Natur“ unter dem Einflusse additionaler Elemente aus kubistischen und suprematistischen malerischen Kulturen, 1927. Aus: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler (Neue Bauhausbücher) (Frankfurt am Main/Berlin 1980), S. 13. Abb. 10: Kasimir Malewitsch: Analytische Untersuchung der Formgestaltung bei den malerischen Kulturen Cézannes, des Kubismus und des Suprematismus. Additionale Elemente dieser Kulturen, 1927. Aus: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler (Neue Bauhausbücher) (Frankfurt am Main/Berlin 1980), S. 39. Abb. 11: Kasimir Malewitsch: Darstellungsveränderungen der „Natur“ unter dem Einflusse additionaler Elemente der malerischen Kulturen Cézannes und des Kubismus. 1927. Aus: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler (Neue Bauhausbücher) (Frankfurt am Main/Berlin 1980), S. 11. Abb. 12: Kasimir Malewitsch: Erste Seite der russischen Originalausgabe des Textes: Einführung in die Theorie des additionalen Elementes in der Malerei, Ausschnitt, 1927. Aus: Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Hans M. Wingler (Neue Bauhausbücher) (Frankfurt am Main/Berlin 1980), S. 104. Abb. 13: Kasimir Malewitsch: Seite 1 des Originalmanuskripts, Ausschnitt, 1916. Aus: Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde. Die Sammlung Costakis aus dem Staatlichen Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki [Ausst.Kat.] (Köln 2004), S. 149. Abb. 14: Kasimir Malewitsch: Umschlag der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920. Aus: Shadowa, Larissa A., Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 1910-1930 (Dresden 1978), S. 176. Abb. 15: Kasimir Malewitsch: Text der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, Ausschnitt, 1920. Aus: Shadowa, Larissa A., Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 1910-1930 (Dresden 1978), S. 176/177. Abb. 16: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920. Aus: Shadowa, Larissa A., Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 1910-1930 (Dresden 1978), S. 177. Abb. 17: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920. Aus: Shadowa, Larissa A., Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 1910-1930 (Dresden 1978), S. 178.

A BBILDUNGSVERZEICHNIS

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Abb. 18: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920. Aus: Shadowa, Larissa A., Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 1910-1930 (Dresden 1978), S. 179. Abb. 19: Kasimir Malewitsch: Illustrationen der Broschüre ‚Suprematismus. 34 Zeichnungen‘, 1920. Aus: Shadowa, Larissa A., Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 1910-1930 (Dresden 1978), S. 179. Abb. 20: Ausstellung von Werken Matjuschins und der Gruppe KORN (Kollektiv: Erweitertes Sehen) im Zentralen Leningrader Haus der Künste, 1930. Aus: Klotz, Heinrich (Hg.), Matjuschin und die Leningrader Avantgarde (München 1991), S. 124. Abb. 21: Ausstellung von Werken Matjuschins und der Gruppe KORN (Kollektiv: Erweitertes Sehen) im Zentralen Leningrader Haus der Künste, 1930. Text über den Tafeln: „Veränderung der Farbe und der Form bei erweitertem Sehen“. Aus: Katalog: Matjuschin und die Leningrader Avantgarde. Hg. v. Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Stuttgart, München 1991, S. 124. Abb. 22: Michail Matjuschin: Arbeitsplan der Abteilung für Organische Kultur, ca. 1920. Aus: Povelikhina, Alla V. (Hg.), Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century [Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln] (Köln 1999), S. 55. Abb. 23: Michail Matjuschin im Labor während einer Untersuchung zur Bewegung von Farbmodellen, 1927. Aus: Povelikhina, Alla V. (Hg.), Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century [Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln] (Köln 1999), S. 42. Abb. 24: Michail Matjuschin: Arbeitsplan der Abteilung für Organische Kultur, ca. 1920. Aus: Povelikhina, Alla V. (Hg.), Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century [Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln] (Köln 1999), S. 54. Abb. 25: Michail Matjuschin: Schema der Möglichkeiten visueller Wahrnehmung. Zeichnung, 1924. RO IRLI, Album d 29. Aus: Povelikhina, Alla V. (Hg.), Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century [Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln] (Köln 1999), S. 45. Abb. 26: Michail Matjuschin: Schema der visuellen Raumwahrnehmung, 1924, RO IRLI, Album 2 d. Aus: Povelikhina, Alla V. (Hg.), Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century [Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln] (Köln 1999), S. 44.

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Abbildungen Kapitel VI Denken ÜberDenken. Gedankenphotographie als Gedankenexperiment Abb. 27: Hippolyte Baraduc: Der tragbare Radiograph, 1887. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 15. Abb. 28: Hippolyte Baraduc: Odische Wolke und Tupfen, gewonnen durch die Stirn eines jungen Mannes (mit Elektrizität, ohne Fotoapparat, elektro-attraktive Methode), 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 15. Abb. 29: Louis Darget: Der Adler, Abbildung gewonnen durch zehnminütige Auflage einer Platte auf die Stirn der im mediumistischen Schlaf liegenden Madame Darget, 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 16. Abb. 30: Louis Darget: La Première Bouteille, Gedankenfotografie, 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 83. Abb. 31: Louis Darget: Gedankenfotografie. Planet und Satellit, geschaffen durch Gedanken des Herrn A., der einen Himmelsatlas betrachtete, während seiner Stirn eine Platte auflag, 1896. Aus: Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 16. Abb. 32: Louis Darget: Gedankenfotografie. Planet und Satellit, geschaffen durch Gedanken des Herrn A., der einen Himmelsatlas betrachtete, während seiner Stirn eine Platte auflag, 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 16. Abb. 33: Louis Darget: o. T. Fluidalfotografie um 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 28. Abb. 34: Louis Darget: o. T. Fluidalfotografie, ca. 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 28. Abb. 35: Louis Darget: o. T. Fluidalfotografie um 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 29. Abb. 36: Louis Darget: o. T. Fluidalfotografie um 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 29.

A BBILDUNGSVERZEICHNIS

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Abb. 37: Jules-Bernard Luys/David: Fluidalfotografie von Fingern. 1897. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (Ostfildern-Ruit 1997), S. 32. Abb. 38: Ohne Autor: o. T. Fluidalfotografie, 1897. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (OstfildernRuit 1997), S. 32. Abb. 39: Hippolyte Baraduc: Les boulets vitaux, 1896. Aus: Loers, Veit (Hg.), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren [Ausst.-Kat.] (OstfildernRuit 1997), S. 38. Abbildungen Kapitel VII Exzentrisches Sehen. Avantgarde als Laboratorium der Wahrnehmung Abb. 40: Viking Eggeling: Diagonal-Symphonie. Schwarz-weiß Film, 1921. Aus: Scheugl, Hans/Schmidt, Ernst jr., Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Bd. I (Frankfurt am Main 1974), S. 244. Abb. 41: Walter Ruttmann: Opus I. Lichtspiel, 1921. Aus: Goergen, Jeanpaul (Hg.), Walter Ruttmann. Eine Dokumentation (Berlin 1989), S. 100. Abb. 42: Walter Ruttmann: Opus II. Lichtspiel, 1925. Aus: Goergen, Jeanpaul (Hg.), Walter Ruttmann. Eine Dokumentation (Berlin 1989), S. 103. Abbildungen Kapitel VIII Episteme der Zeichnung Abb. 43: Nicolas Kaufmann: Die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen. Aus: Busch, Werner/Jehle, Oliver/Meister, Carolin (Hg.), Randgänge der Zeichnung (München 2007), S. 387. Abb. 44: Nicolas Kaufmann: Die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen. Aus: Busch, Werner/Jehle, Oliver/Meister, Carolin (Hg.), Randgänge der Zeichnung (München 2007), S. 390.

Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

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Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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