100 Jahre Arbeitsmarktverwaltung: Österreich im internationalen Vergleich [1 ed.] 9783737007443, 9783847107446


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100 Jahre Arbeitsmarktverwaltung: Österreich im internationalen Vergleich [1 ed.]
 9783737007443, 9783847107446

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Zeitgeschichte im Kontext

Band 12

Herausgegeben von Oliver Rathkolb

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Mathias Krempl / Johannes Thaler (Hg.)

100 Jahre Arbeitsmarktverwaltung Österreich im internationalen Vergleich

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5413 ISBN 978-3-7370-0744-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Das Bundesministerium fþr Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz hat 2013 dem Institut fþr Zeitgeschichte der UniversitÐt Wien den Forschungsauftrag mit dem Thema „Historische Rahmenbedingungen der Arbeitsmarktverwaltung auf dem Gebiet des heutigen Österreich 1917–1957“ erteilt. Darauf aufbauend fand vom 25.–26. 2. 2016 im Bundesministerium f þr Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz als Fçrdergeber die Internationale Konferenz „99 Jahre Arbeitsmarktverwaltung“ statt, deren Ergebnisse im vorliegenden Konferenzband publiziert werden. Zudem gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Dekanats der Historisch-Kulturwissenschaftlichen FakultÐt der UniversitÐt Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7).  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: „Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide – Aufruf – Wien“, 1915 ( ÖNB, Inventarnummer : KS 16216500); „Arbeitsloser“, um 1930 ( ÖNB / Hilscher, Inventarnummer : H 972); „Wien 5“, Arbeitsamt fþr die Metallindustrie und fþr die Holzindustrie, Außenansicht 1931 ( ÖNB, Inventarnummer: 462.811B); „Arbeitsamt Wien 1“, Stellenvermittlung fþr Hausgehilfinnen 1939 ( ÖNB, Inventarnummer: S 400/30); „Arbeitsbuch“ ( Mathias Krempl); „Arbeitslose im Arbeitsamt“, um 1935 ( ÖNB / Zvacek, Inventarnummer: Z 1888); Collage:  V& R unipress GmbH

Inhalt

Vorwort von Bundesminister Alois Stöger

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verena Pawlowsky / Harald Wendelin Vom Soldaten zum Arbeiter. Die k.k. Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mathias Krempl Zäsuren der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung 1917–1957

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Johannes Thaler „Kann bleiben, ohne Beförderung“ – Beamte der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung und das NS-Regime . . . . . . . . . . . . . . . .

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Irina Vana „Eingereiht in die große Schlange …“ – Verwaltung von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden am öffentlichen Arbeitsamt (Österreich 1918–1934) .

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Vorwort des Reihenherausgebers

Ilse Reiter-Zatloukal Ausländische Arbeitskräfte in Österreich – Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Arbeitsmigration seit der Frühen Neuzeit . . . . . . . . 115 Emmerich T#los Sozialpartnerschaft: Ein zentraler Gestaltungsfaktor im Österreich der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

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Inhalt

Ulrike Schulz „Österreich als Modellfall.“ Die Überleitung der Sozial- und Arbeitsverwaltung in Österreich durch das Reichsarbeitsministerium 1938/39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Martin Münzel Das Führungspersonal des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und seiner Vorgängerbehörden 1945–1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Silvia Spattini The Historical Evolution of Public Employment Services in Italy From a Comparative Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 David Chiavacci Staat und Arbeitsmarkt im modernen Japan: Transformation vom liberalen zum produktivistischen Wohlfahrtsregime . . . . . . . . . . . . 215 Ursula Prutsch Arbeiterpolitik in Brasilien unter Getffllio Vargas (1930–1945) . . . . . . . 237 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Vorwort von Bundesminister Alois Stöger

Die Arbeitsmarktpolitik ist ein wesentlicher Gradmesser für den Zusammenhalt und die Solidarität in unserer Gesellschaft. Nirgends wird das so deutlich, wie bei einem Blick auf die wechselvolle Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Der Nationalsozialismus hat seine menschenverachtende Ideologie auch auf diesem Gebiet umgesetzt. Hetze, Ausgrenzung, Ausbeutung und Zwangsarbeit waren die Eckpfeiler der Arbeitsmarktpolitik des NS-Terrorregimes. Erst nach 1945 ist es gelungen, nachhaltig solidarische Systeme aufzubauen, die wir bis heute im Rahmen der Sozialpartnerschaft weiterentwickeln. Dazu gehört der Ausbau unserer Gesundheitsfürsorge genauso wie der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut. Wir arbeiten heute daran, dass alle eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Wir kämpfen für Jobs von denen man leben kann. Dafür setzen wir Qualifizierungsmaßnahmen, neue Impulse für unseren Wirtschaftsstandort durch öffentliche Investitionen und Arbeitsmarktinitiativen wie die Aktion 20.000, durch die Langzeitbeschäftigungslose über 50 Jahren eine neue Perspektive erhalten. Die Konferenz „99 Jahre Arbeitsmarktverwaltung – ein internationaler Vergleich“ hat einen wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung der Arbeitsmarktpolitik geleistet. Dabei haben die WissenschafterInnen gezeigt, dass insbesondere öffentliche Einrichtungen die Möglichkeit haben, gegensteuernde Mechanismen gegen Radikalisierung zu entwickeln. Eines der wichtigsten Kriterien ist zweifellos ein Geschichtsbewusstsein, durch das politische Verführungen rasch erkannt werden können. Deshalb ist es mir ein persönliches Anliegen, die fundierten wissenschaftlichen Beiträge allgemein zugänglich zu machen. Dieser Konferenzband macht die historischen Zusammenhänge erkennbar und trägt dazu bei, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten. Wien, Mai 2017

Alois Stöger Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz

Vorwort des Reihenherausgebers

Während es für die Bundesrepublik Deutschland seit 2003 ein von der Bundesanstalt für Arbeit und der Thyssenstiftung finanziertes Standardwerk auf der Basis umfassender Forschung zu Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktverwaltung in Deutschland 1871–2002 gibt1, fehlte bislang für Österreich eine vergleichbare Studie. Broschüren für den Zeitraum 1934–19452 oder vereinzelte Aufsätze3 entwickeln nur ein dünnes formales Gerüst ohne ein klares theoretisches Modell, ohne forschungsleitende Längsschnittfragestellungen und ohne Verwendung von Primärquellen. Karl Schmidts „Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung Österreichs von ihren Anfängen an“ (Salzburg 1990) ist nur eine Zusammenstellung von diversen Gesetzestexten und Sekundärliteratur ohne ein Quellen- beziehungsweise Aktenstudium. Als mich 2011 der leider im selben Jahr verstorbene Ministerialrat Wilhelm Koldus vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz wegen einer Vorstudie ansprach, sagte ich zu und bat Herrn Mathias Krempl, diese Arbeit zu übernehmen. Schwerpunkt der Vorstudie war der Zeitraum 1933–1938–1945 mit einer fokussierten Auseinandersetzung mit den zentralen Entwicklungen der Arbeitsmarktpolitik in der Habsburgermonarchie und den Änderungen während des Ersten Weltkrieges bzw. in der Nachkriegszeit. Die Kontinuitäten bzw. Änderungen in den Aufgabenstellungen und der Personalstruktur während der Dollfuß/Schuschnigg-Diktatur und die Arbeitsmarktverwaltung während des Nationalsozialismus werden im Detail analysiert. Dabei spielen die ersten Zwangsmaßnahmen zur statistischen Behebung der Arbeitslosigkeit im Nationalsozialismus ebenso eine Rolle wie die Zwangsrekrutierung 1 Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002 – Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 270), Nürnberg 2003. 2 Franz Danimann, Die Arbeitsämter unter dem Faschismus, Wien 1966. 3 Herbert Hofmeister, Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenvermittlung in Österreich insbesondere 1918 bis 1938, in: Hans-Peter Benöhr, Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte, Tübingen 1991, 217–236.

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Oliver Rathkolb

und „Verteilung“ von ZwangsarbeiterInnen aus ganz Europa durch die „Gauarbeitsämter“ sowie deren Funktion bei der Verschickung von jüdischen ZwangsarbeiterInnen, bei Arbeitskräftemobilisierung (bzw. „Auskämmaktionen“) zur Erhöhung des Arbeitskräftepotentials in der Rüstungsindustrie bei gleichzeitiger Steigerung der Stellung von Wehrmachtssoldaten. Allein 1944 wurden auf dem Gebiet des heutigen Österreich rund 800.000 ZwangsarbeiterInnen durch die Gauarbeitsämter administriert. Die Nachkriegszeit wurde in Form eines qualitativ dichten Epilogs ebenso gestreift – auch hinsichtlich der neuen Aufgabenstellungen im Wiederaufbau und im temporären Arbeitseinsatz ehemaliger NSDAP-Mitglieder vor dem Hintergrund etwaiger personeller Kontinuitäten aus der NS-Zeit im Führungsund mittlerem Verwaltungsbereich mit unterschiedlichen Biographien. So wurde der aus dem Saarland kommende linientreue Präsident des Gauarbeitsamtes in Linz, Gustav Böhm, noch am 11. April 1945 hingerichtet. Andere Spitzenbeamte wie Dr. Josef Hammerl überdauerten die NS-Zeit: 1934 war er leitender Beamter im Landesarbeitsamt Wien, im Nationalsozialismus einfacher Referent im Gauarbeitsamt Wien und wurde 1946 schließlich zum Sektionschef befördert. Bei den Längsschnittfragestellungen wurden unter anderem die Regulierung der Arbeitsmärkte in Krisenzeiten durch staatlich organisierte Arbeitsvermittlung analysiert und die Unterschiede zwischen demokratischen und totalitären Rahmenbedingungen von Arbeitsmarktpolitik herausgearbeitet. Überdies wurde die Funktion einer gut ausgebildeten Bürokratie – und deren Schwächung durch politische Eingriffe – zur effizienten Umsetzung der sozialpolitischen Vorgaben reflektiert. In diesem Zusammenhang kommt dem Handlungsspielraum von Beamten der Arbeitsmarktverwaltung in autoritären und totalitären Systemen besondere Bedeutung zu. Inzwischen ist nicht nur eine Studie von Mathias Krempl und Johannes Thaler zu diesem Thema 2015 unter dem Titel „Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957“ erschienen, sondern auch der vorliegende Sammelband, der sowohl vergleichend österreichspezifische Themen zur Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung aufgreift, als auch den internationalen Vergleich sucht. Die nunmehr vorliegenden überarbeiteten und einem Peer-Review unterworfenen Beiträge einer wissenschaftlichen Konferenz aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „99 Jahre Arbeitsmarktverwaltung – ein internationaler Vergleich“ erweitern die Perspektive auf diesen wesentlichen Bereich eines modernen Sozialstaates. Damit ist eine für Österreich singuläre, kritische, wissenschaftliche Behördengeschichte entstanden, die hoffentlich auch in anderen Sektoren der öffentlichen Verwaltung Nachahmung finden wird. Ich danke dem zuständigen Sektionsleiter Mag. Roland Sauer sowie Herrn Abteilungsleiter Mag. Josef Attila

Vorwort

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Horvath und Frau Dr.in Manuela Hargassner-Delpos sehr für die engagierte und sehr effiziente Unterstützung in all den geschilderten Projektphasen. Wien, im Mai 2015

Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien

Einleitung

Obwohl die historische Untersuchung einzelner österreichischer Wirtschaftsbranchen und Unternehmen schon um das Jahr 2000 im Zusammenhang mit der Entschädigung von NS-ZwangsarbeiterInnen angelaufen ist, bestehen im Bereich der Behördengeschichte des 20. Jahrhunderts allgemein noch Forschungsdesiderate. Während in der Bundesrepublik Deutschland seit über zehn Jahren etliche HistorikerInnenkommissionen forschen und publizieren – begonnen mit dem Auswärtigen Amt1 –, fehlt Vergleichbares für Österreich. Umso bemerkenswerter ist die erste Initiative in Österreich durch das Sozialministerium unter maßgeblicher Beteiligung von Ministerialrat Wilhelm Koldus, die den Anstoß dafür gab, die Rolle dieses Ressorts im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit vor allem auch den Stellenwert dieses Verwaltungszweigs in den Diktaturen des Dollfuß/ Schuschnigg-Regimes und des Nationalsozialismus umfassend und kritisch zu beleuchten. Die zentralen Ergebnisse des befassten Forschungsprojekts an der Universität Wien wurden jüngst in einer Buchpublikation2 veröffentlicht. Vor dem Hintergrund dieser Vorarbeiten galt es nun im Rahmen einer zweitägigen Konferenz3 den Blick auch über den österreichischen Kontext hinaus auf die internationale Bühne der Arbeitsmarktpolitik des 20. Jahrhunderts zu richten. Den Ergebnissen dieser Konferenz ist die vorliegende Publikation geschuldet. Im ersten Beitrag steht die Kriegsversehrtenvermittlung im Fokus, die im Ersten Weltkrieg geschaffen wurde. Verena Pawlowsky und Harald Wendelin (beide Wien) stellen in ihrem Aufsatz die Grundzüge dieses frühen zentral1 Bahnbrechend für spätere Studien zur NS-Verwaltungsgeschichte war Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik (München 2010). 2 Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis (Wien 2015). 3 Konferenz „99 Jahre Arbeitsmarktverwaltung – Ein internationaler Vergleich“, Wien 25.–26. 02. 2016 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=6569& view=pdf& pn =tagungsberichte& type=tagungsberichte, abgerufen am 7. 12. 2016).

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Einleitung

staatlich geleiteten Vermittlungswesens dar. Die 1915 ins Leben gerufene „k.k. Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide“ war dabei mit großen Herausforderungen konfrontiert. Denn es gab weder ein Modell staatlicher Vermittlung, das als Vorbild hätte dienen können, noch boten die Umstände der Kriegswirtschaft Erfolg versprechende Bedingungen, die nur beschränkt einsetzbaren Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt unterzubringen. Die Heranziehung ehrenamtlicher Vermittlungskräfte und bestehender Vermittlungsbüros waren notwendige Komponenten, wobei eine Hauptfunktion des Staates in der Koordination des Wiedereingliederungsprozesses lag. Im zweiten Aufsatz werden die aktuellen Forschungsergebnisse zu Österreich in der Zeit seit dem Entstehen des neuen Verwaltungszweigs gegen Ende der Monarchie bis nach dem Ende der alliierten Besatzung 1955 präsentiert. Mathias Krempl (Wien) fokussiert auf die organisatorischen und kompetenzmäßigen Umbrüche im Bereich der staatlichen Arbeitsvermittlung unter besonderer Berücksichtigung der politischen Instrumentalisierung der Arbeitsämter. Diese kam seit dem Dollfuß/Schuschnigg-Regime deutlich im System bevorzugter Vermittlung regimetreuer Arbeitskräfte zum Ausdruck und wurde im Nationalsozialismus exzessiv forciert, als politisch verfolgte Arbeitskräfte – allen voran die ZwangsarbeiterInnen – massiv arbeitsmarktbehördlich schikaniert wurden. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die staatliche Arbeitsmarkverwaltung nicht nur unter dem Gesichtspunkt der schlichten Platzierung von Arbeitskräften; vielmehr galt es im Rahmen arbeitsmarktbehördlicher Entnazifizierungsagenden den gesellschaftlichen Umbau unter Zuhilfenahme der Arbeitsämter vorzunehmen. Anknüpfend an die behördengeschichtlichen Grundlagen berichtet Johannes Thaler (Wien) von den Kontinuitäten und Umbrüchen beim Behördenpersonal. Grundlage für seine Untersuchung stellte ein Sample von 94 führenden Bediensteten der Arbeitsmarktbehörden dar. Die überlieferten Personaldaten belegen einen Anteil von knapp 50 Prozent NSDAP-Mitgliedern innerhalb des Behördenpersonals während des Nationalsozialismus in der „Ostmark“; auf der Führungsebene ist von einer deutlich höheren Quote (70 Prozent) auszugehen. Während einerseits nach der NS-Zeit die Entnazifizierung innerhalb der Arbeitsmarktbehörden schon kurz nach dem Kriegsende grundsätzlich vorangetrieben wurde, belegen andererseits Einzelfälle wie jener etwa von Sektionschef Dr. Josef Hammerl, dass manchmal auch lange Karriereverläufe möglich waren. Irina Vana (Wien) liefert eine soziologische Betrachtung des arbeitsmarktpolitischen Geschehens in der Zwischenkriegszeit. Sie beleuchtet in ihrer Untersuchung ausgewählter Einzelfälle und Erfahrungsberichte diverse Gebrauchsweisen der Arbeitsämter und arbeitet heraus, dass diese nicht nur für die Vermittlung von Arbeit herangezogen wurden. Vielmehr erfolgte durch die

Einleitung

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Ämter besonders auch die Konstituierung von Arbeitsuchenden zu „Arbeitslosen“, die als solche eine eigene soziale Gruppe bildeten. Im Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal (Wien) wird in einem Längsschnitt der Fokus auf die Ausländerbeschäftigung in Österreich gelegt. Der Zusammenbruch der Monarchie und die damit verbundene Reduktion des Staatsgebietes stellte insofern einen wichtigen Umbruch dar, als dadurch vormalige BinnenmigrantInnen zu AusländerInnen wurden, die ab 1925 dem „Inlandarbeiterschutzgesetz“ unterlagen und deren Beschäftigung wie auch jene anderer Ausländer von da an einer behördlichen Genehmigung bedurften. Während des Nationalsozialismus blieb dieses Gesetz zunächst in Kraft, bis es 1941 durch die im „Altreich“ seit 1933 geltende „Verordnung über ausländische Arbeitskräfte“ abgelöst wurde. Diese Verordnung räumte den Arbeitsmarktbehörden umfassende Kompetenzen ein und bildete im Wesentlichen bis 1975 die arbeitsmarktbehördliche Rechtsstellung der AusländerInnen. Das Ausländerbeschäftigungsgesetz aus 1975 stand dann schon ganz im Zeichen des seit den 1960er Jahren forcierten Gastarbeiterzustroms, indem etwa Ausländerbeschäftigungskontingente gesetzlich festgeschrieben wurden, die mit einer Novelle aus 1992 anlässlich des EU-Beitritts Österreichs für EWR-BürgerInnen wieder wegfielen. Emmerich T#los (Wien) liefert einen Überblick über die Sozialpartnerschaft in Österreich, die dort seit den 1950er Jahren im politischen System fest verankert ist. Er arbeitet heraus, wie sehr die Abstimmung der beruflichen Interessenvertretungen allgemein ein gewichtiger „politischer Gestaltungsfaktor“ ist und besonders innerhalb der sozialpolitischen Agenden – und damit auch im Rahmen der Arbeitsmarktverwaltung – einen entscheidenden Stellenwert einnimmt. Im Übrigen sei – so die vorsichtige Prognose – aufgrund des voranschreitenden Einflussverlustes der die Sozialpartnerschaft tragenden Großparteien davon auszugehen, dass die Sozialpartnerschaft zwar nicht mehr den bisher großen Stellenwert einnehmen, der politischen Landschaft durchaus aber erhalten bleiben werde. Der internationale Fokus ist zunächst den Entwicklungen in Deutschland gewidmet, wofür zwei Kollegen aus der Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums4 gewonnen werden konnten. Ulrike Schulz (Berlin) berichtet über die Übernahme und 4 Siehe dazu etwa den Konferenzbericht: Regimenting Unfree Labour in Europe During the Second World War, 3. 12. 2015–5. 12. 2015, Berlin, http://www.hsozkult.de/conferencereport/ id/tagungsberichte-6331?title=regimenting-unfree-labour-in-europe-during-the-secondworld-war-die-ordnung-unfreier-arbeit-im-europa-des-zweiten-weltkrieges& recno=4& q =zwangsarbeit& sort=newestPublished& fq=& total=223 (31. 3. 2016); die beiden für diesen Sammelband gewonnenen Darstellungen von Ulrike Schulz und Martin Münzel verstehen sich deshalb als Kurzbeiträge, da die beiden zugrunde liegenden Forschungen in einem anderen Zusammenhang umfassend veröffentlicht werden sollen.

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Einleitung

Eingliederung der Arbeits- und Sozialverwaltung durch das Reichsarbeitsministerium nach dem „Anschluss“. Sie skizziert in diesem Zusammenhang die Entwicklung des Reichsarbeitsministeriums bis 1938 sowie die Grundzüge der Implementierung „arbeitseinsatz“-mäßiger Organisationsstrukturen aus dem „Altreich“ im okkupierten Österreich danach. Dabei ermöglicht ihr Blick auch auf andere sozialpolitische Kompetenzen des nun auf dem Gebiet des okkupierten Österreichs zuständigen Reichsarbeitsministeriums eine umfassendere Einordnung der arbeitsmarktbehördlichen Zuständigkeiten. Martin Münzel (Berlin) gibt in seinem Kurzbeitrag einen Überblick über die personellen Entwicklungen innerhalb der westdeutschen Sozialressorts zwischen 1945 und 1960. Zunächst wurde die Entwicklung des Bundesministeriums für Arbeit aus dem „Zentralamt für Arbeit“ in der britischen Zone skizziert. Anknüpfend an die organisatorische Ebene folgt die Darstellung des Personalaufbaus. Die Ergebnisse der Entnazifizierung ergab dabei etwa, dass 1953 mehr als die Hälfte der Bediensteten der obersten westdeutschen Sozialbehörden ehemalige Mitglieder des NSDAP waren; 1960 hat sich dieser Anteil auf etwa 70 Prozent erhöht. Silvia Spattini (Modena) widmet sich den Entwicklungen der Arbeitsmarktverwaltung in Italien. Ab 1918 erfolgte auch in Italien sukzessive der Aufschwung zentralstaatlicher Arbeitsmarktbehörden, der sich ab der faschistischen Herrschaft unter Benito Mussolini schrittweise zu einem staatlichen Vermittlungsmonopol entwickelte. Ähnlich wie in Österreich während des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes bestehen hier Hinweise auf eine Bevorzugung von Mitgliedern der faschistischen Partei bei der Arbeitsvermittlung während der Wirtschaftskrise. Zur Kontextualisierung der nationalstaatlichen Entwicklung vor dem völkerrechtlichen Hintergrund geht die Autorin auf die einschlägigen Konventionen der International Labour Organization ein. Die beiden letzten Beiträge sprengen die Grenzen der europäischen Perspektive. Für Japan stellt David Chiavacci (Zürich) fest, dass staatliche Arbeitsvermittlung im Laufe des 20. Jahrhunderts verglichen mit europäischen Wohlfahrtsstaatsmodellen allgemein stark an Bedeutung verloren haben. Zunächst erlangten zwar die japanischen Arbeitsämter 1938 – zu einer ähnlichen Zeit und unter vergleichbaren Umständen wie jene des nationalsozialistischen Deutschen Reichs – eine massive Aufwertung durch die Monopolstellung im Zuge der Expansionskriege. Doch war dieser Bedeutungsgewinn nicht von Nachhaltigkeit geprägt. Vielmehr etablierte man Äquivalente zu europäischen Arbeitsmarktinstrumenten wie die langfristige Beschäftigungsgarantie, welche die Funktion einer umfassenden Arbeitslosenversicherung einnahm; auch die Berufsberatung war außerhalb der Arbeitsämter angesiedelt, um idealerweise nach Schulabschluss den Berufseinstieg zu koordinieren. In einer langfristigen

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Einleitung

Einschätzung ist für Japan ein produktivistisches Wohlfahrtsstaatsmodell anzunehmen. Ursula Prutsch (München) zeigt schließlich auf, dass ideologische Komponenten nicht nur im arbeitsmarktpolitischen Diskurs Mitteleuropas eine zentrale Rolle spielten. Im korporativ verfassten Brasilien der 1930er Jahre verstand es Getffllio Dornelles Vargas, mit arbeitsmarktpolitischen Mitteln gezielt „nationbuilding“ zu betreiben. Gebürtigen BrasilianerInnen wurden per Dekret zwei Drittel der Arbeitsplätze zugesichert, wodurch der heimischen Arbeiterschaft ein Vorrang vor den bisher dominanten europäischen Arbeitskräften eingeräumt wurde. Das Narrativ von V#rgas als „Vater der Armen“ wird durch die Tätigkeit der „JustiÅa do Trabalho“ (Arbeitsgericht) relativiert, welche bei Arbeitskonflikten überwiegend zugunsten staatlicher ArbeitgeberInnen und Akteure entschied. Als Fazit zum vorliegenden Konferenzband ist festzuhalten, dass in Österreich, verglichen etwa mit Deutschland, ein doch deutlich weniger breit angelegtes öffentliches Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte der gesamten öffentlichen Verwaltung des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen besteht, wie etwa das Ausbleiben parlamentarischer Anfragen in diese Richtung zeigt; im Besonderen ist davon auch die Erforschung des Sozialministeriums samt seiner Agenden betroffen, weshalb der Vorstoß in diese Richtung besonders zu begrüßen ist. Eine Schwäche des vorliegenden Buches ist wohl in dem Umstand zu sehen, dass die in Europa in zeitgeschichtlicher Perspektive zentrale Gliederung der Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen5 nur teilweise abgedeckt wird und spannende Vergleiche des den deutschen Sprachraum betreffenden „konservativen“ Modells mit anderen teilweise offen bleiben mussten. Besonders aber die globale Perspektive soll eine spannende Vergleichsbasis bieten. Erstrebenswert wäre es, wenn der vorliegende Konferenzband und die damit im Zusammenhang stehenden Forschungen als Anreiz für weitere Projekte zur historischen Aufarbeitung der österreichischen Exekutive dienen könnten. Die Herausgeber

Wien und Jerusalem, im März 2017

5 Gøsta Esping-Andersen, The three Worlds of Welfare Capitalism (Princeton 31993).

Verena Pawlowsky / Harald Wendelin

Vom Soldaten zum Arbeiter. Die k.k. Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide im Ersten Weltkrieg1

Wenn man an die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkrieges2 denkt, so tauchen meist zwei Bilder auf: zum einen der durch Amputationen entstellte frühere Soldat, der mit seiner Drehorgel durch die Straßen zieht, und zum anderen der blinde Kriegsinvalide, der – meist an seiner Uniform noch als ehemaliger Soldat erkennbar – bettelnd an einer Hausecke sitzt. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs prägten diese in zahlreichen Abbildungen reproduzierten Klischees die Diskussionen und die Vorstellungen. Auch die Behörden benutzten solche Darstellungen, um zu erklären, wie die Unterstützung für Kriegsbeschädigte dieses Krieges nicht sein sollte. Die Bilder dienten stets als Negativfolie für die aktuellen Bemühungen. Diese sollten nämlich gerade verhindern, dass Kriegsbeschädigte als Bettler auf der Straße endeten. Man wollte sie stattdessen möglichst vollständig wieder in den Arbeitsmarkt reintegrieren.3 Bettelnde Soldaten 1 Der gegenständliche Aufsatz ist die – geringfügig adaptierte – deutschsprachige Version eines 2015 auf englisch erschienenen Beitrags: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin, Transforming Soldiers into Workers: The Austrian Employment Agency for Disabled Veterans during the First World War, in: Sigrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik (Hg.), The History of Labour Intermediation. Institutions and Finding Employment in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries (International Studies in Social History 26), Oxford-New York 2015, 181–193. 2 Den größeren Zusammenhang dieses Textes bildet ein vom FWF gefördertes Forschungsprojekt über die Geschichte der österreichischen Kriegsbeschädigten während des Ersten Weltkriegs und nach seinem Ende („Die Wunden des Staates. Die Versorgung der Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges in Österreich“), an dem – unter der Projektleitung von Bertrand Perz vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien – die Autorin und der Autor dieses Beitrags zwischen 2006 und 2008 arbeiteten und dessen Ergebnisse in einer Monografie veröffentlicht wurden: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin, Die Wunden des Staates. Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938, Wien-Köln-Weimar 2015, open access: http://www.boehlau-verlag.com/download/163954/978-3-205-79598-8_1_OpenAccess.pdf. 3 Die Forschung zu den österreichischen Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkrieges war bislang dürftig, vgl. aber : Maureen Healy, Civilizing the Soldier in Postwar Austria. Gender and War in Twentieth-Century Eastern Europe, Bloomington-Indianapolis 2006, 47–69; Ke-chin Hsia, A Partnership of the Weak: War Victims and the State in the Early First Austrian Republic, in: Contemporary Austrian Studies 19 (2010): From Empire to Republic: Post-World

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Verena Pawlowsky / Harald Wendelin

waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts freilich noch eine Realität, aber vor allem waren sie als Relikte früherer Kriege der sichtbare Ausdruck eines überkommenen Fürsorgesystems.

I.

Das Modell der Reintegration

Der Erste Weltkrieg war ein Massenkrieg und produzierte eine bis dahin ungekannte Zahl von kriegsbeschädigten Männern.4 Wegen der in diesem Krieg erstmals schlagend gewordenen Allgemeinen Wehrpflicht waren mehr Männer in die Kämpfe involviert als in vorangegangenen Kriegen. Eine bessere medizinische Versorgung der verwundeten und erkrankten Soldaten bedeutete, dass zugleich die Überlebenschancen stiegen. Epidemien waren zum Beispiel erstmals nicht mehr der Hauptgrund für die hohe Mortalität auf den Schlachtfeldern. Ebenfalls ein Effekt des medizinischen Fortschritts war die Verbesserung der medizinischen Dokumentation und Statistik, sodass wir heute sehr viel über die verschiedenen Verwundungen wissen – auch über die traumatischen Folgen dieses Krieges, wie die Kriegsneurosen, die erstmals im Ersten Weltkrieg diagnostiziert wurden. Die Amputierten und die Blinden bildeten in Wirklichkeit nur einen sehr kleinen Teil der großen Zahl der Kriegsbeschädigten.5 War I Austria, 192–221; Verena Pawlowsky/Harald Wendelin: Die Verwaltung des Leides. Kriegsbeschädigtenversorgung in Niederösterreich, in: Peter Melichar/Ernst Langthaler/ Stefan Eminger (Hg.), Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Wirtschaft, Wien-KölnWeimar 2008, 507–536; Verena Pawlowsky/Harald Wendelin: Kriegsopfer und Sozialstaat. Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, in: Natali Stegmann (Hg.), Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte: Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, Prag 2009, 127–146; Verena Pawlowsky/Harald Wendelin, Die normative Konstruktion des Opfers – Die Versorgung der Invaliden, Witwen und Waisen des Ersten Weltkrieges, in: Laurence Cole/Christa Hämmerle/Martin Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918) (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 18), Essen 2011, 359–383 Verena Pawlowsky/Harald Wendelin, Mobilisierung der Immobilen – Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs organisieren sich, in: Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 22 (2011), Heft 1: Politisch Reisen, hg. v. Johanna Gehmacher/Elizabeth Harvey, 185–198. 4 Österreich (in den Grenzen von 1919) hatte 495.000 Tote zu beklagen; das kleine Land zählte nach dem Ersten Weltkrieg mehr als 140.000 Kriegsbeschädigte und etwa 100.000 Hinterbliebene. 5 6 Prozent Amputierte, 0,1 Prozent Totalerblindungen: Adolf Deutsch, Statistisches Material über Kriegsbeschädigte, in: Der Invalide, Nr. 13/14 v. 25. 7. 1921, 2–3. Über die Aspekte psychischer Kriegsbeschädigungen liegen Studien auch für die österreichische Situation vor; vgl. z. B. Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004; Julia Barbara Köhne, Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914–1920), Husum 2009.

Die k.k. Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide im Ersten Weltkrieg

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Doch in der Summe waren die Kriegsbeschädigten keine kleine Gruppe, und ihre Versorgung – so unsere These – stellte gewissermaßen den Beginn moderner Sozialpolitik dar : Die ersten Maßnahmen, die die Habsburger Monarchie setzte, sind 1915, also im zweiten Kriegsjahr, festzumachen. Das Schlagwort lautete zunächst „Reintegration“ und meinte Wiedereingliederung der Kriegsbeschädigten in den Arbeitsprozess. Der durch Verwundung oder Erkrankung körperlich beeinträchtigte Soldat sollte mit staatlicher Unterstützung in die Lage versetzt werden, sich selbst zu versorgen. Weder sollte er Bettler werden, noch sollte er eine staatliche Vollrente beziehen. Ihm sollte – im Gegenteil – geholfen werden, damit er wieder einer Erwerbsarbeit nachgehen und seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen konnte, wie er es vor seinem Militärdienst getan hatte. Die vom Staat für die Kriegsbeschädigten zur Verfügung gestellten Pensionen hatten nicht den Anspruch, eine Vollversorgung zu gewährleisten, sie sollten nur jenen Schaden abgelten, der zuvor von Experten präzise festgestellt worden war. Die Bemessungsgrundlage für diese Feststellung war die in Prozenten ausgedrückte sogenannte Minderung der Erwerbsfähigkeit (kurz MdE).6 Um überhaupt als Kriegsbeschädigter anerkannt zu werden, war der Nachweis einer mindestens 20-prozentigen Minderung der Erwerbsfähigkeit erforderlich. Der Kriegsbeschädigte musste den verbliebenen Teil seiner Arbeitsfähigkeit einsetzen, um auf diese Weise – gemeinsam mit der Rente – ein volles Einkommen zu erwirtschaften. In diesem Konzept spielte die sogenannte k.k. Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide eine wichtige Rolle. Sie wurde immer als die letzte Maßnahme in einem – insgesamt fünf Stufen umfassenden – Reintegrationsprozess genannt.7 Die vier zuerst zu bewältigenden Stufen waren erstens die sogenannte „Erste Heilung“, zweitens die Nachbehandlung, mit der auch Arbeitstherapie8 und die Versor6 Adolf Deutsch, Anleitung zur Feststellung der Erwerbseinbuße bei Kriegsbeschädigten (Veröffentlichungen des deutschösterreichischen Staatsamtes für Volksgesundheit 1), Wien 3 1920. 7 Der Reintegrationsprozess wurde für andere europäische Länder bereits untersucht und beschrieben; vgl. Deborah Cohen, The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914–1939, Berkeley-Los Angeles-London 2001; David A. Gerber (Hg.), Disabled Veterans in History, Ann Arbor, Mich. 2000; Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Die Organisierung des Friedens: Demobilmachung 1918–1920, Göttingen 1983, 230–277; Stephen R. Ward (Hg.), The war generation. Veterans of the First World War, Port Washington-London 1975; Robert Weldon Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914–1939, Ithaca-London 1984; Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923 (Krieg in der Geschichte 41), Paderborn-München-Wien-Zürich 2008. 8 Vgl. Jeffrey S. Reznick, Work-Therapy and the Disabled British Soldier in Great Britain in the First World War : The Case of Shepherd’s Bush Military Hospital, London, in: David A. Gerber (Hg.), Disabled Veterans in History, Ann Arbor, Mich. 2000, 185–203.

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gung mit Prothesen einher ging, drittens die Berufsberatung und viertens die Invalidenschulung. Das Durchlaufen der ersten vier Stufen sollte die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit leisten, während die Aufgabe des letzten Schrittes – also der Arbeitsvermittlung – die Schaffung einer Arbeitsmöglichkeit war.

II.

Neue Behörden

Wie wurde dieses Konzept nun in der Praxis umgesetzt? Die aktive Rolle spielte hier nicht das Kriegsministerium, das die medizinische Versorgung der Kriegsbeschädigten verantwortete, sondern das Ministerium des Innern, wohin die erweiterte Kriegsbeschädigtenfürsorge ressortierte. Ein Sozialministerium gab es ja bis zum 1. Jänner 1918 noch nicht. Das Innenministerium schuf neue Behörden, die sich mit allen Angelegenheiten der Unterstützungsmaßnahmen für Kriegsbeschädigte befassten. Zunächst waren dies die sogenannten Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger, die Anfang 1915 in allen Kronländern der Monarchie eingerichtet wurden. In der Mitte desselben Jahres folgte die Gründung der Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide9 mit eigenen Dienststellen, die dann gegen Kriegsende mit den Landeskommissionen zusammengelegt bzw. in diese eingegliedert wurden und nach dem Krieg sangund klanglos wieder verschwanden. Das Innenministerium verordnete also eine neue, zentrale Administration, aber es stellte paradoxerweise für diese Maßnahme praktisch kein Geld zur Verfügung. Die einzelnen Kronländer waren bei der Umsetzung der Vorgaben und bei der Einrichtung schon der Landeskommissionen und später dann auch der Arbeitsvermittlungen allein gelassen, und sie lösten das Problem dementsprechend auf sehr unterschiedliche Art. Bis zum Ende des Krieges gab es keine präzise Festlegung über das Verhältnis von privatem und staatlichem Engagement in dem für die Versorgung der Kriegsbeschädigten geschaffenen Behördenapparat. De facto war ein beträchtlicher Anteil privaten Engagements notwendig, um die Administration überhaupt in Gang zu bringen. Je besser das Netz ehrenamtlicher Arbeit bereits entwickelt war, desto besser arbeiteten in der Folge die neuen Dienststellen. Was die Arbeitsvermittlungsbehörden betraf, so griff das Ministerium auf bestehende Strukturen zurück und verordnete oft einfach die Umwandlung bereits existierender lokaler Arbeitsvermittlungsbüros in Büros für Kriegsbeschädigte oder die Übernahme der neuen Aufgabe durch bereits bestehende Vermittlungsbüros zusätzlich zu deren übrigen Aufgaben. 9 Erlass des MdI v. 28. 6. 1915, in: Mitteilungen des k.k. Ministeriums des Innern über Fürsorge für Kriegsbeschädigte, 2/1915, 26–28.

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Die Unterstützung des Ministeriums bestand aus nicht viel mehr als der Publikmachung der neuen Administration durch entsprechende Propagandamaßnahmen und dem Angebot zentraler Koordination – auch wenn diese immer nur spärlich ausfiel. Es sind erstaunlich viele Publikationen erhalten, die dieser rein administrativen Ebene entspringen, aber auf der anderen Seite nur sehr wenige Zeugnisse, die belegen könnten, wie die Agenturen bei der konkreten Arbeitsvermittlung tatsächlich vorgingen. Die Publikationen hatten werbenden Charakter und wohl auch die Funktion einer Selbstvergewisserung. Ihr optimistischer und euphorischer Ton kontrastierte scharf mit den überlieferten Zahlen. Jedenfalls blieb die konkrete Involvierung der staatlichen Autoritäten in die neu errichteten Institutionen der Arbeitsvermittlung für Kriegsbeschädigte schwach. Doch – und diese Tatsache ist bemerkenswert – die Involvierung des Staates in einem Feld, das traditionellerweise nicht zu seinem Aufgabengebiet zählte, war an sich neu. Jede Arbeitsvermittlungsstelle für Kriegsbeschädigte erhielt auf Kronlandebene einen vom Innenminister ernannten Präsidenten, einen Geschäftsführer, den die Regierung bestellte, und einen Beirat. Dieser bestand aus Vertretern der wichtigsten politischen Organe (der Landesausschüsse und Landeskommissionen), Vertretern der relevanten Handels- und Industrieorganisationen sowie einigen Honoratioren. Die Beiräte sollten nicht nur die Arbeitsvermittlung kontrollieren, indem sie den Austausch von Angebot und Nachfrage organisierten, sondern von ihnen wurde auch erwartet, dass sie dazu beitrugen, die Zahl der Arbeitsstellen zu erhöhen. Ihre Aufgabe bestand unter anderem darin, Arbeitgeber davon zu überzeugen, Kriegsbeschädigte anzustellen, Spezialbetriebe für Kriegsbeschädigte zu initiieren und darauf zu schauen, dass Fabriken, die Arbeitsstellen für Kriegsbeschädigte anboten, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt behandelt wurden.

III.

Vorbild: Wiener Arbeitsvermittlungsstelle

Die erste Arbeitsvermittlungsstelle für Kriegsbeschädigte war jene in Wien. Sie war nicht nur für die Hauptstadt, sondern für ganz Niederösterreich zuständig und wurde bald zu einem Modell für alle anderen Büros. Die Tatsache, dass der Innenminister höchstpersönlich die Eröffnung durchführte, unterstreicht ihre Bedeutung zusätzlich. Diese Arbeitsvermittlungsstelle für Kriegsbeschädigte in Wien sollte letztlich die einzige wirklich effizient und erfolgreich operierende werden. Büros in anderen Kronländern kamen über das Gründungsstadium oft gar nicht hinaus. Ein Beamter, der vom Innenministerium ausgesandt wurde, um diese Einrichtungen zu inspizieren, fand zum Beispiel das Kärntner Büro noch ein Jahr nach seiner Eröffnung völlig inaktiv vor. In Wien war man so vorge-

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gangen: Die bereits existierende Landesarbeitsnachweisstelle für Niederösterreich10 wurde in die Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide umgewandelt. Diese Stelle betrieb zwei Büros, eines im Stadtzentrum und eines im westlichen Teil Wiens, am Neubaugürtel.11 Letzteres war das eigentliche Vermittlungsbüro. Außerhalb von Wien schlossen sich die Bezirksarmenräte dem Wiener Büro als Bezirksstellen an. Solche Büros auf Bezirksebene gab es außer in Wien/Niederösterreich auch in Galizien, Böhmen und Mähren. In allen anderen Kronländern blieb es jeweils bei einer einzigen – mehr oder weniger gut arbeitenden – Arbeitsvermittlungsstelle auf Landesebene. Beginnend mit Dezember 1915 gab das Wiener Büro im Auftrag des Ministeriums des Innern zweimal wöchentlich den Österreichischen Arbeitsnachweis für Kriegsinvalide heraus. Die Zeitschrift enthielt einen Stellennachweis und einige populär geschriebene Artikel, für Kriegsbeschädigte war sie kostenlos.12 Die Agentur am Neubaugürtel wurde immer wieder zitiert, wenn es darum ging, zu zeigen, wie die Arbeitsvermittlung für Kriegsbeschädigte gedacht war : Die Bürostunden waren werktags von 8.00 Uhr bis 15.00 Uhr. Wenn ein Klient – unabhängig davon, ob Arbeit suchender Kriegsbeschädigter oder Arbeitgeber auf der Suche nach einer Arbeitskraft – eintrat, so stand er zunächst im sogenannten Invalidenwarteraum einem breiten „Vermittlungsschalter“ gegenüber. Hier fand der direkte Kontakt zwischen dem Invaliden und dem Angestellten statt. Arbeitgeber hingegen durchquerten den Raum und nahmen in einem für sie vorbehaltenen Warteraum Platz, der – wenn es notwendig war – auch als Konferenzraum genutzt wurde. Sie teilten sich diesen Raum allerdings mit einer Gruppe von Kriegsbeschädigten, nämlich mit den Offizieren unter den Arbeit Suchenden, denen der gemeinsame Aufenthalt mit den einfachen Soldaten nicht zugemutet wurde. Zwei weitere Räume, das Büro des Geschäftsführers und ein Untersuchungsraum, komplettierten das Büro. Das Wiener Institut war auch das erste Büro, das sich schon 1915 eine offizielle „Dienstvorschrift“ gab.13 Vorrangiger Zweck des Büros – das kann man hier nachlesen – war natürlich die Vermittlung. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte ein Pool von passenden freien Arbeitsstellen geschaffen werden. Wenn irgendwie möglich wollte die Arbeitsvermittlung Invalide in ihr soziales Milieu zurückbringen, am liebsten auch zu jener Art von Beschäftigung, die sie vor ihrem Militärdienst ausgeübt hatten. Wenn ihre Beschädigung das aber nicht erlaubte, 10 Vollständiger Titel: Landesarbeitsnachweisstelle für Niederösterreich (Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Wien und Niederösterreich). 11 K.k. Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide. Landesstelle Wien: I, Stock im Eisenplatz 3; Vermittlungsinstitut: Wien VII, Neubaugürtel 32. 12 K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen, 6/1915, 76. 13 „Dienstvorschrift der ,Amtlichen Landesstelle für Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide‘ in Niederösterreich“, in: K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen, 2/1915, 28.

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versuchte das Büro, einen ähnlichen Arbeitsplatz im selben Industriezweig zu finden. Kriegsbeschädigte in einem ganz anderen Berufsfeld unterzubringen, erschien den Verantwortlichen nicht richtig. Als besonders verpönt galt es, Kriegsbeschädigte, die vom Land stammten, der Landwirtschaft zu entfremden. Der zweite Auftrag des Arbeitsvermittlungsbüros bestand in einem Ausgleich des Arbeitsmarktes für Kriegsbeschädigte zwischen der Hauptstadt und den ländlichen Regionen Niederösterreichs. Drittens war die Agentur verpflichtet, die Zahl der Arbeitsmöglichkeiten für Kriegsbeschädigte zu vergrößern, indem sie die Schaffung neuer Arbeitsstellen anregte, Arbeitgeber motivierte, Kriegsbeschädigte zu beschäftigen, und die Einrichtung eigener Betriebe für Invalide förderte. Als Anreiz wurde den Betrieben die Vergabe staatlicher Aufträge in Aussicht gestellt. Und viertens sollte die Agentur Kriegsbeschädigte mit Unterstützungen versehen, bis sie tatsächlich vermittelt waren und ihren ersten Lohn erhalten hatten. Diese Hilfe, die gewöhnlich in Naturalform und nur in Ausnahmefällen in Geldform geschah, wurde zunehmend – und das ist ein interessanter Aspekt – zur Zentralaufgabe. Ein Budget für diese Unterstützungsleistungen wurde den Arbeitsvermittlungsstellen durch die staatlichen Behörden in Form von staatlichen Zuschüssen bereitgestellt, Geldmittel mussten aber auch durch Spenden aufgebracht werden. Die Hilfe war nur subsidiär gedacht, und Kriegsbeschädigte hatten auf diese Form der Unterstützung keinerlei Rechtsanspruch. Die Aufgabe, Unterstützungen zu verteilen, überschritt ganz augenscheinlich die typischen Zuständigkeiten und Verpflichtungen eines Arbeitsvermittlungsbüros. Ein Papier des Innenministeriums, publiziert 1916, ein Jahr nach der Installierung der Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide, zeigt, dass diese Unterstützungszahlungen an Arbeit suchende Kriegsbeschädigte, die noch auf einen Arbeitsplatz und das erste Gehalt warteten, nicht mehr als letzte Aufgabe der Büros, sondern bereits als zweite genannt wurde.14

IV.

Probleme in der Praxis

Es stellt sich die Frage, ob die österreichische Arbeitsvermittlungsagentur für Kriegsbeschädigte eine erfolgreiche Erfindung war, ob sie effizient war und eine Reichweite hatte, die es erlaubt, von einer wirksamen Einrichtung zu sprechen. Während der Kriegszeit erstellte Statistiken sind außerordentlich ungenau und oft nur Momentaufnahmen. Man ist bei der Beurteilung auf verstreut überlieferte Zahlen und einzelne Berichte angewiesen. Obwohl die meisten Berichte einen optimistischen Eindruck erwecken, sind auch Konflikte und Probleme 14 AT-OeStA/AdR AuS BMfsV Kb, Kt. 1356, 93/1918.

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überliefert. Zudem erlauben die Texte häufig, zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn beispielsweise die Unterbringung eines geringen Prozentsatzes von Arbeit suchenden Kriegsbeschädigten noch 1917 als „achtungsgebietender Anfangserfolg“ bezeichnet wird, so kann man wohl davon ausgehen, dass wir es hier gerade nicht mit einem Erfolg zu tun haben. Selbst hohe Vertreter der Landeskommissionen gaben 1917 zu, dass „[d]ie Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide […] eines der schwierigsten Probleme der Kriegsbeschädigtenfürsorge“15 war. Die auftauchenden Probleme hatten verschiedenste Ursachen. Hauptsächlich entstanden sie aus der spezifischen Klientel: Männer mit physischen – und bisweilen auch psychischen – Beeinträchtigungen konnten offenbar kaum bis gar nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden. Alle, die dazu auch nur irgendwie in der Lage waren, gingen normalerweise zurück zu ihren Familien, in ihre Heimatregionen, ja oft sogar zu ihren früheren Arbeitgebern. Sie lösten das Problem der Reintegration selbstständig und wandten sich erst gar nicht an die Arbeitsvermittlungsbüros. Aber die anderen, denen die Wiedereingliederung – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelang, bildeten – so stellte sich bald heraus – den Kern des Problems. Es waren das Männer in schlimmer körperlicher Verfassung und oft sozial ohne jeden Rückhalt. Verwundungen, Erkrankungen und die Kriegserfahrungen hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie hatten kein Geld, nichts anzuziehen, nichts zu essen und sehr oft nicht einmal einen Platz zum Schlafen. Der Leiter des Wiener Büros stellte Anfang 1918 resigniert fest, dass der Großteil der sich bei ihm einstellenden Kriegsbeschädigten „für eine Arbeitsvermittlung weit weniger als für eine Unterstützung in Betracht kommt“.16 Das Wiener Büro ging daher eine Kooperation mit der Gesellschaft zur Fürsorge für Kriegsinvalide ein.17 Dieser 1914 gegründete private, aber in staatlichem Auftrag arbeitende Verein organisierte Unterkunft, Nahrung und Bekleidung für die Bedürftigen unter den Kriegsbeschädigten. Infolge der Kooperation mit einem Hilfsverein hatte die Arbeitsvermittlung in Wien die Möglichkeit, Kriegsbeschädigte, die für eine sofortige Platzierung auf dem Arbeitsmarkt nicht in Frage kamen, sozusagen weiterzureichen. Auf diese Weise befreite sich die Agentur von ungeliebten Aufgaben, und es war ein Leichtes für sie, den Erfolg des Systems zu „beweisen“. Aber die Wiener Stelle war die einzige, die so arbeiten konnte. Alle anderen Arbeitsvermittlungsbüros mussten mit dem Pro-

15 Sitzungsbericht der Versammlung der Vertreter der Landeskommissionen zur Fürsorge für heimkehrende Krieger am 18. 5. 1917, in: K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen, 23–24/ 1917, 261–300, hier : 293 (Marschner). 16 Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses der k.k. Arbeitsvermittlung/Landesstelle Wien v. 4. 3. 1918, VIII, AT-OeStA/AdR AuS BMfsV Kb, Kt. 1359, 8246/1918. 17 Diese Gesellschaft gab die Zeitschrift für Invalidenschutz heraus.

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blem zurechtkommen, dass ihre kriegsbeschädigten Klienten oft verelendete, erschöpfte, zum Teil auch wütende und enttäuschte Männer waren. Die häufig festgestellte Abneigung der Kriegsbeschädigten gegen alle mehr oder weniger als Zwang empfundenen Vermittlungsversuche machte es ebenfalls nicht gerade einfach, passende Arbeitsstellen zu finden. Hinzu kam außerdem die Tatsache, dass die Büros nur über schwach entwickelte Strukturen und generell wenig Expertise verfügten. Beschwerden über mangelhaft geschultes Personal, das keinerlei praktisches und psychologisches Wissen über das „Invalidenproblem“18 hatte, und Klagen über die fehlende räumliche Separierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von Offizieren und Soldaten innerhalb der Büros (die Wiener Situation war in dieser Hinsicht eine Ausnahme) ziehen sich durch praktisch alle Berichte der Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide an das Ministerium des Innern. Und es gab auch immer wieder die Kritik, dass es keine individuelle Stellenvermittlung gebe und dass Kriegsbeschädigte oft an unpassende Arbeitsstellen vermittelt würden. Freilich waren die Arbeitsvermittlungsbüros auch nicht in der Lage, die Arbeitgeber unter Druck zu setzen. Während des Krieges gab es keinerlei legale Basis, Betriebe auf die Beschäftigung von Kriegsbeschädigten zu verpflichten. Das ganze Projekt war auf den guten Willen der Arbeitgeber angewiesen. Die Arbeitsvermittlung konnte nichts anderes tun, als an die Kooperationsbereitschaft der Gesellschaft, an das soziale Bewusstsein und das patriotische Engagement der Arbeitgeber zu appellieren. Der Appell an diese Gefühle funktionierte am Anfang des Krieges, doch mit seiner zunehmenden Dauer wurde die Zugkraft solcher Parolen und Aufrufe schwächer. Es gab ein weiteres Problem: Der einzelne Invalide brauchte zwar eine Arbeitsstelle, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und die Gesellschaft als Ganzes brauchte eine gelungene Integration der Kriegsbeschädigten, aber der einzelne Arbeitgeber brauchte den Kriegsbeschädigten nicht wirklich. Er griff auf diese Arbeitskräfte nur deshalb zurück, weil voll arbeitsfähige, gesunde Arbeiter (zumindest während des Krieges) nicht verfügbar waren und weil kriegsbeschädigte Männer billiger waren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Beschäftigung der Kriegsbeschädigten zuallererst als „ein Gebot der Menschlichkeit“ angepriesen und als „pflichtmäßige […] Dankabstattung an unsere Vaterlandsverteidiger“19 bezeichnet wurde. Ökonomische Aspekte waren in der Argumentation von nachrangiger Bedeutung: Die Arbeitsvermittlungsstellen für Kriegsbeschädigte konnten ihre Existenz nicht durch die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes rechtfertigen.

18 AT-OeStA/AdR AuS BMfsV Kb, Kt. 1356, 93/1918. 19 K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen, 26–27/1917, 318.

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V.

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Erfolg und Misserfolg in Zahlen

Zurück zur Frage nach dem Erfolg der Maßnahme. Die beschriebene Verlagerung der Aufgaben der Büros, deren erste Aufgabe – die Vermittlung – sich in eine Art umfassende Fürsorge ausweitete, machte offensichtlich, dass die Arbeitsvermittlung für Kriegsbeschädigte, was ihr Konzept betraf, scheiterte. Die Vermittlungsraten unterstreichen das noch. Die am besten arbeitenden Büros waren jene von Wien und Graz. 50 Prozent der hier registrierten arbeitslosen Kriegsbeschädigten konnten mithilfe der Büros eine Arbeitsstelle finden. In Böhmen wurden nur 20 bis 35 Prozent der Kriegsbeschädigten, die sich an die Agenturen wandten, vermittelt. Und die niedrigsten Vermittlungsraten hatte das Büro in Ljubljana mit nur 5 bis 10 Prozent. Obwohl die Behörden den Kollaps ihrer Ideen nicht eingestehen wollten, mussten sie doch zugeben, dass diese Raten weit unter jenen lagen, die während des Krieges von Büros gemeldet wurden, die sich nicht auf die Vermittlung der Kriegsbeschädigten spezialisiert hatten. Sehr enttäuschend für die Verantwortlichen war zudem das Faktum, dass im Durchschnitt 80 Prozent der Kriegsbeschädigten, für die eine Arbeitsstelle gefunden werden konnte, dieselbe innerhalb eines Jahres wieder verlassen hatten. Ganz offensichtlich war die individuelle Stellensuche für Kriegsbeschädigte weit effektiver als die Platzierung durch die Behörde. Persönliche Beziehungen und gegenseitige Verpflichtungen spielten eine wichtige Rolle in diesem Prozess. Die Aktivitäten der Agenturen konnten diese Faktoren kaum ersetzen. An dieser Stelle sei Wilhelm Exner, der Gründer des Technischen Museums in Wien (1908), zitiert, der auch viele andere Funktionen innehatte:20 Er war Ehrenpräsident der bereits genannten Gesellschaft zur Fürsorge für Kriegsinvalide, Vorsitzender einer weiteren einflussreichen Vereinigung in diesem Sektor, des Vereins „Die Technik für die Kriegsinvaliden“, Mitglied des Beirats der Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide und Abgeordneter zum Herrenhaus des Reichsrats. In dieser zuletzt genannten Eigenschaft kritisierte er die Organisationsstruktur der Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide und beanstandete, dass „diese ganze Institution […] eigentlich nur aus einer Kartothek und Zuschiebung von Invaliden von einem Ort zum anderen mit Hilfe von Korrespondenzkarten u. dgl.“ bestehe.21 Das war im Frühjahr 1918. Acht Monate nach diesem 20 Obwohl Exner während des Krieges als Ingenieur mehr an den technischen Aspekten der Prothetik für Kriegsbeschädigte interessiert war, zeigte er nach dem Krieg Engagement bei der sozialen Lösung der Kriegsfolgen; vgl. Wilhelm Exner, Über die technische Invalidenfürsorge, Sonderabdruck aus der Wiener Medizinischen Wochenschrift, 1915; Wilhelm Exner (Hg.), 10 Jahre Wiederaufbau. Die staatliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Republik Österreich 1918–1928, Wien 1928. 21 Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses der k.k. Arbeitsvermittlung/Landesstelle Wien v. 4. 3. 1918, II, AT-OeStA/AdR AuS BMfsV Kb, Kt. 1359, 8246/1918.

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vernichtenden Urteil war der Krieg vorbei und mit ihm auch das Konzept der patriotischen Arbeitsvermittlung für Kriegsbeschädigte. Die ambitionierten Ideen der Reintegration waren nun mit der Nachkriegsrealität konfrontiert.22 Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Arbeitsvermittlung für Kriegsbeschädigte während des Ersten Weltkrieges entweder unnötig war, weil es dem Kriegsbeschädigten gelang, selbst einen Arbeitsplatz zu finden, oder aber relativ erfolglos war, weil der Kriegsbeschädigte wegen des Grades seiner Behinderung und seines allgemeinen Zustandes gar nicht in der Lage war, zu arbeiten. Die Büros der Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide bildeten – das zeigte sich jetzt nach dem Krieg – ein Zwischenspiel auf dem Weg zur Entwicklung genereller Arbeitsvermittlungsstellen. Sie sind als erster Versuch zu werten, eine das ganze Land umfassende Vermittlungsbehörde zu installieren, und sie gingen in dieser Hinsicht der 1917 eingerichteten Reichsstelle für Arbeitsvermittlung voran. Kriegsbeschädigte waren natürlich nicht der Grund, warum die Arbeitsvermittlung erfunden wurde, aber das erste Mal wurden im Zusammenhang mit den für sie getroffenen Versorgungsmaßnahmen alle Anstrengungen in diesem Feld gebündelt. Die Episode der beschriebenen Arbeitsvermittlung an Kriegsinvalide kann als Beispiel des staatlichen Engagements in neuen Feldern betrachtet werden.

VI.

Von der Arbeitsvermittlung zum Invalidenbeschäftigungsgesetz

In der Zeit nach dem Krieg war es um eine auf die Bedürfnisse der Kriegsinvaliden zugeschnittene Arbeitsvermittlung still geworden. Weder die Vertreter der Behörden noch jene der Kriegsbeschädigten versuchten, dieses Konzept weiterzuentwickeln. Stattdessen arbeiteten sowohl die Regierung als auch der Zentralverband, die wichtigste Vertretungsorganisation für Kriegsbeschädigte nach dem Krieg, an der Umsetzung dessen, was damals „Zwangseinstellungsgesetz“ genannt wurde. Dieses Gesetz beabsichtigte, Arbeitgeber auf die Einstellung eines bestimmten Prozentsatzes von kriegsbeschädigten Arbeitnehmern zu verpflichten. Die Idee eines solchen Gesetzes war nicht neu. Das Ministerium für soziale Fürsorge hatte daran schon lange, praktisch seit seiner Gründung Anfang 1918, gearbeitet. Es wusste schon damals, dass es nach dem Krieg, bei der dann großen Zahl demobilisierter gesunder Soldaten kaum mehr möglich sein würde, Kriegsbeschädigte ohne entsprechende legistische Unterstützung mit den not22 Internationales Arbeitsamt (Hg.), Internationales Arbeitsamt. Studien und Berichte, Reihe E: Beschädigte, Genf 1921–1924.

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wendigen Arbeitsstellen zu versorgen. Der Widerstand der Arbeitgeberorganisationen gegen dieses Ansinnen war groß, und auch innerhalb der Regierung herrschte Uneinigkeit darüber, inwieweit der Staat das Recht haben sollte, in dieser Weise in die Wirtschaft einzugreifen. Die Arbeitgeber argumentierten, dass nicht sie, sondern der Staat entschieden hatte, die Männer in den Krieg zu schicken, und daher der Staat die Verantwortung für diese Entscheidung übernehmen müsse. Die Diskussion über das Ausmaß der staatlichen Verantwortung kann als Beginn eines generell neuen Verhältnisses zwischen Staat und Staatsbürger betrachtet werden. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkrieges bilden wahrscheinlich auch die erste Gruppe, die in der Lage war, Forderungen an den Staat zu stellen, die nicht so leicht ignoriert werden konnten. Das neue Verhältnis wurde faktisch bereits 1868 etabliert, als die Monarchie die Allgemeine Wehrpflicht einführte.23 Aber vor dem Ersten Weltkrieg hatte niemand über die Konsequenzen dieses Gesetzes für die Beziehung zwischen Staat und Staatsbürger nachgedacht. Es war der frühere Erziehungsminister Gustav Marchet,24 der diese Beziehung als Erster formulierte. Was er in einer kleinen Broschüre25 1915 beschrieb, kann mit dem Begriff „Pflichtendreieck“ kurz zusammengefasst werden. Dieses Triangel war durch die Allgemeine Wehrpflicht geschaffen worden. Seine beiden ersten Eckpunkte waren offensichtlich: Es waren das die Wehrpflicht sowie die staatliche Verpflichtung, sich jener anzunehmen, die in Ausübung ihrer Wehrpflicht verwundet oder anders beschädigt wurden. Hinzu kam aber als dritter Eckpunkt eine – moralisch definierte – „Arbeitspflicht“ (bzw. Arbeitsbereitschaft) der Kriegsbeschädigten, die es erst erlaubte, die Ex-Soldaten in erfolgreich beschäftigte Zivilisten umzuwandeln, und in der Verfolgung dieses Zieles trafen sich die Anstrengungen der Arbeitsvermittlung während des Krieges und Grundsätze des Zwangseinstellungsgesetzes nach dem Krieg. Dieses Gesetz machte jedoch deutlich, dass ein System, das auf der Kombination von Einkommen (aus eigener Arbeitsleistung erwirtschaftet) und Rente (auf dem 23 RGBl Nr. 151/1868, Gesetz vom 5. Dezember 1868, womit für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht geregelt wird. Vgl. Christa Hämmerle, Die k. (u.) k. Armee als ,Schule des Volkes‘? Zur Geschichte der Allgemeinen Wehrpflicht in der multinationalen Habsburgermonarchie (1866–1914/18), in: Christian Jansen (Hg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004, 175–213. 24 Gustav Marchet, 1846–1916, Jurist, 1901–1907 Mitglied des Reichsrats, 1906–1908 Erziehungsminister, ab 1908 Mitglied des Herrenhauses, spielte eine wichtige Rolle bei der Schaffung des Gesetzes vom 16. 12. 1906 betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten (RGBl Nr. 1/1907); Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 6, Wien 1975, 70. 25 Gustav Marchet, Die Versorgung der Kriegsinvaliden und ihrer Hinterbliebenen, Warnsdorf i.B. 1915.

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Prinzip der MdE aufbauend und daher gewissermaßen „ergänzend“) beruhte, nicht funktionieren konnte, wenn nicht auch die Arbeitgeber in die Pflicht genommen wurden. Trotz vielfachen Widerstandes passierte das Gesetz das österreichische Parlament schließlich und wurde am 1. Oktober 1920 als sogenanntes Invalidenbeschäftigungsgesetz26 – der Begriff „Zwang“ war eliminiert worden – erlassen. Es sah vor, dass jeder Betrieb mit wenigstens 20 Beschäftigten einen Kriegsbeschädigten anstellen musste und für je 25 weitere Beschäftigte einen weiteren mit einer mindestens 35-prozentigen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die ersten verlässlichen Zahlen über den Effekt dieser Maßnahme stammen aus 1927. Folgt man dieser Statistik, so wurden gerade einmal zwei Prozent jener Kriegsbeschädigten, die eine staatliche Invalidenrente erhielten, auf Basis dieses Gesetzes beschäftigt. Freilich hieß das im Umkehrschluss nicht, dass 98 Prozent der anerkannten Kriegsbeschädigten arbeitslos waren, doch die Arbeitslosigkeit unter Kriegsbeschädigten blieb höher als unter den übrigen Erwerbsfähigen. Die Arbeitsvermittlung an Kriegsbeschädigte war, wie ausgeführt, entweder nicht notwendig gewesen, weil die kriegsbeschädigten Männer in der Lage waren, selbst eine neue Arbeitsstelle zu finden, oder sie musste erfolglos bleiben, weil der kriegsbeschädigte Ex-Soldat wegen des Grads seiner Beschädigung gar nicht in der Lage war zu arbeiten. Bis zu einem bestimmten Ausmaß blieb dieses Problem auch nach dem Inkrafttreten des Invalidenbeschäftigungsgesetzes bestehen, trotzdem war die vorherrschende Meinung die, dass die Integration von Kriegsbeschädigen in den Arbeitsmarkt durch gewöhnliche Arbeitsvermittlung gescheitert war. Der Wandel hin zu einer gesetzlichen Verpflichtung für Arbeitgeber, eine bestimmte Anzahl von Kriegsbeschädigten einzustellen, war ein Ergebnis dieser Einsicht. Jedenfalls entstand als Folge dieses Gesetzes gewissermaßen ein zweiter, nur für eine bestimmte, gesetzlich definierte Gruppe von Beschäftigten zugänglicher Arbeitsmarkt. Auf lange Sicht gesehen war das Invalidenbeschäftigungsgesetz auch deshalb richtungweisend, weil es zum Modell für die österreichische Gesetzgebung zur Einstellung von Behinderten wurde und die Basis für das noch heute gültige Behinderteneinstellungsgesetz legte.

26 StGBl Nr. 459/1920, Gesetz vom 1. Oktober 1920 über die Einstellung und Beschäftigung Kriegsbeschädigter (Invalidenbeschäftigungsgesetz).

Mathias Krempl

Zäsuren der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung 1917–1957

Einleitung Ausgangspunkt für diesen Beitrag bildet die Entstehung der Arbeitsmarktverwaltung als neuer Verwaltungszweig. Es wird in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass sich Konturen für eine solche erstmals 1917 abzeichneten, womit dieses Jahr den Beginn der zeitlichen Eingrenzung kennzeichnet.1 Im Jahr 1957 wurde schließlich mit der Nationalsozialistenamnestie2 den arbeitsmarktbehördlichen Zuständigkeiten im Bereich der Entnazifizierung ein formales Ende bereitet. Im Übrigen erfolgte kurz danach eine lang anhaltende Phase der Vollbeschäftigung,3 einhergehend mit dem Einsetzen größerer Ausländerbeschäftigung ab den 1960er Jahren. Vor diesem Hintergrund erschien das Stichjahr 1957 für die Begrenzung des Betrachtungszeitraums am geeignetsten. Die Untersuchung verfolgt folgende Fragestellung: Welche waren die zentralen organisatorischen und materiellen Umbrüche der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung im Bereich der Arbeitsvermittlung seit dem Entstehen des Verwaltungszweiges bis zur Nationalsozialistenamnestie4 in der Zweiten Republik? Der Beitrag wird dabei von folgender These geleitet: Die Arbeitsmarktbehörden waren im Betrachtungszeitraum nicht nur mit Aufgaben betraut, die in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit den Arbeitsmarktfragen standen. Vielmehr wurden sie sowohl in den Zeiten der Diktatur als auch danach 1 Allgemein zur kritischen Einschätzung der Fokussierung auf Zäsuren siehe etwa Manfried Rauchensteiner, Das Jahrzehnt der Besatzung als Epoche in der österreichischen Geschichte, in: Alfred Ableitinger/Siegfried Beer/Eduard G. Staudinger (Hg.), Österreich unter alliierter Besatzung: 1945–1955, Wien-Köln-Graz 1998, 15–39, 18–20. 2 Bundesgesetzblatt (BGBl) 82/1957. 3 Unter Vollbeschäftigung ist generell eine Arbeitslosenrate in Höhe von unter vier Prozent zu verstehen (Karl Schmidt, Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung von ihren Anfängen an, Salzburg o. J., 39; Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, Nürnberg 2003, 14). 4 BGBl 82/1957.

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für grundsätzlich arbeitsmarktfremde Ziele funktionalisiert – und zwar für die Schaffung beziehungsweise die Beseitigung autoritärer Staatsstrukturen. Insofern wird eine politische Instrumentalisierung angenommen. Zur Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes wird festgehalten, dass verwandte Themen wie insbesondere die Arbeitslosenversicherung und die Ausländerbeschäftigung nicht im Zentrum der Betrachtung stehen. Eine wichtige Grundlage zum gegenständlichen Thema ist eine umfassende Studie des Autors,5 die weiterführende Informationen zu den einzelnen Themenbereichen enthält; eine weitere Untersuchung fokussiert auf die Ebene des Behördenpersonals.6 Eine ältere Monografie behandelt die Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung bis in die 1990er Jahre,7 eine rezente Dissertation mit soziologischem Schwerpunkt vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1938.8 Der Forschungsstand zur Zwangsarbeit auf dem Gebiet des heutigen Österreich9 ist relativ reichhaltig, wobei in diesem Zusammenhang vor allem einige empirische Fallstudien zu einzelnen Branchen (Elektrizitätswirtschaft,10 Land- und Forstwirtschaft,11 Industrie12) beziehungsweise Unternehmen (Reichswerke AG „Hermann Göring“,13 Teerag Asdag AG,14 Reichsforste15), zur jüdischen Skla5 Mathias Krempl, Arbeitsamt und Staatsgewalt. Arbeitsmarktbehördliche Organisation und Sachfragen im politischen Wandel, in: Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis, Wien 2015, 13–274. Diese Studie war eine wichtige Grundlage für die Dissertation des Autors, Das Recht der Arbeitsmarktverwaltung 1917–1957. Organisationsstrukturen und Sachfragen im Wandel der politischen Systeme Österreichs, rechtswiss Diss, Wien 2017. 6 Johannes Thaler, Eliten der Arbeitsmarktverwaltung. Fallstudien und Statistiken zur Frage der politischen Kontinuität, in: Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis, Wien 2015, 275–329. 7 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung. 8 Irina Vana, Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung. Österreich 1889–1938, geisteswiss Diss, Wien 2013. 9 Eine außereuropäische Perspektive findet sich etwa bei Kerstin von Lingen/Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien (Krieg in der Geschichte 77), Paderborn 2014. 10 Oliver Rathkolb/Florian Freund (Hg.), NS-Zwangsarbeit in der Elektrizitätswirtschaft der „Ostmark“ 1938–1945. Ennskraftwerke – Kaprun – Draukraftwerke – Ybbs-Persenbeug – Ernsthofen, Wien-Köln-Weimar 2002. 11 Stefan Karner/Peter Ruggenthaler (Hg.), Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939 bis 1945 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 26/2), Wien-München 2004. 12 Reinhard Engel/Joana Radzyner, Sklavenarbeit unterm Hakenkreuz. Die verdrängte Geschichte der österreichischen Industrie, Wien-München 1999. 13 Oliver Rathkolb (Hg.), NS-Zwangsarbeit. Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938–1945, Wien-Köln-Weimar 2001. Die Untersuchung enthält im Beitrag Michaela C. Schober, ZwangsarbeiterInnen der Reichswerke Hermann Göring am Standort Linz – Statistikbericht unter Berücksichtigung der deutschen Staatsangehörigkeit, in: Oliver Rathkolb (Hg.), NS-Zwangsarbeit. Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938–1945, Bd 1, Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und

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venarbeit16 sowie zu den ausländischen ZwangsarbeiterInnen17 zu erwähnen sind. Zwei Standardwerke decken den Überblick zur Entnazifizierung ab.18 Die in diesem Beitrag verwendeten Quellenbestände finden sich im Archiv des Arbeitsmarktservice Niederösterreich/Landesgeschäftsstelle (AMS NÖ/LGSt), im Bundesarchiv/Deutsches Reich (BArch/R), im Oberösterreichischen Landesarchiv (OÖLA) sowie im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA).19

I.

Die Entstehung der Arbeitsmarktverwaltung: Monarchie – Erste Republik – Austrofaschismus

Die große Konstante im Bereich der Arbeitsvermittlung in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg bildeten die gewerblichen ArbeitsvermittlerInnen, welche diese Aufgabe seit dem Mittelalter auf privatwirtschaftlicher Basis betrieben.20 Erste behördliche Vermittlungseinrichtungen vor 1917 stellten das Wiener Dienstbotenamt sowie diverse städtische Ämter dar. Bezeichnend für die historische

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wirtschaftshistorische Studien, Wien-Köln-Weimar 2001, 147–286, einen umfassenden Statistikbericht zu verschiedenen Aspekten wie Bestrafung oder Unterbringung. Stefan Lütgenau/Alexander Schröck, Zwangsarbeit in der österreichischen Bauindustrie. Die Teerag-Asdag AG 1938–1945, Innsbruck-Wien-München 2001. Oliver Rathkolb/Maria Wirth/Michael Wladika (Hg.), Die „Reichsforste“ in Österreich 1938–1945, Wien-Köln-Weimar 2010. Wolf Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung. Österreichische Juden im NS-Staat 1938–1945 (Nationalsozialismus und seine Folgen 1), Innsbruck-Wien-München 2000; Dieter Maier, Arbeitseinsatz und Deportation. Die Mitwirkung der Arbeitsverwaltung bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung in den Jahren 1938–1945 (Publikationen der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz 4), Berlin 1994. Florian Freund/Bertrand Perz/Mark Spoerer (Hg.), Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 26/1), Wien-München 2004. Die Studie enthält eine umfassende statistische Auswertung insbesondere der branchenmäßigen und regionalen Verteilung der Zwangsarbeiter. Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien-München-Zürich 1981; Walter Schuster/ Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004. Eine einschlägige rechtshistorische Studie behandelt zwar die Entnazifizierung, geht aber nicht auf die Rolle der Arbeitsmarktbehörden ein (Armin Schlegel, Die österreichische Wiedergutmachungs- und Entschädigungsgesetzgebung und -vollziehung nach 1945 im Vergleich der unterschiedlichen Opfergruppen unter besonderer Berücksichtigung der Angehörigen der slowenischsprachigen Minderheit in Kärnten, rechtswiss Diss, Wien 2009, 102–114). Ausführlicher zu den gegenständlichen Quellenbeständen sowie zu weiteren Archiven siehe Krempl, Arbeitsamt, 17–18. Hans Hülber, Arbeitsnachweise, Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktgeschehen in Österreich in vorindustrieller Zeit unter besonderer Berücksichtigung Wiens. Eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studie, in: Verein für Geschichte der Stadt Wien (Hg.), Wiener Geschichtsblätter, Sonderheft 1, 30. Jahrgang (1975) 15.

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Ausgangslage für die Schaffung einer staatlichen Arbeitsmarktverwaltung21 war, dass sich schließlich im ausgehenden 19. Jahrhundert auf der Ebene des politischen Diskurses die Idee eines zentralstaatlich getragenen Vermittlungswesen abzuheben begann, ohne dass jedoch zunächst eine tatsächliche Umsetzung der Pläne erfolgte; erst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden auf dem Gebiet des heutigen Österreich mit den „Erntekommissionen“22 (Ackerbauministerium) und den „Fürsorgeausschüssen“ im Rahmen der Invalidenvermittlung23 (Innenressort) konkrete Schritt zur Etablierung eines zwar auf bestimmte Gruppen von Arbeitskräften beschränkten, aber immerhin flächendeckenden zentralstaatlichen Vermittlungswesens gesetzt. Eine moderne, staatlich geleitete Arbeitsmarktverwaltung wurde noch während des Ersten Weltkriegs entworfen und in der ersten Dekade der Ersten Republik weiterentwickelt. Der wichtigste Auslöser für ihre Entstehung war der mit der Demobilisierung verbundene Andrang auf den heimischen Arbeitsmarkt.24 Auf der Grundlage des „Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes“25 vom 24. 7. 1917 erließ der Minister des Innern, Friedrich von Toggenburg, die Kriegswirtschaftsverordnung26 vom 24. 12. 1917. Diese wird insofern als „die eigentliche Geburtsstunde der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung“27 betrachtet, als mit ihr der Grundstein für die Ablösung dezentraler Stellen (wie Gewerbegenossenschaften28 und gewerbliche StellenvermittlerInnen, die oftmals zu überhöhten Tarifen vermittelten29) durch einen zentralisierten Behördenapparat gelegt wurde. Im Oktober 1917 erfolgte unter der Ägide Kaiser 21 22 23 24 25

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Dazu im Überblick bei Krempl, Arbeitsamt, 25–32. Vana, Arbeitsvermittlung, 83–86. Ebd, 86–89. Bettina Heise, Vom k.k. Ministerium für soziale Fürsorge zum Bundesministerium für soziale Verwaltung, geisteswiss Dipl, Wien 1995, 28. „Reichsgesetzblatt für die im Reichsrath vertretenen Königreiche und Länder“ (österreichisches Reichsgesetzblatt, öRGBl) 307/1917. Zu diesem Gesetz näher bei Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie, Wien 1975, 154; Robert Walter/Heinz Mayer/Gabiele KucskoStadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts (Manzsche Kurzlehrbuchreihe), Wien 102007, 31; Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, Wien 112009, 232. „Verordnung […] betreffend die Regelung der Arbeitsvermittlung für die Dauer der durch den Krieg verursachten außerordentlichen Verhältnisse“ (öRGBl 509/1917, fortan Arbeitsvermittlungsverordnung, AVVO). Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 65; in diesem Sinne auch Vana, Arbeitsvermittlung, 91 und 83, mit weiteren Literaturnachweisen. Zu ersten staatlichen Arbeitsvermittlungsstrukturen in Großbritannien 1909 siehe David Price, Office of Hope: A History of the Public Employment Service in Great Britain, London 2000, 19, und Timo Weishaupt, Social Partners and the Governance of Public Employment Services: Trends and Experiences from Western Europe, Genf 2011, 10. Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 17, 28–29. Ebd, 25; Hülber, Arbeitsvermittlung, 23 und 28.

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Karls I. die Errichtung des Ministeriums für soziale Fürsorge – des ersten Sozialministeriums30 – durch Ausgliederung etlicher Agenden aus dem Ministerium des Innern.31 Darunter fiel auch der Kompetenztatbestand der Arbeitsmarktverwaltung.32 Ferdinand Hanusch,33 „Staatssekretär für soziale Fürsorge“,34 ordnete im November 1918 die Errichtung von „Industriellen Bezirkskommissionen“35 (IBK) in den acht Bundesländern an; die IBK können als Vorgängerinstitutionen der späteren Landesarbeitsämter bezeichnet werden. Diese errichteten ihrerseits auf Bezirksebene in den politischen Bezirken sukzessive staatliche „Arbeitsnachweise“36 als Schnittstellen zwischen ArbeitnehmerInnen und -geberInnen. Der gesamte Behördenapparat war von Beginn der Ersten Republik an bis zu deren Ende in den beiden unteren Instanzen vom Paritätsprinzip geleitet, das besagte, dass die Organe sowohl mit OrganwalterInnen von Arbeitgeber- als auch von Arbeitnehmerseite besetzt wurden.37 Dieses behördliche Strukturelement war in der Form von Überwachungsfunktionen in Bezug auf die Tätigkeit der öffentlichen Arbeitsnachweise bereits in der AVVO38 angelegt. Das Paritätsprinzip war – ab dem Dollfuß/Schuschnigg-Regime nur noch bruchstückhaft – bis zur Zeit des NS in Österreich und auch danach ein dauerhaftes Merkmal des inneren Aufbaus der Arbeitsmarktbehörden. 30 Carl Gutheil-Knopp-Kirchwald, Vom K.K.Ministerium für soziale Fürsorge zum Bundesministerium für soziale Verwaltung. Die Errichtung des Österreichischen Sozialministeriums, Wien 1998, 17. 31 öRGBl 504/1917; Guenther Steiner, Sozialversicherung unter dem Primat der Wirtschaft. Sozialminister Josef Resch und die österreichische Sozialversicherung 1918–1938, Wien 2014, 34–35; Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 66. 32 öRGBl 504/1917; Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 66. 33 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 65; ohne Autor, Die industrielle Bezirkskommission Wien, Landesbehörde für Arbeitsvermittlung, und ihre Arbeitsämter, Wien o. J., 5. 34 So gemäß § 11 des „Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“ (Staatsgesetzblatt, StGBl, 1/1918) vom 15. 11. 1918 die Bezeichnung für den „Vorsteher“ (lex citata) des „Staatsamtes für soziale Fürsorge“ (§ 13 legis citatae, leg cit). 35 StGBl 18/1918; Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 65; o. A., industrielle Bezirkskommission Wien, 5; Herbert Hofmeister, Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in Österreich, insbesondere 1918 bis 1938, in: Hans-Peter Benöhr (Hg.), Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts), Tübingen 1991, 217–236, 224; Vana, Arbeitsvermittlung, 99. 36 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 65. 37 Krempl, Arbeitsamt, 45, 48; Hofmeister, Arbeitsvermittlung, 224; Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 73; Adolf Haberler, Der Weg zum öffentlichen paritätischen Arbeitsnachweis für das Baugewerbe, in: ohne Herausgeber, Das neue Arbeitsamt für das Baugewerbe, ohne Ort und Jahr 21–23, 22; allgemein zu den Grundsätzen im Bereich der Arbeitsvermittlung siehe Krempl, Arbeitsamt, 44–45 (Zwischenkriegszeit), 103–104 (Nationalsozialismus, NS) und 179 (Zweite Republik). 38 § 2 Ziffer 3.

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Über die Entwicklungen bezüglich des Behördenpersonals auch in der Zwischenkriegszeit hat Thaler ausführlich berichtet.39 An dieser Stelle sei lediglich betont, dass das Sozialressort in der gesamten Zwischenkriegszeit hinsichtlich seiner parteipolitischen Ausrichtung gegenüber der Zweiten Republik einen markanten Unterschied aufwies. Denn es wurde – abgesehen von Ferdinand Hanusch (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) und Hugo Jury (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, NSDAP) – durchwegs von Ministern der Christlichsozialen Partei beziehungsweise der Vaterländischen Front (VF) geleitet. Das Arbeitslosenversicherungsgesetz40 (AlVG) vom 24. 3. 1920 führte nicht nur die Arbeitslosenversicherungspflicht ein; es bildete bis zum Inkrafttreten des „Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes“ von 1935 eine wichtige Rechtsgrundlage vor allem für die Festlegung der Arbeitslosen als primäre Zielgruppe zur Vermittlung durch die Arbeitsämter wie auch für den Aufbau der Arbeitsmarktbehörden. Nach der Errichtung der organisatorischen Grundstrukturen stellte sich auch die Frage nach der rechtlichen Einordnung der Unterinstanzen in das Gefüge des Bundes-Verfassungsgesetzes.41 Im Ergebnis wurden die Arbeitsmarktbehörden als Behörden der unmittelbaren Bundesverwaltung eingestuft.42 Neben solchen theoretischen Abgrenzungsfragen spielten in dieser frühen Zeit auch handfeste Konsolidierungsprobleme eine Rolle, weil es in den ersten Jahren der jungen Republik galt, den Tätigkeitsbereich der Vermittlung gegenüber anderen Ressorts zu behaupten. Es bestehen archivarische Hinweise, dass es auch außerhalb des Sozialressorts – vor allem von Heeresseite43 – Versuche gab, ein zentralstaatlich geführtes Vermittlungswesen aufzuziehen. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs machten nicht nur die Notwendigkeit der Errichtung eines spezialisierten, zentralstaatlichen Behördenapparats im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung notwendig; vielmehr machten sie auch die vordringliche Aufgabe der österreichischen Regierung deutlich, umfassende Fürsorgemaßnahmen für die vielen tausenden „Kriegsversehrten“44 zu treffen. Kubat beziffert die „Zahl der Kriegsbeschädigten [in Deutschösterreich nach 39 Zu Fallbeispielen aus dem Austrofaschismus etwa Thaler, Eliten, 290–294. 40 StGBl 153/1920; zu dessen Zustandekommen im Überblick Mathias Krempl, Die Genese des Arbeitslosenversicherungsgesetztes aus dem Jahr 1920 – Eine „Vogel-Strauß-Politik“?, in: DRDA 2 (2017) 146–151. 41 BGBl 1/1920. 42 Krempl, Arbeitsamt, 54, mit weiteren Nachweisen. 43 Ebd, 60–63. 44 „Von insgesamt mehr als acht Millionen k.u.k. Soldaten starben mehr als eine Million, fast zwei Millionen wurden verwundet; 1,7 Millionen waren in Kriegsgefangenschaft geraten (von ihnen starben nochmals 480.000)“, (Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, München 22001, 364).

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dem Ersten Weltkrieg] mit ca. 100.000“.45 Grundlage zur bevorzugten Unterbringung von „Kriegsversehrten“ auf dem österreichischen Arbeitsmarkt46 war das „Invalidenbeschäftigungsgesetz“47 (IBG). Das IBG lehnte sich in seiner Systematik grob an sein deutsches Pendant an;48 es zielte auf die systematische Wiedereingliederung von „Kriegsversehrten“ mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 45 Prozent in das Berufsleben ab.49 Das Gesetz sah vor, dass „[g]ewerbliche Betriebe aller Art, Bergwerksbetriebe und Betriebe der staatlichen Monopolverwaltung,50 ferner land- und forstwirtschaftliche sowie alle sonst auf Gewinn berechneten Betriebe“ verpflichtet waren, auf 20 ArbeitnehmerInnen mindestens einen „Kriegsbeschädigten“ mit „Einstellungsschein“51 und auf je weitere 25 ArbeitnehmerInnen zusätzlich je einen Begünstigten aufzunehmen („Pflichtzahl“52); für Unternehmen mit mehreren Betriebsstätten galt, dass „die örtlich zusammenhängenden und einer gemeinsamen Leitung unterstehenden gleichartigen Betriebe desselben Arbeitgebers zusammengefasst“53 wurden. Die Idee einer Pflichtzahl als Arbeitsmarktregulativ war in Österreich schon aus einer „Vollzugsanweisung“54 aus dem Jahr 1919 bekannt,55 45 Johann Kubat, Die Invalidenentschädigung von 1919 bis 1918, in: Bundesministerium für soziale Verwaltung/Zentralorganisation der Kriegsopferverbände (Hg.), 60 Jahre Kriegsopferversorgung in Österreich, Wien 1979, 15–19, 15. 46 665 BlgNR, XVII. GP, AsVB, 1. Dieser Ausschussbericht aus 1988 anlässlich eines Initiativantrags zur Novelle des „Invalideneinstellungsgesetz“ (dazu am Ende dieses Beitrags) behandelt relativ ausführlich die Entstehungsgeschichte des IBG. 47 StGBl 459/1920. Richard Pacher, Das Invalidenentschädigungsgesetz und das Invalidenbeschäftigungsgesetz samt kurzen Erläuterungen, Graz 1925, verzichtet leider – im Widerspruch zum vielversprechenden Titel der Zusammenstellung – in Bezug auf das IBG auf eine Kommentierung im herkömmlichen Sinn und verweist lediglich vereinzelt auf arbeitsmarktbehördlich unwesentliche Materien wie die Bundesregierungs-Verordnung BGBl 308/ 1923 zur Zentralisierung der Finanzprokuratur im Zusammenhang mit der Verwaltung des Ausgleichtstaxe-Aufkommens (Pacher, Invalidenbeschäftigungsgesetz, 100). Das IBG wurde in den Dimensionen seiner Entstehung und Anwendung zuletzt umfassend dargestellt bei Verena Pawlowsky/Harald Wendelin, Die Wunden des Staates. Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938, Wien-Köln-Weimar 2015, 414–429. 48 „Verordnung über Beschäftigung Schwerbeschädigter“ (RGBl 1919 S 28). 49 Ilse Reiter-Zatloukal, Joseph Roths „Rebellion“ aus rechtshistorischer Perspektive, in: Lughofer, Johann (Hg.), Im Prisma. Joseph Roths Romane, Wien 2009, 51–74, 55. 50 Unter letztere fielen nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs etwa auch Betriebe wie jene der Österreichischen Bundesbahnen (VwSlg 14.349 A/1926). 51 §§ 13–14. Der „Einstellungsschein“ begründete für sich alleine weder den Anspruch der Arbeitskraft auf Begünstigung, noch bildete er die formelle Voraussetzung für die Begründung der Einstellungspflicht; vielmehr hatte der „Einstellungsschein“ Indizwirkung und es war das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen maßgeblich (VfSlg 179/1923). 52 § 1 Absatz (Abs) 1 IBG. 53 § 3 Abs 1 leg cit. Zu den örtlich zusammenhängenden Betrieben im Handel siehe etwa VwSlg 15.326 A/1928, wo eine Streuung von Verkaufsbüro und Lager innerhalb Wiens nicht als Hindernis gewertet wurde. 54 „Vollzugsanweisung des Staatsamtes für soziale Verwaltung über die Einstellung von Ar-

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welche GewerbeinhaberInnen mit „wenigstens 15 Arbeiter[n] oder 15 Angestellte[n]“56 verpflichtete, um ein Fünftel mehr Arbeitskräfte einzustellen. Nach dem Inkrafttreten des IBG musste das BMsV feststellen, dass es keinen zufriedenstellenden Überblick über die Anwendungspraxis hatte. 1921 wies es deshalb die IBK an, diesbezügliche Berichte zu liefern.57 Für Vorarlberg etwa ist bekannt, dass zwischen Mai und November 1921 43 „Kriegsbeschädigte“ vermittelt wurden.58 Diese IBK-Berichte offenbarten besonders auch, dass es oftmals zu keinem Arbeitsverhältnis kam und insofern der Gesetzeszweck nur bedingt erfüllt wurde. Ein Blick in die Praxis der IBG-Agenden der Arbeitslosenämter zeigt außerdem, dass die fehlende gesetzliche Normierung einer bevorzugten Vermittlung von den Arbeitsmarktbehörden als Manko empfunden wurde. Im Verwaltungsweg ergingen daher Weisungen zur Etablierung einer bevorzugten Vermittlung. So ordnete die IBK Innsbruck Anfang März 1927 an, „der Vermittlung kriegsbeschädigter Arbeitsloser auch über die Bestimmungen des Invalidenbeschäftigungsgesetzes hinaus besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und diese Kriegsbeschädigten besonders bei Vergebung leichterer Arbeitsstellen nach Tunlichkeit zu berücksichtigen.“59 Dass beim IBG in erster Linie auf die Eingliederung von Männern abgestellt wurde, lag in der Natur der Sache. Augenfällig ist die männliche Domäne aber auch abseits der Versorgung abgerüsteter Soldaten mit einem Arbeitsplatz. So ist etwa ein Erlass des Staatsamts für soziale Fürsorge überliefert, wonach die öffentlichen Arbeitsnachweise darauf hinzuwirken hatten, „daß von den zahlreichen Frauen, die in der Kriegsindustrie reichlichen Arbeitsverdienst fanden, ein möglichst großer Teil in die Hauswirtschaft zurückkehre.“60 Diese Wiederherstellung der sozioökonomischen Verhältnisse aus der Vorkriegszeit war nicht nur hinsichtlich der Frauenemanzipation ein Rückschlag; der Abzug des ein-

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beitslosen in gewerbliche Betriebe“ (StGBl 268/1919); einzelne Anwendungsfälle sind etwa überliefet in ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 29, GZ 17.182/19 (Dianabad Wien) und ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 29, GZ 17.596/19 (Hydrawerk Dr. Röder). Pawlowsky/Wendelin, Kriegsopfer, 421. § 1 leg cit. Pawlowsky/Wendelin, Kriegsopfer, 428. Ebd. Mitteilungen der Industriellen Bezirkskommission Innsbruck, Jahrgang 1927 (4. 3. 1927), samt deren Erlass an die Arbeitslosenämter der IBK Innsbruck betreffend: Arbeitsvermittlung von begünstigten Kriegsbeschädigten, Punkt 26, ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 633, SA 50, 1927–1933, GZ 48.420/27. Erlass des Staatsamts für soziale Fürsorge (14. 2. 1919), zitiert nach Irene BandhauerSchöffmann, Gender Gap. Ökonomische Ungleichheit zwischen Frauen und Männern während des 20. Jahrhunderts, in: Andreas Weigl (Hg.), Sozialgeschichte Wiens 1740–2010. Soziale und ökonomische Ungleichheiten, Wanderungsbewegungen, Hof, Bürokratie, Schule, Theater, Innsbruck-Wien, 2015, 261–354, 270 (ohne Angabe der GZ), mit weiteren Nachweisen.

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gearbeiteten weiblichen Personals stellte auch einen fachlich relevanten Aderlass dar.61 Das IBG war über den eigentlichen Regelungsbereich der Invalidenbeschäftigung62 hinaus wegweisend für zentrale weitere Agenden der Arbeitsmarktverwaltung, wo die hier entwickelten Methoden aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Im Austrofaschismus wurden ganz ähnliche Modelle zur bevorzugten Vermittlung von „Schutzkorps“-Männern und in weiterer Folge von VFMitgliedern beziehungsweise anderer linientreuer Gruppen angewendet. In der Zweiten Republik fanden die Methoden Eingang sowohl in die Entnazifizierungsmaßnahmen nach dem „Wirtschaftssäuberungsgesetz“63 (WSG), als auch in das „Wiedereinstellungsgesetz“. In beiden Fällen, sowohl bei der Stärkung der Dollfuß/Schuschnigg-Diktatur als auch im Rahmen der Beseitigung von NSStrukturen, dienten grundlegende Muster des IBG-Modells regimespezifischen politischen Zwecken. Nachdem der Apparat der Arbeitsmarktbehörden die ersten zehn Jahre seines Bestehens Gelegenheit hatte, seine Tätigkeit zu entfalten, brachten die Weltwirtschaftskrise und der Austrofaschismus erste Umwälzungen. Die wirtschaftliche Misere schlug erst 1929 voll ein, machte sich aber schon Jahre davor bemerkbar. Während die Arbeitslosenrate während der 1920er Jahre meist noch deutlich unter der Zehn-Prozent-Marke geblieben war, erreichte sie 1933 ihren Höchstwert in der Zwischenkriegszeit von 25,9 Prozent.64 Durch Straßenbauprojekte wie jene der Großglockner-Hochalpenstraße,65 der Wiener Höhenstraße,66 der Kärntner Plöckenstraße oder der Wiener Reichsbrücke67 konnte die Arbeitslosenrate auf 21,7 Prozent im Jahr 1937 reduziert werden; allerdings dienten die Großbauprojekte nicht nur der Arbeitsplatzbeschaffung, wie etwa 61 Ebd. 62 Zur Schwäche der mangelnden Begünstigung von nicht-„kriegsversehrten“ Arbeitskräften – im Unterschied etwa zu Frankreich oder der Sowjetunion – im IBG siehe Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 9/2 (1983) 230–277, 246. 63 StGBl 160/1945. 64 Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 31), Berlin 1979, 29; Eduard März, Die große Depression in Österreich 1930–1933, in: Wirtschaft und Gesellschaft 16 (1990) 3, 409–437, 419. Zum österreichischen „Arbeitsschlacht“-Jargon siehe Hofmeister, Arbeitsvermittlung, 233; zu diesem Schlagwort allgemein und mit Deutschlandbezug Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2000, 53f. 65 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 100. 66 Georg Riegele, Die Wiener Höhenstraße. Autos, Landschaft und Politik in den dreißiger Jahren, Wien 1993. 67 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte), Wien 2005, 399.

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der Einsatz von „Bettlern“ beim Bau der „Nibelungenstraße“ Oberösterreich zeigt.68 Eine AlVG-Novelle69 führte die „Produktive Arbeitslosenfürsorge“ ein, nach deren Grundsätzen die IBK beantragen konnten, Darlehen an die Gebietskörperschaften mit der Maßgabe zu vergeben, für volkswirtschaftlich nützliche Arbeiten zusätzlich Arbeitslose zu beschäftigen.70 Die hohe Arbeitslosenquote brachte außerdem die im Volksmund sogenannte „Aussteuerung“, womit ein Großteil der Arbeitslosen der öffentlichen finanziellen Unterstützung verlustig ging.71 Fest steht ferner, dass auch im Zusammenhang mit dem „Freiwilligen Arbeitsdienst“,72 in dessen Rahmen die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitskräften forciert wurde, arbeitsmarktbehördliche Kompetenzen bestanden. Gravierende arbeitsmarktbehördliche Umbrüche erfolgten auch im Austrofaschismus.73 Eine Verordnung74 enthob 1934 sämtliche Mitglieder der IBK mit Wirkung zum 28. 2. 1934 und setzte zur Besorgung der IBK-Aufgaben „für den Bereich jeder Industriellen Bezirkskommission eine Verwaltungskommission 68 Jürgen Tröbinger, „Armenpflege mit eiserner Faust“. Öffentliche Fürsorge und die Verfolgung „Asozialer“ im Reichsgau Oberdonau, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchives 21 (2008) 617–692, 618f.; Siegwald Ganglmair, „Die hohe Schule von Schlögen.“ Zur Geschichte und Rezeption eines Bettlerlagers im Ständestaat, in: Medien & Zeit 2 (1990) 19–29, 22. 69 BGBl 534/1922. 70 Hofmeister, Arbeitsvermittlung, 232. 71 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 94. 72 BGBl 304/1932. Dazu Riegele, Höhenstraße, 119; Gerhard Senft, Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates. Österreich 1934–1938 (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 15), Wien 2002, 479; Wilhelm Weinberger, Der freiwillige Arbeitsdienst in Österreich 1932–1938. Eine staatliche Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung, geisteswiss Dipl, Wien 1987, 18–20; Krempl, Arbeitsamt, 65–69. 73 Zum hier verwendeten Begriff des „Austrofaschismus“ siehe Emmerich T#los, Das austrofaschistische Herrschaftssystem, in: Emmerich T#los/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1933–1938, Wien 52005, 394–420, 395 und 415f.; Wolfgang Neugebauer, Repressionsapparat und -maßnahmen 1933–1938, in: Emmerich T#los/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1933–1938, Wien 52005, 298–321, 298; Emmerich T#los/Walter Manoschek, Aspekte der politischen Struktur des Austrofaschismus, in: Emmerich T#los/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1933–1938, Wien 52005, 124–161, 158; Robert O. Paxton, The anatomy of fascism, London 2004, 218; Jerzy Borejsza, Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa (Europäische Geschichte), Frankfurt am Main 1999, 182; Stanley G. Payne, Fascism. Comparison and definition, Madison 1980, 108; Gerhard Jagschitz, Der österreichische Ständestaat 1934–1938, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. Bd. 1, Graz 1983, 497–515, 498; Brauneder, Verfassungsgeschichte, 231; Helmut Wohnout, Die Verfassung 1934 im Widerstreit der unterschiedlichen Kräfte im Regierungslager, in: Ilse Reiter-Zatloukal/Christiane Rothländer/Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien 2012, 17–30. 74 BGBl 96/1934.

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ein“.75 Formal wurde am Paritätsprinzip festgehalten; da aber die sozialdemokratischen FunktionärInnen fortan nicht mehr in den neuen „Verwaltungskommissionen“ vertreten waren – gerade darauf zielte die gegenständliche Verordnung ab –, und überdies die sozialdemokratische Partei per Verordnung76 vom 13. 2. 1934 verboten wurde, stellte dieses stark beschnittene Strukturmerkmal nur noch einen Rumpf des ursprünglichen Paritätsprinzips dar. Nach dieser Änderung war also lediglich die sozialpartnerschaftliche Komponente berücksichtigt, aber nicht mehr jene des parteipolitischen Pluralismus. Nach der Entlassung politisch nicht-konformer MitarbeiterInnen stellte sich die personelle Besetzung der Arbeitsmarktbehörden in einem anderen – christlichsozial beziehungsweise von der Vaterländischen Front geprägten – politischen Vorzeichen dar.77 Dadurch erlitt das bislang zentrale Paritätsprinzip einen erheblichen Bedeutungsverlust. In diese Zeit fällt auch die Ablösung des AlVG durch das „Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz“78 (GSVG) von 1935. Es brachte für die Arbeitslosen79 durchwegs erschwerte Tatbestände – etwa im Bereich der Arbeitslosenunterstützung80 – und trug insgesamt wenig zur Belebung des Arbeitsmarktes bei. Das GSVG führte die lange nach dem Zweiten Weltkrieg noch geläufige Terminologie mit der Bezeichnung „Arbeitsamt/Landesarbeitsamt“81 ein. In den archivarischen Quellen gibt es für die Zeit des Austrofaschismus etliche Hinweise auf eine bevorzugte Behandlung von Mitgliedern des „Freiwilligen Schutzkorps“ bei der Versorgung mit einem Arbeitsplatz ab dem Jahr 1934. Nachdem im März 1933 die drei Nationalratspräsidenten Karl Renner, Rudolf Ramek und Sepp Straffner zurücktraten,82 traf die Regierung Dollfuß systematisch Vorkehrungen, um ihre eigene Stellung massiv zu verfestigen. Zu diesem Zweck forcierte sie eine Stärkung der Exekutive, indem sie ab Mai 1933 Schritte setzte, jeweils dem Bundesheer und der Polizei beziehungsweise der Gendarmerie zwei neu geschaffene, getrennte Formationen unterstützend zur Seite zu stellen.83 Dies führte zur Errichtung des „Freiwilligen Schutzkorps“, welches 75 § 1 leg cit. 76 BGBl 24/1934. 77 Zu einigen Fallbeispielen von im Austrofaschismus gemaßregelten Bediensteten, welche dem politisch linken Parteienspektrum zuzuordnen waren, siehe Thaler, Eliten, 290. 78 BGBl 107/1935. 79 §§ 275–325 leg cit. 80 Franz Danimann, Die Arbeitsämter unter dem Faschismus, Wien 1966, 18. 81 §§ 312–313 leg cit. 82 Karl Vocelka, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, Graz-Wien-Köln 52002, 290. 83 Emmerich T#los, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien 2013, 223; Florian Wenninger, Dimensionen organisierter Gewalt. Zum militärhistorischen Forschungsstand über die österreichische Zwischenkriegszeit, in: Florian Wenninger/Lucile

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dem Sicherheitsressort und damit der Befehlsgewalt des „Bundesministers mit der sachlichen Leitung der Angelegenheiten der öffentlichen Sicherheit“ – Emil Fey – unterstand. Besonders Fey trat für das „Freiwillige Schutzkorps“ im Ministerrat ein und setzte sich damit letztlich gegen die Vertreter des Landbundes durch.84 Im März 1934, nach dem Abklingen der „Februarkämpfe“, erreichte das „Schutzkorps“ mit etwa 42.000 Mann eine erste Spitzenstärke. Demgegenüber zählte das dem Bundesheer zur Seite gestellte „Militärassistenzkorps“ zu dieser Zeit cirka 8.000 Männer. „[I]m Juli 1934 waren annähernd 53.000 Schutzkorpsmänner aufgeboten.“85 Nachdem die Macht der Bundesregierung gegenüber den SozialistInnen ausgebaut, der NS-Putschversuch überwunden war und der Bedarf nach der Unterstützung durch das „Freiwillige Schutzkorps“ schwand,86 ordnete das Regime schließlich dessen Abbau an.87 Damit war zugleich klar, dass es nun galt – in dieser Phase mit den abrüstenden „Schutzkorps“-Formationen –, verstärkt einen großen Teil zusätzlicher regimetreuer Arbeitsloser bevorzugt unterzubringen. Darin ist auch das zentrale arbeitsmarktpolitische Motiv für das damit im Zusammenhang stehende Versorgungsregime zu sehen. Das Resultat war die „Verordnung […] vom 9. März 1934“.88 Diese verpflichtete alle „auf Gewinn oder Erwerb berechneten Betriebe […], wenn sie wenigstens 25 Arbeitnehmer“89 beschäftigten – inklusive jenen der staatlichen Monopolverwaltung –, auf je 25 ArbeitnehmerInnen einen „Schutzkorps“-Angehörigen einzustellen („Pflichtzahl“). Die Arbeitslosenämter mussten außer-

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Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938, Wien-Köln-Weimar 2013, 493–578, 516. T#los, Herrschaftssystem 2013, 223–224. So räumte etwa Vizekanzler Ing. Franz Winkler (Landbund) in der 887. Ministerratssitzung vom 28. 6. 1933 ein, dass die Vertreter des Landbundes in der Regierung „gegen die Aufstellung eines freiwilligen Schutzkorps von Anfang an schwere Bedenken“ hatten (Rudolf Neck/Adam Wandruszka, Hg., Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik. Abteilung VIII. 20. Mai 1932 bis 25. Juli 1934. Bd. 4, Kabinett Dr. Engelbert Dollfuß. 16. Juni 1933 bis 27. Oktober 1933, Wien 1984, 118). Allerdings konnte Fey in der nächsten Sitzung (Nr. 888, 30. 6. 1933) berichten, dass er „bei einer neuerlichen Aussprache mit V[ize]k[anzler] Ing. Winkler über die Richtlinien für die Aufstellung, Organisation und Aufbietung der staatlichen Hilfsexekutive zu einer vollständigen Übereinstimmung gelangt“ wäre (Protokolle Dollfuß, Bd. 4, 145). T#los, Herrschaftssystem 2013, 224. Elisabeth Winkler, Die Polizei als Instrument in der Etablierungsphase der austrofaschistischen Diktatur (1932–1934) mit besonderer Berücksichtigung der Wiener Polizei, geisteswiss Diss, Wien 1983, 225–226. Wenninger, organisierte Gewalt, 516. „Verordnung der Bundesregierung vom 9. März 1934 über die begünstigte Einstellung der arbeitslosen abgerüsteten Schutzkorpsangehörigen in die Betriebe“ (BGBl 165/1934, im Folgenden SchukoEVO). Die SchukoEVO trat gemäß § 9 acht Tage nach deren Kundmachung in Kraft. § 1 Abs 1 leg cit.

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dem solche Personen, denen eine spezielle Bescheinigung über deren bevorzugten Status90 ausgestellt wurde, bei der Arbeitsvermittlung „in erster Linie […] berücksichtigen“;91 diese Verordnung wurde später durch ein diesbezügliches Bundesgesetz abgelöst.92 Das hier definierte Vier-Prozent-Kontingent sowie die bevorzugte Vermittlung waren Vorbild für den späteren BMsV-Erlass93 vom 16. 6. 1934 zur bevorzugten Vermittlung von VF- beziehungsweise von Gewerkschaftsmitgliedern. Dieser BMsV-Erlass zur linienkonformen Vermittlungspriorisierung ist schließlich als der grundlegende Nachweis in die Richtung eines allgemeinen Vorzugssystems anzusehen. In Bezug auf die Anwendung der arbeitsmarktpolitischen „Schutzkorps“Sonderregelungen lassen die statistischen Quellenbestände auf eine weitreichende Wirksamkeit der SchukoEVO und die wichtige Rolle arbeitsmarktbehördlicher Vermittlungstätigkeit schließen. Im Winter 1934/1935 waren bei den österreichischen Arbeitslosenämtern monatlich im Durchschnitt etwa 8.000 „Schutzkorps“-Angehörige vorgemerkt,94 wobei in der Zeit zwischen Jänner und Februar 1935 von 4.307 zusätzlichen arbeitslos gemeldeten „Schutzkorps“Mitgliedern fast ebenso viele (3.859) wieder vermittelt werden konnten. Beachtlich ist dabei, dass zu dieser Zeit die allgemeine Arbeitslosenrate ihren Höchststand von 26 Prozent (1933) gerade erst überschritten hatte. Bei dieser Quote – 4.307 zu 3.859 – war zudem noch nicht die Zahl derer erfasst, welche ihren gesetzesunmittelbaren Anspruch auf einen Arbeitsplatz bereits ohne die Zuhilfenahme der Arbeitsmarktbehörden durchsetzen konnten. Schließlich handelte es sich bei diesem Zeitfenster, Dezember 1934 bis März 1935, auch um die saisonbedingt ohnehin stark angespannten Monate der Winterarbeitslosigkeit. Im Übrigen wurde in dem Amtsvermerk angenommen, „daß sich in den 90 § 2 Abs 2. 91 § 6 Abs 1. 92 „Bundesgesetz über die begünstigte Einstellung von arbeitslosen, abgerüsteten Angehörigen des freiwilligen Schutzkorps und des Militärassistenzkorps in die Betriebe“ (BGBl 165/1935 [sic!], im Folgenden SchukoEG). 93 Amtliche Nachrichten des BMsV 1934 (Wien 1935) 153–154 (GZ 54.346/34); Erlass des BMsV an alle Industriellen Bezirkskommissionen betreffend: Bevorzugte Vermittlung von Mitgliedern des Gewerkschaftsbundes und der Vaterländischen Front durch die öffentlichen Arbeitsnachweise. Weisung an die Industriellen Bezirkskommissionen (16. 6. 1934), ÖStA/ AdR, BMsV/SP, Kart 810, GZ 54.346/34, in: Vermittlung von Arbeitsdienstwilligen zu entlohnten Arbeiten, GZ 1.137, in: GrZ 78.818/35 [Umschlag]. 94 Amtsvermerk des BMsV betreffend: Bevorzugte Vermittlung arbeitsloser, abgerüsteter Schutzkorpsangehöriger; Verzeichnisse der Landesarbeitsämter (18. 4. 1935), ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 589, GZ 36.144/35. Demnach betrug jeweils der monatliche Stand der zur Vermittlung vorgemerkten „Schutzkorps“-Angehörigen 7.659 (Dezember 1934), 8.026 (Jänner 1935), 8.702 (Februar) beziehungsweise 8.087 (März). Die im Betreff angeführten Verzeichnisse liegen dem Akt leider nicht bei. Die Gesamtzahl der Begünstigten geht aus der Zusammenstellung ebenfalls nicht hervor.

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nächsten Monaten die Zahl der auf Arbeitsplätze vermittelten ,Schutzkorps‘Angehörigen erheblich vergrößern“ würde, womit man wohl auf den Konjunkturaufschwung der Sommermonate setzte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es dem Dollfuß-Regime dank der großzügigen Arbeitsmarktregelungen gelang, rasch das Interesse vieler arbeitsloser Opportunisten am Eintritt in eine „Schutzkorps“-Formation zu wecken. Insbesondere ist darin ein Beispiel massiver Übervorteilung gegenüber nicht dezidiert regimetreuen ArbeitnehmerInnen zu sehen. In der primären Inpflichtnahme der ArbeitgeberInnen und dem Rückgriff auf die Arbeitsämter in einem zweiten Schritt lässt sich ein Muster erkennen, das schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg in das IBG Eingang fand.

II.

Skurrile Auswüchse des „Arbeitseinsatzes“ im Nationalsozialismus

Vor dem Hintergrund der deutschen Rüstungs- und Wehrpolitik verwundert es nicht, dass sehr bald die Arbeitsmarktreserven der „Ostmark“, wo ein großes ungenutztes Potenzial gut ausgebildeter Arbeitskräfte95 schlummerte, in den Fokus des NS-Regimes96 geriet. Etwa seit Kriegsbeginn im September 1939 herrschte in der „Ostmark“ Vollbeschäftigung.97 Eine der ersten Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes im Bereich des „Arbeitseinsatzes“98 – so die häufig strapazierte zeitgenössische Bezeichnung für die Arbeitsmarktagenden während der NS-Herrschaft – war die Eingliederung der österreichischen Arbeitsmarktbehörden in den „altreichsdeutschen“ Behördenapparat der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Ar-

95 Engel/Radzyner, Industrie, 93. 96 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 120. 97 Norbert Schausberger, Deutsche Wirtschaftsinteressen in Österreich vor und nach dem März 1938, in: Gerald Stourzh/Brigitta Zaar (Hg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938 (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 16, Wien 1990) 177–212, 207; ders., Sieben Jahre deutsche Kriegswirtschaft in Österreich (1938–1945), in: Jahrbuch (1986) 10–60, 19. 98 Krempl, Arbeitsamt, 95. Im Folgen wird dieser Jargon-Ausdruck zugunsten besserer Lesbarkeit ohne Anführungszeichen verwendet. Zu den Besonderheiten im landwirtschaftlichen Arbeitseinsatz der „Ostmark“ siehe ebd, 134–137, mit weiteren Nachweisen; zur Landflucht etwa Ela Hornung/Ernst Langthaler/Sabine Schweitzer, Zwangsarbeit in der Landwirtschaft in Niederösterreich und dem nördlichen Burgenland (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 26/3), Wien-München 2004, 108.

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beitslosenversicherung“99 in Berlin. Zum Zweck der „einheitlichen Lenkung der Arbeitsschlacht“100 erfolgte im April 1938 die Einrichtung der „Zweigstelle Österreich“101 der „Reichsanstalt“ in Wien102 unter der Leitung von Friedrich Gärtner, bisher Präsident des Landesarbeitsamtes Westfalen.103 Gärtner kann als eine Art Vorhut für die daraufhin erfolgende ideologische „Gleichschaltung“104 der „ostmärkischen“105 Arbeitsmarktbehörden gesehen werden. Weitere organisatorische Adaptierungen in der NS-Zeit waren die Errichtung eigener Vermittlungsstellen für jüdische Arbeitskräfte in Wien106 sowie die Eingliederung der „Reichsanstalt“ als Hauptabteilung V in das von Franz Seldte geführte Reichsarbeitsministerium per „Führererlass“107 vom 21. 12. 1938.108 Mitte 1940 wurde die „Zweigstelle Österreich“ des Reichsarbeitsministeriums aufgelöst109 und ihre Funktionen gingen auf die Hauptstelle in Berlin über. Die höchsten Instanzen auf „ostmärkischem“ Boden waren fortan die vier Landesarbeitsämter in Graz, Innsbruck, Linz und Wien mit den räumlichen Zuständigkeitsbereichen Steiermark-Kärnten, Tirol-Vorarlberg-Salzburg, „Oberdonau“ und „Wien-Niederdonau“. Inwiefern es in Südböhmen und -mähren zu organisatorischen Veränderungen gekommen ist, konnte nicht nachgewiesen werden. Jedenfalls betraf eine 99 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 118. Er spricht fälschlicherweise von der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Arbeitslosenversicherung“. 100 Danimann, Arbeitsämter, 36; Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 121, 124. Er bezieht sich unter einer falschen Seitenangabe ausschließlich auf Danimann. 101 Maier, Arbeitseinsatz, 40; Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002 (Nürnberg 2003) 228, Fußnote 583. 102 Maier, Arbeitseinsatz, 40; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, 228, Fußnote 583. 103 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 40. 104 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, 228, Fußnote 583; Horst Schreiber, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Nazizeit in Tirol (Geschichte & Ökonomie 3), Innsbruck 1994, 214. Schreiber spricht von „über 100 Reichsdeutsche[n] Beamte[n]“, die vom „Altreich“ in die „Ostmark“ abkommandiert wurden. Zur Österreichmedaille als Auszeichnung vor allem für „Altreichsdeutsche“ siehe Krempl, Arbeitsamt, 123–126, mit weiteren Nachweisen; zu einzelnen Fällen arbeitseinsatzbehördlicher NS-Bürokratie Thaler, Eliten, 294–303. 105 Zum Wandel der geografischen Begriffe mit Österreichbezug im Nationalsozialismus siehe etwa Mathias Krempl, Die Arbeitsmarktverwaltung in der „Ostmark“ von 1938–1945, geisteswiss Dipl, Wien 2011. 106 Maier, Arbeitseinsatz, 16. 107 (Deutsches) Reichsgesetzblatt (RGBl) I 1938 S 1892. 108 Volker Herrmann, Vom Arbeitsmarkt zum Arbeitseinsatz. Zur Geschichte der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1929 bis 1939, Frankfurt am MainBerlin-Bern-New York-Paris-Wien 1993, 159; Maier, Arbeitseinsatz, 13; Horst Kahrs, Die ordnende Hand der Arbeitsämter. Zur deutschen Arbeitsverwaltung 1933–1939, in: Götz Aly/Mathias Hamann/Susanne Heim/Ahlrich Meyer (Hg.), Arbeitsmarkt und Sondererlaß. Menschenverwertung, Rassenpolitik und Arbeitsamt (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 8), Berlin 1990, 9–61, 26. 109 Gruner, Zwangsarbeit, 165–166.

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relativ große Ausweitung der Staatsgrenzen Oberkrain110 sowie die Untersteiermark,111 die im April 1941 zulasten weiter Teile Nord-Jugoslawiens dem Deutschen Reich angegliedert wurde. Die arbeitseinsatzmäßige Kolonisierung der Untersteiermark wurde dem Präsidenten des Landesarbeitsamts „Steiermark-Kärnten“, Dr. Walter Opitz,112 aufgetragen. Am 21. 3. 1942 berief Hitler per „Führererlass“113 Friedrich Sauckel zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“.114 Gleichzeitig mit der personellen Veränderung wurde die Abteilung V („Arbeitseinsatz“) aus dem Reichsarbeitsministerium herausgenommen und Sauckel unterstellt.115 Im Sommer 1943 wurden reichsweit die Landesarbeitsämter an die mittlerweile mit der Errichtung der Reichsgaue erfolgte Umstrukturierung der Reichsverwaltung angepasst. Für die Mittelinstanzen und deren Verteilung in der „Ostmark“ bedeutete dies, abgesehen von der Umbenennung der bisherigen Landesarbeitsämter in „Gauarbeitsämter“, vor allem eine Erhöhung der Behördenzahl.116 Einen gravierenden Umbruch in der Grundstruktur der sich ausprägenden nationalsozialistischen Arbeitseinsatzbehörden in der „Ostmark“ stellte die völlige Demontage des Paritätsgrundsatzes – ein Herzstück der ursprünglichen demokratischen Arbeitsmarktverwaltung – im Sinne des „Führerprinzips“ dar. Wenngleich die Quellen dazu spärlich sind, ist davon auszugehen, dass an die 110 Das Arbeitsamt Krainburg scheint als Teil des „ostmärkischen“ Apparates der Arbeitseinsatzbehörden auf (S-Buch der Rüstungsinspektion XVIII, „Salzburg“, 1944, Folie 6, BArch/R, 3/3.043, Anlage zu Nr. 68/44). 111 Das Gebiet der Untersteiermark umfasste in etwa 8.000 km2 und 550.000 EinwohnerInnen (Schreiben des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Steiermark-Kärnten an den Reichsarbeitsminister betreffend: Aufbau der Arbeitsverwaltung in der Südsteiermark, 10. 4. 1941, 1–2, 1, BArch/R, 3901/20.146, Folie 104/vorderseitig–104/rückseitig, GZ 1.040/2.700/765/ 41). Zur Problematik der arbeitseinsatzbehördlichen Eingliederung dieser Gebiete ins Deutsch Reich siehe ausführlicher bei Krempl, Arbeitsamt, 113f. 112 Umfassende biografische Daten zu Opitz konnten nicht nachgewiesen werden. Zu dessen durchaus vorhandener Bereitschaft, in Einzelfällen gegen Bedienstete der Arbeitseinsatzbehörden einzutreten, die als nicht eindeutig loyal eingeschätzt wurden, siehe Thaler, Eliten, 305. 113 RGBl I 1942 S 179. 114 Abs 2 leg cit; Maier, Arbeitseinsatz, 13. 115 Abs 3 leg cit. 116 Florian Freund/Bertrand Perz, Die Zahlenentwicklung der ausländischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945, in: Florian Freund/Bertrand Perz/Mark Spoerer (Hg.), Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 26/1), Wien-München 2004, 7–274, 20; Maier, Arbeitseinsatz, 15; Ute Vergin, Die nationalsozialistische Arbeitseinsatzverwaltung und ihre Funktionen beim Fremdarbeiter(innen)einsatz während des Zweiten Weltkriegs, geisteswiss Diss, Osnabrück 2008, 131–135, 562–563; Wolfgang Siebert, Das Recht der Arbeit. Systematische Zusammenstellung der wichtigsten arbeitsrechtlichen Vorschriften, Berlin-Leipzig-Wien 5 1944, 59–62 (Tabelle).

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Beschneidung der letzten Reste demokratischer Prinzipien, die nicht bereits durch das austrofaschistische Regime entfernt wurden, umgehend nach dem „Anschluss“117 herangegangen wurde. Man ging dabei so vor, dass die Verwaltungs-118 (Landesarbeitsamts-Ebene) und Vermittlungsausschüsse (Arbeitsamts-Ebene) gezielt im nationalsozialistischen Sinn umbesetzt oder gleich abgeschafft wurden. In späteren Quellen sind keine Hinweise mehr auf das Bestehen von solchen Gremien zu finden. Anzunehmen ist, dass sie im Laufe von höchstens einem Jahr nach dem Einmarsch der Deutschen Truppen in Österreich sukzessive abgeschafft wurden. Für die Arbeitsamts-Ebene ist ein Erlass-Entwurf119 des BMsV überliefert, welcher die Wiederaufnahme der durch die Vorgänge des „Anschlusses“ unterbrochenen Revisionstätigkeit der Oberinstanz gegenüber den Arbeitsämtern anordnete. Im BMsV-Erlass-Entwurf war die Rede davon, dass bei „jeder Revisionsgruppe, die vorläufig aus je zwei Beamten der Abteilung 7 zu bestehen hat[te], […] stets ein Parteigenosse mit der Leitung zu betrauen“ wäre. Nach Ziffer 4 des BMsV-Erlass-Entwurfs wäre insbesondere darauf ein Augenmerk zu legen, dass „die Vermittlung bei den Arbeitsämtern in absehbarer Zeit, allenfalls durch die Heranziehung der neuaufgenommenen Beamten, ausnahmslos in die Hände von Parteigenossen zu liegen […] [kam], um die restlose Durchführung der auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung getroffenen Maßnahmen im nationalsozialistischen Geiste“ zu gewährleisten. Zwar wurde in diesem Zusammenhang nicht dezidiert auf die Vermittlungsausschüsse Bedacht genommen; dass diese – und damit das Paritätsprinzip auf unterster Verwaltungsebene – von den angesprochenen „Maßnahmen“ nicht unberührt blieben, kann angenommen werden. Ziffer 5 des BMsV-Erlass-Entwurfs stellte schließlich den Draht zu 117 Zum Begriff des „Anschlusses“ beziehungsweise der „Okkupation“ siehe Theo Öhlinger, Verfassungsrecht (Wien 82009) 46; Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Schreuer (Hg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1 (Textteil), Wien 42004, 568–570; Vocelka, Geschichte, 297; Bruckmüller, Sozialgeschichte, 418. 118 Etwa Schreiben des Bundes der österreichischen Industriellen, Landesverband Niederösterreich, an das BMsV betreffend: Verwaltungsausschuss beim Landesarbeitsamt St. Pölten – Mitgliederwechsel (16. 5. 1938), ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 551, I, Allgemein 1934–1938, GZ 45.649/38. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass der Industriellenbund die Besetzung eines frei werdenden Postens im Verwaltungsausschuss durch das NSDAPMitgliedes Otto Heizmann vorschlug. Ähnlich auch Verwaltungsausschuss beim Landesarbeitsamt Linz, Wiedereinsetzung (5. 5. 1938), ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 551, I, Allgemein 1934–1938, GZ 29.419/38. Demnach stellte Stefan Berghammer, Kommissarischer Leiter des Landesarbeitsamts Linz, am 26. 3. 1938 beim BMsV den Antrag, „die Verwaltungskommission beim Landesarbeitsamt Linz wiederherzustellen“, der jedoch am 5. 5. 1938 mit dem Hinweise negativ beschieden wurde, dass „vorläufig die Wiedereinsetzung eines neuen Verwaltungsausschusses gemäß § 313, GSVG 1938 [sic!], nicht in Erwägung gezogen werden“ könnte. 119 Erlass-Entwurf des BMsV betreffend: Revision der Arbeitsämter im Lande Oesterreich – Richtlinien für deren Vornahme (9. 4. 1938), ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 621, GZ 38.335/38.

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den Arbeitseinsatzbehörden des „Altreiches“ her, indem festgelegt wurde, dass im Zuge der Revisionen „das Einvernehmen mit den bei den Arbeitsämtern eingeteilten Beamten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung herzustellen“ wäre. Parallel zu diesen organisatorischen Anpassungen nach dem „Anschluss“ verfolgte man die „Rechtsvereinheitlichung“120 auf materieller Ebene. Zentrale Bedeutung hatte hier die „Verordnung […] über die Regelung des Arbeitseinsatzes im Lande Österreich“121 des „Beauftragten für den Vierjahresplan“, Hermann Göring, vom 20. 5. 1938. Sie führte zentrale NS-Gesetze – wie das „Arbeitsbuchgesetz“122 und das „Monopolgesetz“123 – in der „Ostmark“ ein. Daneben galten alte österreichische Gesetze zumindest einige Zeit lang fort. Prominente Beispiele für das so entstandene „interlokale Recht“124 betrafen nicht nur das Straf-125 und Zivilrecht,126 sondern auch die Sozialversicherung. Erst die „Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung im Lande Österreich“127 vom 22. 12. 1938 setzte das „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Ar120 Theo Mayer-Maly, Nationalsozialismus und Arbeitsrecht, in: U. Davy/H. Fuchs/H. Hofmeister/J. Marte/I. Reiter (Hg.), Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, 173–191, 184; zur „Rechtsangleichung“ vor dem „Anschluss“ im Überblick siehe Sven Bielefeldt, Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen II. Rechtsvereinheitlichung im Privatrecht 1938–1945 (Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe 13), Frankfurt am MainBerlin-Bern-New York-Paris-Wien 1996 11; zur „Rechtsangleichung“ im Arbeitsrecht Wolfgang Festl-Wietek, Einzelne Rechtsgebiete, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen I. Rechtsangleichung 1850–1938, Frankfurt am MainBerlin-Bern-New York-Paris-Wien 1996, 199–266, 232–247; zur Divergenz im NS zwischen der normativen Ebene („Normenstaat“) einerseits und der realpolitischen Ebene („Maßnahmenstaat“) andererseits Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 1974, sowie Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München 72013, 321; zur Beschneidung des Rechtsstaates etwa Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 2003, 169. 121 RGBl I 1938 S 591. 122 RGBl I 1935 S 311. 123 So bezeichnete etwa Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, 247, das „Gesetz über Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung“ (RGBl I 1935 S 1281) aufgrund der Monopolstellung der Arbeitseinsatzbehörden; dazu ausführlich bei Krempl, Arbeitsamt, 116–119. 124 Michael Lojowsky, Zuständigkeit des Volksgerichtshofes in Österreich, in: Wolfgang Form/ Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, 15–27, 15. 125 Herbert Loebenstein, Strafrecht und Strafenpraxis im nationalsozialistischen Staat, in: U. Davy/H. Fuchs/H. Hofmeister/J. Marte/I. Reiter (Hg.), Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, 201–208, 201. 126 Mayer-Maly, Arbeitsrecht, 184; Brauneder, Verfassungsgeschichte, 249. 127 RGBl I 1938 S 1912.

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beitslosenversicherung“128 vom 16. 7. 1927 in der „Ostmark“ in Kraft129 und löste damit das GSVG ab; auch das „Inlandarbeiterschutzgesetz“ von 1925 galt bis 1941 fort.130 Demgegenüber hatte nach dem „Anschluss“ erlassenes „altreichsdeutsches“ Recht grundsätzlich auch in der „Ostmark“ Geltung, wie im Fall der „Dienstpflicht“.131 Auch die Arbeitsplatzwechselverordnung132 (APlWVO), welche den freiwilligen Jobwechsel – wie auch in der Sowjetunion133 – weitestgehend an die arbeitsamtliche Genehmigung knüpfte, wurde nach diesem Muster in Kraft gesetzt. Eingriffsintensive „altreichsdeutsche“ Instrumente wie jene der „Dienstpflicht“ und des „Arbeitsplatzwechsels“ sowie die dargestellten organisatorischen Anpassungen relativierten allerdings die Bedeutung des „interlokalen Rechts“ im Bereich des Arbeitseinsatzes beträchtlich. Im Hinblick auf die Verwendung von Arbeitskräften und die verschiedenen dabei ausgeübten Arten von staatlichem Zwang ist zwischen „Zwangsarbeit“ und „Zwangsbeschäftigung“134 zu unterscheiden. Dies mit dem treffenden Argument, dass die Gesamtwürdigung der Lebensumstände eine entsprechende Differenzierung verlangt.135 Die soziale und rechtliche Stellung der unfreiwillig aufgrund der „Dienstpflicht“ Beschäftigten – meist waren dies deutsche ReichsbürgerInnen – hatten nur wenig mit jener der ausländischen zivilen ZwangsarbeiterInnen, der Kriegsgefangenen und Konzentrationslager-Häftlinge (KZ-Häftlinge) gemeinsam, sowohl die unmittelbaren Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit und Entlohnung betreffend, als auch hinsichtlich deren übrigen Lebensumstände wie Unterkunftsarten. Nicht zuletzt waren ausschließlich bei 128 RGBl I 1927 S 187. 129 § 1 Abs 1 Ziffer 4 der Verordnung vom 22. 12. 1938. 130 RGBl I 1941 S 44; Ilse Reiter-Zatloukal, Normative Rahmenbedingungen italienischer Migration nach Wien. Von der frühen Neuzeit bis zum österreichischen EU-Beitritt, in: Josef Ehmer/Karl Ille (Hg.), Italienische Anteile am multikulturellen Wien (Querschnitte 27), Innsbruck-Wien-Berlin 2009, 36–69, 56. 131 Dazu gleich unten in diesem Kapitel. 132 RGBl I 1939 S 1685. Mathias Krempl, Macht und Ohnmacht des Arbeitsamtes? Die Reglementierung des „Arbeitsplatzwechsels“ im Nationalsozialismus und deren umstrittene Rolle in der österreichischen Nachkriegszeit, in: BRGÖ 1 (2015) 58–75. 133 Felicitas Fischer von Weikersthal, Der GULag und die Kriegsvorbereitung der Sowjetunion , in: Kerstin von Lingen/Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien (Krieg in der Geschichte 77), Paderborn 2014, 157–170, 162, mit weiteren Nachweisen. 134 Krempl, Arbeitsamt, 99f., mit weiteren Nachweisen. 135 Ulrich Herbert, Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick, in: Klaus Barwig/ Günter Saathoff/Nicole Weyde (Hg.), Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Rechtliche, historische und politische Aspekte, Baden-Baden 1998, 17–32, 17; rezenter Just Vesting, Zwangsarbeit im Chemiedreieck. Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR, Berlin 2012, 12f., mit weiteren Nachweisen; in diesem Sinne auch für südostasiatische ZwangsarbeiterInnen Takuma Melber, Lebensbedingungen und Rekrutierungsmechanismen indigener Zwangsarbeiter (Ro¯musha) im japanisch besetzten Südostasien, 1942–1945, in: Kerstin von Lingen/Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien (Krieg in der Geschichte 77), Paderborn 2014, 287–308, 287f.

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der Zwangsbeschäftigung Verfahrensvorschriften und materiell-rechtliche Beschränkungen gegeben, die das behördliche Vorgehen in gewisse Schranken wiesen. Entscheidendes Merkmal der Zwangsbeschäftigung war also, dass trotz des grundsätzlichen Vorhandenseins von Zwang „wesentliche Elemente der freien Beschäftigung noch galten“,136 namentlich tarifliche Entlohnung, geregelte Arbeitszeit, Sozialversicherung und private Unterbringung. Demgegenüber war Zwangsarbeit gekennzeichnet durch Unterbringung in Lagern, Überwachung, tatsächliche oder zumindest angedrohte Gewaltanwendung, keine oder unzulängliche Entlohnung, mangelhaften rechtlichen Schutz bis hin zur Einweisung in „Arbeitserziehungslager“ und ungeregelte Arbeitszeit. Nach einer begrifflich weiter gefassten Definition der International Labour Organisation (ILO) aus 1930 gilt als „Zwangsarbeit“ demnach „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“.137 Vom Anwendungsbereich sind nach Art 2 Abs 2 des ILO-Übereinkommens ausgenommen: Militärdienstpflicht, übliche Bürgerpflichten, Arbeit aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung, Fälle höherer Gewalt und kleinere Gemeindearbeiten. Dieser weite ILO-Zwangsarbeitsbegriff entbehrt aber einer entsprechenden Differenzierung, weshalb dessen Brauchbarkeit für die NS-Problematik in Frage zu stellen ist.138 Ungeachtet der notwendigen Unterscheidung zwischen „Zwangsarbeit“ und „Zwangsbeschäftigung“ ist aber die Zuordnung der einzelnen Fälle hinsichtlich des Arbeitskrafteinsatzes in jeweils der einen oder anderen Ausprägung im konkreten Einzelfall problematisch und muss folglich oftmals unterbleiben. So ist bei den KZ-Häftlingen und den ab 1944 in der „Ostmark“ beschäftigten ungarischen Jüdinnen und Juden der Zwangsarbeitscharakter unumstritten.139 Hingegen ist bei den zivilen ausländischen Arbeitskräften infolge der rassischen Hierarchisierung140 nicht immer unbedingt von Zwangsarbeit im hier verstandenen technischen Sinn auszugehen. Die Tragweite der Zwangsarbeitsproblematik wird daran ersichtlich, dass gegen Kriegsende die Anteile der zivilen ausländischen Arbeitskräfte und der Kriegsgefangenen 1944 zusammen cirka ein Drittel des aktiven Arbeitskräftepotenzials in der „Ostmark“ ausmachten.141

136 Maier, Arbeitseinsatz, 11. 137 Artikel 2 Abs 1 des International Labour Organisation-„Übereinkommens über Zwangsoder Pflichtarbeit“ 29/1930 (www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc029.htm, abgerufen am 14. 3. 2017). 138 In diesem Sinn auch etwa Vesting, Zwangsarbeit, 12f. 139 Freund/Perz, Zahlenentwicklung, 16. 140 Ebd. 141 Krempl, Arbeitsamt, 151, mit weiteren Nachweisen.

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Ein vergleichbar hoher Zwangsarbeits-Anteil ist etwa auch für den Ural in den Jahren 1943–1944 anzunehmen.142 Die „Dienstpflicht“ war eine Form der Arbeitspflicht beziehungsweise nach obiger Diktion der Zwangsbeschäftigung – und zwar in ihrer nationalsozialistischen Ausprägung. Diese Arbeitspflicht war insofern neu in der „Ostmark“, als die Versuche, aus der „Bundesdienstpflicht“ ab dem Jahr 1936 ein umfassendes Verpflichtungsprogramm zu schaffen, nicht über das Entwicklungsstadium hinausgekommen ist;143 bei deren Schaffung stand vor allem der Zweck der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im Vordergrund,144 deren ausdrückliche Umsetzung das Schuschnigg-Regime in Konflikt mit den restriktiven Bestimmungen des Staatsvertrags von St. Germain gebracht hätte; denn dieser verbot die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht, weshalb es zur unklaren Formulierung der „Bundesdienstpflicht“145 samt den Bestimmungen über den „Dienst ohne Waffe“ kam.146 Die Dienstpflichtverordnung147 vom 22. 6. 1938 führte erstmals die Dienstpflicht im gesamten Deutschen Reich ein.148 Ausschlaggebend dafür waren die forcierte Rüstungsproduktion und der Westwallbau.149 Die Dienstpflicht und die damit verwandten Regelungen etwa des „Notdienstes“, dessen Instrumente auf 142 Jean-Paul Depretto, Formen sowjetischer Zwangsarbeit im Ural während des Zweiten Weltkrieges, in: Kerstin von Lingen/Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien (Krieg in der Geschichte 77), Paderborn 2014, 189–206, 191. 143 Krempl, Arbeitsamt, 90–91; Weinberger, Arbeitsdienst, 50; Verena Pawlowsky, Arbeitslosenpolitik im Austrofaschismus. Ein Beispiel restriktiver Sozialpolitik in ökonomischen Krisenzeiten, geisteswiss Dipl, Wien 1988, 47; anderer Ansicht ist Senft, Wirtschaftspolitik, 479. 144 Weinberger, Arbeitsdienst, 48. 145 Jaromir Diakow, Der Arbeitsdienst im Rahmen der Bundesdienstpflicht in Österreich, Graz-Wien-Leipzig 1936. 146 Hubert Zeinar, Geschichte des österreichischen Generalstabes, Wien 2006, 673. 147 „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ (RGBl I 1938 S 652, hier entgegen zeitgenössischer legistischer Diktion kurz Dienstpflichtverordnung). Im Folgenden wird der Jargon-Ausdruck „Dienstpflicht“ zugunsten besserer Lesbarkeit ohne Anführungszeichen verwendet. 148 Dazu grundlegend bei Krempl, Arbeitsamt, 137–146; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, 250f.; Eckart Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland: Band II: Sozialpolitik in Demokratie und Diktatur 1919–1945, Wiesbaden 2006, 425–426; Vergin, Arbeitseinsatzverwaltung, 81–85; Danimann, Arbeitsämter, 45. Die wichtigsten Rechtsgrundlagen werden in der zeitgenössischen Zusammenstellung von Siebert, arbeitsrechtliche Vorschriften, 74–79, im Wortlaut dargestellt. Zur stark ausgeprägten Frauenbeschäftigung im Deutschen Reich schon vor der Dienstpflicht siehe Richard J. Overy, „Blitzkriegswirtschaft“? Finanzpolitik, Lebensstandard und Arbeitseinsatz in Deutschland 1939–1942, in: VfZ 36 (1988) 3, 379–435, 425, sowie Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart-München 2001, 31–32. 149 Maier, Arbeitseinsatz, 22; Reidegeld, Sozialpolitik, 425.

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die Verpflichtung zu hoheitlichen Hilfstätigkeiten abgestellt waren, wurden in weiterer Folge zu zentralen Instrumentarien der Arbeitseinsatzbehörden. Wesentliche Befugnis im Zusammenhang mit der Dienstpflicht war die Ermächtigung Friedrich Syrups als Präsident der „Reichsanstalt“ und Weisungsgeber gegenüber den nachgeordneten Instanzen (insbesondere der Arbeitsämter), Bewohner des Reichsgebietes zu Dienstleistungen oder bestimmten Berufsausbildungen zu verpflichten.150 Weitere dogmatische Eckpfeiler der ersten NS-Dienstpflichtregelungen waren die Einschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs auf Angehörige des Deutschen Reiches, die zeitliche Begrenzung151 sowie zugleich die grundsätzlich branchenmäßige Unbeschränktheit der NS-Dienstpflicht. Einschränkungen zum Schutz der Verpflichteten enthielt die von Syrup erlassene „Durchführungsanordnung“152 vom 29. 6. 1938. Demnach sollten „in erster Linie […] ledige Personen verpflichtet werden“153 und die Verpflichteten sollten gemessen an ihrer bisherigen Beschäftigung „wirtschaftlich nicht schlechter gestellt werden“.154 „Die Arbeitskraft des Verpflichteten soll[te] entsprechend seiner Kenntnisse und Fähigkeiten“155 eingesetzt werden. Die neugefasste Dienstpflichtverordnung156 vom 13. 2. 1939 samt „Durchführungsanordnung“157 novellierten die Rechtsgrundlagen der Dienstpflicht158 des „Dritten Reiches“. Bedeutende Unterschiede gegenüber der älteren Rechtslage waren die grundsätzliche Möglichkeit, auch auf AusländerInnen zuzugreifen159 sowie die zeitlich unbegrenzte Verpflichtung.160 Bei der Umsetzung der Dienstpflicht unmittelbar nach der Okkupation Österreichs durch das Deutsche Reich erlitt der „ostmärkische“ Arbeitsmarkt einen Abzug vieler Kräfte ins „Altreich“. „Etwa 100.000 Arbeitskräfte [aus der 150 § 1 Dienstpflichtverordnung 1938. 151 Danimann, Arbeitsämter, 45. 152 Zit nach Alexander Szilagi, Gesetzliche Vorschriften über den Arbeitseinsatz in der Ostmark. Wegweiser durch die bis Anfang August 1938 im Lande Österreich in Kraft getretenen Bestimmungen zur Lenkung des Arbeitseinsatzes, Graz-Wien-Leipzig 1938, 81–85. 153 § 3 Abs 1 leg cit. 154 Abs 2. 155 Abs 3. 156 „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ (RGBl I 1939 S 206). 157 RGBl I 1939 S 403. Die Verordnung stimmt im Wortlaut in Wesentlichen Teilen mit jenem der Durchführungsanordnung aus 1938 (Szilagi, Arbeitseinsatz, 81–85) überein. 158 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 128. 159 § 1 Abs 2 Dienstpflichtverordnung 1939. 160 In diesem Sinne auch Gustav Adolf Bulla, Die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels. Kommentar zur Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 1. September 1939 nebst Durchführungs-Verordnungen und Ministerial-Erlassen, BerlinWien-Leipzig 1942, 17.

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Ostmark], vorwiegend Landarbeiter und industrielle Facharbeiter, wurden [insgesamt] […] zur Arbeit in Deutschland verpflichtet“.161 Durch die Abberufung von Arbeitskräften ins „Altreich“ entstand ein Abgang, der bis zum Kriegsende nicht mehr wettzumachen162 war. Dieser grundsätzlichen Feststellung liegt eine Erkenntnis zugrunde, die ganz wesentlich für die Einordnung der Dienstpflicht in der „Ostmark“ ist. Im fortgeschrittenen Kriegsstadium hatte die Dienstpflicht eine große Bedeutung bei der arbeitseinsatz- und wehrwirtschaftsbehördlichen Kooperation, in deren Rahmen unter Heranziehung der Dienstpflicht umfassende Umschichtungen von Arbeitskräften zugunsten rüstungsrelevanter Branchen erfolgte („Auskämmkommissionen“).163 Große Bedeutung erlangte im Nationalsozialismus auch das „Arbeitsbuch“, das in dieser Zeit der umfassenden Erfassung und Verwaltung der Arbeitskräfte diente.164 Ein solches kannte die österreichische Geschichte schon in der Zeit seit der Gewerbeordnung165 bis 1919,166 als es nach Widerstand der politischen Linken167 wieder abgeschafft wurde.168 Das nationalsozialistische „Arbeitsbuch“ stand nicht nur im Dienste der allgemeinen Arbeitseinsatzlenkung;169 es diente vor allem auch gezielt der Zwangsarbeit und erfüllte insofern auch rassenpolitische Zwecke.170 Generell steht fest, dass sich die Arbeitskräfte als Arbeitseinsatzobjekte im Nationalsozialismus stark ausgesetzt sahen; die in dieser Zeit neu geschaffenen Möglichkeiten der Verpflichtung von ArbeitnehmerInnen mittels der Dienstpflicht veranschaulicht diese Problematik sehr deutlich. Vom normativen Standpunkt aus betrachtet waren aber die von den Dienstpflichtmaßnahmen primär betroffenen „Reichsbürger“ durch den Bestand von Rechtsnormen im Unterschied zu den ZwangsarbeiterInnen gewissermaßen geschützt. Besonders mit Blick auf die Zwangsarbeit ist daher der Einschätzung zu widersprechen, wonach im Zusammenhang mit der Einführung der Dienstpflicht im Juni 1938

161 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, 125. 162 Gruner, Zwangsarbeit, 167. 163 Krempl, Arbeitsamt, 119–122. 164 Kühne-Erfurt (sic!), Das Arbeitsbuch und seine Bedeutung für den Arbeitseinsatz, in: Willi Sommer (Hg.), Die Praxis des Arbeitsamtes. Eine Gemeinschaftsarbeit von Angehörigen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin-Wien 1939, 45–56, 45. 165 öRGBl 227/1859. 166 StGBl 42/1919. 167 Mayer-Maly, Arbeitsrecht, 180. 168 Krempl, Arbeitsamt, 71–72. 169 Grundsätzlich zum NS-Arbeitsbuch in der „Ostmark“ ebd, 129–133. 170 Ebd, 159 (jüdische ZwangsarbeiterInnen) und 165 (zivile ZwangsarbeiterInnen).

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von einer „tiefgreifenden Versklavung und Entrechtung der nach wie vor demagogisch umworbenen ,nationalen Arbeit‘“171 die Rede ist. Eine der ersten großen Gruppen,172 die im Rahmen der Zwangsarbeit dem systematischen Zugriff der Arbeitsämter unterlagen, waren die jüdischen Arbeitskräfte. Im März 1938 umfasste die jüdische Bevölkerungsgruppe in der „Ostmark“ 206.000 Mitglieder und betrug damit drei Prozent der Gesamtbevölkerung.173 Der größte Teil davon wurde vertrieben, deportiert – oder ermordet. Nach einer groben Schätzung wurden zwischen 1938 und 1945 insgesamt etwa 20.000 „ostmärkische“ Jüdinnen und Juden arbeitseinsatzbehördlich zwangsverpflichtet.174 Es zeigt sich, dass die „ostmärkischen“ Arbeitseinsatzbehörden massiv in die antijüdische Rassenpolitik eingebunden waren,175 zugleich aber die Normendichte des Sonderarbeitseinsatzrechts zur Verwendung jüdischer Arbeitskräfte sehr gering war und damit der behördliche Zugriff weitestgehend ungeregelt blieb. Nachdem unmittelbar vor der Auflösung der „Reichsanstalt“ durch Syrup der Erlass176 vom 20. 12. 1938 ergangen ist, erfolgte die endgültige Fassung des Sonderrechtes177 erst am 3. 10. 1941 – lange nach Beginn der jüdischen Zwangsarbeit und kurz vor dem Abschluss der Deportationen, die von Oktober 1939178 bis Jänner 1943179 währten. Sie legte vor allem den „geschlossenen Arbeitseinsatz“ als diskriminierende Form der Verwendung fest. Zur koordinierten arbeitseinsatzbehördlichen Diskriminierung der Jüdinnen und Juden wurden besondere organisatorische Einrichtungen auf verschiedenen Verwaltungsebenen geschaffen. So bestanden sogenannte „Judenreferate“180 etwa im Innenressort, im Wirtschaftsministerium oder dem Justizministerium. Für das

171 Reidegeld, Sozialpolitik, 425. 172 Zu den arbeitseinsatzbehördlich relevanten Gruppen der NS-Zwangsarbeit im Überblick siehe Krempl, Arbeitsamt, 150–151, mit weiteren Nachweisen. 173 Jonny Moser, Demografie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchives des österreichischen Widerstandes 5), Wien 1999, 16–20. 174 Gruner, Zwangsarbeit, 15; Wolfram Dornik, Rezension von: Wolf Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung. Österreichische Juden im NS-Staat 1938–1945 (Nationalsozialismus und seine Folgen 1, Innsbruck/Wien/München 2000), in: Friedrich-Ebert-Stiftung, September 2001, library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80239.htm (abgerufen am 16. 1. 2015). 175 Zur zunächst begünstigten Stellung der jüdischen „Mischlinge“ im Deutschen Reich siehe Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945 (Studien zur jüdischen Geschichte 6), Hamburg 22002, 206f., zu deren sukzessiver Schlechterstellung etwa durch verstärkte Dienstverpflichtung ebd, 238–247. 176 Maier, Arbeitseinsatz, 29. 177 „Verordnung über die Beschäftigung von Juden“ (RGBl I 1941 S 675). 178 Gruner, Zwangsarbeit, 141f. 179 Ebd, 315f. (Tabelle). 180 Maier, Arbeitseinsatz, 15.

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Reichsarbeitsministerium ist ein entsprechendes Referat ab 1942 festzustellen, doch wird ein solches von Maier schon zu einem früheren Zeitpunkt vermutet.181 Roma und Sinti waren eine weitere rassistisch verfolgte Bevölkerungsgruppe, die vor dem „Anschluss“ etwa 8.000 Personen zählte.182 Die „Anordnung über die Beschäftigung von Zigeunern“183 vom 13. 3. 1942 setzte schließlich die für Jüdinnen und Juden erlassenen Vorschriften auch für Roma und Sinti in Kraft.184 Die arbeitseinsatzrechtlichen Diskriminierungen erfolgten auch beim Einsatz dieser Opfergruppe. Ab dem Kriegsbeginn stellte das NS-Regime sukzessive auf den Arbeitseinsatz ziviler ausländischer ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangener ab. Deren Verwendung durch die Arbeitseinsatzbehörden erfolgte in beiden Fällen erwiesenermaßen völkerrechtswidrig. Insbesondere die unfreiwillige Heranziehung der zivilen ZwangsarbeiterInnen außerhalb ihres Herkunftslandes sowie die Verwendung der Kriegsgefangenen in der Rüstungsindustrie waren verboten.185 Der Mechanismus des Zugriffs der Arbeitsämter auf die Kontingente der ausländischen ZwangsarbeiterInnen war juristisch eher banal konstruiert. Von den Wehrwirtschaftsbehörden beziehungsweise einzelnen Unternehmen wurden im Regelfall die jeweiligen Bedarfszahlen den Arbeitsämtern gemeldet, die wiederum Kontingente per Erlass von den Oberinstanzen zugesprochen bekamen. Das drastische Ausmaß der Verwendung dieser Arbeitskräfte durch die Arbeitsämter gegen Kriegsende wurde bereits weiter oben angesprochen. Die direkte Mitwirkung der Arbeitseinsatzbehörden bei der Verwaltung der ZwangsarbeiterInnen, oftmals – aber nicht nur – zugunsten der Industrie,186 ist in vielerlei Hinsicht evident. Die Ämter betrieben diverse Zwangsarbeitslager beziehungsweise konnten über die „Verwendung“ ihrer InsassInnen disponieren. Solche Lager mit Arbeitsamtszugriff befanden sich etwa in Gänserndorf187 („Umschulungslager“ für Jüdinnen und Juden), in der Stadt Salzburg188 (Roma und Sinti) und Strasshof189 (Durchgangslager für zivile ausländische Zwangs181 Ebd. 182 Florian Freund/Gerhard Baumgartner/Harald Greifender, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 23/2), Wien-München 2004, 27. 183 RGBl I 1942 S 138. 184 Hans Küppers, Die Beschäftigung von Zigeunern, in: RABl V 9 (1942) 176–178, 176–178; Maier, Arbeitseinsatz, 198. 185 Ausführlicher bei Krempl, Arbeitsamt, 160–162, mit weiteren Nachweisen. 186 Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, Köln-WeimarWien 52011, 211f. 187 Maier, Arbeitseinsatz, 62–67; Krempl, Arbeitsmarktverwaltung, 46f. 188 Krempl, Arbeitsmarktverwaltung, 76–78, mit weiteren Nachweisen. 189 Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz, Todesmärsche, Folgen (Forschung und Wissen-

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arbeiterInnen beziehungsweise ungarische Jüdinnen und Juden). Im Wirkungsbereich des Landesarbeitsamts Steiermark-Kärnten konnte eine „Anwerbekommission“ nachgewiesen werden, die im Raum Krakau zur Rekrutierung ziviler ausländischer ZwangsarbeiterInnen tätig wurde.190 Im Umfeld des Arbeitsamtes Linz wurden auf Anweisung desselben Arbeitsamtes Abtreibungen an zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen angeordnet.191

III.

Rückbesinnung auf Sachlichkeitsgebote in der Zweiten Republik

Die seit 1945 bis lange nach 1957 fast durchwegs von der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) bekleidete Spitze des Sozialressorts zeigte, dass dieses im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit von Kontinuität der politischen Linken geprägt war. Bezeichnend dafür ist, dass alle drei Sozialminister im hier interessierenden Betrachtungszeitraum – Johann Böhm, Karl Maisel und Anton Proksch – der SPÖ angehörten. Allerdings erfolgte trotz dieses politischen Bruchs sowohl gegenüber dem NS als auch der Zwischenkriegszeit innerhalb des Sozialressorts kein grundsätzlicher Kurswechsel im österreichischen Wohlfahrtsstaatsmodell; vielmehr gliederte sich Österreich auch in der Zweiten Republik gemeinsam mit Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland oder Frankreich in die Reihe der „konservativen Wohlfahrtsstaaten“ ein.192 Naturgemäß hatten Gebietsansprüche wie jene Jugoslawiens zulasten Kärnschaft 3), Wien-Berlin 2010, 65; Szabolcs Szita, Verschleppt, verhungert, vernichtet. Die Deportation von ungarischen Juden auf das Gebiet des annektierten Österreich 1944–1945, Wien 1999, 76; Krempl, Arbeitsmarktverwaltung, 66; zur massenhaften Verwendung des Entlausungsmittels „Cuprex“ an den ZwangsarbeiterInnen siehe Therese Schranner, Ärztliche Erfahrungen beim Einsatz fremdländischer Arbeitskräfte, med Diss, Wien 1943, 34. 190 Krempl, Arbeitsamt, 163; Markus Purkhart, Die Draukraftwerke, in: Oliver Rathkolb/Florian Freund (Hg.), NS-Zwangsarbeit in der Elektrizitätswirtschaft der „Ostmark“ 1938–1945. Ennskraftwerke – Kaprun – Draukraftwerke – Ybbs-Persenbeug – Ernsthofen, Wien-Köln-Weimar 2002, 199–230, 209; zu den Rekrutierungspraktiken der NS-Stellen in den besetzten Gebieten im Überblick siehe Vergin, Arbeitseinsatzverwaltung, 220f.; zur Vorgehensweise der japanischen Besatzungsmacht in Südostasien etwa Melber, Zwangsarbeiter, 298–302. 191 Gabriella Hauch, Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder : Zum Geschlecht der Zwangsarbeit, in: Oliver Rathkolb (Hg.), NS-Zwangsarbeit. Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938–1945, Bd 1, Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Wien-Köln-Weimar 2001, 355–448, 422f.; zur grundsätzlichen Genehmigung der Abtreibungen an „Ostarbeiterinnen“ und Polinnen 1943 siehe Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 21986, 248f. 192 Gøsta Esping-Andersen, The three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 31993, 27.

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tens193 den Verlust der diesbezüglichen arbeitsmarktbehördlichen Hoheitsgewalt zur Folge. Es ist auch wenig überraschend, dass in der Behördenstruktur umgehend Demokratisierungsmaßnahmen ergriffen wurden und insofern ein Rückgriff auf die organisatorischen Grundsätze – besonders des Paritätsprinzips – aus der Zeit vor den Diktaturen des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus erfolgte.194 Diese Maßnahmen standen ganz im Zeichen des Aufschwungs der Sozialpartnerschaft195 und verstanden sich als Voraussetzung für den Behördenbetrieb nach pluralistischer Maßgabe. Noch im Vorfeld und parallel zu den organisatorischen Maßnahmen wurde systematisch nationalsozialistisches Personal aus dem Apparat der Arbeitsmarktbehörden abgezogen.196 Nach den Gräueln, in welche die ehemaligen „ostmärkischen“ Arbeitsämter vor allem als treibende Kraft im Bereich der Zwangsarbeit verwickelt waren, konnte es keineswegs selbstverständlich sein, diese Behörden in die Entnazifizierung aktiv einzubinden. So spielten etwa in Nachkriegsdeutschland die Arbeitsmarktbehörden bei der Entnazifizierung quasi überhaupt keine Rolle,197 weil man die stark nationalsozialistisch geprägten Arbeitsämter für die Bewältigung der Nachkriegsaufgaben als ungeeignet betrachtete.198 Insofern ist die zentrale Rolle der österreichischen Arbeitsmarktbehörden bei der Entnazifizierung augenfällig. Vier neue Gesetze steckten die Überwindung der arbeitsmarktbezogenen NSStrukturen und die „Wiedergutmachung“199 ab: Das Verbotsgesetz,200 welches auf die Entnazifizierung der Arbeitsmarktbehörden selbst abzielte, das „Wirt-

193 Rauchensteiner, Besatzung, 24f. 194 Krempl, Arbeitsamt, 187–189. 195 Grundlegend zur Sozialpartnerschaft und deren Anfänge Emmerich T#los, Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor in der Zweiten Republik, Wien 2008 16f.; Emmerich T#los, Vom Vorzeige- zum Auslaufmodell? Österreichische Sozialpartnerschaft 1945 bis 2005, in: Ferdinand Karlhofer/Emmerich T#los (Hg.), Sozialpartnerschaft. Österreichische und Europäische Perspektiven, Wien-Münster 2005, 185–217, 186. 196 Krempl Arbeitsamt, 193–198; zu Fallbeispielen aus dem ehemals nationalsozialistisch gesonnenen Behördenpersonal dieser Zeit siehe Thaler, Eliten, 295–303. 197 Damian van Melis, Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945–1948 (Studien zur Zeitgeschichte 56), München 1999, 192–195 und 202. 198 Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, 378–382. 199 Kritisch zum Begriff der „Wiedergutmachung“ nach 1945 siehe etwa Christiane Fritsche/ Johannes Paulmann, „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ vor Ort: Perspektiven auf die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz deutscher Juden und die Entschädigung nach 1945, in: Christiane Fritsche/Johannes Paulmann (Hg.), „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ in deutschen Städten, Köln-Wien 2014, 7–45, 8–13, mit etlichen weiteren Nachweisen und dem treffenden Argument, dass grundsätzlich die Verbrechen des NSRegimes nicht im engeren Sinn des Wortes „wiedergutzumachen“ sind und deshalb die Gefahr der Verharmlosung besteht. 200 StGBl 13/1945.

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schaftssäuberungsgesetz“,201 welches die Entnazifizierung des Arbeitsmarktes durch die Arbeitsmarktbehörden anordnete, das Nationalsozialistengesetz202 (NSG) mit den umfassenden Novellen dieser beiden Gesetze und schließlich das „Wiedereinstellungsgesetz“.203 Letzteres enthielt Anordnungen zur Entschädigung von Arbeitskräften, die im Dollfuß/Schuschnigg-Regime beziehungsweise im NS als politische Opfer den Arbeitsplatz verloren hatten; nationalsozialistisches Personal, das zwischen 1933 und 1938 gemaßregelt wurde, war davon ausgenommen. Den Abschluss der Entnazifizierung auf gesetzlicher Ebene machte die „NS-Amnestie“204 von 1957. Im Zusammenhang mit der Entnazifizierung verdient an dieser Stelle das WSG eine nähere Betrachtung, vor allem auch wegen seiner Besonderheit im Vergleich zu Deutschland, wo Entnazifizierungsagenden kaum im Zuständigkeitsbereich der Arbeitsämter gelegen waren.205 Schon das im Juni 1945 in Kraft getretene Verbotsgesetz206 kündigte – allerdings sehr rudimentär – die Entfernung von NationalsozialistInnen aus der Privatwirtschaft an.207 In inhaltlicher Ausführung dessen208 trat am 23. 9. 1945 das WSG in Kraft. Dass die Materie insofern problematisch war, als durch den „ungeheuer weit[en Personenkreis] […] eine große Unsicherheit in das Wirtschaftsleben hineingebracht“209 wurde (so der parteilose Staatssekretär Dr. Georg Zimmermann, Ressortleiter des Staatsamtes für Finanzen), kam schon in der Kabinettsratssitzung vom 12. 9. 1945 zur Sprache; allerdings überwog letztendlich die Notwendigkeit der Entnazifizierung. Das WSG in seiner ursprünglichen Fassung berief in erster Linie die ArbeitgeberInnen zur Entlassung „illegaler“ beziehungsweise Kündigung „legaler“ ehemaliger NationalsozialistInnen.210 Im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich bezog sich das WSG vor allem auf das Verbotsgesetz. Ur201 202 203 204 205

206 207 208 209 210

BGBl 160/1945; Josef Hammerl, Das Wirtschaftssäuberungsgesetz, in: ÖJZ (1946) 61–63. BGBl 25/1947; zu diesem Gesetz allgemein siehe Stiefel, Entnazifizierung, 107. BGBl 160/1947; dazu ausführlich bei Krempl, Arbeitsamt, 227–230. BGBl 82/1957. Krempl, Arbeitsamt, 220–222. Die zentralen Erkenntnisse dieses Abschnitts bis zur „Arbeitsplatzwechselverordnung“ finden sich auch bei Mathias Krempl, „Eine wirkliche Menschenpflege“. Arbeitsmarktbehördliche Zwangsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich und Deutschland im Vergleich, in: BRGÖ 1 (2016) 43–57. StGBl 13/1945. § 15 leg cit. Anton Mahnig (Hg.), Wirtschaftssäuberungsgesetz 1947 unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes mit Erläuterungen und einem Sachregister, Wien 21947, 14. Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jerˇ#bek (Hg.), Protokolle des Ministerrates der Zweiten Republik. Kabinett Leopold Figl I. 20. Dezember 1945 bis 8. November 1949, Bd. 3, 17. Juli 1946 bis 19. November 1949, Wien 2005, 33. §§ 3–4 WSG.

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sprünglich konnten die der Arbeitgeberseite eingeräumten Rechte nur innerhalb einer Frist von sechs Wochen nach dem Inkrafttreten des Gesetzes wahrgenommen werden,211 diese Frist wurde aber schließlich mehrmals verlängert.212 Die Arbeitsmarktbehörden als zentrale staatliche Stellen gemäß dem WSG übernahmen in dreierlei Hinsicht Kernfunktionen: Erstens konnten die bei den Landesarbeitsämtern einzurichtenden Kommissionen die Dienstverhältnisse entsprechend dem WSG gestalten, wenn dies durch die Arbeitgeberseite unterblieb.213 Zweitens bedurfte die zivilrechtliche Wirksamkeit der Begründung des Arbeitsverhältnisses bei Neu- und Wiedereinstellung von „Ehemaligen“ der Zustimmung eines Arbeitsamts-Ausschusses.214 Und drittens nahmen die Arbeitsmarktbehörden Rechtsschutzfunktion wahr.215 Im Übrigen waren bei den Arbeitsmarktbehörden – ähnlich wie bei den aus dem Nationalsozialismus rezipierten Materien der Arbeitspflicht und des „Arbeitsplatzwechsels“216 – paritätische Ausschüsse vorgesehen. Das NSG aus 1947 behielt diese Systematik grundsätzlich bei. Neu war allerdings besonders der geänderte Personenkreis durch den Grundmusterwechsel des neu gefassten Verbotsgesetzes von den „Illegalen“ zu den „Belasteten“, wobei die Möglichkeiten der Entlassung und Kündigung weiterhin gegeben waren.217 Während die erstgenannte Maßnahme bei „Belasteten“ möglich war, kam die Kündigung besonders für „Minderbelastete“ in Betracht, die Leitungsfunktionen218 innehatten („Berufsverbote“219). Mit der „Minderbelastetenamnestie“220 1948 fielen die Maßnahmen gegen diese Personengruppe weg. Insgesamt verloren ca. 37.000 Arbeitskräfte ihren Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft nach dem WSG.221 Außerdem belegen zahlreiche Judikate die große Bedeutung dieser Maßnahmen.222 Bilanzierend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass mit dem WSG primär politisch-ideologische Zwecke verfolgt 211 § 11. 212 BGBl 39/1946, 41/1946, 80/1946 und 158/1946. 213 § 10 Abs 1 WSG; Bruno Pittermann (Hg.), Wirtschaftssäuberungsgesetz (Verfassungsgesetz vom 12. September 1945 über Maßnahmen zur Wiederherstellung gesunder Verhältnisse in der Privatwirtschaft) mit Erläuterungen, Wien 1946, 38. 214 § 13 leg cit; Pittermann, Wirtschaftssäuberungsgesetz, 49. 215 § 8 Abs 6 und § 10 Abs 1; Pittermann, Wirtschaftssäuberungsgesetz, 38. 216 Dazu gleich unten. 217 §§ 3–4 WSG in der Fassung Nationalsozialistengesetz (NSG). 218 § 4 leg cit. 219 Stiefel, Entnazifizierung, 195. 220 BGBl 99/1948. 221 Stiefel, Entnazifizierung, 195f. Wie nachhaltig diese Maßregelungen waren, kann nicht beurteilt werden. 222 Nachfolgend angeführte Entscheidungen befassen sich etwa mit Kündigungs- oder Entlassungsfragen nach WSG: VfSlg 2.022/1950, 2.050/1950, 2.051/1950, 2.111/1951, 2.267/ 1952, 2.591/1953, 2.605/1953, 2.606/1953, 2.809/1955, 2.883/1955 und 3.010/1956.

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wurden, während genuin arbeitsmarktorientierte Aspekte, welche besonders die Rezeption der aus dem „Dritten Reich“ übernommenen Zwangsmaßnahmen maßgeblich prägten, im Hintergrund standen. Die aktive Rolle der Arbeitsmarktbehörden bei der Entnazifizierung war allerdings kein Hindernis, mit dem „Rechts-Überleitungsgesetz“223 vom 1. 5. 1945 für die ersten Nachkriegsjahre am NS-Arbeitseinsatzrecht festzuhalten. So galten zentrale Regelwerke der NS-Zeit für mehrere Jahre fort.224 Im Einzelnen waren dies vor allem die Arbeitsplatzwechselverordnung225 und die Dienstpflichtverordnung 1939.226 Die NS-Rechtsgrundlagen für die Arbeitsvermittlung sowie die weitreichende arbeitsmarktbehördliche Monopolstellung227 blieben insbesondere auch nach dem neuen Arbeitslosenversicherungsgesetz228 in Geltung,229 und zwar bis zum Arbeitsmarktförderungsgesetz.230 Zur Entschärfung der massiv durch die NS-Ideologie geprägten Dienstpflicht ergingen zunächst Bestimmungen, um dem Reglement ein relativ zeitgemäßes Gepräge zu verschaffen. Im Fall von Oberösterreich231 erfolgte dies noch vor der Nationalratswahl vom 25. 11. 1945232 und damit weitgehend unabhängig von der Staatsregierung und dem Staatsamt für soziale Verwaltung.233 Zwar wurde die Regierung Renner schon am 20. 10. 1945 durch die Westmächte anerkannt und damit formal deren Einfluss auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnt;234 allerdings zeigt die Quellenlage, dass das Sozialministerium noch Mitte 1946 nicht

223 StGBl 6/1945; Ilse Reiter-Zatloukal/Maria Sagmeister, Die Rechtsüberleitung 1945 und die Kontinuität nationalsozialistischen Rechts, in: juridikum 2 (2015) 188–198; Egon Kittl, Zur Problematik des R-ÜG, in: JBl (1956) 330f. 224 Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 137. Er spricht in diesem Zusammenhang fälschlicherweise vom „Behörden-Überleitungsgesetz“ (StGBl 94/1945). 225 RGBl I 1939 S 1685. 226 RGBl I 1939 S 206. 227 Dazu ausführlicher bei Krempl, Arbeitsamt, 191–193. 228 BGBl 184/1949. 229 § 47 Abs 1 Ziffer 1 leg cit; 746 BlgNR, V. GP, EB, 5. 230 § 52 Abs 1 (BGBl 31/1969). 231 Erlass des Landesarbeitsamts Oberösterreich an die Arbeitsämter betreffend „Verordnung der O.Ö. Landesregierung vom 12. 11. 1945 bertreffend Heranziehung von Arbeitskräften zu Notarbeiten (Notarbeitsverordnung), hier : Durchführungsbestimmungen“ (15. 11. 1945), OÖLA/BH Schaerding, Sch. 155, 1945, Präs/Arb 109, GZ IIIa (A) 516/45. Die Archivalien geben keine direkte Auskunft über den Verordnungstext und die Fundstelle. Der Erlass macht dennoch fundierte Rückschlüsse möglich. 232 Vocelka, Geschichte, 319. 233 Der Einflussbereich der Provisorischen Staatsregierung war 1945 im Wesentlichen auf die Sowjetische Besatzungszone beschränkt (Rauchensteiner, Besatzung, 20; Vocelka, Geschichte, 317). 234 Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht, 36; Brauneder, Verfassungsgeschichte, 259.

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über die Tätigkeit der Unterinstanzen außerhalb der Sowjetzone restlos informiert war.235 Ein Blick auf die einzelnen Bestimmungen des oberösterreichischen Landesarbeitsamtserlasses236 zeigt, dass hierbei grundlegende Mechanismen des späteren Arbeitspflichtgesetzes vorweggenommen wurden. Maßgaben wie der beschränkte sachliche Anwendungsbereich vor allem im Bereich der Lebensmittelproduktion, die Verpflichtbarkeit nur von Beschäftigungslosen, die vorwiegende Heranziehung ehemaliger NationalsozialistInnen sowie die Mitwirkung der landwirtschaftlichen Interessenvertretungen (Landwirtschaftskammer, Bezirksbauernkammern) bei der Bedarfsfestlegung zielten darauf ab, den repressiven Charakter der vormaligen NS-Dienstpflicht zu reduzieren. Einzelne Quellenbestände lassen stichhaltige Rückschlüsse zu, die auf die verhältnismäßig große Bedeutung dieser NS-Regelungen nach dem Kriegsende hindeuten. So wurden durch die Kärntner Arbeitsämter seit Kriegsende bis Juli 1946 insgesamt 1.943 Verpflichtungen vorgenommen.237 Schmidt geht allgemein davon aus, dass „die vier Besatzungsmächte […] sofort [nach Kriegsende] eine bedeutende Zahl von Mitarbeitern“238 beanspruchten. Die Erkenntnis dessen, dass auch zu Beginn des Jahres 1946 ungebrochen die „Lage des Arbeitsmarktes […] durch einen starken Mangel an Facharbeitskräften der verschiedensten Berufsgruppen“239 gekennzeichnet war, verbunden mit der an der Dienstpflicht haftenden „Erinnerung an die Gewaltmethoden des nationalsozialistischen Arbeitseinsatzes“,240 führten zum Bedürfnis nach einer Neuregelung der Arbeitspflicht-Materie. Die steigende Arbeitslosigkeit nach dem Krieg betrug auch 1947 nur 1,7 Prozent, erreichte Anfang der 1950er Jahre ihren Höhepunkt von 8,7 Prozent und pendelte sich erst zu Beginn der 1960er Jahre auf Vollbeschäftigungsniveau (ca. 4 Prozent) ein.241 Der als Regierungs235 Krempl, Arbeitsamt 181f., mit weiteren Nachweisen. 236 Landesarbeitsamts-Erlass GZ IIIa (A) 516/45. 237 Ein Jahr Landesarbeitsamt Kärnten (Juli 1946) 6, ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 32, GZ 22.058/ 46. 238 Zahlenangaben macht Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 136, diesbezüglich nicht. 239 29 BlgNR, V. GP, EB, 5; zur Abwerbung von weiblichen Arbeitskräften aus der britischen Zone nach Großbritannien siehe Jill Lewis, The Early Years, in: Marion Trestler, Destination UK. Woman Immigrants from Post-War Austria. Immigrantinnen aus dem Nachkriegsösterreich, Wien 2013, 9–18. 240 29 BlgNR, V. GP, EB, 5. 241 Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien (Hg.), Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch 1945–1969, Wien 1970, 276; zur ersten statistischen Aufnahme des Arbeitsmarktes nach dem Krieg siehe Bundespressedienst (Hg.), Österreichisches Jahrbuch 1945–1946. Nach amtlichen Quellen. Achtzehnte Folge, Wien 1947; zur steigenden Bedeutung der Ausländerbeschäftigung ab dieser Zeit siehe Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien (Hg.), Handbuch, 229; zur demgegenüber nachrangigen Rolle in der Schulbuchliteratur Christiane Hintermann, „Beneficial“, „problematic“ and „different“: Representations

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vorlage eingebrachte Entwurf zum „Arbeitspflichtgesetz“242 (APflG) trat schließlich am 19. 4. 1946 in Kraft und blieb bis Ende 1948 in Geltung.243 Zugleich wurde das einschlägige NS-Recht aufgehoben.244 Ähnlich wie nach der aus Oberösterreich bekannten Übergangsregelung245 war die sachliche Anwendbarkeit auf die vordringlichsten Bereiche – „Ernährungssicherung“ (wie vor allem landwirtschaftliche Produktion) und „Wiederaufbau“246 (zum Beispiel Baustofferzeugung) – sowie die „Dringlichkeitsvorhaben der Besatzungsmächte“247 beschränkt. Verpflichtet werden konnte grundsätzlich eine große Bandbreit an Arbeitskräften, besonders auch Erwerbstätige. Die Ausnahmen betrafen insbesondere die Altersgrenzen (Männer jenseits des 16. bzw. 55. Lebensjahrs, Frauen des 16. bzw. 40.), etliche Gruppen von Frauen (wie Mütter, den Haushalt führende und berufstätige) und AusländerInnen. Für die von der Arbeitspflicht erfassten Personen galt eine Reihenfolge, nach welcher vorrangig ehemalige NationalsozialistInnen heranzuziehen waren, gefolgt von Beschäftigungslosen und Männern bis zum 30. Lebensjahr. Die primäre Heranziehung von „Ehemaligen“ – und zwar in der ursprünglichen Fassung von „Illegalen“ (also in der Verbotszeit zwischen 1933 und 1938 aktiven NationalsozialistInnen) wie „Legaler“ gleichermaßen – ist ein eindeutiger Hinweis auf den Entnazifizierungszweck als Hauptmotiv neben arbeitsmarktimmanenten Fragen.248 Eine Rechtsgrundlage für die Arbeitspflicht zulasten des Ehemaligenmilieus war besonders den kommunistischen Regierungsvertretern ein Anliegen.249 Damit war auch in diesem Bereich klar von politisch-ideologisch geleiteten Beweggründen auszugehen. Mit dem NSG aus 1947 – und damit ein Jahr vor der „Minderbelastetenamnestie“250 – wurden diese

242 243 244 245 246 247 248 249 250

of Immigration and Immigrants in Austrian Textbooks, in: Christiane Hintermann/ Christina Johansson (Hg.), Migration and Memory. Representations of Migration in Europe since 1960 (European history and public spheres 3), Innsbruck-Wien 2010, 61–78, 75. „Bundesverfassungsgesetz vom 15. Februar 1946 über die Sicherstellung der für den Wiederaufbau erforderlichen Arbeitskräfte (Arbeitspflichtgesetz)“ (BGBl 63/1946). BGBl 8/1947 und 10/1948. § 15 APflG. Landesarbeitsamts-Erlass GZ IIIa (A) 516/45. § 1 Abs 1 APflG; Gustav Hofmann/Franz Keller, Das Arbeitspflichtgesetz und die einschlägigen Vorschriften mit eingehenden Erläuterungen und einem Sachregister, Wien 1946, 37. Kundmachung des Bundesministeriums für Handel und Wiederaufbau (GZ 57.009/46); Hofmann/Keller, Arbeitspflichtgesetz, 37. Kundmachung im Volltext ebd, 81f. Matthew Paul Berg, Arbeitspflicht in Postwar Vienna: Punishing Nazis vs. Expediting Reconstruction, 1945–48, in: Austrian History Yearbook 37 (2006) 181–207, 182f.; in diesem Sinne auch Schmidt, Arbeitsmarktverwaltung, 139. Manfred Mugrauer, Die Politik der KPÖ in der provisorischen Regierung Renner, Innsbruck-Wien-Bozen 2006, 129. BGBl 99/1948.

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Maßnahmen auf die „Belasteten“ eingeschränkt,251 worunter insbesondere NSDAP-FunktionärInnen und „Schutzstaffel“-Angehörige fielen.252 Das Verpflichtungsverfahren fand ausschließlich vor den Arbeitsmarktbehörden statt. Der jeweilige Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin hatte bei dem nach dem Betriebssitz zuständigen Arbeitsamt einen Antrag auf die Zuteilung von Arbeitskräften im Verpflichtungswege einzubringen.253 Das Arbeitsamt hatte nach Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse254 und Anhörung255 der zu verpflichtenden Arbeitskraft die Verpflichtung per Bescheid auszusprechen. Gegen die arbeitsamtliche Entscheidung konnte Einspruch bei einem paritätischen Ausschuss erhoben werden, in dem neben dem Landesarbeitsamts-Leiter als Vorsitzendem sowohl männliche als auch weibliche Mitglieder der Interessenvertretungen der Arbeitgeber- und -nehmerInnen vorgesehen waren.256 Ein Gesamtüberblick über die Praxisbedeutung des APflG ist aufgrund der Quellenlage nur in Grundzügen möglich. Nach Einschätzung von BMsV-Experten wie Dr. Franz Keller erfüllte das Gesetz schon insofern „seine Aufgabe, als es durch sein bloßes Bestehen […] auf eine freiwillige Arbeitsannahme [hin]wirkt[e]“.257 Niederösterreichweit wurden 1947 insgesamt 643 Arbeitsverpflichtungen ausgesprochen, wovon der Großteil (517) „Belastete“ betraf und lediglich in 10 Fällen Frauen.258 Insgesamt dürften in Österreich nach einer groben Schätzung einige Tausend Arbeitskräfte nach dem Arbeitspflichtgesetz verpflichtet worden sein und damit jedenfalls eine doch beachtliche Bedeutung der Materie vorgelegen haben. Neben der Arbeitspflicht, wo in der Zweiten Republik umfassend auf NSZwangsmittel rekurriert wurde, erfolgte auch bei der Arbeitsplatzwechselverordnung259 eine Überleitung von NS-Methoden. Das zugrundeliegende Reglement verlangte sowohl beim Abschluss von Arbeitsverträgen als auch bei deren einseitiger Auflösung eine arbeitsamtliche Genehmigung.260 Nach der Rechts-

251 § 2 Abs 1 litera a APflG in der Fassung NSG; Landesarbeitsamt Wien, Jahresbericht für das Berichtsjahr 1947 (1948) 7, AMS NÖ/LGSt. 252 § 17 Abs 2 Verbotsgesetz (StGBl 13/1945) in der Fassung NSG. 253 § 4 APflG. 254 § 5 Abs 1 leg cit. 255 § 7 Abs 1. 256 § 7 Abs 3. 257 Arbeitskräftekonferenz in Rom – Kongressmaterial, darin: Memorandum der österreichischen Delegation bei der „Conf8rence de la Main d’Oeuvre“ in Rom, zur Tagesordnung der Kommissionen 1 und 2 (31. 1. 1948) 2f., ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 171, GZ 23.813/48. 258 Landesarbeitsamt Wien, Jahresbericht für das Berichtsjahr 1947 (1948) 6, AMS NÖ/LGSt. 259 „Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels“ (RGBl I 1939 S 1685); Krempl, Arbeitsplatzwechsel. 260 §§ 1 und 4 APlWVO.

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Überleitung der Materie regelte ein Erlass261 die Anwendung; er legte insbesondere die Zuständigkeit paritätischer Arbeitsamts-Ausschüsse und insofern Entnazifizierungsmaßnahmen in diesem Bereich fest, als bei einem allfälligen Arbeitskräfteabbau primär „Ehemalige“ heranzuziehen waren. Festzuhalten ist, dass auch dieser Bereich in der Praxis eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Mit der Abschaffung262 der aus dem Nationalsozialismus stammenden APlWVO, die auf einen Initiativantrag von Abgeordneten263 der Österreichischen Volkspartei aus Anfang 1947 zurückging,264 erfolgte erstmals die ersatzlose Beseitigung repressiven NS-Rechts im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung. All diese Ausführungen zu den arbeitsmarktbehördlichen Entnazifizierungsagenden zeigen, wie aktuell die Frage nach der Überwindung des Nationalsozialismus im Zuständigkeitsbereich der Arbeitsämter war. Doch nicht sämtliche Agenden standen im Zeichen der Überwindung der Diktaturen des Austrofaschismus und des NS. So schenkte man mit dem neuen „Invalideneinstellungsgesetz“,265 dem „Jugendeinstellungsgesetz“266 und dem „Schlechtwetterentschädigungsgesetz“267 verstärkt solchen Arbeitskräftegruppen eine erhöhte Aufmerksamkeit, die am Arbeitsmarkt besonders benachteiligt waren.268 Diese arbeitsmarktimmanenten Materien zeugen davon, dass sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom NS jene Agenden verdichteten, die primär arbeitsmarktorientierte Zielsetzungen verfolgten und insofern eine Konsolidierung arbeitsmarktbehördlicher Tätigkeit stattfinden konnte. Zugleich ist aber festzustellen, dass der ernsthafte Versuch, die Arbeitsmarktagenden durch eine vehemente Distanzierung vom NS-Recht umfassend auf souveräne Beine der Republik zu stellen, ein Vierteljahrhundert lang – bis Ende 1969 – nicht unternommen wurde.269 Insofern wurde es auf politischer Ebene versäumt, sich frühzeitig und konsequent vom Erbe der Regimezeit zu distanzieren.270

261 Erlass des Staatsamts für soziale Verwaltung an die Landesarbeitsämter betreffend: Errichtung paritätischer Ausschüsse bei den Landesarbeitsämtern zur Mitwirkung bei Anträgen auf Lösung von Dienstverhältnissen (14.7. 1945), ÖStA/AdR, BMsV/SP, Kart 3, GrZ 50.035/45, GZ 50.283/45. 262 BGBl 134/1947. 263 Antrag der Nationalrats-Abgeordneten Raab, Aichhorn, Prinke, Ludwig, Friedl, Schumy, Handel, Rupp und Genossen. 264 277 BlgNR, V. GP, AsVB; Krempl, Arbeitsplatzwechsel, 70. 265 BGBl 163/1946; Theodor Schöberle, Das Invalideneinstellungsgesetz, in: JBl (1948) 227–229. 266 BGBl 140/1953; Suse Kroll, Jugendeinstellungsgesetz, Wien 1953. 267 BGBl 174/1954; Thomas Widorn, Bauarbeiter-Schlechtwetter-Entschädigungsgesetz, Wien 1973. 268 Krempl, Arbeitsamt, 230–237. 269 „Arbeitsmarktförderungsgesetz“ (BGBl 31/1969). 270 Zum gescheiterten Versuch, die arbeitsmarktbehördliche Organisation und deren Zu-

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Zusammenfassung Seit der Errichtung eines zentralstaatlich gesteuerten Apparats von Arbeitsmarktbehörden wurde deren Bestand primär vom wirtschafts- und sozialpolitischen Zweck geleitet, Arbeitsuchende und ArbeitgeberInnen zusammenzuführen. Es ging also – und geht auch heute noch – vor allem um die Bedienung des Arbeitsmarktes als ureigene Funktion. Insgesamt steht jedoch auch außer Zweifel, dass die Arbeitsmarktbehörden als zentrale soziale Schnittstellen zwischen der arbeitsfähigen Bevölkerung und dem Staatsapparat gerade in der Zeit der Diktaturen, aber auch danach, systematisch zur Bewältigung sachfremder politischer Ziele herangezogen wurden. Mit Blick auf die Vorgänge sowohl im Austrofaschismus und Nationalsozialismus als auch in der Zweiten Republik ist deshalb die eingangs aufgestellte These zu bestätigen. Eine deutliche Ausprägung der politischen Instrumentalisierung erfolgte im Austrofaschismus, als Mechanismen der Invalidenvermittlung aus 1920 zum Vorbild für ein Modell systematischer Bevorzugung regimetreuer Kräfte wurden. Symptomatisch zeigte sich diese Tendenz im SchukoEG, aber auch im Bereich der begünstigten Vermittlung von VF- und Gewerkschaftsmitgliedern. Der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde im Nationalsozialismus erreicht, als bei den Arbeitsämtern sowohl die kompetenzmäßigen (parteipolitisch und rassistisch motivierte Verwaltung der Zwangsarbeit, Dienstpflicht und ähnliche Zwangsmittel), als auch die organisatorischen Rahmenbedingungen (Beseitigung des Paritätsprinzips zugunsten des „Führerprinzips“) geschaffen wurden, um diese Behörden zu wirkmächtigen wirtschaftlichen, besonders aber auch zu ideologischen Steuerungsinstrumenten des Regimes auszubauen. Die Arbeitsämter wurden gezielt dazu benutzt, um politisch unerwünschte Gruppen zu schwächen. In der Zweiten Republik wurde diese Linie der politischen Instrumentalisierung der Arbeitsmarktbehörden für ideologische Zwecke fortgesetzt – freilich im Dienste der Demokratie und unter den Auspizien der Besatzungsmächte. Dabei bediente man sich einerseits neuer Gesetze (Wirtschaftssäuberungsgesetz, Wiedereinstellungsgesetz), die gänzlich neue Zuständigkeiten wie die Entnazifizierung schufen. Andererseits griff die Regierung auf alte Rechtsgrundlagen (wie jene der APlWVO) zurück, um darauf gründend – und modifiziert im Erlass-Weg – parteipolitisch motivierte Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Und schließlich wurden Instrumente geschaffen, die dem Grund nach aus dem NS-Recht übernommen (Dienstpflicht) und den demokratischen Ver-

ständigkeitsbereich in genuin österreichischen Rechtsgrundlagen zu verankern und das übergeleitete NS-Recht abzuschaffen, siehe Krempl, Arbeitsamt, 237–243.

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Mathias Krempl

hältnissen sowie den Erfordernissen der Besatzung angepasst wurden (Arbeitspflichtgesetz). Bezeichnend für eine Rückkehr zu relativ stabilen innenpolitischen Verhältnissen war, dass Ende der 1940er Jahre jene Mittel, welche dieser Instrumentalisierung dienten („Arbeitsplatzwechsel“, Arbeitspflicht), abgeschafft wurden. Eine Art Abschluss dieser Konsolidierung bildete das Außerkrafttreten des WSG – der letzten Rechtsgrundlage, in der diese ideologische Komponente prägnant zum Ausdruck kam – mit § 42 NSG. Doch obwohl sukzessive Schritte mit Fokus auf arbeitsmarktimmanente Probleme („Invaliden“-, Jugend- und saisonale Arbeitslosigkeit) unternommen wurden, kam es bis 1969 (Arbeitsmarktförderungsgesetz) zu keiner konsequenten Distanzierung vom NS-Erbe.

Johannes Thaler

„Kann bleiben, ohne Beförderung“ – Beamte der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung und das NS-Regime1

Im Folgenden werden einige prägnante Fallbeispiele von Elitenkarrieren der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung gebracht, die bedeutende Grundtendenzen in der amtlichen Personalpolitik über die Regime des 20. Jahrhunderts hinweg erkennen lassen. Schwerpunkt bildet hierbei das NS-Regime einerseits und die Frage des Umgangs mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern nach 1945 andererseits. Nach der Analyse der Fallbeispiele folgt eine statistische Darstellung des Personals der Arbeitsmarktverwaltung insbesondere mit Blick auf die politische Situation. Es handelt sich beim vorliegenden Beitrag um eine auf Archivmaterial fußende Studie, die einige Grundtendenzen in der Personalpolitik der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung während der NS-Zeit aufzeigen möchte. Folgende Fragestellungen werden dabei verfolgt: 1. Was bedingte die teilweise sehr langen Beamtenkarrieren in Österreich über die zahlreichen Regimeumbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg? Welche politischen Haltungen waren solchen langen Karrieren zuträglich oder abträglich? 2. Welche Aussichten auf amtliche Karriere hatten österreichische Nationalsozialisten ab 1938? 3. Wie aussichtsreich war die Weiterbeschäftigung für ein ehemaliges NSDAP-Mitglied im Bereich der staatlichen Arbeitsmarktverwaltung in Österreich nach 1945?

I.

Fallbeispiele zu politisch geprägten Karrieren in der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung

Eine der längsten aus dem Archiv ersichtlichen Karrieren im Bereich der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung absolvierte der 1897 in Klagenfurt geborene

1 Dieser Vortrag basiert auf einem vom österreichischen Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz initiierten und unterstützten Forschungsprojekt bzw. auf der daraus resultierten Publikation: Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis, Wien 2015.

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Johannes Thaler

Karl Kaufmann.2 Er begann bereits während seines Besuchs der Handelsschule in Graz mit einer Tätigkeit als Volontär im „Landesverband für Wohltätigkeit in Steiermark“ am 2. 1. 1913, die etwa zwei Jahre dauerte. Nach Kriegsdienst und russischer Kriegsgefangenschaft wurde Kaufmann zu Ende des Ersten Weltkriegs, am 1. 11. 1918, von der Industriellen Bezirkskommission (von Arbeitnehmern und Arbeitgebern paritätisch besetzte Vorläuferorganisation der späteren auf Bundeslandebene eingerichteten „Landesarbeitsämter“) Graz im „Arbeitslosenamt Graz“ beschäftigt – zunächst als Schalterbeamter, später als „Hauptvermittler für das Bau- und Baunebengewerbe“ und schließlich als Abteilungsleiter. Eigenen Angaben zufolge leistete Kaufmann wesentliche Arbeit für den Aufbau der 1919 eröffneten Arbeitsämter Deutschlandsberg und Voitsberg (beide Steiermark). Seine Anstellung währte bis 30. 4. 1926. Mit Mai desselben Jahres übernahm er als Amtsleiter die Leitung des Arbeitsamtes Bruck an der Mur (Steiermark). In dieser Funktion verblieb Kaufmann bis zum „Anschluss“ 1938. Im Jahr 1937 trat er der NSDAP bei und wurde nach dem „Anschluss“ auch als „Alter Kämpfer“ in den neuen Dienststand der NS-Arbeitsmarktverwaltung übernommen. Jedoch wurde Kaufmann unmittelbar nach dem Anschluss, am 1. 4. 1938, zum „Stellvertretenden Leiter“ zurückgestuft – die Leitung des Amtes übernahm ein gedienter Kollege aus dem „Altreich“. Kaufmann war in weiterer Folge an kleineren Arbeitsämtern tätig: ab 16. 10. 1940 als Amtsleiter in Liezen (Steiermark) und nach der Besetzung Jugoslawiens durch die Achsenmächte als Amtsleiter im ehemals slowenischen Krainburg (slow. Kranj), wo er bis 4. 5. 1945 seinen Dienst versah. Als ehemaliges NSDAP-Mitglied wurde Kaufmann nach Kriegsende von der alliierten Besatzung nach 32-jähriger Dienstzeit entlassen, in weiterer Folge aber als „minderbelasteter“ ehemaliger Nationalsozialist eingestuft. Er bewarb sich 1947 beim Landesarbeitsamt Steiermark und 1949 direkt beim Bundespräsidenten um die Wiedereinstellung in den Dienst der Arbeitsmarktverwaltung. Kaufmann berief sich dabei auf seine langjährige Erfahrung: „Die Liebe zu meinem, seit meiner Jugend ausgeübten Beruf, den ich bis zu meiner Entlassung als Lebensaufgabe betrachtete und die Tatsache, dass Sie in einigen Fällen Gnade vor Recht ergehen ließen, veranlassten mich, die Wiederaufnahme anzustreben, zumal ich nie dem Kreise der belasteten Personen im Sinne des NS-Gesetzes angehört habe. […] Ich bitte schließlich nicht zu übersehen, dass ich durch ein Menschenalter mitgeholfen habe an dem Werdegang Ihrer heutigen Institution.“3

Hinsichtlich Kaufmanns politischer Einstellung bestanden im Amt zwar Zweifel: „Nach h[ier]a[mtlichem] Dafürhalten liegt nicht die Gewähr dafür vor, dass Herr 2 ÖStA/AdR, BMsV/Präs, PA Karl Kaufmann. 3 Ansuchen um Wiedereinstellung Kaufmanns an das LAA Steiermark, 15. 6. 1951: PA Karl Kaufmann.

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Kaufmann eine demokratische Einstellung bezogen hat.“4 Dennoch wurde seine Wiedereinstellung befürwortet: „Das Landesarbeitsamt Steiermark ist an der Einstellung des K. ganz besonders interessiert. Es sind im Landesarbeitsamt verhältnismäßig wenig Bedienstete, die als hochqualifiziert bezeichnet werden können und mit besonderen hochwertigen Aufgaben betraut werden können. Der Ersatz für ausscheidende qualifizierte Kräfte ist aus den eigenen Reihen deshalb in manchen Fällen kaum möglich. […] Nachdem die Ersatzgestellung […] äußerst dringend ist, […] wird um dringende und positive Erledigung gebeten.“5

Mit 15. 10. 1951 wurde Kaufmann in den Dienst des Arbeitsamts Graz aufgenommen. Ihm wurde die Leitung verschiedener Arbeitsämter übertragen – zuletzt wieder in Bruck an der Mur. Mit 1. 12. 1954 wurde er in den gehobenen Fachdienst des Landesarbeitsamtes und zugleich in das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis übernommen. Die Versetzung in den dauernden Ruhestand erfolgte mit 28. 2. 1962. Mit einer militärisch und einer politisch bedingten Unterbrechung hatte Karl Kaufmann über einen Zeitraum von 49 Jahren im Bereich der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung gedient. In der knappen Darstellung dieses Lebenslaufs sind eine Reihe von Mustern zu erkennen, wie sie sich im Zuge der vorliegenden Forschung für die Personalpolitik im Bereich der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung als typisch herausstellten: Zum einen ist Kaufmanns Tätigkeit in der privaten Arbeitsvermittlung zu erwähnen, die er in den frühen Jahren seiner beruflichen Laufbahn ausübte. Die private Arbeitsvermittlung war in Österreich ein Vorläufer der späteren staatlichen Arbeitsmarktverwaltung. Des Weiteren ist der Umgang der NS-Verwaltung mit Kaufmann als österreichischem Nationalsozialisten hervorzuheben. Es ist zu beobachten, dass österreichische „Parteigenossen“ nach dem „Anschluss“ nicht automatisch mit einer Beförderung durch das NS-Regime rechnen konnten. So urteilt auch Mathias Krempl, dass in den Führungsebenen der Arbeitseinsatzbehörden der nunmehrigen „Ostmark“ die „gezielte Heranziehung von Bediensteten aus dem ,Altreich‘ vollzogen“6 wurde. Wie auch der Fall Kaufmanns bezeugt, bevorzugte das Regime häufig gediente Mitarbeiter und Beamte aus dem sogenannten „Altreich“. Wie auch im Fall Karl Kaufmanns wurden österreichische Beamte gegenüber neu kommenden reichsdeutschen Kollegen in der Regel benachteiligt 4 LAA Steiermark an Regierungsrat Hans Zima BMsV, 3. 1. 1950: PA Karl Kaufmann. 5 LAA Steiermark an das BMsV, 21. 6. 1951: PA Karl Kaufmann. 6 Mathias Krempl, Arbeitsamt und Staatsgewalt. Arbeitsmarktbehördliche Organisation und Sachfragen im politischen Wandel, in: Krempl/Thaler, Arbeitsmarktverwaltung, 14–274, 123, ähnlich 125.

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oder auch zurückgestuft. Krempl legt auch dar, dass bei der Besetzung von Schlüsselpositionen insbesondere Träger der sogenannten „Österreich-Medaille“ berücksichtigt wurden, also Personen, die sich um die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ verdient gemacht hatten.7 Als dritter Punkt ist die Wiedereinstellung des ehemaligen Nationalsozialisten Kaufmann nach anfänglicher Entlassung im Jahr 1945 herauszustreichen. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Begründung: Das die Wiedereinstellung befürwortende Amt berief sich auf die Erfahrung und Expertise des ehemaligen Mitarbeiters, die als unabkömmlich bezeichnet wurden. Hier tritt sehr deutlich das Muster hervor, dass fachlicher Expertise vor politischer Gesinnung ein Vorrang eingeräumt wurde. Als weiteres aufschlussreiches Fallbeispiel sei der im Jahr 1900 geborene Josef Tscheitschonig erwähnt, der am 1. 3. 1930 in den Dienst der Industriellen Bezirkskommission für Kärnten trat. 1932 trat er erstmals der NSDAP bei, was er nach den Jahren des Parteiverbots unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 wiederholte. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ war er stellvertretender Amtsleiter des Arbeitsamts Villach. Tscheitschonig war auch Mitglied der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und wurde als solches zum Betriebsobmann (Personalvertreter) des Arbeitsamts Villach bestellt. Während des Kriegs waren die Überführung Tscheitschonigs in das Beamtenverhältnis sowie die gleichzeitige Ernennung zum Regierungsinspektor geplant, was jedoch durch Konflikte mit dem NS-Regime verhindert wurde. Trotz seiner langjährigen Mitgliedschaft bei der NSDAP beschwerte sich der Bedienstete über die amtliche Praxis des NS-Regimes: „Die Leitung des Arbeitsamtes kam in die Hände der nach Österreich abgeordneten deutschen Beamten und Angestellten, die auch die übrigen gehobenen Posten besetzten. Die pflichtgemäße Ausübung meines schwierigen, undankbaren Amtes eines Personalvertreters brachte mich nicht nur mit meinen Vorgesetzten in schwere Konflikte; die bisher nicht für möglich gehaltene Einstellung der reichsdeutschen Behördenleiter uns Österreichern gegenüber brachte mir auch die erste große Enttäuschung. Die mir obliegende Interessensvertretung der Angestellten des Arbeitsamtes wurde immer mehr ein Kampf um die Geltung der österreichischen Arbeitskameraden. Gegen die immer mehr Platz greifende geringschätzige Bewertung der Arbeitskraft der österr. Angestellten und insbesonders gegen die Verächtlichmachung des Österreichertums im Allgemeinen hatte ich den erbittertsten Kampf zu führen. Meine häufigen Vorstellungen bei den leitenden Personen der Arbeits- und Landesarbeitsämter auf Abstellung

7 Ebd., 124. Belege liefert auch: Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, Nürnberg 2003, 228.

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dieser unhaltbaren Zustände brachten mir die Drohung des Ausschlusses aus der Partei mit weiteren scharfen Maßnahmen.“8

Die Integration der Behörden der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung führte in manchen Fällen zu interessanten Konfliktsituationen wie dieser hier : Ein österreichischer Mitarbeiter und Nationalsozialist beschwert sich über die Behandlung durch die neuen, reichsdeutschen Kollegen. In der Tat bedeutete die NSDAP-Parteimitgliedschaft für österreichische Beamte nicht unbedingt eine Beförderung nach dem „Anschluss“ 1938. Bei der Eingliederung der österreichischen arbeitsamtlichen Behördenstruktur in die Verwaltung durch das Reichsarbeitsministerium wurden bewährte reichsdeutsche Beamte in Führungspositionen bevorzugt. Österreichische Kollegen wurden demgegenüber häufig innerhalb der Hierarchie zurückgestuft. Eigenen Angaben zufolge protestierte Tscheitschonig im Rahmen eines Betriebsappells öffentlich gegen die neuen Zustände im Amt: „1. gegen die Versuche, Österreich als Deutsche Kolonie anzusehen […], 2. gegen die Überheblichkeit, uns erst richtig ,Deutsch‘ lernen [sic] zu wollen, und 3. gegen die dauernden Benachteiligungen der öst[erreichischen] Kameraden bei den Stellenbesetzungen und Vorrückungen.“9 Sein öffentliches Engagement für die österreichischen Kollegen hatte Tscheitschonigs strafweise Einberufung zur Wehrmacht zur Folge. Für den Bediensteten der Arbeitsmarktverwaltung waren die Überführung in das Beamtenverhältnis sowie die gleichzeitige Ernennung zum Regierungsinspektor geplant, jedoch vermerkte Walter Opitz, Präsident des im Nationalsozialismus bestehenden Landesarbeitsamts Steiermark-Kärnten: „Nach den Vorkommnissen anläßlich des Betriebsappells im Arbeitsamt Villach […], auf dem gegen Gefolgschaftsmitglieder aus dem alten Reichsgebiete völlig unbegründete Vorwürfe erhoben wurden, habe ich auf Grund Ihrer ganzen Haltung in dieser Angelegenheit übereinstimmend mit dem Herrn Leiter des Arbeitsamtes Villach die Überzeugung gewonnen, daß Sie über die Pflichten eines Behördenangestellten und künftigen Beamten noch nicht die richtige Auffassung besitzen. Von Ihrer Überführung in das Beamtenverhältnis wurde daher zunächst wieder abgesehen. […] Mit einer Verbeamtung innerhalb der nächsten Zeit können Sie jedenfalls nicht rechnen.“10

Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur NSDAP veranlasste nach Kriegsende die britische Militärregierung 1945 zuerst die Einstellung von Tscheitschonigs Bezügen und später im selben Jahr seine Außerdienststellung. Ende 1946 wurde er 8 Ansuchen Tscheitschonigs an die Registrierungskommission Villach bezüglich Abstandnahme von der Registrierung (Abschrift), 18. 2. 1946: PA Josef Tscheitschonig. 9 Ebd. 10 Schreiben des Präsidenten des LAA Steiermark-Kärnten Direktor Walter Opitz (Abschrift), 12. 12. 1941: PA Josef Tscheitschonig.

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durch den Liquidator endgültig des Dienstes enthoben. Er galt allerdings als Minderbelasteter und erhielt seitens des Bundesministeriums für soziale Verwaltung (BMsV) etwas mehr als zwei Jahre später im März 1949 eine (in Tscheitschonigs Meinung viel zu geringe) Abfertigung. Tscheitschonigs Antrag auf Wiedereinstellung im Jahr 1958 wurde aufgrund des Amnestiegesetzes mangels eines geeigneten freien Dienstpostens abgelehnt. Ein Gegenbeispiel ist Josef Kalista.11 Als überzeugter und aktiver Nationalsozialist trat er 1933 der SA und im Jahr darauf der NSDAP bei. 1934 nahm er als Führer des Motorsturmes auch am Juliputsch gegen Engelbert Dollfuß teil, im Zuge dessen der österreichische Kanzler von den Putschisten ermordet wurde. Der über ihn verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten entzog Kalista sich durch die Flucht nach Deutschland. Dort fand er Arbeit in seinem langjährigen Arbeitsbereich – er war seit 1919 in der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung tätig gewesen. Offiziell schied der geflohene AMV-Bedienstete Ende Juli 1934 aus dem Dienst der österreichischen Verwaltung aus, und trat im Mai des folgenden Jahres in den Dienst der deutschen Arbeitsverwaltung. Nach dem „Anschluss“ kehrte er als reichsdeutscher Beamter in seine frühere Heimat zurück: als Leiter des Arbeitsamts Voitsberg und später in das Arbeitssamt Deutschlandsberg (beide in der Steiermark). Kalista galt als „Alter Kämpfer“ und war Obertruppenführer der SA. Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Kapitulation befand er sich in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Deutschen Reich. Bereits am 8. 5. 1945 wurde er gemäß Verbotsgesetz 1945 aus dem Dienst entlassen. Die Bestätigung der Enthebung durch den Liquidator des Deutschen Reiches erfolgte im Juni 1947. Nach der allgemeinen NS-Amnestie 1957 bewarb sich Kalista um Wiedereinstellung, die aber abgelehnt wurde. 1961 erhob er zusätzlich Anspruch auf Abfertigung: „Mit Rücksicht darauf, daß es nach den gesetzlichen Bestimmungen keine fristlose Entlassung aus dem öffentlichen Dienst gibt, außer bei Personen, die sich aus anderen als politischen Gründen vergangen haben, ersuche ich nunmehr um Flüssigmachung der mir rechtens zustehenden Abfertigung, wie sie auch bereits anderen Kollegen, die in derselben Situation waren, ausbezahlt worden ist. Ihrer ehesten aufrechten Erledigung entgegensehend […]“.12

Dieser Anspruch wurde aber mit dem Hinweis auf seine Teilnahme am Julitputsch 1934 abgewiesen. Bemerkenswert am Fall Kalista ist – neben seiner aktiven Teilnahme am Juliputsch auf Seiten der Nationalsozialisten – der berufliche Wechsel von der österreichischen zur reichsdeutschen Arbeitsmarktverwaltung im Jahr 1935 und 11 ÖStA/AdR, BMsV/Präs, PA Alexander Kalista. 12 Schreiben Kalistas an das LAA Steiermark, 2. 11. 1961: PA Alexander Kalista.

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seine berufliche Rückkehr nach Österreich im Zuge des „Anschlusses“. Der Versuch, einen persönlichen Vorteil aus der NS-Amnestie von 1957 zu ziehen, scheiterte aufgrund seiner offensichtlichen politischen Verwicklungen als aktiver Nationalsozialist. Ein weiteres Beispiel dafür, dass eine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus nicht unweigerlich eine Karriere im NS-Staat zur Folge hatte, belegt die Geschichte von Hans Meinhart.13 Aus einer Familie überzeugter Deutschnationaler stammend, hatte bereits sein Vater den slawisch geprägten Familiennamen „Medacek“ auf nun deutsch anmutend „Meinhart“ geändert. Aus denselben weltanschaulichen Gründen erfolgte wahrscheinlich der Wechsel der Konfession vom schweizerischen evangelischen „Helvetischen Bekenntnis“ (amtlich „H.B.“) zum deutschen „Augsburger Bekenntnis“ (amtlich „A.B.“). Aktives Mitglied der Heimwehren von 1930 bis zu ihrer Auflösung im Oktober 1936 dürfte Meinhart Anhänger von deren Bundesführer Ernst Rüdiger Starhemberg gewesen sein: Er taufte seinen ersten Sohn im September 1934 auf den Namen „Ernst Rüdiger“. Meinhart trat 1925 in den Staatsdienst bei der Agrarbezirksbehörde Linz, wechselte 1929 zur Bundesbahn und im Februar 1930 schließlich zum Arbeitslosenamt (die ursprüngliche Bezeichnung für ein Arbeitsamt in Österreich) Perg (Oberösterreich), das er bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten leitete. Er war nie Mitglied der NSDAP. Im Gegenteil: Meinhart wurde von den nationalsozialistischen Behörden als ehemaliger Heimwehrmann als politisch unzuverlässig eingestuft und strafweise in die Wehrmacht eingezogen. Aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft kehrte er nicht mehr zurück. Seine Frau bemühte sich um eine staatliche Witwenpension, die ihr jedoch nicht zuerkannt wurde. Schließlich sei hier noch der 1893 geborene Josef Hammerl14 (geb. 23. 10. 1893) erwähnt, der zur Prominenz der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung der Nachkriegszeit zu zählen ist. Von 1945 bis zu seiner Pensionierung Ende 1958 war er Sektionschef der für Sozialpolitik zuständigen Sektion III im Bundesministerium für soziale Verwaltung. Seine Tätigkeit im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung begann in der Ersten Republik und diese erstreckte sich auch über die Epochen des Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Im Ersten Weltkrieg erwarb er die „Bronzene Militärverdienstmedaille am Bande des Militärverdienstkreuzes“ sowie das „Kaiser-Karl-Truppenkreuz“. Als Doktor der Rechte begann Hammerl seinen Staatsdient 1920 als Angestellter der Invaliden-Entschädigungskommission für Niederösterreich. Bereits im darauffolgenden Jahr wurde er aufgrund des Kriegsbeschädigtenanstel13 ÖStA/AdR, BMsV/Präs, PA Hans Meinhart. 14 ÖStA/AdR, BMsV/Präs, PA Josef Hammerl. ÖStA/AdR, Zivilakten der NS-Zeit/Gauakten, Josef Hammerl.

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lungsgesetzes pragmatisiert und in das BMsV berufen, wo er nach eigenen Angaben tätig war : im Bundes- Wohn- und Siedlungsamt, in der Abteilung für Arbeitsrecht und Arbeitseinsatz, später in der Abteilung für Arbeitslosen- und Altersfürsorge. Ende 1930 wurde Hammerl zum Sektionsrat ernannt. Im Juni 1934 wurde er von seinem Dienst im Ministerium enthoben und mit der Leitung des Landesarbeitsamts Wien betraut und 1936 als Referent für die legislativen und finanziellen Angelegenheiten der Arbeitslosenfürsorge zurück ins Ministerium berufen. Die Oberleitung des Landesarbeitsamts Wien behielt er bis zum „Anschluss“ 1938 inne. Hammerl war über die katholisch-deutsche Hochschulverbindung „Norica“ Mitglied im Österreichischen Cartellverband. Er gehörte auch der Christlichsozialen Partei an und trat kurz nach ihrer Gründung im November 1933 der Vaterländischen Front (VF) bei, deren Mitglied er bis zur Auflösung 1938 blieb. Am 15. 3. 1934 bekam er durch Bundespräsident Wilhelm Miklas das „Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“ verliehen. Ab 1935 war Hammerl Dienststellenleiter der VF beim Landesarbeitsamt Wien. Am 17. 3. 1938 erfolgte die Vereidigung auf Adolf Hitler. Am 7. 10. 1938 wurde er zum Ministerialrat befördert. Hammerl trat nie der NSDAP bei, war aber Mitglied in den der Partei angeschlossenen Verbänden NSV („Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“), RDB („Reichsbund der Deutschen Beamten“) und NSRB („Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund“). Außerdem gehörte er dem Reichsluftschutzbund, dem Reichskolonialbund und dem Reichskriegerbund an. In einem NSDAP-Screening der amerikanischen Besatzung wurde er nach 1945 wie folgt beurteilt: „Mitglied der DAF, NSV, NSRB, RLB (,Reichsluftschutzbund‘), Kriegerbund, aktiver Unterstützer, nimmt an allen Parteitreffen teil, ausgezeichnet mit dem Kriegsverdienstkreuz II ohne Schwerter“.15 Ab Mai 1939 war Hammerl ausschließlich im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit als Dezernent für die Arbeitslosenversicherung tätig. Im Oktober 1941 wurde ihm das „Silberne Treudienst-Ehrenzeichen“ für seine 25-jährige amtliche Tätigkeit verliehen. 1943 wurde er wieder in das Gauarbeitsamt Wien berufen.16 NS-Behörden standen Hammerl anfänglich skeptisch gegenüber. Seitens der NSDAP Gauleitung Wien hieß es in einer Stellungnahme 1939, Hammerl wäre „CVer [= ehemaliges Mitglied des im NS verbotenen Österreichischen Cartellverband], Farbenbruder und Leibbursche des Ministers Dobretsberger. Er bietet nicht die Ge15 The National Archives at College Park, Maryland/U.S.A, ACA Austria, Box 983, Folders: Min of Int-NSDAP Screening (Privatbesitz: Oliver Rathkolb). 16 Fragebogen des Figl-Komitees im BMsV, Josef Hammerl, 23. 6. 1946: ÖStA/AdR, BKA/Entnazifizierung, Kt. 31.

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währ, dass er sich jederzeit für den nationalsozialistischen Staat restlos einsetzen wird, ich halte daher seine Pensionierung für erforderlich. Heil Hitler!“17

Im selben Jahr resümierte die Gauleitung der Partei, der Beamte wäre „Hauptdienststellenleiter der VF für das Landesarbeitsamt [gewesen] und hat seine Stellung zur Unterstützung klerikaler Parteigänger ausgenützt.“ Gegen den Genannten bestünden „derzeit noch Bedenken“.18 Von Seiten der Zweigstelle Ostmark des Reichsarbeitsministers für Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe versuchte man, diese Bedenken zu zerstreuen, indem man betonte, „daß es nicht beabsichtigt ist, Dr. Hammerl an eine andere Stelle als die zur Zeit von ihm versehene eines Dezernenten in der Zweigstelle zu bringen.“ Es wäre nicht vorgesehen, „ihn etwa an leitender Stelle in einem Arbeitsamt oder Landesarbeitsamt anzusetzen.“ Außerdem hielte man den Beamten allgemein „nicht nur für fachlich besonders tüchtig, sondern auch charakterlich für zuverlässig“.19 In der Antwort der NSDAP Gauleitung wurde „neuerlich festgestellt, daß Dr. H[ammerl] Mitglied der VF, des CV, und der christlichen Gewerkschaft also absolut klerikal ausgerichtet war. Da von Gehässigkeiten gegen die NSDAP [jedoch] nichts bekannt ist, habe ich keinen Einwand gegen ein Weiterverbleiben im Dienste, doch muß ich nochmals feststellen, daß demselben bis auf weiteres jede Beförderung gesperrt bleiben muß.“20

Ein handschriftlicher Kommentar des Gauhauptstellenleiters bestätigt dementsprechend: „Nach Rückspr[ache] mit dem Präs[idium]. Kann bleiben, ohne Beförderung.“21 1940 erhielt Hammerl sogar das vom früheren deutschen Reichspräsidenten Hindenburg gestiftete „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ verliehen. 1943 wurde Hammerl zum Gauarbeitsamt Wien abgeordnet. Es kam erneut zu einer politischen Durchleuchtung seiner Person durch die NSDAP, die wiederum zu dem Schluss kam, der Beamte „ist seiner ganzen Einstellung nach mehr katholisch. Politisch hervorgetreten ist er jedoch niemals. Seiner Haltung nach muß er als ein rechtlich denkender Mensch bezeichnet werden. […] Er ist bemüht, sich in das nationalsozialistische Gedankengut hineinzuleben und tritt im Übrigen auch jetzt politisch in keiner Weise hervor. Trotzdem glaube ich sagen zu können, daß er sich, wenn notwendig, für den NS-Staat 17 Internes Schreiben der NSDAP-Gauleitung Wien an das Gaupersonalamt, 21. 4. 1939: Gauakt Josef Hammerl. 18 Schreiben der NSDAP-Gauleitung Wien an die Zweigstelle Ostmark des Reichsarbeitsminister für Arbeitseinsatz u. Arbeitslosenhilfe, 2. 12. 1939: PA Josef Hammerl, 65. 19 Schreiben der Zweigstelle Ostmark des Reichsarbeitsministers an die NSDAP-Gauleitung Wien, 20. 12. 1939: PA Josef Hammerl, 66. 20 Schreiben der NSDAP-Gauleitung Wien an die Zweigstelle Ostmark des Reichsarbeitsministers, 27. 1. 1940: PA Josef Hammerl, 67. 21 Schreiben Gauhauptstellenleiter der NSDAP Gau Wien an den Reichsarbeitsminister Zweigstelle Österreich, 2. 12. 1939: Gauakt Josef Hammerl.

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einsetzen wird. […] Sein charakterliches Verhalten ist einwandfrei, er ist ein guter Kamerad. Die Gebefreudigkeit bei Sammlungen ist gut.“22

Auch im amtlichen Erfassungsbogen wurde festgehalten: „Nach dem Umbruch scheint er sich langsam in die heutige Zeit eingefunden zu haben. Er besucht regelmäßig die Versammlungen, in politischer Hinsicht bestehen derzeit keine Bedenken mehr.“ Die abschließende Beurteilung im Akt: „ZUSAMMENFASSUNG: Guter Volksgenosse“.23 Nach dem Krieg behauptete Hammerl, seine berufliche Position im NS-Regime im Sinne anderer ausgeübt zu haben: „Ich habe zahlreichen Personen dazu verholfen, vom zwangsmäßigen Kriegseinsatz des Nationalsozialismus freizukommen“.24 Auf welche Personen er sich dabei bezieht, ist bisher allerdings nicht nachzuweisen. 1947 legte Hammerl den Amtseid auf die Republik Österreich ab. Im Zuge eines Auszeichnungsantrags für Hammerl wurde amtlicherseits festgehalten: „Dem Nationalsozialismus ist Sektionschef Dr. Hammerl stets ferngestanden.“25 1958 wurde seine Tätigkeit amtlicherseits sehr positiv bewertet: „[Nach dem Sturz des NS-Regimes] gelang es ihm in überraschend kurzer Zeit, die Sektion zu einer vorzüglich funktionierenden Einheit auszubauen, die Ämter der Arbeitseinsatzverwaltung wieder in den österreichischen Behördenorganismus einzugliedern und auch auf legislativem Gebiet den Übergang von der deutschen Zwangsherrschaft zu einer wahrhaft sozialen Verwaltung reibungslos durchzuführen.“

Betont wurde dabei sein positiver Einfluss auf die Legislatur, da in seiner Amtszeit eine beachtliche Zahl von Gesetzen geschaffen wurde: „das Arbeitslosenfürsorge- und das Arbeitspflichtgesetz mit ihren Novellen, das Arbeiterurlaubsgesetz, das neue Arbeitslosenversicherungsgesetz und das Gesetz über die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen […], weiters das Heimarbeitsgesetz, das Mutterschutzgesetz, das neue Bäckereiarbeitergesetz und das neue Arbeiterkammergesetz, das Arbeitsplatzsicherungsgesetz und das Schlechtwetterentschädigungsgesetz“.26

Als anerkannter Fachmann vertrat er Österreich regelmäßig bei den Zusammenkünften des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, wodurch er (wie es amtlich hieß) „nicht unwesentlich zur Hebung des österreichischen Ansehens im Ausland“27 beitrug. Diese Funktion eines internationalen Korrespondenten übte 22 Politisches Gutachten der NSDAP-Gauleitung Wien, 30. 6. 1943: Gauakt Josef Hammerl. 23 Zusammenfassung der politischen Beurteilungen und der Dienstdaten durch die NSDAP, 1. 7. 1943: Gauakt Josef Hammerl. 24 Fragebogen des Figl-Komitees im BMsV, Josef Hammerl, 23. 6. 1946: ÖStA/AdR, BKA/Entnazifizierung, Kt. 31. 25 Antrag des Bundesministers auf Verleihung des Großen Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich, 16. 1. 1954: PA Josef Hammerl. 26 Antrag des Bundesministers auf Auszeichnung Hammerls mit dem Großen Silbernen Ehrenzeichen mit Stern für Verdienste um die Republik Österreich, 8.9.1958: PA Josef Hammerl. 27 Ebd.

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Hammerl auch nach seiner Pensionierung Ende 1958 weiterhin aus. Einen entsprechenden Dienstpass behielt er aus diesem Grund ebenfalls über den Zeitpunkt der Pensionierung hinaus. In der Zeit 1933 bis 1946 publizierte der Beamte die fachlichen Werke: „Die Vorschriften über die Arbeitslosenversicherung“, „Der Freiwillige Arbeitsdienst“ und „Arbeitslosenrecht“. Außerdem erschienen auch einschlägige Artikel in Fachzeitschriften.28 Josef Hammerl war verheiratet und hatte Kinder. Er verstarb am 14. 7. 1970. Das NS-Regime stellte fest, das Hammerl „Mitglied der VF, des CV, und der christlichen Gewerkschaft also absolut klerikal ausgerichtet“ war. Dennoch wurde er, „da von Gehässigkeiten gegen die NSDAP nichts bekannt“ war, aufgrund seiner fachlichen Qualifikation im Amt belassen – „ohne Beförderung“. Massive Einflussnahme auf Postenbesetzungen hatte es bereits im Dollfuß/ Schuschnigg-Regime gegeben, auf das hier im Zusammenhang mit dem hochrangigen Beamten angespielt wird.29 Bei der Untersuchung von entsprechendem Archivmaterial fällt dabei im Vergleich zum NS-Regime ein qualitativer Unterschied auf: Das Regime Dollfuß/Schuschnigg vollzog keine massenhaften Entlassungen, trachtete aber danach, auch bei der Besetzung der niedersten Posten, nur eigene Parteigänger einzusetzen.30 Das NS-Regime hingegen betrieb Entlassungen politisch und „rassisch“ Verfolgter in großem Stil, beschränkte sich bei der Umbesetzung von Posten mit eigenen Parteigängern aber auf die Schlüsselpositionen. Hierarchisch niedrigere Stellen wurden auch Personen anderer politischer Einstellungen überlassen, sofern diese unauffällig blieben und sich nicht gegen das Regime äußerten.31 Josef Hammerl ist ein Beispiel für die teilweise sehr langen österreichischen Beamtenkarrieren über mehrere Regimeumbrüche hinweg: von der ausgehenden Monarchie über die Erste Republik über die Diktaturen des Dollfuß/ Schuschnigg- und des NS-Regimes bis weit in die Zweite Republik hinein. Sein Fall zeigt anschaulich, dass ein Beamter auch wenn er von 1933–1938 eindeutiger Parteigänger des Regimes unter Dollfuß und Schuschnigg war, aufgrund eines politisch sonst unauffälligen Verhaltens auch im NS-Regime weiter im Amt verbleiben konnte. Abschließend zu den (ausschließlich männlichen) Fallbeispielen von Beschäf28 Fragebogen des Figl-Komitees im BMsV, Josef Hammerl, 23. 6. 1946: ÖStA/AdR, BKA/Entnazifizierung, Kt. 31. 29 Krempl, Arbeitsamt, 69f. 30 Siehe etwa die massenhaften politischen Durchleuchtungen („Perlustrierungen“) bei der Besetzung niederster Posten im Archiv der Vaterländischen Front im Österreichischen Staatsarchiv : ÖStA/AdR, Archiv der Vaterländischen Front (Moskauer Bestand). 31 Johannes Thaler, Fallstudien und Statistiken zur Frage der politischen Kontinuität, in: Krempl/Thaler, Arbeitsmarktverwaltung, 275–330, 287–311.

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tigten der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung und vor den nun folgenden statistischen Ausführungen sind einige Bemerkungen zum Männer- und Frauenanteil unter den Beschäftigten der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung angebracht. Die Führungspositionen der Arbeitsämter und der Landesarbeitsämter waren im Untersuchungszeitraum mit wenigen Ausnahmen durchwegs mit Männern besetzt: Dr. Elisabeth Gasteiger war „Sekretär“ [sic – männliche Form] der Industriellen Bezirkskommission von Tirol, des Vorläufergremiums des Landesarbeitsamts Tirol, und somit nach dem Vorsitzenden und dem Geschäftsführer hierarchisch an der dritten Stelle. Später wurde Gasteiger zum „ständigen Stellvertreter“ [sic – männliche Form] des Leiters des Landesarbeitsamts Tirol bestellt. Gasteiger trat zwar 1939 – wahrscheinlich aus beruflichen Gründen – der NSDAP bei, stand aber wiederholt in Konflikten mit dem NSRegime. Nach 1938 war sie in untergeordneter Stellung als Berufsberaterin beim Arbeitsamt Innsbruck tätig, wurde 1940 aber als „Referentin für Fraueneinsatz“ [nota bene – weibliche Form] wieder in das Landesarbeitsamt Tirol versetzt. Nach 1945 wurde sie in die Stellung eines „Abteilungsleiters“ [sic – wieder männliche Form] erhoben. 1951 wurde sie Leiterin der Tiroler Abteilung für „Landwirtschaftliche Arbeitsvermittlung“.32 Ebenfalls in Tirol leitete eine weibliche Beschäftigte, Paula Toriser, das Innsbrucker Berufsberatungsamt.33 Im Arbeitsamt Stockerau vertrat Auguste Meisel den amtierenden Amtsleiter.34 Die bisherigen Archivrecherchen haben zu diesen beiden Frauen allerdings keine weiteren Ergebnisse gebracht. Insgesamt ist festzuhalten, dass im Untersuchungszeitraum auf der unteren Führungsebene nur sehr vereinzelt Frauen anzutreffen waren. Im einfachen Beratungsdienst und unter den amtlichen Hilfskräften waren durchaus auch weibliche Angestellte beschäftigt, weshalb im Folgenden auch eine genderneutrale Formulierung bemüht wird.

II.

Statistiken zu Personalentwicklung der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung

Zur Zeit des „Anschlusses“ an das Deutsche Reich 1938 waren in Österreich 2.242 Personen in 111 Arbeitsämtern beschäftigt. Fast die Hälfte der MitarbeiterInnen (1050 Personen, 47,8 %) war allein in Wien beschäftigt. Die Größe der Arbeitsämter variierte stark. Während in Wien durchschnittlich 45 MitarbeiterInnen auf ein Amt entfielen, waren es in der teilweise industriell geprägten Steiermark 22, in 32 ÖStA/AdR, BMsV/Präs, PA Elsa Gasteiger. 33 ÖStA/AdR, BMsV/SP, Sammelakt 14/Allg. 1935–38, Kt. 421, Mappe Tirol. 34 Ebd, Mappe Wien.

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den übrigen Bundesländern hingegen nicht mehr als durchschnittlich 12. Zweieinhalb Monate nach dem „Anschluss“ waren 4,7 % des Personals der ehemals österreichischen Arbeitsmarktverwaltung aus politischen oder „rassischen“ Gründen bereits entlassen worden. Den größten Anteil von Entlassungen, Dienstenthebungen beziehungsweise Beurlaubungen unter den MitarbeiterInnen der Arbeitsämter weist Kärnten auf (13,3 %), gefolgt von Vorarlberg (11,5 %) und Burgenland (10,7 %). Allein in Salzburg war es bis Ende Mai 1938 zu keiner einzigen Entlassung oder Ähnlichem gekommen. In 41 Fällen finden sich in diesen tabellarischen Auflistungen auch Hinweise auf jüdische Herkunft der MitarbeiterInnen: „beurlaubt, da Jude“ beziehungsweise „Jude, vom Dienst enthoben“ (häufig einhergehend mit einer Enthebung oder Beurlaubung). Im Falle der Behörden der Arbeitsmarktverwaltung in Wien, wo es allein aus demografischen Gründen eine größere Zahl jüdischer MitarbeiterInnen gegeben haben dürfte, finden sich 34 zumeist handschriftliche Vermerke „Jude“/„Jüdin“ (89 % der Gesamtzahl). Im Gegensatz zum Vorgehen in den Bundesländern hatte dies in Wien allerdings (so legen die Akten nahe) zum Stichtag 1. 6. 1938 noch nicht zwangsläufig eine Enthebung oder Beurlaubung der Betroffenen zur Folge. Prozentuell gesehen sind für Wien in dieser Statistik vom Mai 1938 etwa gleich viele jüdische MitarbeiterInnen angeführt wie für das Burgenland (3,3 % beziehungsweise 3,6 %), gefolgt von etwa 1 % in Niederösterreich. Im Falle Oberösterreichs wurden zwei Mitarbeiter mit dem Verweis „Mischling, Vater Jude“35 erfasst. Bezüglich des Amtsleiters des Arbeitsamts Kirchdorf/Krems kam es zu dem Verweis „Die Gattin soll Jüdin sein“36. Für Niederösterreich, das die Besonderheit von drei Landesarbeitsämtern aufwies, fällt auf, dass das Landesarbeitsamt St. Pölten bei 120 MitarbeiterInnen keine/n einzige/n Mitarbeiter/ in als „Jude“/„Jüdin“ auswies, das Landesarbeitsamt Wiener Neustadt von seinen 147 Beschäftigten hingegen gleich drei Personen37 und der Bericht erstattende Leiterstellvertreter des kleineren Landesarbeitsamt Gmünd bezüglich seines Personalstands von 39 Personen explizit hervorhob: „Juden keine im Stande“.38 Die Tatsache, dass in Kärnten, Salzburg, der Steiermark, Tirol und Vorarlberg gar keine jüdischen MitarbeiterInnen angeführt wurden, könnte auf einen „stillen Arierparagrafen“ hindeuten, der es Juden und Jüdinnen bereits vor 1938 unmöglich machte, in jenen Ämtern Beschäftigung zu finden, auch wenn rechtlich keinerlei Schranken vorhanden waren. 35 Ebd, Mappe Linz, Seite 8. 36 Ebd. 37 Ebd, Mappe Wiener Neustadt, Seiten 1 (AA Wr. Neustadt), 4 (AA Erlach), 7 (AA Neunkirchen). 38 Ebd, Mappe Gmünd, Seite 1 u. 6.

82

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Im Mai 1938 war eine telefonische Weisung seitens des Bundesministeriums für soziale Verwaltung (BMsV) an die Landesarbeitsämter ergangen, eine Auflistung sämtlicher MitarbeiterInnen des Landesarbeitsamts und der untergeordneten Arbeitsämter, ihrer amtlichen Funktion und ihrer Bezüge vorzulegen.39 Die aufgrund dessen angefertigten Verzeichnisse wurden dem politischen Kommissar des BMsV, Franz Wiesinger, zugestellt, der sie am 1. 6. 1938 an den „Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Zweigstelle Österreich“ übermittelte. Die Listen sind im Österreichischen Staatsarchiv im Bestand „Sozialpolitik“ des BMsV bis heute komplett erhalten. Es liegen somit die vollständigen Verzeichnisse sämtlicher MitarbeiterInnen aller Arbeitsämter in Österreich zu jenem Zeitpunkt vor. Der Stichtag 1. 6. 1938 ergibt bundesweit folgendes statistisches Bild:

Burgenland

Arbeitsämter inkl. Landesarbeitsamt 6

56

Beschäftige – bundesweiter Anteil 2,5 %

Kärnten NÖ

7 26

113 306

5% 13,6 %

OÖ Salzburg

14 6

203 76

9% 3,4 %

Steiermark Tirol

13 11

287 90

12,8 % 4%

Vorarlberg Wien

5 23

61 1050

2,7 % 46,8 %

ÖSTERREICH

111

2242

100 %

Landesarbeitsamt

Beschäftige

Die Wiener Arbeitsmarktverwaltung unterschied sich strukturell von den übrigen Bundesländern. Abgesehen vom Landesarbeitsamt und dem allgemeinen Arbeitsamt war sie in eine Reihe von Fachämtern mit Spezialisierung auf Berufsbranchen unterteilt: „Angestellte“, „Baugewerbe“, „Bekleidungs-, Textilund Hutarbeiter“, „Fleischverarbeitendes Gewerbe“, „Graphisches und papierverarbeitendes Gewerbe“, „Holzarbeiter und verwandte Berufe“, „Hotel-, Gastund Kaffeehausgewerbe sowie Friseure“, „Arbeiter für die Landwirtschaft“, „Betriebe der Lebens- und Genussmittelerzeugung“, „Metallindustrie, metallverarbeitendes Gewerbe, chemische Industrie“, „Schuh- und Lederindustrie“ und schließlich der „Arbeitsnachweis der Stadt Wien für ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen“. Hinzu kamen noch die gesonderten Bereiche für Berufsberatung, Nachschulung, Jugendliche, die Prüfstelle sowie regionale Ämter im 39 ÖStA/AdR, BMsV/SP, Sammelakt 14/Allg. 1935–38, Kt. 421.

83

Beamte der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung und das NS-Regime

Raum Wien: Marchfeld, Tullnerfeld, Liesing, Stockerau und Wiener Boden.40 80 der 136 Mitarbeiter des allgemeinen „Arbeitsamt Wien“ sowie sämtliche 49 Mitarbeiter des Arbeitsamts für Baugewerbe waren außerdem nicht dem BMsV unterstellt, sondern Beschäftigte der Gemeinde Wien. Für Niederösterreich ist zu berücksichtigen, dass es bis 1938 als einziges Bundesland über drei Landesarbeitsämter verfügte, und zwar in St. Pölten, Wiener Neustadt und Gmünd.41 Vermerkt wurde in den Listen gleichfalls (in der Regel ohne Angabe von Gründen), welche MitarbeiterInnen zum Stichtag durch die veränderte politische Situation bereits entlassen, enthoben oder beurlaubt waren:

56

davon beurlaubt/ entlassen 6 10,7 %

Vermerk „Jude“/ „Jüdin“ 2 3,6 %

Kärnten NÖ

113 306

15 16

13,3 % 5,2 %

0 3

0 1%

OÖ Salzburg

203 76

5 0

2,5 % 0

2 0

1% 0

Steiermark Tirol

287 90

10 3

3,5 % 3,3 %

0 0

0 0

Vorarlberg Wien

61 1050

7 44

11,5 % 4,2 %

0 34

0 3,2 %

ÖSTERREICH

2242

106

4,7 %

41

1,8 %

Landesarbeitsamt

Beschäftige

Burgenland

III.

NSDAP-Mitgliedschaften des Personals der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung

Gut dokumentiert sind im Rahmen der Arbeitsmarktverwaltung die Ergebnisse des „ersten Entnazifizierungsschubs“42 durch die in den Bundesländern eingesetzten Sonderkommissionen beziehungsweise unter dem zentral eingerichteten „Ministerkomitee zur Säuberung der höchsten Staats- und Wirtschaftsstellen von Nazielementen“ (auch „Figl-Komitee“ beziehungsweise „Figl-Kommission“ genannt), das die Tätigkeit der in den Augen der Besatzungsmächte nicht sehr effizient arbeitenden Sonderkommissionen ergänzen sollte.43 Zum Stichtag 10. 4. 40 41 42 43

Ebd, Mappe Wien. Ebd, Mappen St. Pölten, Wiener Neustadt, Gmünd. Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich (Wien–München–Zürich 1981), 129–135. Ebd, 132f.

84

Johannes Thaler

1946 berichtete das „Figl-Komitee“ in einer „Meldung der Nationalsozialisten an das Bundeskanzleramt“: „Aus dem Stand des Bundesministeriums für soziale Verwaltung und seiner nachgeordneten Dienststellen (Wien und Länder) sind wegen ihrer Verbindung mit der NSDAP: endgiltig [sic] aus dem Dienst ausgeschieden […] 1.472 noch im Dienst verbliebene Parteiangehörige […] 605“.44 Diese Zahlen betrafen das Ministerium selbst, Gewerbeinspektorate, Landesarbeitsämter, Landesinvalidenämter, Bakteriologisch-serologische Untersuchungsanstalten, Lebensmitteluntersuchungsanstalten sowie Chemisch-pharmazeutische Untersuchungsanstalten, wobei die Landesarbeitsämter den bei weitem größten Teil des Personalstandes und somit auch den größten Anteil an der Entnazifizierung ausmachten. Für die einzelnen Bundesländer ergibt sich im Bereich der Landesarbeitsämter und der untergeordneten Arbeitsämter folgendes Bild (April 1946):45 Entlassene/ endgültig nicht mehr in Verwendung genommene ehem. Parteiangehörige 33

Enthobene/ noch in Verwendung genommene ehem. Parteiangehörige 20

ehem. NSDAPMitglieder GESAMT 53

Kärnten 22 Niederösterreich 334

49 192

71 526

Oberösterreich Salzburg Steiermark Tirol

145 69 213 97

60 10 97 70

205 79 310 167

Vorarlberg Wien

23 338

20 100

43 438

ÖSTERREICH

1.274

618

1.892

Bundesland Burgenland

Wie viele Personen insgesamt im NS-Regime und unmittelbar nach Ende des Kriegs beschäftigt waren, ist aufgrund der Aktenlage bisher noch nicht eindeutig festzustellen. Karl Schmidt46 spricht von 4.000 Beschäftigen der „ostmärkischen“ Arbeitsmarktverwaltung im NS gegenüber 1.000 am Ende des Dollfuß/ Schuschnigg-Regimes. Es dürfte sich dabei zumindest teilweise um Schätzungen handeln. Die Zahl von 1.000 Beschäftigten kann für das Jahr 1938 nicht bestätigt 44 Erläuterung des BMsV zu den erstellten Listen, 12. 4. 1946: ÖStA/AdR, BKA/Entnazifizierung, Kt. 25, Mappe „Namenslisten der Ministerien“. 45 ÖStA/AdR, BKA/Entnazifizierung, Kt. 25. Weitere detailliertere Dokumentation für die Bundesländer Kärnten, Oberösterreich, Salzburg und die Steiermark sowie für unmittelbar im BMsV beschäftigte MitarbeiterInnen: Kt. 23, 24, 26, 27, 30, 31. 46 Karl Schmidt, Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung von ihren Anfängen an (Salzburg o. J.), 148.

Beamte der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung und das NS-Regime

85

werden. Aus der aufgrund der amtlichen Dokumentation im Kapitel II erstellten Tabelle geht hervor, dass unmittelbar nach dem „Anschluss“ in 111 Arbeitsämtern und Landesarbeitsämtern auf dem Gebiet Österreichs bereits 2.242 Personen beschäftigt waren. Nimmt man dennoch die Zahl von etwa 4.000 beschäftigten Personen in der Arbeitsmarktverwaltung unmittelbar nach Ende des Kriegs an, so waren davon – der Dokumentation des Figl-Komitees in oben erstellter Tabelle zufolge – in der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung 1.892 „Parteigenossen“ beschäftigt. Es ergibt sich daraus ein Prozentsatz von 47,3 % an ehemaligen NSDAPMitgliedern in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In ihrer Studie über „Personelle (Dis-)kontinuitäten im Bereich der Österreichischen Bundesforste/Reichsforstverwaltung“47 kommt Maria Wirth bei einem Untersuchungssample von Bediensteten aus dem Jahr 1937 auf einen Anteil von 72 % NSDAP-Mitgliedern (inklusive Parteianwärtern und Antragstellern), darunter 66 % „Alte Kämpfer“ und frühere „Illegale“.48 Bei einem Untersuchungssample für das Jahr 1939 wird auf einen Anteil von 62 % NSDAPMitgliedern geschlossen, wobei dieser Unterschied Wirth zufolge aber auf die schlechtere Aktenlage für diesen Zeitraum zurückzuführen ist, womit man für das Jahr ebenfalls von 70–75 % ausgehen kann.49 Verglichen damit war der Anteil von 47,3 % in der Arbeitsmarktverwaltung geringer. Geht man aber für Gesamtösterreich von einem Anteil 10–11 %50 an Parteimitgliedern aus, so war der Prozentsatz bei der Arbeitsmarktverwaltung verhältnismäßig hoch. Da die genaue Beschäftigtenzahl in den Bundesländern für das Jahr 1946 nicht bekannt ist, werden im Folgenden die bundesländerweisen prozentuellen Anteile an NSDAP-Mitgliedschaften ihrem prozentuellen Anteil an Beschäftigten der Arbeitsmarktverwaltung für Gesamtösterreich aus dem Jahr 1938 gegenübergestellt. Wenn auch die österreichweite Zahl von 2.242 Beschäftigten 1938 (Landesarbeitsämter und Arbeitsämter) bis 1945 auf rund 4.000 angestiegen sein dürfte, so gehen wir für die folgende Statistik davon aus, dass der prozentuelle Anteil der einzelnen Bundesländer dabei in etwa gleich geblieben ist:

47 Maria Wirth, Personelle (Dis-)kontinuitäten im Bereich der Österreichischen Bundesforste/ Reichsforstverwaltung 1938–1945–1955, In: Oliver Rathkolb/Maria Wirth/Michael Wladika (Hg), Die „Reichsforste“ in Österreich 1938–1945 (Wien/Köln/Weimar 2010), 15–128. 48 Ebd, 63. 49 Ebd, 65. 50 Wirth, Bundesforste, 60.

86

Johannes Thaler

ehem. NSDAP-Mitglieder GESAMT – bundesweiter Anteil (1946) 2,8 %

Bundesland

Beschäftigte in der AMV – bundesweiter Anteil (1938)

Entlassene – bundesweiter Anteil (1946)

Burgenland

2,5 %

2,6 %

Enthobene/ noch in Verwendung Genommene – bundesweiter Anteil (1946) 3,2 %

Kärnten NÖ

5% 13,6 %

1,7 % 26,2 %

7,9 % 31 %

3,8 % 27,8 %

OÖ Salzburg

9% 3,4 %

11,4 % 5,4 %

9,7 % 1,6 %

10,8 % 4,2 %

Steiermark Tirol

12,8 % 4%

16,7 % 7,6 %

15,7 % 11,3 %

16,4 % 8,8 %

Vorarlberg Wien

2,7 % 46,8 %

1,8 % 26,5 %

3,2 % 16,2 %

2,3 % 23,2 %

ÖSTERREICH 100 %

100 %

100 %

100 %

Auffällig sind in dieser Statistik Niederösterreich und Tirol, die jeweils einen mehr als doppelt so hohen bundesweiten Prozentsatz an ehemaligen NSDAPMitgliedschaften aufweisen als sie Anteil an bundesweiten Beschäftigten der Arbeitsmarktverwaltung hatten (27,7 % gegenüber 13,6 % bzw. 8,8 % gegenüber 4 %). Wien hingegen fällt dadurch auf, dass es bei derselben Gegenüberstellung nur einen etwa halb so großen Anteil an österreichweiten Parteimitgliedschaften hatte (23,2 % gegenüber 46,8 %). Für Kärnten ist hervorzuheben dass der bundesweite Anteil an noch im Dienst befindlichen Ehemaligen wesentlich höher war jener der entlassenen (7,9 % gegenüber 1,7 %), für Salzburg wiederum umgekehrt der weitaus höhere Anteil bei den bereits entlassenen als bei den noch im Dienst befindlichen Ehemaligen (1,6 % gegenüber 5,4 %).

IV.

Schluss

Die im ersten Teil des Beitrags gebrachten Fallbeispiele verdeutlichen eine Reihe von Punkten der Personalpolitik im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung während des Nationalsozialismus und danach. Beschäftigte der Arbeitsmarktverwaltung konnten – so legen die Fallbeispiele nahe – im NS-Regime auch als Nicht-Parteigänger ihre amtliche Tätigkeit fortsetzen, sofern sie nicht aus sogenannten „rassischen“ Gründen verfolgt wurden und sich nicht gegen das Regime äußerten oder engagierten. In diesem Sinne konnte etwa der langjährige Bedienstete der Arbeitsmarktverwaltung und spätere Sektionschef Josef Hammerl im Amt verbleiben, auch wenn der NSDAP-Zentrale durchaus bewusst war,

Beamte der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung und das NS-Regime

87

dass es sich bei ihm um einen ehemaligen Parteigänger und Sympathisanten des politischen Katholizismus und des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes handelte. „Kann bleiben, ohne Beförderung“ lautete der Entschluss der NS-Behörden nach erfolgten politischen Nachforschungen. Es wurde die Hoffnung ausgesprochen, dass sich Hammerl noch „in das nationalsozialistische Gedankengut hineinleben“ beziehungsweise „in die heutige Zeit einfinden“ werde. Hammerl ist ein Beispiel für die teilweise sehr langen österreichischen Beamtenkarrieren über mehrfache Regimeumbrüche hinweg bis weit in die Zweite Republik hinein. Umgekehrt zeigen Fälle wie Tscheitschonig und Kaufmann, dass eine NSDAPMitgliedschaft vor 1938 für österreichische Beamte nicht automatisch eine Beförderung im NS-Regime zur Folge hatte. Höhere Posten wurden häufig durch Experten aus dem „Altreich“ besetzt. Der Fall Tscheitschonigs demonstriert darüber hinaus, wie auch aktives Engagement für die NS-Strukturen – etwa in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) – nicht vor strengen politischen Disziplinarmaßnahmen schützten, was bei ihm die strafweise Einberufung an die Front bedeutete. Einen günstigeren Startpunkt im NS-Regime scheint in dieser Hinsicht Josef Kalista gehabt zu haben. Er war nach dem missglückten Juliputsch 1934 als Beteiligter ins Deutsche Reich geflohen und Jahre später im Zuge des „Anschlusses“ als nun reichsdeutscher Beamter wieder nach Österreich gekommen, wo er in Folge die Leitung verschiedener Arbeitsämter übernahm. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Beobachtung eines qualitativen Unterschieds zwischen der Personalpolitik des Dollfuß/SchuschniggRegimes und des NS-Regimes hingewiesen: Während in der Diktatur Dollfuß’ und Schuschniggs auch bei der Besetzung niedriger Stellen danach getrachtet wurde, eigene Parteigänger unterzubringen, scheint es im Nationalsozialismus in erster Linie um die Besetzung von Schlüsselpositionen mit Nationalsozialisten (insbesondere mit jenen aus dem „Altreich“) gegangen zu sein. Im Falle Kaufmanns lässt sich nachverfolgen, wie im Nachkriegs-Österreich im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung bei der Frage der Wiedereinstellung fachliche Kompetenz vor politische Belastung gesetzt wurde. Kaufmann, dessen Tätigkeit bei der Arbeitsmarktverwaltung bis in die Zeit der Monarchie zurückreichte, wurde trotz seiner Aktivität für den Nationalsozialismus und die NSDAP nach 1945 wieder eingestellt. Statistisch gesehen dürfte sich die Zahl der Bediensteten im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung auf dem Gebiet Österreichs von 2.242 im Jahr 1938 auf etwa 4.000 zu Ende des NS-Regimes erhöht haben. Bei 41 Beschäftigten ist in den Erfassungslisten aus dem Jahr 1938 der Vermerk „Jude“ zu finden, wobei in vier Bundesländern gar kein/e jüdische/r Mitarbeiter/in angeführt ist, was auf einen „stillen Arierparagrafen“ hindeuten könnte, der dort möglicherweise bereits vor dem „Anschluss“ bestand. Für ganz Österreich wurde zu Ende des Kriegs ein Prozentsatz von 47,3 % an NSDAP-Mitgliedschaften unter den Bediensteten der

88

Johannes Thaler

Arbeitsmarktverwaltung ermittelt, was im österreichweiten Durchschnitt sehr hoch erscheint, von anderen Ämtern, die 60–75 % an Parteiangehörigen aufwiesen, jedoch noch übertroffen wurde.

Irina Vana

„Eingereiht in die große Schlange …“1 – Verwaltung von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden am öffentlichen Arbeitsamt (Österreich 1918–1934)

Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Arbeitsvermittlung, wie B8n8dicte Zimmermann und Sabine Rudischhauser schreiben, als „Kategorien der Intervention der öffentlichen Hand“2 entdeckt und damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts international immer eindeutiger zu einer staatlichen Angelegenheit.3 Durch die öffentliche Arbeitsvermittlung sollten Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bekämpft werden.4 Sie galt als eine Möglichkeit, Gelegenheitsarbeit zu überwinden,5 zur „Organisation des Arbeitsmarktes“6 und zur Kontrolle von Migration und Landstreicherei.7 Zudem sollten durch die Etablierung einer öffentlichen Arbeitsvermittlung bestimmte andere Praktiken der Arbeitsuche

1 Zitat aus: Franz Engelmann, ohne Titel, Wien 1997 (unveröffentlichtes Manuskript), 39. Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen Wien (DOKU). Der vorliegende Beitrag basiert auf meiner Dissertation: Irina Vana, Gebrauchsweisen der Öffentlichen Arbeitsvermittlung, phil. Diss., Wien 2013. Diese ist Teil des Projekts „The Production of Work“ (Projektleitung: Sigrid Wadauer). Die Forschung wurde durch Gelder des FWF (Project Y367G14) und des European Research Council im Rahmen des European Community’s Seventh Framework Programm (FP7/2007–2013) / ERC grant agreement n8 200918 sowie durch Mittel eines Forschungsstipendiums der Universität Wien 2012 finanziert. Ich danke meiner Kollegin Sonja Hinsch, den Herausgebern Johannes Thaler und Mathias Krempl sowie den GutachterInnen für Korrekturen und Anmerkungen zu dem gegenständlichen Text. 2 Sabine Rudischhauser/Benedicte Zimmermann, „Öffentliche Arbeitsvermittlung“ und „Placment public“ (1890–1914). Kategorien der Intervention der öffentlichen Hand – Reflexion zu einem Vergleich, in: Comparative (1995) 5, 93–120. 3 Sigrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik, The Making of Public Labour Intermediation. Job Search, Job Placement, and the State in Europe, 1880–1940, International Review of Social History (IRSH) (2012) 57, 161–189, 161. 4 Noel Whiteside, Welfare Insurance and Casual Labour. A Study of Administrative Invention in Industrial Employment 1906–1926, in: The Economic History Review, New Series 32 (1979) 4, 507–522, 520. 5 William Walters, Unemployment and Government. Genealogies of the social, Cambridge 2000, 47. 6 Viktor Mataja, Über Arbeitsvermittlung. Separat-Abdruck aus der Wochenschrift des Niederösterreichischen Gewerbevereins, Wien 1890, 1. 7 Wadauer/Buchner/Mejstrik, The Making, 178.

90

Irina Vana

– wie die Umschau – und bestimmte Formen der Arbeitsvermittlung8 – wie etwa gewerblicher Vermittlungen – in ihrer Bedeutung marginalisiert werden. Der Ausbau der öffentlichen Vermittlungen nach dem Ersten Weltkrieg sollte zudem zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit9 und der Wirtschaft des neu konstituierten Staates beitragen. Der folgende Beitrag behandelt die Frage, wie die öffentliche Arbeitsvermittlung in Österreich in der Ersten Republik ausgestaltet war. HistorikerInnen näherten sich dieser Fragestellung durch die Analyse der politischen Zielsetzungen der öffentlichen Einrichtungen,10 die Darstellung ihrer gesetzlichen Regelungen11 und die Beschreibung der funktionalen Organisation der Ämter.12 Diese Perspektiven zeigen eine hoch offizielle Sichtweise dessen, was die öffentliche Arbeitsvermittlung leisten sollte und auszeichnete. Wie aber bewerteten und gestalteten die in die Verwaltung und Vermittlung der Arbeitsämter13 involvierten Parteien das Amt? Wie nutzten und bewerteten jene, die als Arbeitslose und Arbeitssuchende durch das Amt verwaltet wurden, die öffentlichen Ämter? Wie definierten ArbeitsvermittlerInnen ihre Aufgaben und ihre Position im Amt und gegenüber den Arbeitssuchenden und potenziellen ArbeitgeberInnen? Indem ich die Perspektiven von ArbeitnehmerInnen, ArbeitgeberInnen und 8 Ebd., 175. 9 Edmund Palla, Maßnahmen für Arbeiter und Angestellte. Ein Jahr Arbeitslosenfürsorge in Österreich, in: Amtliche Nachrichten des Österreichischen Staatsamts für soziale Verwaltung (1919) 1, 842–856. 10 Hans Hülber, Der geschichtliche Werdegang der Arbeitsmarktverwaltung in Wien: vom Arbeitslosenamt zum Arbeitsamt (Arbeitsgemeinschaft der Bediensteten des Landesarbeitsamtes Wien und der Wiener Arbeitsämter), Wien 1964. 11 Vgl. Mathias Krempl, Arbeitsamt und Staatsgewalt. Arbeitsmarktbehördliche Organisation und Sachfragen im politischen Wandel, in: Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis, Wien 2015, 13–274; Herbert Hofmeister, Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenfürsorge in Österreich, in: HansPeter Benöhr (Hg.), Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenvorsorge in der neueren deutschen Rechtsgeschichte (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 5) Tübingen 1999, 217–237. 12 Zur architektonischen Ausgestaltung der Arbeitsämter und der Verwaltungspraxis vgl. Antje Senarclens de Grancy, Arbeitsamt Graz, in: Antje Senarclens de Grancy/Heidrun Zettelbauer (Hg.) Architektur. Vergessen: jüdische Architekten in Graz, Köln–Weimar–Wien 2011, 97–109, 99; Simon Roloff, Strömung des Sozialen. Versicherung, Verwaltungstechnik und Architektur der Arbeitslosenmasse in den 1920er Jahren, in: illix. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft (2010) 1, 23–43. Thomas Buchner, Orte der Produktion von Arbeitsmarkt. Arbeitsämter in Deutschland, 1890–1933, in: Peter Becker (Hg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung in Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, 305–334. 13 Die frühen Arbeitsämter ab 1918 wurden in den österreichischen Gesetzen als „Arbeitslosenämter“ bezeichnet, im Folgenden werden beide Bezeichnungen für die Frühzeit synonym verwendet.

Verwaltung von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden (Österreich 1918–1934)

91

ihren politischen Vertretungen, sowie von ArbeitsvermittlerInnen auf die Verwaltungsstrukturen und -praktiken der öffentlichen Arbeitsvermittlung ins Zentrum meiner Analyse stelle, hoffe ich, den in der Forschung vorherrschenden Fokus auf die programmatischen Ziele der Arbeitsvermittlung zu überwinden. Die Stellungnahmen der unterschiedlichen Parteien zur öffentlichen Arbeitsvermittlung – kritische, affirmative und ablehnende – zeigen die Auseinandersetzungen darum, was das Arbeitsamt auszeichnete. In ihnen manifestiert sich, wie die unterschiedlichen Parteien, durch ihren Bezug zum Arbeitsamt zu Arbeitssuchenden, ArbeitgeberInnen, Arbeitslosen und VermittlerInnen wurden und wie sie ihre Positionen interpretierten. Durch diesen Perspektivenwechsel will ich ein umfassenderes Verständnis davon gewinnen, wie die Ämter im Österreich der Zwischenkriegszeit funktionierten und welche Rolle ihnen bei der Etablierung sozialstaatlicher Konventionen und der Herstellung eines nationalen Arbeitsmarkts,14 von Arbeitslosigkeit,15 Erwerbsarbeit und Lebensunterhalten16 zukam. Ausgehend von der formalen Struktur der öffentlichen Arbeitsvermittlung in Österreich nach 1918 werde ich in diesem Beitrag anhand von Beschreibungen der Verwaltungsstrukturen und -entscheidungen der Arbeitsämter darstellen, wie diese zu behördlichen Einrichtungen wurden. Ich argumentiere, dass die Möglichkeit, am Amt Unterstützungsansprüche geltend zu machen, wesentlich für die Herstellung einer sozialstaatlichen Struktur war und deren Ausgestaltung als Behörde beförderte. Die Nutzung und Bewertung der bürokratischen Verwaltungsabläufe des Amts durch Arbeitssuchende und ArbeitsvermittlerInnen steht bei dieser Beschreibung im Zentrum. Die Perspektive von Vertretungen der ArbeitgeberInnen wird exemplarisch hinzugezogen.

I.

Aufbau einer öffentlichen Arbeitsvermittlung

1919 wurde in der Deklaration der Internationalen Arbeitskonferenz (ILO) in Washington festgehalten, dass sich die Mitgliedsstaaten der ILO dazu verpflichten sollten, durch die Koordination von (bestehenden) paritätisch besetzten, unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsstellen ein nationales System der öffentlichen Arbeitsvermittlung zu schaffen.17 Dennoch bezeichnete das Kon14 Sebastian Conrad/Elisio Macamo/B8n8dicte Zimmermann, Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation, in: Jürgen Kocka/Klaus Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a.M. – New York 2000, 449–475. 15 B8n8dicte Zimmermann, Arbeitslosigkeit in Deutschland zur Entstehung einer sozialen Kategorie (Theorie und Gesellschaft 56), Frankfurt a.M. 2006. 16 Vana, Gebrauchsweisen. 17 Im Original: „Each member which ratifies this convention shall establish a system of free

92

Irina Vana

zept einer öffentlichen Arbeitsvermittlung in der Zwischenkriegszeit ganz unterschiedliche Einrichtungen und Zielsetzungen, wie in zeitgenössischen Studien18 und von HistorikerInnen herausgearbeitet wurde.19 Ihre Ausgestaltung war beispielsweise vom regionalen Kontext und der politischen Stärke der Arbeitsmarktparteien abhängig.20 Diese Faktoren bewirkten, dass auch die öffentliche Arbeitsvermittlung in einem Staat ganz unterschiedliche Einrichtungen umfasste, wie die Struktur in Österreich zeigt.

1.1.

Ein Netzwerk öffentlicher Arbeitsvermittlungsstellen

Die Errichtung eines Netzwerks öffentlicher Arbeitsvermittlungsstellen, das dem Grundsatz der ILO entsprach, zählte in Österreich, neben der Einführung von Arbeitslosenunterstützung, zu einer der ersten sozialpolitischen Maßnahmen der Ersten Republik: In einer Verordnung vom 4. November 1918 verfügte das Staatsamt für soziale Fürsorge21 die Gründung von paritätisch besetzten Industriellen Bezirkskommissionen.22 Sie waren für die Organisation der Arbeitsvermittlung zuständig und fungierten als Schlichtungsstellen bei Streitfällen im Bereich der neu eingeführten Arbeitslosenfürsorge.23 Zur Koordination der In-

18 19

20 21 22 23

public agencies under the control of a central authority. Committees which shall include representatives of employers and of workers shall be appointed to advice on matters concerning the carrying on of these agencies. Where both public and private free employment agencies exist, steps shall be taken to co-ordinate the operation of such agencies on a national scale.“ In: International Labour Office (ILO), Employment Exchanges and their Organization, in: International labour review (1921) 2, 19–37, 19. Besagte Konvention wurde in Österreich im Juli 1924 ratifiziert: BGBl 226/1924. ILO, Die Arbeitsvermittlung, eine internationale Studie (Studien und Berichte Internationales Arbeitsamt. Reihe C, Arbeitslosigkeit 18), Genf 1934. Wadauer/Buchner/Mejstrik, The Making; Rudischhauser/Zimmermann, „Öffentliche Arbeitsvermittlung“; Nils Elding, Regulation unemployment the Continental way : the transfer of municipal labour exchanges to Scandinavia 1890–1914, in: European Review of History – Revue europ8enne d’Histoiere 15 (2008) 1, 23–40; Guillemette de Larquier, ðmergence des services publics de placement et march8s du travail francais et britannique aux XXe siHcle, in: Travail et Emploi (2000) 84. Rudischhauser/Zimmermann, „Öffentliche Arbeitsvermittlung“, 91. Ab 1919: Staatsamt für soziale Verwaltung, ab 1920: Bundesministerium für soziale Verwaltung. Karl Forchheimer, Die Industriellen Bezirkskommissionen, in: Arbeit und Beruf 7 (1928) 22, 598–599, 598. Unter dem Eindruck der Übergangswirtschaft erstreckten sich die Aufgaben der Industriellen Bezirkskommissionen darauf „Evidenz über jene gewerblichen Betriebe herzustellen, die Arbeitskräfte in größerer Zahl erfassen wollen […] die Beförderung von Arbeitskräfte […] (Massentransporte) […] zu veranlassen, die zuständigen Approvisationsbehörden von den bevorstehenden Massentransporten zu verständigen, Maßnahmen der Arbeitslosen-

Verwaltung von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden (Österreich 1918–1934)

93

dustriellen Bezirkskommissionen wurden eine paritätische Industrielle Zentralkommission und, als deren Exekutivorgan, eine Zentralausgleichsstelle geschaffen.24 Die den Industriellen Bezirkskommissionen eingegliederten Arbeitsämter waren, wie in der Deklaration der ILO vorgesehen, dezentral geführt.25 Zu den BetreiberInnen zählten Gemeinden und Städte, gemeinnützige Vereine sowie paritätische Gremien von Gewerkschaften und Vertretungen der ArbeitgeberInnen.26 Ihren behördlichen Charakter erhielten die Vermittlungsstellen durch die Eingliederung in die zentrale Verwaltung der Industriellen Bezirkskommissionen und die Bestellung zum Arbeitslosenamt über das Sozialministerium.27 Aufgabe der Arbeitsämter war es, zum Zweck der Arbeitsvermittlung, Arbeitsangebote und offene Stellen in Evidenz zu führen und die Auszahlung und Kontrolle von Arbeitslosengeld zu organisieren. Dieses wurde 1918 erstmals ausgezahlt und 1920 zur Arbeitslosenversicherung ausgestaltet.28 Die meisten Arbeitslosenämter, die den industriellen Bezirkskommissionen eingegliedert wurden, waren allgemeine Arbeitsämter. Sie verwalteten Arbeitsgesuche und Stellen aller Berufe und Branchen und waren jeweils für einen regional begrenzten Sprengel zuständig. Dieses territoriale Ordnungsprinzip glich der Organisationsweise der Armenfürsorge,29 die durch die Gemeinden geleistet wurde. Auch die Bestimmungen zur Kontrolle von Vagabundage bzw. Wandern30 bezogen sich auf regionale Verwaltungsgrenzen. Damit entsprach die territoriale Gliederung der Arbeitsmarktsprengel den bereits vor 1918 auf dem Gebiet der späteren Republik Österreich etablierten Strukturen der öffentlichen Verwaltung zur Kontrolle Arbeitssuchender. In vielen ländlichen Sprengeln, in denen es nur wenige Arbeitslosenämter gab, waren die Gemeinden auch nach 1918 die ersten Anlaufstellen für Arbeitssuchende. Sie mussten bei diesen ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend machen. Daher hatten Arbeitslosen-

24 25 26 27 28 29 30

fürsorge durchzuführen.“ § 1 StGBl 18/1918, Vollzugsanweisung des Deutschösterreichischen Staatsrates, betreffend die Arbeitsvermittlung für die Zeit der Abrüstung. § 4 StGBl 18/1918. Arbeiterfürsorge während der Uebergangswirtschaft, in: Die Gewerkschaft (1918) 46, 256. Sprengel der Einrichtungen der Österreichischen Arbeitsmarktverwaltung, in: Arbeit und Beruf 5 (1926) 1, 22–24. Daneben gab es in Österreich jedoch weiterhin von Behörden geführte Vermittlungen, die nicht zu öffentlichen Arbeitslosenämtern bestellt wurden Vgl. Eduard Straas, Behördliche Arbeitsvermittlung, in: Arbeit und Wirtschaft (1931) 9, 944. Dazu genauer : Emmerich T#los, Sozialpolitik in der Ersten Republik, in: Emmerich T#los/ Herbert Dachs/Ernst Hanisch/Anton Staudinger (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1938, Wien 1995, 570–586. Vgl. Rudischhauser/Zimmermann, „Öffentliche Arbeitsvermittlung“, 114. Jean Luciani, Logiques du placement ouvrier au XIXe siHcle et construction du march8 du travail, in: Soci8t8s contemporaines (1990) 3, 5–18, 6.

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geldbezieherInnen in ländlichen Gebieten oft nur geringen Kontakt zu den Arbeitslosenämtern. In den größeren Städten, Wien, Linz und Graz, wurden, zusätzlich zu den allgemeinen Arbeitsämtern, fachspezifische Arbeitsvermittlungsstellen zu öffentlichen Arbeitslosenämtern bestellt. Unmittelbar nach dem Krieg waren diese, auf Wunsch der Arbeitgebervertretungen, nicht mit Aufgaben der Arbeitslosenverwaltung betraut worden.31 Sie fürchteten bei fachspezifischen Arbeitsämtern, die traditionell durch die Gewerkschaften organisiert worden waren, einen zu starken Einfluss der Arbeitnehmervertretung. Bereits 1919 wurden jedoch die ersten, aus Zweckverbindungen32 der Fachvermittlungen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden33 entstandenen paritätischen Vermittlungsstellen, zu öffentlichen Arbeitslosenämtern bestellt.34 Bei diesen fachspezifischen Ämtern waren Arbeitssuchende und Arbeitslose einer Branche registriert. Für die fachspezifischen Ämter, die eine große Zahl Arbeitsloser fassten, wurden in vielen Fällen eigene Zweckbauten, die nach den Bedürfnissen der Vermittlung strukturiert sein sollten, errichtet. Wie sich zeigte, beschrieben öffentliche Arbeitslosenämter ganz unterschiedliche Einrichtungen. Neben allgemeinen Arbeitsämtern, die in ehemaligen Kasernen, Kinosälen,35 Hotels, Schulen36 oder in gut zugänglichen Wohnungen37 untergebracht wurden, entstanden in den Städten große, spezialisierte Zweckbauen. Die Einrichtung der Ämter und ihre Ausgestaltung waren von der Region, den dort vorherrschenden Betriebsstrukturen, der Zuständigkeit der Ämter, der Mitwirkung der verschiedenen Interessengruppen bei den Ämtern und von der Amtsleitung abhängig.38 Trotz dieser Vielfallt wiesen die öffentlichen Ämter wichtige Gemeinsamkeiten auf: Bei allen öffentlichen Arbeitsämtern gab es die Möglichkeit, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend zu machen und alle Ämter waren über die Industriellen Bezirkskommissionen in ein Netzwerk eingebunden, das einen Austausch von Informationen zu offenen Stellen und Stellensuchenden zwischen den Ämtern ermöglichen sollte. Diese Verwaltungsaufgabe kam nur den öffentlichen Ämtern zu. Dadurch unterArbeiterfürsorge während der Uebergangswirtschaft, in: Die Gewerkschaft (1918) 46, 256. Die Arbeitsnachweise in den Ländern Österreich, in: Arbeit und Beruf 5 (1926) 1, 24. Adolf Habler, Die Wiener Arbeitsnachweise, in: Arbeit und Beruf 7 (1928) 22, 603–605, 603. F.N., Die Arbeitslosigkeit in Baugewerbe im Jahre 1919, in: Die Gewerkschaft (1920) 8, 51. Arbeitslosenamt Eggenburg/Auflösung Horn Gemeindeauszahlungen, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Ministerium für soziale Verwaltung (MfSV), Sozialpolitik, SA 13/5, Zl. 13424/1931. 36 Senarclens de Grancy, Arbeitsamt Graz, 99. 37 Mietvertrag Arbeitslosenamt Zwettl, Stadtarchiv Zwettl, Karton 106, Zl. 73/3–1932; Der Vorstand des Amts in Vöcklabruck schlug 1921 sogar vor, das Amt in seiner eigenen Wohnung unterzubringen (ÖStA, AdR, MfSV, Sozialpolitik, SA 14/Linz, Zl. 22314, 1921). 38 Buchner, Orte der Produktion, 314.

31 32 33 34 35

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schieden sie sich von anderen Vermittlungsstellen, wie jenen der Innungen, Gewerkschaften, den Vermittlungen von privaten Vereinen und Vermittlungsstellen von Städten und Behörden, die nicht den Industriellen Bezirkskommissionen eingegliedert waren.39

1.2.

Das Arbeitslosengeld

Mit der Einführung der Arbeitsloseunterstützung, mit deren Verwaltung die Arbeitslosenämter betraut waren, wurden neue Kategorien zur Klassifizierung von Arbeitslosigkeit geschaffen und Hierarchien zwischen Anspruchsberechtigten und jenen, die keinen Anspruch auf Unterstützung erworben hatten oder erhalten konnten, durchgesetzt. Voraussetzung für den Bezug des Arbeitslosengeldes war die Registrierung bei einem Arbeitsamt oder einer zuständigen Gemeinde. Wichtige Kriterien waren zudem der Nachweis einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, Arbeitswilligkeit40 und Arbeitsfähigkeit.41 Auch Alter, Beruf, regionale Herkunft und – obschon es dazu keine gesetzliche Grundlage gab – Geschlecht42 spielten eine Rolle beim Zugang zu Arbeitslosengeld. Als arbeitswillig galten jene Arbeitssuchenden, die bereit und fähig waren, eine ihnen zugewiesene „entsprechende Beschäftigung“ anzunehmen. Im Gesetz war die entsprechende Beschäftigung definiert als Arbeitsstelle, die „den körperlichen Fähigkeiten des Arbeitslosen angemessen ist, seine Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist und dem Arbeitslosen eine künftige Verwendung in dem erlernten Beruf nicht wesentlich erschwert“.43 Der durch diese Bestimmung garantierte Berufsschutz galt jedoch nur für acht Wochen. Danach durften Arbeitslose ohne Rücksicht auf den erlernten oder ausgeübten Beruf vermittelt werden. Die Berufszugehörigkeit wurde damit zu 39 Straas, Behördliche Arbeitsvermittlung, 944. 40 Sigrid Wadauer, Establishing Distinctions. Unemployment versus Vagrancy (in Austria from the Late Nineteenth Century to the Anschluss) in: IRSH (2011) 56, 31–70. 41 John Welshman, The concept of the unemployable, in: Economic History Review. LIX (2006) 3, 578–606; Verena Pawlowsky/Harald Wendelin, Transforming Soldiers into Workers. The Austrian Employment Agency for Disabled Veterans during the First World War, in: Sigrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik (Hg.), History of Labor Intermediation. Institutions and Individual Ways of Finding Employment (19th and Early 20th Centuries), New York – Oxford 2015, 181–194. 42 Irina Vana, Arbeitslose Männer und verdienstlose Frauen? Auswirkungen der austrofaschistischen Arbeitsmarktpolitik auf die geschlechtliche Normalisierung von Arbeitslosigkeit, in: Veronika Duma/Linda Erker/Veronika Helfert/Hanna Lichtenberger (Hg.), Austrofaschismus, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 3 (2016), 16–44. 43 § 6 Absatz 3 AlVG i. d. F. StGBl 1920/153.

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einem wichtigen Kriterium für die Dauer und den Zugang zu Unterstützungsleistungen.44 Keine Versicherungsleistungen beziehen konnten Personen, die im Haushalt tätig waren und land- und forstwirtschaftliche ArbeiterInnen und Angestellte. Auch Personen, die in kleingewerblichen Betrieben in sogenannten „rein ländlichen Gebieten“ beschäftigt waren, wurden aus dem Kreis der Bezugsberechtigten 1925 ausgeschlossen. Ausgenommen von der Arbeitslosenversicherung waren zudem berufsmäßig bei mehreren ArbeitgeberInnen Beschäftigte, Aushilfsbeschäftigte und Personen, die im Betrieb naher Familienangehöriger beschäftigt waren.45 Damit wurden nach dem Gesetz Arbeitslose von Personen, die aufgrund diskontinuierlicher Erwerbs- und Beschäftigungsgewohnheiten momentan keine Beschäftigung hatten, unterschieden und von solchen differenziert, die in anderer Weise ihren Lebensunterhalt bestritten oder in anderer Weise abgesichert werden sollten. Durch diese Bestimmungen wurden unter anderem die angesprochenen geschlechtsspezifischen Differenzen im Zugang zu Arbeitslosengeld befördert. Da Frauen eher im Haushalt beschäftigt waren als Männer, Versicherungsansprüche, so sie welche geltend machen konnten, häufiger durch Hilfsarbeiten erwarben – da in vielen Branchen keine Facharbeiterinnen ausgebildet wurden – und häufiger ihre Stellen wechselten, war es für Frauen wesentlich schwieriger, die geforderten versicherungspflichtigen Zeiten nachzuweisen. Auch die Dauer des Bezugs war für Frauen geringer. Aufgrund des Passus’ zur „Gefährdung des Lebensunterhalts“, wonach nur jene Unterstützungsleistungen bekommen sollten, die nicht durch ein anderes Einkommen im Haushalt versorgt wurden, wurden sie zudem eher ausgesteuert als Männer. Selbiges galt für Jugendliche.46 Jene Personengruppen, die keine Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung stellen konnten, nutzen die Ämter weniger oder in anderer Weise als jene, die dort um Unterstützung ansuchen konnten. Auch wenn diese Gruppen daher bei der Analyse der Ausgestaltung der Ämter nicht im Fokus stehen, müssen sie, will man die Wirkung der öffentlichen Arbeitsvermittlung erfassen, mitbedacht werden.

44 Irina Vana, Zur Durchsetzung von Berufskonzepten durch die öffentliche Arbeitsmarktverwaltung (Österreich 1918–1938), in: Alexander Mejstrik/Sigrid Wadauer/Thomas Buchner (Hg.), Die Erzeugung des Berufs / Production of ,Beruf ’, ÖZG 1 (2013), 34–58, 42. 45 Josef Hammerl/Hans Kraus, Handbuch des Arbeitslosenrechts einschließlich der Altersfürsorge, eine systematische Darstellung der geltenden Bestimmungen unter Berücksichtigung der Praxis, Wien 1936, 4. 46 Vgl. Irina Vana, Arbeitslose Männer, 22; Irina Vana, Berufsberatung und „Freiwilliger Arbeitsdienst“: Wege aus der Arbeitslosigkeit der Zwischenkriegszeit? in: Michaela Hauer, Sonja Hinsch, Michael Rittberger, Irina Vana, arbeitslos – aussichtslos? Probleme und (fehlende) Perspektiven arbeitsloser Jugendlicher, Schulheft 183 (2010), 113.

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II.

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Beim Arbeitslosenamt

Die Stellungnahmen, die im Folgenden exemplarisch nach thematischen Bezügen zum Amt dargestellt werden, zeigen jeweils eine spezifische Sichtweise auf die Arbeitsämter und ein spezifisches Verständnis des betrachteten Phänomens, welche für die Ausgestaltung und Wirkung der Arbeitsämter konstitutiv waren. Sie verdeutlichen, welches Verhalten von am Amt Registrierten erwartet wurde, wie diese glaubten, sich verhalten zu müssen, um als arbeitslos zu gelten, welche Tätigkeiten damit verbunden waren und wie sie die Ämter nutzten.47 Sie zeigen damit exemplarisch einen Aspekt dessen, wie die Verwaltung der Ämter charakterisiert werden konnte und wie diese wirksam wurden.

2.1.

Quellen

Basis meiner Darstellung sind Berichte zu den Vermittlungs- und Verwaltungstätigkeiten der Arbeitsämter in kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitslosenzeitschriften, christlich-sozialen und sozialdemokratischen Gewerkschaftszeitungen und Innungszeitschriften. Zudem ziehe ich Beschwerdeschreiben von (ehemaligen) ArbeitslosengeldempfängerInnen an das Ministerium für soziale Fürsorge und Berichte über den Kontakt zum Arbeitsamt in Autobiografien heran,48 um die Nutzung der Ämter und den Bezug der Arbeitslosen zum Amt zu beschreiben. Die Zeitschriften der Arbeitslosenvertretungen, Der Mahnruf. Organ für Arbeitslose und Arbeiter und der Neue Mahnruf wurden zwischen 1927 und 1931 veröffentlicht. Sie waren das Organ der „KPÖ (Opposition)“ der Steiermark, die sich 1927 von der KPÖ abspaltete. Ab 1930 wurde die Zeitung in Kooperation mit der „KPÖ (Opposition)“ Wien herausgegeben. In den dort veröffentlichten Kolumnen „Aus dem Alltag“, „Aus dem Arbeiterleben“ bzw. „Was man uns schreibt“ und „Was uns Arbeiter schreiben“ veröffentlichte die Zeitschrift von RedakteurInnen verfasste Berichte über Vorfälle in Arbeitsämtern und ausgewählte Zuschriften von Arbeitslosen. Zielsetzung der Zeitschrift war es, die Arbeitslosen zur politischen Aktion zu motivieren. Die Arbeitslosen-Zeitung war das Organ des Zentral-Arbeitslosenkomitees, das der KPÖ nahe stand.49 47 Vgl. Vana, Gebrauchsweisen, 227. 48 Diese wurden von der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien zur Verfügung gestellt. Ich danke Günther Müller, Dokumentation lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, für die Hilfe bei der Auswahl der Texte und deren Zurverfügungstellung. 49 Vgl. Peter Wilding, „…Für Arbeit und Brot“. Arbeitslose in Bewegung. Arbeitslosenpolitik und Arbeitslosenbewegung in der Zwischenkriegszeit in Österreich (mit dem regionalge-

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Die Akten des Ministeriums für soziale Verwaltung umfassen sowohl Beschwerdeschreiben der Arbeitslosen als auch Stellungnahmen der betreffenden Arbeitsämter. Oft wurden die Beschwerdebriefe mit dem Ansinnen an eine dem Arbeitsamt übergeordnete Behörde adressiert, um eine Revision der Beschlüsse des Amts, beispielsweise bei Strafentzug der Arbeitslosenunterstützung, zu erreichen. Sie zeigen, wie sich die AntragstellerInnen gegenüber den Behörden darstellen wollten und sind daher in einem Stil geschrieben, durch den die BeschwerdeführerInnen glaubten, durch die Behörde eine Intervention in ihrem Sinn erwarten zu können. Die Perspektiven der VermittlerInnen versuche ich durch Artikel in der Zeitschrift Arbeit und Beruf zu ergänzen.50

2.2.

Sich verwalten lassen

Es war keine Pflicht, sich nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes bei einem öffentlichen Arbeitsamt zu melden.51 Es gab alternative Wege, Unterstützung zu finden und Arbeitsgelegenheiten zu suchen. Zu den formelleren Alternativen zählten etwa die Wanderschaft und Unterstützungsleistungen der Gewerkschaften sowie die Nutzung von Vermittlungen der Innungen. Als besonders wichtig werden in der Literatur jedoch private Kontakte und Hilfen bewertet. Diese waren besonders für das Auffinden neuer Arbeitsgelegenheiten oft bedeutender als das öffentliche Arbeitsamt.52 Um zu verstehen, wie die Verwaltung der öffentlichen Arbeitsämter funktionierte, ist es daher nicht nur wichtig zu erfassen, wie die Verwaltung ausgestaltet war, sondern auch, wer sich durch das Amt in welcher Weise verwalten ließ. Entscheidend für die Nutzung des Arbeitsamts war in vielen Fällen, wie vorab geschildert, die Möglichkeit zum Bezug des Arbeitslosengeldes. Das legen unter anderem die Statistiken der Ämter nahe, wonach die Zahl der bei den öffentlichen Arbeitslosenämtern registrierten Stellengesuche nach der Einführung des

schichtlichen Schwerpunkt Steiermark) (Materialien zur Arbeiterbewegung 55), Wien 1990, 295. 50 Arbeit und Beruf. Halbmonatsschrift für Fragen des Arbeitsmarkts, der Arbeitslosenversicherung, der Berufsberatung und verwandter Gebiete im Deutschen Reich und in Österreich, 5 (1926)–13 (1934). 51 Nur im Baugewerbe und im Metallgewerbe wurde unmittelbar nach dem Krieg verfügt, dass ArbeitgeberInnen dieser Branchen das öffentliche Arbeitsamt zu nutzen hatten. Arbeitsamt Baugewerbe (Hg.), Das Neue Arbeitsamt für das Baugewerbe. Der erste Zweckbau eines Arbeitsnachweises in Wien. Herausgegeben anlässlich der Eröffnung am 28. Mai 1927, Wien 1928, 12. 52 Jan Lucassen, In Search of Work in Europe, 1800–2000, in: IISH Research Papers 39 (2000), 7.

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Arbeitslosengeldes im November 1918 in nur einem Monat von 22.071 auf 54.550 anstieg.53 Nach der Einführung der Arbeitslosenversicherung wurden die Arbeitsämter von potenziellen ArbeitslosengeldbezieherInnen auch als Stellen adressiert, welche die von ihnen erworbenen Ansprüche verwalteten und damit für sie tätig waren. Josef Kohl, ein Metallarbeiter, berichtete beispielsweise, dass er sich am Arbeitsamt meldete, um dort die ihm „gebührende Arbeitslosenunterstützung“54 abzuholen. ArbeitslosengeldbezieherInnen wechselten durch die Einführung der Arbeitslosenversicherung, wie Jens Alber argumentiert, aus der Position von BittstellerInnen in die Position von Anspruchsberechtigten. Damit erfuhren sie eine Verbesserung ihrer individuellen Rechtsposition,55 die jedoch mit einer stärkeren Kontrolle durch die Behörden einherging. Viele potenzielle ArbeitslosengeldempfängerInnen standen den Behörden daher weiterhin skeptisch gegenüber. „Hier bleiben und Stempeln gehen, wie man den Bezug der Arbeitslose damals nannte, wollte ich nicht“56, distanzierte sich beispielsweise der Schneider Josef Winkler in seiner Autobiografie vom Bezug des Arbeitslosengeldes. Wer sich am Amt registrierte, verpflichtete sich auf bestimmte Konventionen und Verhaltensweisen: Dazu zählten der Beweis der Arbeitsfähigkeit, der Arbeitswilligkeit und der effektiven Arbeitssuche. Aber auch das Anstehen am Amt bei den regelmäßigen Kontrollen war Teil der geforderten Verhaltenskonventionen. Oft hatten sich die NutzerInnen der Arbeitsämter bereits vor oder bei der Registrierung am Arbeitsamt einer bestimmten Kategorie von Arbeitssuchenden zuzuordnen:57 Sie wurden aufgrund der Region, in der sie lebten, oder der Branche, in der sie gearbeitet hatten, einem Amt zugewiesen. Auch das Geschlecht und das Alter (im Falle von Jugendlichen) bestimmten, welches Amt Arbeitssuchende nutzen konnten.58 Am Arbeitsamt gab es schließlich bestimmte Schalter, denen die Arbeitssuchenden, je nach Geschlecht, Alter und Branche, zugeordnet wurden, und Verwaltungsabläufe, mit denen die dort Registrierten umgehen mussten. Für jede Person, die sich beim öffentlichen Arbeitsamt registrierte, wurde eine Dauerkarte angelegt. Die Schaltervermittlung und die Dauerkarten er53 Vgl. Irina Vana, The Use of Public Labour Offices by Job Seekers in Interwar Austria, in: Siegrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik (Hg.), The History of Labour Intermediation. Institutions and Finding Employment in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, New York–Oxford 2015, 194–236, 198. 54 Josef Kohl, Verwehte Spuren, (unpubliziertes Manuskript) Wien 1986, 5 (DOKU). 55 Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat: Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a.M. – New York 1982, 63. 56 Josef Winkler, Ohne Titel (unpubliziertes Manuskript), Wien 1996, 14 (DOKU). 57 Buchner, Orte der Produktion, 323. 58 ILO, Employment Exchanges, 26.

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möglichten eine personenbezogene Verwaltung der Arbeitssuchenden am Amt. Sie dienten der Vermeidung von Doppelregistrierungen59 und sollten darüber hinaus eine überregionale und branchenübergreifende Vermittlung zwischen den Arbeitsämtern befördern. Auf den Individualkarten waren Informationen zum Beruf, zu den vorangegangenen Dienstverhältnissen, Beschäftigungen und Anstellungen, zum Arbeitslosengeldbezug, zum Wohnort, zum Familienstand, Alter und zum Geschlecht der Arbeitslosen vermerkt.60 Die Informationen auf den Dauerkarten mussten, um einen Arbeitslosengeldbezug zu begründen, mittels Arbeitgeberbestätigungen beigebracht werden. Im Falle des Arbeitslosengeldbezugs wurden die Angaben laufend durch KontrolleurInnen der Arbeitsämter auf Richtigkeit geprüft. Diese suchten die ArbeitslosengeldempfängerInnen auch zu Hause auf, um Informationen zum Besitz der Arbeitslosen zu prüfen und Erhebungen über mögliche Nebeneinkünfte, die eine Streichung des Arbeitslosengeldes bewirken konnten, durchzuführen.61 Arbeitslose und ihre Vertretungen kritisierten diese Strukturen des Amtes und die Kontrollen oft als bürokratisch und anonym. Ihr Unmut richtete sich vorrangig gegen die SchalterbeamtInnen, jene Instanz des Arbeitsamts, mit dem die Arbeitslosen direkten Kontakt hatten. So schildert beispielsweise Erwin Bromberg in seiner Autobiografie: „Aber noch damals und sogar heute ärgert mich die Erinnerung an die blödsinnige Akkuratesse, mit der die Beamten hinterm Schalter die Zeit abwarteten, bis es exakt 8 Uhr war. Da wurden die Bleistifte zum x-ten Mal gespitzt und neu geordnet, die Papiere so oder anders geordnet und die Startsekunde abgewartet. Während wir, wie eine brodelnde Masse Unrat, in dem Warteraum uns schoben und drängten – jeder wollte diese ungastliche (und ziemlich nutzlose) Stätte [das Arbeitsamt, I.V.] sobald als möglich verlassen.“62 Bei der Kritik an dem Verhalten und den Entscheidungen der BeamtInnen spielten, insbesondere in den Zeitschriften der ArbeitslosenvertreterInnen, auch politische Argumente und Vorstellungen davon, wie die öffentliche Arbeitsvermittlung funktionieren sollte, eine Rolle. Sozialdemokratische ArbeitslosenvertreterInnen verwiesen dabei oft auf die gewerkschaftlichen Traditionen der Vermittlungen und forderten, dass die ArbeitsvermittlerInnen ihre Vertretungsfunktion gegenüber ihren arbeitslos gewordenen KollegInnen richtig

59 Industrielle Bezirkskommission Wien (Hg.), Die Industrielle Bezirkskommission Wien, Landesbehörde für Arbeitsvermittlung, und ihre Arbeitsämter : 1918–1928, Wien 1928, 46. 60 Marie Scherl, Die Frau in der Arbeitsvermittlung, in: Kammer für Arbeiter und Angestellte (Hg.), Handbuch der Frauenarbeit in Österreich, Wien 1930, 531–536, 532. 61 Dienstanweisung für Kontrolleure, ÖStA, AdR, MfSV, Sozialpolitik, Disziplinarakten, Karton 460 14/Di, AV 50.916 7/III/1937. 62 Edwin Bromberg, ohne Titel, Wien 1990, 51, (DOKU).

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wahrnehmen sollten.63 Die Tätigkeit der VermittlerInnen wollten die ArbeitslosenvertreterInnen, mit Verweis auf die Tradition der Selbstverwaltung, als Dienst für die arbeitslosen KollegInnen interpretiert wissen. Im Juni 1932 wurde in der Arbeiterzeitung das Schreiben eines Arbeitslosen veröffentlicht, der sich über das ungehörige Verhalten der SchalterbeamtInnen beschwerte, die doch „ihre Stelle nur auf Grund der Arbeitslosen haben“,64 sie jedoch nicht wertschätzend behandelten: „Als ich endlich zum Schalter kam, wurde ich ruhig stehengelassen, der Beamte unterhielt sich mit seinem Kollegen […] Ich ersuchte ihn, meine Anmeldung entgegenzunehmen, erhielt darauf die höhnische Antwort, ob ich keine Zeit habe, und das Gespräch nahm seinen Fortgang.“65 In der Reichspost, einer der christlich-sozialen Regierung nahestehenden Zeitschrift, wurde diese Position kritisiert. In einer Stellungnahme, in der eine ähnliche Situation am Arbeitsamt geschildert wurde, hielt der Redakteur fest, dass „so manche Auseinandersetzung“ am Arbeitsamt darauf zurückzuführen sei, dass „die Parteien der Meinung sind, daß das Amt für sie da ist.“66 Gegenüber dieser Anspruchshaltung wurde in der Zeitung die staatliche Kontrollfunktion des Amts herausgestellt. Die Kontroverse verdeutlicht die für Einrichtungen des Sozialstaats prägende Doppelfunktion: Einerseits bot die Registrierung Anspruchsberechtigten über einen begrenzten Zeitraum einen geringen, aber legitimen Lebensunterhalt, der es ihnen erlaubte, länger nach einer „entsprechenden“ Beschäftigung zu suchen und damit zur Stabilisierung ihres Berufs und ihrer sozialen Position beitrug. Andererseits übte das Amt eine Kontrolle darüber aus, wie die ArbeitslosengeldbezieherInnen ihren Lebensunterhalt bestritten und konnte über diesen urteilen. Die BeamtInnen entschieden über die Anweisung von Unterstützungen, entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen und nach Beurteilung der Arbeitsmarktlage. Sie legten fest, welche offenen Stellen, unter welchen Bedingungen, als „entsprechende Beschäftigungen“ zu werten waren, und wohin Arbeitssuchende vermittelt werden konnten. Sie erhoben, ob ArbeitslosengeldbezieherInnen Pfuscharbeiten, Gelegenheitsarbeiten oder Arbeiten auf dem eigenen Grundbesitz durchführten und damit nicht mehr im Rahmen der Arbeitslosenversicherung unterstützt werden sollten. Sie exekutierten, wenn keine Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung mehr gegeben waren, entschieden mit über den Bezug von Notstandshilfe und Aussteuerung.67 63 64 65 66 67

Einheitsfront zwischen Polizei und Vermittlungsleitung, Arbeitslosen-Zeitung, 1 (1925) 3, 3. Am Schalter des Arbeitsamtes, Arbeiter Zeitung, 26. 6. 1932, 17. Ebd. Aus dem Gerichtssaal, Reichspost, 5. 10. 1928, 10. Die Notstandshilfe konnte nach dem Bezug des Arbeitslosengeldes von Personen bezogen werden (Hammerl/Kraus, Arbeitslosenrecht, 4). Aussteuerung nennt man die Einstellung jeglicher Zahlung.

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Von der Verwaltung selbst wurde die Arbeit der VermittlerInnen und SchalterbeamtInnen auch als soziale Tätigkeit charakterisiert, die sie in Ausübung eines Dienstes an der Wirtschaft und der Gemeinschaft wahrnahmen. In einer Festschrift des Arbeitsamts für Baugewerbe hieß es 1928, die VermittlerInnen sollten „mit großer Geduld ausgestattet sein und über ein gewisses Maß psychologischen Empfindens verfügen.“68 Das erwartete soziale Engagement der VermittlerInnen wurde, in der Tradition der Selbstverwaltung, auch als solidarische Haltung der VermittlerInnen gegenüber arbeitsuchenden KollegInnen interpretiert und war darin konform mit der Sichtweise der sozialdemokratischen Gewerkschaften: „Vor allem muß darauf hingewiesen werden, dass der Vermittlungsbeamte seine ihm zugewiesene Aufgabe mit Liebe und Idealismus erfüllen soll. Er muß sich vor Augen halten, daß das Amt geschaffen wurde, um anderen mit seiner Beihilfe ein Unterkommen zu ermöglichen, so vielen hunderten von Menschen, zumindest vorübergehend, dazu zu verhelfen, daß sie ihren Lebensunterhalt fristen und damit der Volkswirtschaft dienen können.“69 Der Anspruch an die Tätigkeit der ArbeitsvermittlerInnen erschöpfte sich jedoch nicht in dem Dienst am Arbeitslosen, der aus der gewerkschaftlichen Tradition und der Fürsorgetradition her begründet werden konnte. Die Pflicht einer Arbeitsvermittlerin/eines Arbeitsvermittlers sei es vielmehr, „sein persönliches Ich zurückzusetzen […] [und] im Interesse der gesamten Wirtschaft“70 zu handeln. Damit blieb die Position der VermittlerInnen nicht alleine durch den traditionellen gewerkschaftlichen Standpunkt charakterisiert, oder in einen Zusammenhang der Fürsorge eingeordnet, der sich vorrangig auf die Interessen der ArbeitnehmerInnen bezog, sondern bezog sich auf einen Dienst am Gemeinwohl, auf die Ausübung einer behördlichen, staatlichen Funktion für „den Arbeitsmarkt“.

2.3.

Stempeln gehen

Mit dem Wort „Stempeln“ wurde von Seiten der Arbeitnehmervertretungen die Kontrollfunktion des Amts charakterisiert und seine mangelnde Vermittlungstätigkeit kritisiert. Mit dem Verweis auf das Stempeln wurde das Arbeitsamt primär als sozialstaatliche Einrichtung beschrieben, die nicht in der Lage war, die ihr zugewiesenen arbeitsmarktpolitischen Aufgaben wahrzunehmen. Viele Erzählungen und Gedichte, wie das „Lied der Stempelbrüder“ aus dem Jahr 1930, 68 Arbeitsamt Baugewerbe (Hg.), Das Neue Arbeitsamt, 18. 69 M.L. Spielmann, Aufgaben des Arbeitsvermittlers, in: Arbeit und Beruf 5 (1926) 20, 620–621, 620. 70 Ebd.

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das in der Arbeitslosenzeitschrift Arbeiterwille abgedruckt wurde, zeugen davon. Darin heißt es beispielsweise: „Wir kommen alle vom Arbeitsamt, jeder fragt täglich um Arbeit für sich, und allen wird immer das Gleiche gesagt: Es gibt, es gibt keine Arbeit für dich.“71 VermittlerInnen sahen im Stempeln, durch das in vielen Fällen der Kontakt zu den Arbeitssuchenden hergestellt wurde, daher auch ein Hindernis für die Tätigkeit der öffentlichen Vermittlung. Karl Vorderwinkler, Leiter des Arbeitslosenamts in Steyr, schrieb 1928 in der sozialdemokratischen Gewerkschaftszeitschrift Arbeit und Wirtschaft : „Der Arbeitsnachweisbeamte ist froh, wenn er für den sich anmeldenden Arbeitslosen die Arbeitslosenkarte ausfüllen kann. Sich weiter mit dem Arbeitssuchenden zu beschäftigen, fehlt in der Regel überhaupt die Zeit und wenn Anspruch auf Erwerbslosenunterstützung gegeben ist, sucht der Beamte so rasch wie möglich, den Arbeitslosen mit dieser zu befriedigen. Kurz gesagt, das Primäre ist die Erwerbslosenunterstützung und das Sekundäre die Arbeitsvermittlung. […] Wenn der Arbeitsnachweis als solcher aus seiner jetzigen, zum Teil rudimentären Beschaffenheit herauskommen will, muß er unbedingt trachten, daß die Oeffentlichkeit in ihm nicht nur die Unterstützungs- und Abstempelungsstelle sieht, sondern, daß er jenes unentbehrliche Glied der Wirtschaft wird, das er sein soll und werden muß, wenn er nicht seine Existenzberechtigung verneinen will.“72 Der Verweis auf das „Stempelamt“, das ihnen keine Arbeit vermitteln konnte, erlaubte es Arbeitslosen, ihre Arbeitslosigkeit als wirtschaftlich-soziales Problem zu beschreiben. Das Amt machte die Arbeitslosen sichtbar und zählbar73 und Massenarbeitslosigkeit damit zu einem sozialen Faktum, das VertreterInnen der Arbeitslosen und ArbeitnehmerInnen mit Verweis auf die Zustände am Arbeitsamt thematisierten: „Vor jedem Arbeitsamt sieht man tausende Arbeitslose, die ,Stempeln gehen‘[…]. Das Stempeln ist eben für den Arbeitslosen das Wesentlichste, denn nur in Ausnahmefällen sind die Beamten des Arbeitsamts einmal in der Lage, ihm wirklich eine neue Arbeitsstelle zu nennen“,74 war in der christlichen Wochenzeitung Wiener Neueste Nachrichten 1934 zu lesen. Die „verbreitete Meinung, daß die Arbeitsämter nur eine ,Stempelstelle‘“75 seien, lag laut Marie Scherl, einer Bediensteten der Industriellen Bezirkskommission Wien, auch das Vorurteil der potenziellen ArbeitgeberInnen zugrunde, dass die dort Registrierten „mehr oder weniger arbeitsunwillige oder minder71 Alfred Thieme, Lied der Stempelbrüder, Arbeiterwille 19. 2. 1933, in: Kurt Faecher/Richard Duschinsky (Hg.), Arbeitslos und ausgesteuert. Gedichte 1923–1933, Wien 1984, 21. 72 Karl Vorderwinkler, Hindernisse zu einem größeren Ausbau der Arbeitsvermittlung, in: Arbeit und Beruf 7 (1928) 6, 149–151, 149. 73 Walters, Unemployment and Government, 37. 74 Gerichtssaal, Wiener Neueste Nachrichten, 3. 1. 1934, 8. 75 Scherl, Die Frau, 532.

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wertige Arbeitskräfte“76 seien. Grund dafür war vor allem der Berufsschutz, der ArbeitslosengeldempfängerInnen zustand. Vor allem in ländlich geprägten Regionen wurde den am Amt registrierten ArbeitslosengeldbezieherInnen häufig vorgeworfen, sie könnten, mit Konzessionen an den Berufsschutz, Arbeitsgelegenheiten im Forst oder in der Landwirtschaft finden und würden daher ungerechtfertigt Unterstützung beziehen. Die Burgenländische Industriellenvereinigung argumentierte beispielsweise, dass „gewisse Elemente trotzdem sie eine Beschäftigung [in der Fortwirtschaft, I.V.] im Burgenlande gefunden haben, sich um die Arbeitslosenunterstützung bewerben.“77 Die VertreterInnen der Industriellen sahen im Arbeitsamt in diesem Sinn eher ein Hemmnis für die Arbeitsaufnahme von Arbeitssuchenden. ArbeitslosengeldempfängerInnen in ländlichen Regionen unterstellten sie, wie von Marie Scherl dargestellt, Arbeitsunwilligkeit. Wer stempeln ging und keine Arbeit vermittelt bekam, musste die Arbeitswilligkeit in anderer Weise unter Beweis stellen. Die aktive Arbeitssuche wurde daher zu einer wichtigen Bedingung für den Bezug von Arbeitslosengeld. Damit lagen das Auffinden von Arbeit und die Herstellung eines Arbeitskontrakts in der Verantwortung der Arbeitslosen. Für den Weiterbezug von Arbeitslosengeld war die generelle Einschätzung der Arbeitsmarktlage durch die BeamtInnen zentral. So berichtet ein Arbeitsloser in einem Brief an die Arbeitslosenzeitschrift Der neue Mahnruf 1930: „Als Begründung für die Aussteuerung schrieben sie mir : ,Bei entsprechendem Arbeitswillen und Arbeitssuche muß es Ihnen jetzt ein leichtes sein, Arbeit zu finden‘. Ich renne täglich von einer Fabrik in die andere. ,Wie viele wollens denn gleich mitnehmen ins Arbeitslosenamt?‘ frozeln78 mich die Ingenieure. Sie schauen mich an, wie wenn ich verrückt wäre, wenn ich um Arbeit bitte.“79 Der in der Literatur gerne dargestellte Gegensatz zwischen organisierten Formen der Arbeitsuche, zu denen die öffentliche Arbeitsvermittlung gezählt wird, und „regellosen“ Praktiken80 der Arbeitssuche, existierte mithin für die Arbeitssuchenden nicht, da sie, auch um als arbeitswillig zu gelten, unterschiedlichste Formen der Arbeitssuche kombinierten.81 Manche der am Amt Registrierten schrieben Bewerbungen oder lasen die Annoncen in Zeitungen. 76 Ebd. 77 Burgenländische Industriellenvereinigung, 31/1923, Landesarchiv Burgenland, Soziale Verwaltung, 1923, 28–31, ex 23. 78 Wiener Umgangssprache für „sich lustig machen“. 79 Anonymes Schreiben eines Arbeitslosen, Der neue Mahnruf, 2 (1930) 21, 4. 80 Vgl. Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsvermittlung 1880–1927, in: Toni Pierenkemper/Richard Tilly (Hg.), Historische Arbeitsmarktforschung. Entstehung, Entwicklung und Probleme der Vermarktung von Arbeitskraft (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 49) Göttingen 1982, 153–266, 255. 81 Vana, Gebrauchsweisen, 304.

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Andere entschieden sich, bei Fabriken und Meistern um Arbeit nachzufragen. Wieder andere hofften bei der Arbeitssuche auf die Unterstützung ihrer Familien, ihrer FreundInnen und Bekannten, oder der politischen bzw. gewerkschaftlichen Vereinigungen, denen sie angehörten. Die wenigsten erwarteten sich jedoch durch das Arbeitsamt eine Vermittlung.

2.4.

Vermittelt werden

Trotz der geringen Vermittlungsraten war die Zuweisung von Arbeitsgelegenheiten durch Arbeitsämter von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der Verwaltung: Es ging dabei nicht nur um die Vermittlung Arbeitssuchender auf offene Stellen, sondern auch darum, durch die Verpflichtung zur Annahme einer zugewiesenen Arbeitsstelle, die Arbeitswilligkeit der am Amt registrierten ArbeitslosengeldbezieherInnen zu prüfen. Indem jenen, die sich weigerten, die ihnen zugewiesene Arbeit anzunehmen, mit dem Entzug der Unterstützung gedroht werden konnte, konnten die öffentlichen Arbeitsämter gegenüber den ArbeitslosengeldbezieherInnen einen, wie Dieter Stiefel schreibt, „milden Arbeitszwang“82 ausüben. Die Entscheidungen darüber, welche Arbeiten ArbeitslosengeldbezieherInnen annehmen mussten, wirkten auf die Arbeitsbedingungen und schufen Hierarchien und Unterschiede zwischen verschiedenen Stellen und Tätigkeiten. Bei der Vermittlung standen nicht nur die Arbeitswilligkeit und Arbeitsfähigkeit der am Amt Registrierten, sondern auch die Berufszugehörigkeit, zeitliche Verfügbarkeit der arbeitssuchend gemeldeten Personen und deren Versorgungspflichten gegenüber anderen zur Debatte. Die Beamten legten fest, welche Tätigkeiten und welche Mobilität einem Arbeitslosen/einer Arbeitslosen bei der Zuweisung von Arbeit zugemutet werden konnten. Sie entschieden darüber, welche Stellen als der Ausbildung der Arbeitssuchenden und deren Erfahrung „entsprechende Beschäftigungen“ zu werten waren und daher von diesen zu akzeptieren waren. Auch dabei spielte, wie anhand von Beschwerdeschreiben an das Ministerium für soziale Verwaltung nachvollzogen werden kann, nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Beurteilung der Arbeitsmarktlage eine Rolle. In Beantwortung des Beschwerdeschreibens des Zimmerpoliers Leopold Eglau, dem die Unterstützung entzogen wurde, argumentierte das Arbeitsamt für das Baugewerbe beispielsweise, dass es „in den gegenwärtigen Verhältnissen keine Schande für einen Polier wäre, Gehilfenarbeiten zu verrichten“83 und die Zu82 Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938, Berlin 1979, 55. 83 Leopold Eglau, Unterstützung, ÖStA, AdR, MfSV, Sozialpolitik, 1920, Zl. 4474.

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weisung zu einer minder qualifizierten Beschäftigung daher zumutbar sei. Die Unterstützung der Stenotypistin Johanna Possner wurde mit der Begründung eingestellt, dass „während einer Unterstützungsdauer von 2061 Tagen die Arbeitsmarktlage nicht andauernd so ungünstig war, dass nicht die Möglichkeit bestanden hätte, sich während dieser Zeit eine Beschäftigung zu finden.“84 Die Vermittlung wirkte durch diese Entscheidungen auf die Arbeitsbedingungen in unterschiedlichen Branchen, auf den Lohn und auf die Arbeitnehmerrechte. Auch durch die Zuweisung in Betriebe, in denen gestreikt wurde oder Aussperrungen stattfanden, konnten die Ämter Arbeitsbedingungen beeinflussen. Umstritten waren Zuweisungen zu nicht kollektivvertraglich entlohnten Stellen oder – von Seiten der ArbeitgeberInnen – die Vermeidung zur Vermittlung an solche Stellen. Sowohl ArbeitslosenvertreterInnen als auch Arbeitgebervertretungen warfen den Vermittlungen im Zusammenhang mit Zuweisungen daher häufig vor, parteiisch zu sein. Die Verletzung von Arbeitnehmerrechten durch die Vermittlungspraktiken der Ämter wurde auch in Arbeitslosenzeitschriften laufend thematisiert. Die Zeitschrift Der Mahnruf berichtete vom Arbeitslosenamt Graz, dass dieses Wäscherinnen an ein Restaurant vermittelte, welches voraussetzte, dass diese auch am Sonntag zu arbeiten hätten. Waren sie dazu nicht bereit, wurden sie mit dem Vermerk des Restaurants: „kann die Stelle nicht annehmen, weil sie keine Zeit hat“ zur Vermittlungsstelle zurückgeschickt, was eine Streichung der Unterstützung zur Folge hatte.85 Vormalige Arbeiterinnen und weibliche Angestellte wurden von diesem Arbeitsamt laut der Zeitschrift ohne Unterschied von Beruf und Branche als Dienstbotinnen und Bedienerinnen vermittelt. Eine Weigerung, die ihnen zugewiesene Arbeit anzunehmen, wurde als „Arbeitsunwille“ bewertet.86 Alleine das Geschlecht entschied in diesem Fall über die angenommene Befähigung zur Dienstbotin, zum Kindermädchen oder zur Bedienerin. Bei Arbeitsantritt verloren diese Frauen, durch den Übertritt in eine nicht versicherungspflichtige Berufssparte, ebenso den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das verweist auf die unterschiedliche Konstitution der Arbeitsmärkte für Frauen und Männer. Marie Scherl erklärte in diesem Zusammenhang, dass bei der Vermittlung von Frauen Kriterien wie „Alter und Erscheinung“, aufgrund der Vorlieben der potentiellen ArbeitgeberInnen, viel zentraler waren als solche der „Qualifikation und Berufserfahrung“,87 die für männliche Arbeitssuchende bedeutsam waren. Vom Arbeitsamt des Baugewerbes wurde erzählt, dass zugewiesenen Arbeitslosen die 84 85 86 87

Juliane Posanna, Unterstützungseinstellung, ÖStA, AdR, MfSV, Sozialpolitik, 1931, Zl. 7191. Was man uns schreibt, Der Mahnruf 1 (1927) 22, 3. Die Rolle des 2er Schalters im Grazer Arbeitslosenamt. Der Mahnruf. 3 (1928) 12, 4. Scherl, Die Frau, 534.

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Unterstützung entzogen wurde, nachdem sie sich geweigert hatten, eine Arbeit anzunehmen, bei der vom Arbeitgeber vorausgesetzt wurde, dass sie einen Revers unterschrieben, wonach sie auf die Kündigungsfrist und auf das Entgelt im Fall von Krankheit oder im Unglücksfall verzichteten. Der Entscheid der Industriellen Bezirkskommission über den Entzug der Unterstützung wurde erst nach Intervention der Arbeiterkammer aufgehoben.88 Die Redaktion der kommunistischen Zeitschrift Rote Fahne kritisierte in Bezug auf solche und ähnliche Berichte 1930, dass „Arbeitslose nur deshalb als arbeitsscheu hingestellt [werden, I.V.], weil sie sich einfach nicht von einem faschistischen Sklavenvermittlungsamt [sic] zu Lohndrückern zwingen lassen.“89 Thema der Kritik war auch häufig die von Arbeitslosen geforderte Mobilität nach Zuweisungen zu Stellen außerhalb der Heimatgemeinde. Diese war ein Effekt des Ausgleichsverfahrens, das durch die Etablierung eines Netzwerks öffentlicher Arbeitsämter ermöglicht wurde. Anders als die gewerkschaftlichen Vermittlungen war die allgemeine, öffentliche Arbeitsvermittlung darauf ausgerichtet, auch über Berufs- und Branchengrenzen sowie Sprengelgrenzen hinweg zu vermitteln, um einen „Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt“ und damit eine Reduktion von Arbeitslosigkeit zu erreichen. Die Mobilität Arbeitsloser sollte über das Ausgleichsverfahren nach wirtschaftlichen Erfordernissen gesteuert werden. Ziel war es, wie der Leiter des Arbeitsamts Graz 1926 schrieb, jene, deren Kenntnisse an einem anderen Ort der Republik benötigt wurden, dorthin zu vermitteln, und jene, die keine spezifischen Kenntnisse einbringen konnten, zum Verbleiben in der Heimatgemeinde zu bringen. Oftmals wurden jedoch gerade jene weitervermittelt, die in dem Arbeitsamt ihrer Heimatgemeinde keine Stelle zugewiesen bekommen konnten.90 Der Mahnruf kritisierte in dem Zusammenhang, dass Arbeitslose nach Zuweisungen zu Arbeitsstellen außerhalb ihrer Heimatgemeinde in Stallungen schlafen sollten.91 In einer weiteren Ausgabe der Zeitschrift wurde berichtet, dass als Dienstbotinnen zugewiesene Frauen einen Kostplatz für ihre Kinder finanzieren und zum sofortigen Arbeitsantritt bereit sein mussten,92 um nicht als arbeitsunwillig zu gelten.93 Auch möglicherweise politisch motivierte Entscheidungen bei der Zuweisung von Arbeit wurden, vor allem von VertreterInnen der Arbeitslosen, bei Zuweisungen kritisiert. So mutmaßte die Zeitschrift Der Mahnruf, dass ein seit vier 88 Unterstützungsbezug und sozialpolitische Bestimmungen, Arbeit und Beruf, 5 (1926) 23, 670. 89 Man schreibt uns, Die Rote Fahne, 2. 8. 1930, 5. 90 Egon Uranitsch, Ist eine Zentralausgleichsstelle für die Arbeitsvermittlung notwendig?, in: Arbeit und Beruf 5 (1926) 7, 203–204, 204. 91 Das Arbeitslosenversicherungsgesetz, Der Mahnruf 2 (1928) 19, 2. 92 Was man uns schreibt. Der Mahnruf 1 (1927) 27, 4. 93 Die Not der arbeitslosen Mütter und die Rücksichtslosigkeit der IBK, Der Mahnruf 3 (1929) 7, 3.

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Jahren arbeitsloser 34-jähriger Metallarbeiter keine Arbeit zugewiesen bekam, da er gewerkschaftlich organisiert war. Laut Arbeitsamt waren „das verhältnismäßig hohe Alter“ und die Tatsache, dass die Betriebe „auf die bei ihnen schon in Stellung gewesenen Arbeiter zurückgriffen“ dafür verantwortlich, dass der Gewerkschafter nicht vermittelt werden konnte. „Die Tatsache, daß die Unternehmer schwarze Listen führen, Kommunisten und revolutionäre Arbeiter nicht aufnehmen und besonders von Gen[osse] Wagner verschont sein wollen, hütet sich Dr. Uranitsch [Leiter des Arbeitslosenamts Graz, I.V.] zu sagen“,94 echauffierte sich die Redaktion der Zeitschrift. Aus ähnlichen Gründen mutmaßte das Organ des Zentralen Arbeitslosenkomitees, dass der Vorsitzende des Komitees im Gegenteil möglichst rasch vermittelt wurde, um das Komitee politisch zu schwächen.95 Die Vermittlung durch die Ämter wurde vor diesem Hintergrund oft als „willkürlich“ kritisiert: „Einige bleiben jahrelang arbeitslos, andere werden in 2 bis 3 Tagen wieder vermittelt.“96 Konfliktpunkt bei der Zuweisung von Arbeit war daher unter anderem die mangelnde Mitbestimmung von Arbeitslosen und Gewerkschaftsvertretungen bei der Zuweisung von Arbeit. Sie kritisieren insbesondere die Organisation der Vermittlung, die auf die Wahl der zugewiesenen Arbeitssuchenden bzw. Arbeitslosen Einfluss nahm. Obschon durch die Arbeitslosenfürsorge und im Zuge des Ausgleichsverfahrens eine Normierung der Vermittlungspraktiken stattfand, wurden diese von den Ämtern weitgehend autonom gestaltet. Bei den öffentlichen Arbeitsämtern waren je nach Branchenkultur unterschiedliche Vermittlungsweisen üblich. In größeren Ämtern, insbesondere in den Facharbeitsnachweisen, wurde zumeist das sogenannte Nürnberger System97 etabliert. Jeder arbeitssuchenden Person wurde ein Vermittler/eine Vermittlerin zugewiesen, durch die sie/er individuell beraten werden sollte.98 Diese individualisierte Verwaltung der Arbeitslosen ermöglichte den Ausbau der postalischen Vermittlung. Die Arbeitslosen kamen bei der postalischen Vermittlung nur noch zur Kontrolle und zur Anmeldung ins Arbeitsamt und hatten keinerlei Kontrolle und Information über die Vermittlung anderer Abreitsuchender.99 Die Auswahl der „richtigen Arbeitskräfte“ fiel damit immer mehr dem Vermittler bzw. der Vermittlerin zu. ArbeitslosenvertreterInnen und Gewerkschaften wurde so die Möglichkeit genommen, auf Vermittlungen Einfluss zu nehmen, wie es bei gewerkschaftlichen 94 Die Dümmsten Ausreden der Grazer IBK, Der Mahnruf 3 (1928) 9, 3. 95 Aus der Vermittlung. Arbeitslosenzeitung 2 (1925), 6. 96 Forderungen der Arbeitslosen an die freigewerkschaftlichen Arbeitslosenausschuß, Der Mahnruf 3 (1928) 10, 1. 97 Bruno Grimschitz, Die neuen Arbeitsämter für die Metall- und Holzindustrie, Wien 1931, 4. 98 Ebd., 1. 99 7.500 Wiener Schuh und Lederarbeiter protestieren, in: Der neue Mahnruf, 3 (1931) 25, 4.

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Arbeitsvermittlungsstellen üblich war100 und traditionell auch von Arbeitslosenkomitees gefordert wurde. Diese sprachen sich überwiegend für eine Vermittlung in der Reihenfolge der Anmeldung aus. Zum Teil orientierten sich die Facharbeitsnachweise jedoch weiterhin an den Gepflogenheiten des Rufhauses,101 bei dem die anwesenden Arbeitsuchenden durch ausrufen der Stelle vermittelt wurden und das Arbeitsangebot nur rudimentär klassifiziert wurde.102 Ob die Praxis der Ausrufung tatsächlich mehr Mitsprache ermöglichte, bleibt offen. Zumindest kritisierte die kommunistische Zeitschrift Rote Fahne, dass auch bei Arbeitsämtern, die in der Tradition des Rufhauses vermittelten, durch die Möglichkeit der BeamtInnen zum Entzug der Unterstützung, Zuweisungsentscheidungen zum Nachteil der Arbeitssuchenden und ohne Rücksicht auf die Arbeitssituation in den Firmen, zu denen Arbeitslose zugewiesen wurden, getroffen wurden. Die Zeitung verwies auf eine Situation in der Rosinagasse in Wien, dem Arbeitsamt für Hilfsarbeiterinnen. Dort wurde eine Arbeitslose durch den Amtsleiter vom Arbeitsamt weggewiesen, da sie darauf aufmerksam machte, dass eine Firma, die Arbeiterinnen einstellen wollte, aus ihrer Sicht bei der Aufnahme neuer Arbeitskräfte nicht korrekt vorging. „Die Arbeitslose hatte gerade bei dieser allgemein bekannten Firma die Erfahrung gemacht, daß man dort bei der Aufnahme immer nur bestimmte Leute aussucht, und zwar nur ganz junge Kräfte, weil der Unternehmer glaubt, diese mehr unterdrücken zu können und ihnen dabei weniger zu zahlen braucht. Als nun die arbeitslose Frau hörte, daß wieder ein Posten für diese Firma ausgerufen wird, machte sie die Bemerkung, daß sich eben dieser Unternehmer nur jene Leute nimmt, die ihm zu Gesicht stehen. Das war Grund genug, daß Fleher – nicht zu vergessen, daß der Mann Beamter der Gemeine Wien ist! – aus seinem Schalter herausschrie: ,Halten’s die Goschen,103 sonst laß ich Sie hinausschmeißen!‘, wobei er es nicht bei der Drohung bewenden ließ“.104 Ebenfalls für die Vermittlung am Amt adaptiert wurden Dienstbotenmärkte. Die Abteilungen für HausgehilfInnen wurden häufig auch in Anlehnung an die gewerblichen Vermittlungen ausgestaltet.105 Bei beiden Methoden hatten die potenziellen DienstgeberInnen die Möglichkeit zwischen StellenwerberInnen

100 Wilhelm Weinberger, Die staatlichen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung in der Ersten Republik, phil. Diss., Wien 1992, 69. 101 M. L. Spielmann, Historische Entwicklung des paritätischen Arbeitsnachweises der graphischen und papierverarbeitenden Gewerbe, in: Arbeit und Beruf 5 (1926) 17, 502–503, 503. 102 Buchner, Orte der Produktion, 316. 103 Wiener Umgangssprache für : „Sein Sie still“. 104 Der ,Strichfleher‘ macht sich wieder bemerkbar, in: Die Rote Fahne, 1. 4. 1927, 5. 105 Egon Uranitsch, „Grundsätze der Hausgehilfinnenvermittlung“, in: Arbeit und Beruf 7(1928) 16, 409–413, 410.

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direkt am Amt zu wählen.106 Von der Zweigstelle für Gast- und Kaffeehausangestellte des Arbeitsamts Graz wurde beispielsweise 1928 durch die Zeitschrift Der Mahnruf berichtet, dass rund 30 Arbeitslose insgesamt fünf Mal zum öffentlichen Arbeitsamt bestellt wurden, um der Leiterin eines Schladminger Hotels präsentiert zu werden, welche unter den Arbeitssuchenden jene auswählte, die „nicht gewerkschaftlich organisiert waren und keine Bubiköpfe hatten“.107 Die Beispiele zeigen, dass die Arbeitslosenversicherung zwar bestimmte Strukturen für die Vermittlung garantierte, aber die Vermittlungspraktiken der Ämter dennoch autonom gestaltet wurden.

III.

Resumée

Ich habe in diesem Beitrag versucht darzustellen, wie die öffentliche Arbeitsvermittlung in der Ersten Republik durch die in die Vermittlung involvierten Parteien – ArbeitsvermittlerInnen, Arbeitssuchenden, ArbeitgeberInnen und ihre jeweiligen Vertretungen – bewertet und genutzt wurde. Ziel war es, anhand der verschiedenen Positionierungen zu den Ämtern zu erfassen, was die öffentliche Arbeitsvermittlung ausmachte, wie sie wirksam wurde und wie die sozialen Positionen der involvierten Parteien, als VermittlerInnen oder Arbeitssuchende und Arbeitslose am Amt hergestellt und verstanden wurden. Die Konfrontation mit den Positionen und Sichtweisen der Parteien bot darüber hinaus eine Möglichkeit, sich mit der Formierung von staatlicher Sozialpolitik und dem damit einhergehenden neuen Verhältnis zwischen BürgerInnen und Sozialstaat auseinanderzusetzen. Die verschiedenen Perspektiven, die in dem Beitrag eingenommen werden, verdeutlichen, dass Verwaltung nicht nur eine Sache der Behörde war,108 sondern ihre Tätigkeit und Wirkung nur als Verhältnis zwischen Einrichtungen und NutzerInnen erklärt werden kann. Trotz der überwiegend kritischen Haltung, die in den in diesem Beitrag zitierten Stellungnahmen aus Arbeitslosenzeitschriften und in Beschwerdeschreiben von ArbeitslosengeldempfängerInnen an das Ministerium für soziale Verwaltung, gegenüber dem Arbeitsamt zum Ausdruck kommt, waren die Menschen, von denen die Kritik formuliert wurde, letztlich jene, die die Arbeitsämter nutzten. Sie ließen sich durch die Arbeitsämter verwalten, kategorisieren und gegebenenfalls vermitteln. Sie trugen mit ihrer Entscheidung, sich am Amt als arbeitssuchend zu registrieren, und durch 106 Die Gnädige will keine Bubiköpfe und keine Organisierten, in: Der Mahnruf. 2 (1928) 22, 3. 107 Ebd., 3. 108 Sigrid Wadauer, Die Herstellung von Verwaltungstatsachen. Behörden und Antragsteller/ innen im Streit um Erwerbsmöglichkeiten, in: Administratory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte (2016) 1, 78–106, 78.

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die Art, wie sie es nutzten, ebenso wie die BeamtInnen zur Ausgestaltung der Ämter als Behörden bei und prägten mit ihrer Anwesenheit das dominante Bild des „Stempelamts“. In ihren Stellungsnahmen zeigt sich daher nicht nur Ablehnung und Kritik an den sozialstaatlichen Einrichtungen, sondern auch eine neue Anspruchshaltung gegenüber den staatlichen Einrichtungen. Ein wichtiges Moment zur Bestimmung des Verhältnisses der potenziellen NutzerInnen der sozialstaatlichen Einrichtungen zu diesen bilden die Kontroversen um den Lebensunterhalt vor und während der Arbeitslosigkeit. Im Fall der Arbeitsvermittlung ging es um eine spezifische Form von Lohnarbeit: die „entsprechende Beschäftigung“. Sie war sowohl für die Entscheidung von Personen, die ihren Arbeitsplatz verloren, sich bei einem Arbeitsamt zu registrieren, als auch für die Verwaltung der Ämter wichtig. Sie erlaubte es den am Amt Registrierten, Arbeitslosengeld zu beziehen und ermöglichte damit „bezahlte Nicht-Arbeit“109 – bzw. Arbeitslosigkeit. Mit Bezug auf die vorangegangene Beschäftigung und daraus erworbene Versicherungsansprüche konnten Anspruchsberechtigte Vermittlungs- und Unterstützungspflichten des Staates und seiner autonomen Verwaltungseinheiten anrufen. Sie konnten durch den Bezug von Arbeitslosengeld vermeiden, im Falle des Arbeitsplatzverlustes, „jede Arbeit“ anzunehmen und mussten nach dem Gesetz lediglich für die Annahme von Stellen zur Verfügung zu stehen, „die bezüglich des Lohnniveaus, der Leistungserfordernisse und der Entfernung zum Wohnort als ,zumutbar‘ erschienen.“110 Auch für die Bediensteten der Arbeitsämter und die von ihnen ausgeübten Verwaltungs- und Vermittlungstätigkeiten war die „entsprechende Beschäftigung“ der wichtigste Referenzpunkt. In Bezug auf die Beschäftigung wurden neue Kategorien, wie jene der ArbeitslosengeldbezieherInnen, der Ausgesteuerten, der NotstandshilfebezieherInnen und der Arbeitssuchenden geschaffen. Gelegenheitsarbeiten, Pfusch und Aushilfstätigkeiten wurden von Beschäftigung unterschieden. Für die Beurteilung dieser Arbeiten war es nicht wichtig, was die am Amt Registrierten neben dem Arbeitslosengeldbezug konkret taten. Zentral war, ob sie es neben dem Arbeitslosengeldbezug taten, oder ob aus den Tätigkeiten ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entstehen konnte. Mit der Etablierung des Arbeitsamts und durch seine Verwaltungs- und Zuweisungspraktiken wurden so neue Kategorien der Nicht-Arbeit geschaffen und Hierarchien und Unterschiede zwischen Arbeiten und Lebensunterhalten durchgesetzt.111 Am Beispiel der Arbeitsämter manifestiert sich damit auch die zentrale Rolle der

109 Conrad, Was macht eigentlich, 574. 110 Alber, Vom Armenhaus, 168. 111 Wadauer, Establishing Distinctions, 47.

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Lohnarbeit, für die Konstitution des Sozialstaats.112 Diese gilt HistorikerInnen als „Auslöser, Gegenstand und Finanzquelle der Entwicklung von Sozialpolitiken in den Industriegesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts“.113 Sie wurde als legitimste Art, sich den Lebensunterhalt zu sichern, durchgesetzt und begründete, in bestimmten Fällen, Ansprüche gegen den Staat. Durch die Versicherung der LohnarbeiterInnen gegen damit verbundene Risiken wurde deren Rechtsposition gestärkt. Die Kehrseite davon war die stärkere staatliche Kontrolle über die Art und Weise, wie jene, die einen Anspruch an den Staat stellen wollten, ihren Lebensunterhalt fanden: Denn ob Arbeitslosengeld ausbezahlt wurde und welche Stellen als zumutbar galten, lag, wie in diesem Beitrag illustriert, vorrangig bei den Arbeitsämtern und ihren VermittlerInnen, die durch den Entzug der Unterstützungsleistungen eine beschränkte Kontrolle über die Lebensunterhalte der dort Registrierten hatten. Die beiden Funktionen des Amts – die Kontrolle über den Lebensunterhalt und die vorübergehende Sicherung desselben – begründen die ambivalente Haltung von Arbeitssuchenden und ArbeitslosengeldbezieherInnen zu den Arbeitsämtern: Sie hatten nunmehr (über einen bestimmten Zeitraum) die Möglichkeit, auf anerkannte und legitime Weise ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne berufsfremde Arbeiten annehmen zu müssen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren. Sie mussten andererseits, wollten sie die Unterstützung nicht verlieren, Kontrollen und Entscheidungen des Amts akzeptieren. Diese Entscheidungen richteten sich jedoch nicht nur an den Interessen der Einzelnen aus. Die Ämter nahmen zwar, aus Sicht der BeamtInnen, auch eine soziale Funktion war, sie waren im Übrigen aber nicht den dort Registrierten verpflichtet, sondern sahen sich in einer „Gesamtverantwortung für den Arbeitsmarkt“,114 der als territoriale und wirtschaftliche Einheit gedacht und hergestellt werden sollte.115 Die neuen sozialstaatlichen Konventionen veränderten das Verhältnis zwischen den einzelnen BürgerInnen und der staatlichen Einrichtung. Sie veränderte aber auch den Staat selbst,116 der nunmehr auch als „Risiko- und Wirtschaftsgemeinschaft“117 konzipiert wurde, von der die Arbeitsämter ein Element bildeten. Die behördliche Struktur der autonom geleiteten, öffentlichen Arbeitsämter erschöpfte sich mithin nicht in der von ihnen 112 Conrad, Was macht eigentlich, 558. 113 Ebd., 574; Conrad/Macamo/Zimmermann, Die Kodifizierung, 447. 114 Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat: Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 32010, 109. 115 Thomas Buchner, Arbeitsämter in Deutschland, 1890–1935, in: Annemarie Steidl/Thomas Buchner/Werner Lausecker/Alexander Pinwinkler/Sigrid Wadauer/Herman Zeitlhofer (Hg.), Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion, Wien–Köln–Weimar 2008, 133–156, 134. 116 Wadauer, Verwaltungstatsachen, 78. 117 Ritter, Der Sozialstaat, 4.

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übernommen Aufgabe der Arbeitslosenfürsorge, sondern umfasste unterschiedliche Aspekte staatlicher Sozialpolitik – Kontrolle, Vermittlung von Versorgungsansprüche und die Umsetzung dieser Aufgaben in einer gesamtstaatlichen Struktur.118

118 Christoph Conrad, „Was macht eigentlich der Wohlfahrtsstaat? Internationale Perspektiven auf das 20. und 21. Jahrhundert“, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), 555–592.

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Ausländische Arbeitskräfte in Österreich – Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Arbeitsmigration seit der Frühen Neuzeit

Als Arbeitsmigration werden Wanderungen von einzelnen oder mehreren Menschen verstanden, die auf Dauer angelegt sind oder im Laufe der Zeit dauerhaft werden und einen freiwilligen Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. Region darstellen, wobei im Allgemeinen das Ziel ist, Arbeit oder höhere Entlohnung zu finden bzw. die Lebens- oder Arbeitsbedingungen zu verbessern.1 Der folgende Beitrag skizziert die Rechtslage betreffend die Arbeitsmigration nach Österreich seit der Frühen Neuzeit, weshalb die Binnenmigration innerhalb Österreichs ebenso wenig in den Blick genommen wird wie die Auswanderung. Gegenstand des Beitrags ist vielmehr die Regulierung der Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland und deren Berufstätigkeit im Inland durch das Recht. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang sind daher die staatsbürgerschaftsrechtliche Zuordnung der MigrantInnen und damit verbunden die Regelungen betreffend Einreise, Aufenthalt und aufenthaltsbeendende Maßnahmen sowie die Zulassung der MigrantInnen zum Arbeitsmarkt. Aufgrund der Paradigmenwechsel 1918, 1938, 1945 und 1995 werden diese Themenfelder chronologisch strukturiert dargestellt. Fragen der sozialen Absicherung sowie der politischen Rechte der ArbeitsmigrantInnen sowie die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit AsylwerberInnen bzw. „Wirtschaftsflüchtlingen“ müssen ausgeblendet bleiben, da dies den Umfang des Beitrages sprengen würde.2

1 Gerald Pelger, Die Arbeitsmigration in Österreich. Geschichte der Migration – Steckbrief der Regionen – Regionale Clusterung – Ausblick, Saarbrücken 2009, 6. 2 Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte sind ohnedies den InländerInnen nahezu gleichgestellt, während AslywerberInnen lange Zeit überhaupt weitestgehend vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen waren.

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1.

Habsburgermonarchie

1.1.

Migrationsvorgänge

Österreich blickt auf eine lange Geschichte der Arbeitsmigration zurück. In der vorindustriellen Zeit wanderten nicht nur politische und künstlerische Eliten aus dem Ausland zu, sondern im Sinne der merkantilistischen Wirtschaftspolitik auch z. B. Handwerker aus Italien, Frankreich, England, den Niederlanden, Russland, der Schweiz und v. a. aus (Süd-)Deutschland. Hauptanziehungspunkt war freilich Wien, wo bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die Hälfte aller Handwerksmeister aus dem Ausland stammte.3 War der Binnentransfer dieser Zeit v. a. auf einen Zuzug nach Wien aus den böhmischen Ländern im Sinne eines „Reichtumstranfers“ beschränkt, so wurde die Binnenmigration im 19. Jahrhundert zu einem „Massenphänomen der früh- und hochindustriellen Gesellschaft“,4 ermöglicht durch Einführung der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit 1862/1867. Die industrielle Produktion und das infolge der Reformen unter dem Zeichen des Wirtschaftsliberalismus expandierende Gewerbe lösten einen massiven Arbeitskräftebedarf aus, und so wurden industrielle Zentren (z. B. Wiener Becken, Obersteiermark) und Städte vermehrt das Ziel der BinnenArbeitsmigration. Erleichtert wurden diese Wanderungsvorgänge durch die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur v. a. durch den Ausbau des Eisenbahnwesens. Aber auch der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung nahm im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weiter zu und erreichte 1910 ca. 2 % der Bevölkerung, wobei die Zuwanderung aus dem Westen (Deutsches Reich) zunehmend einer solchen aus dem Osten, v. a. Ungarn und Bosnien-Herzegowina, die staatsbürgerschaftsrechtlich als Ausland galten, russisch-Polen und Serbien wich. Gleichzeitig setzte eine nicht unerhebliche Auswanderung in den Westen, insbesondere in das Deutsche Reich, und Übersee ein.5

3 Vgl. dazu allg. Ilse Reiter-Zatloukal, Ausweisung und Ausbürgerung. Rechtliche Migrationsfolgen am Beispiel Wiens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Hans-Joachim Hecker/ Andreas Heusler/Michael Stephan (Hg.), Stadt, Region. Migration. Zum Wandel urbaner und regionaler Räume (= Südwestdeutscher Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung: Stadt in der Geschichte), m. w. N., im Druck; ausf. Annemarie Steidl, Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt Wien (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 30), Wien 2003. 4 Heinz Fassmann/Rainer Münz, Einwanderungsland Österreich? Gastarbeiter – Flüchtlinge – Immigranten, Wien 1990, 8. 5 Die aber im Sinne einer reinen Arbeitsmigration auch zeitlich begrenzt sein konnte, s. ausf. Fassmann, Einwanderungsland, 7.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

1.2.

117

Staatsangehörigkeit

Für die Rechtsstellung der zugewanderten Arbeitskräfte war die Frage entscheidend, ob sie „fremd“ oder „einheimisch“ bzw. habsburgische UntertanInnen und später österreichische StaatsbürgerInnen oder AusländerInnen waren. Als „fremd“ in diesem Sinne galt zunächst nach den frühneuzeitlichen Regelungen der einzelnen Erbländer jede Person, die weder im betreffenden Erbland geboren war, noch dort ein Heimatrecht erworben hatte.6 Dieses Heimatrecht stellte ein bedeutendes „politisches Steuerungselement und eine Barriere für die Integration der Einwanderer“ dar,7 denn nur in der Heimatgemeinde bestand ein unentziehbares Aufenthaltsrecht und der Anspruch auf Armenversorgung. Eine zugewanderte Person konnte eine derartige administrative Zuständigkeit anfänglich durch einen ununterbrochenen Aufenthalt erwerben, wobei sich bis 1804 generell eine zehnjährige „Ersitzungszeit“ als Voraussetzung für eine solche „Nationalisierung“ herauskristallisierte.8 Neben dieser „Ersitzung“ des „politische Domizils“ konnte dieses auch etwa durch den Besitz eines Hauses, das Bürger- oder Gewerberecht erworben werden.9 In diesen heimatrechtlichen Regelungen, mit denen die Erbländer selbstständig das Verhältnis zu ihren EinwohnerInnen festlegten, liegen auch die Anfänge des Staatsbürgerschaftsrechtes.10 Das Allgemeine Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) normierte 1811 erstmals den Status habsburgischer UntertanInnen als „Staatsbürgerschaft“ (Stb) im Sinne von Staatsangehörigkeit. Diese stand den Kindern eines österreichischen Staatsbürgers infolge der Geburt zu, konnte aber auch stillschweigend durch Eintritt in einen öffentlichen Dienst (bis 1867), durch den Antritt eines Gewerbes mit Ansässigkeit im Lande (bis 1860) oder durch einen zehnjährigen ununterbrochenen qualifizierten Aufenthalt in den Erbländern „ersessen“ werden. Darüber hinaus konnte die Stb auch verliehen werden, wobei „das Vermögen, die Erwerbsfähigkeit und das sittliche Betragen der Ansuchenden“ wichtige Kriterien für die Ermessensentscheidung darstellten. In weiterer Entwicklung musste

6 Vgl. etwa Ilse Reiter, Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert (Studien aus Recht, Geschichte und Gesellschaft 3), Frankfurt a.M. 2000, 26ff. 7 Rainer Bauböck, Nach Rasse und Sprache verschieden: Migrationspolitik in Österreich von der Monarchie bis heute (Reihe Politikwissenschaft/Institut für Höhere Studien, Abt. Politikwissenschaft 31), Wien 1996, URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar266866, 3 (abgerufen am 15. 7. 2016). 8 Konskriptions- und Rekrutierungspatent, 25. 10. 1804, PGS (Politische Gesetzessammlung) 1804, Nr. 4. 9 Hofdekret 22. 11. 1754, CA (Codex Austriacus) V, 905. 10 Vgl. dazu Reiter, Ausgewiesen, 53ff.

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Ilse Reiter-Zatloukal

zusätzlich ein Untertaneneid abgelegt werden (1816),11 überdies war der Nachweis der Entlassung aus dem bisherigen Staatsverband12 (1817 bis 1867) oder der Erfüllung der Wehrpflicht im bisherigen Heimatstaat beizubringen13 (1832). Seit 183314 sollte ein Ausländer/eine Ausländerin die österreichische Stb nur mehr dann durch einen vollendeten zehnjährigen Wohnsitz erwerben können, wenn er/sie diesen Aufenthalt gehörig nachweisen konnte und überdies den Untertaneneid abgeleistet hatte, für den nicht nur die strafrechtliche Unbescholtenheit Voraussetzung war, sondern auch, dass der/die Fremde sich gegenüber den „Behörden gehorsam und gut gesittet betragen, und durch seine Aufführung und gezeigte Denkungsart niemahls zu einem gegründeten Verdacht oder Beschwerde Anlaß gegeben“ hatte. Damit gab es also nun keine „Ersitzung“ der Stb mehr, sondern diese war in eine im freien Ermessen der Behörde stehenden Verleihung umgewandelt worden. Seit 1849 setzte die Einbürgerung auch die Zusicherung der Aufnahme in den Heimatverband einer Gemeinde (für den Fall der Verleihung der Stb) voraus, was freilich insofern eine Erschwernis darstellte, als die Gemeinden wegen der damit allenfalls verbundenen Armenversorgungspflicht jedenfalls kein Interesse an der Aufnahme unbegüterter Personen hatten. Über das ABGB hinaus schuf die Verwaltungspraxis noch weitere Erwerbsarten der Stb, so etwa durch Verehelichung einer Ausländerin mit einem Inländer.15

1.3.

Aufenthaltsrecht

AusländerInnen war der Aufenthalt in Österreich grundsätzlich gestattet, sofern sie vorschriftsmäßige Pässe besaßen und sich strafrechtlich oder polizeilich tadellos verhielten.

1.3.1. Passwesen Für „Fremde“ bestanden in der Frühen Neuzeit generell strenge Passvorschriften,16 insbesondere aber für die Einreise von AusländerInnen in die habsbur11 12 13 14 15 16

JGS (Justizgesetzsammlung) 1816 Nr. 1228. PGS 1817 Nr. 125. PGS 1832 Nr. 24. JGS 1833 Nr. 2597. JGS 1833 Nr. 2595. Vgl. etwa Ilse Reiter-Zatloukal, Normative Rahmenbedingungen italienischer Migration nach Wien von der frühen Neuzeit bis zum österreichischen EU-Beitritt, in: Josef Ehmer/Karl Ille (Hg.), Italienische Anteile am multikulturellen Wien (Querschnitte 27), Innsbruck–Wien–Bozen 2009, 36–69; Reiter, Ausgewiesen, 177ff.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

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gischen Länder. So wurden etwa in Böhmen Mitte des 18. Jahrhunderts die Ortsobrigkeiten angewiesen,17 alle Reisenden an den Grenzen oder wo sie sonst angetroffen wurden, um ihren Pass zu befragen, damit kein „schadhaftes Gesindel in das Land hereinschleiche“. Besaß der/die Kontrollierte keine „authentischen Urkunde“, dann sollte er/sie an der Grenze zurückgewiesen oder sofort „aus dem Lande geschafft“ werden. Besonders richteten sich diese Kontrollen gegen „herumschwärmende Leute“,18 v. a. Bettler, „Vagabunden“, „abgedankte Soldaten“, „Zigeuner“ u. dgl. Besonders „derley vagirende Leute“ standen im Verdacht der „Beförderung und Bestellung verdächtiger Schreiben“,19 also der Spionage für auswärtige Mächte, v. a. für das Osmanische Reich. Nach der Französischen Revolution 1789 erhielten dann alle Landesbehörden die Anweisung, alle AusländerInnen, die in die Habsburgermonarchie einreisten, „ohne bestimmten Geschäften nachzugehen, sorgsam zu überwachen“, um revolutionäre Umtriebe hinantzuhalten. War ein Ausländer ohne Reisepass in die kaiserlichen Staaten eingelassen worden, so sollte er auf Kosten desjenigen, der ihm den Eintritt gestattet hatte, wieder über die Grenze zurückgeschickt werden.20 Auch wurde die Erteilung von Reisepässen „im Interesse der Staatssicherheit“ zum Teil bereits anstelle der bisherigen Obrigkeiten der polizeilichen Kontrolle unterstellt.21 Eine besonders im Fokus behördlicher Aufmerksamkeit stehende Personengruppe waren ausländische Handwerksgesellen. Für sie war ein von ihrer Obrigkeit ausgestellter ausländischer Pass vorgeschrieben, und wenn sie ohne legale Ausweise aufgegriffen wurden, waren sie gleich an der Grenze zurückzuweisen bzw. zurück „über die Gränze zu schaffen“.22 Nach einem Hofkanzleidekret von 183323 war, um das Einwandern „ganz erwerbs- und mittelloser ausländischer Handwerksburschen“ hintanzuhalten, allen Personen der Eintritt in den österreichischen Kaiserstaat zu untersagen, die sich entweder nicht mit einem ordentlichen Wanderbuch oder Reisepass ausweisen konnten, „in sittlicher oder polizeilicher Hinsicht bedenklich“ oder länger als zwei Monate vor ihrem Erscheinen an der Grenze trotz Arbeitsfähigkeit nicht mehr in Arbeit gestanden waren oder sich nicht im Besitz bestimmter Barmittel befanden. Für Böhmen war 17 Sicherheits- und Schub-Patent für Böhmen 3. 4. 1750, ThGB (Theresianische GesetzesSlg) IV, Nr. 794. 18 Tiroler Gubernialverordnung 1. 4. 1794, PGS 1794, Nr. 34. 19 Hofdekret 10. 7. 1762, CA VI, 333. 20 Reiter, Ausgewiesen, 192. 21 Hahn, Sylvia, Migranten als Fremde – fremd als Migranten. Zuwanderung in Wien und Niederösterreich im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ingrid Bauer/Josef Ehmer/Sylvia Hahn (Hg.), Walz – Migration – Besatzung. Historische Szenarien des Eigenen und des Fremden. Klagenfurt/Celovec 2002, 77–119, 99. 22 Hofkanzleidekret 24. 12. 1817, zit. nach ebd., 180. 23 Hofkanzleidekret 22. 5. 1833, zit. nach ebd., 180f.

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bereits davor vorgeschrieben worden, dass nur jenen Handwerksburschen der Eintritt in die österreichischen Staaten zu gestatten sei, die sich an der Grenze „mit einer angemessenen ihre Subsistenz bis zur Erlangung einer Arbeit sichernden Barschaft“ ausweisen konnten und sich in einem „offenbar gesunden Zustand“ befanden.24 Ähnliches galt auch für Dienstboten aus dem Ausland.25 Nachdem 1829 die Staatsgrenze nun militärisch abgesichert worden war,26 kam es 1853 zu einer Reform der Passvorschriften für AusländerInnen.27 Die detaillierten Vorgaben für die bei der Einreise nach Österreich gültigen Pässe sahen u. a. vor, dass diese mit dem Visum einer „k.k. österreichischen Mission“ bzw. eines „k.k. Consulates“ versehen sein mussten. Bestimmten Personen durften solche Visa allerdings nicht erteilt werden, so z. B. aus Österreich ausgewiesenen bzw. steckbrieflich gesuchte Personen, „bedenklichen oder gefährlichen Individuen“, „Gauklern, Seiltänzern u. dgl.“ (wenn sie keine Genehmigung zur „Producirung ihrer Künste oder Schaustücke“ vorlegen konnten), Handwerksgesellen und ArbeiterInnen (wenn sie nicht ausreichend Barmittel zur Erreichung ihres Arbeitsortes vorweisen konnten oder mehr als einen Monat vor ihrem Grenzübertrittswunsch arbeitslos waren) sowie Personen, die in Österreich ein AusländerInnen nicht gestattetes Gewerbe ausüben wollten (wie den Hausierhandel). In den Hauptstädten waren den Reisenden die Urkunden gegen Aushändigung eines Empfangsscheins abzunehmen und bei der Polizeibehörde bzw. dem Fremdenamt zu hinterlegen, wo sich die Reisenden auch im Fall eines drei Tage übersteigenden Aufenthaltes binnen 24 Stunden nach der Ankunft zwecks „Bewilligung zum Aufenthalte“ zu melden und eine „Aufenthaltskarte“ zur Legitimation zu lösen hatten. Bereits 1857 wurden die Passvorschriften allerdings wieder deutlich gelockert und die Passkontrollen bei AusländerInnen nur mehr beim Grenzübertritt vorgesehen. Auch mussten keine Aufenthaltskarten mehr ausgestellt werden.28 Zum generellen Entfall der Passkontrollen kam es 1865, es galt nur mehr eine Ausweispflicht.29

1.3.2. Ausweisungsrecht Trotz gültiger Reisedokumente konnten AusländerInnen jedoch, wenn sich „ein Anstand oder Bedenklichkeiten“ ergaben, strafgerichtlich oder polizeilich aus24 Böhmische Gubernialverordnung, 29. 7. 1829, zit. n. ebd., 181, Fn 998. 25 Reiter, Ausgewiesen, 182. 26 Hannelore Burger, Passwesen und Staatsbürgerschaft, in: Waltraut Heindl/Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie. Wien–Köln–Weimar 2000, 3–172, 77. 27 RGBl 82/1853. 28 RGBl 32/1857. 29 RGBl 116/1865.

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gewiesen werden, wobei die „Landesverweisung“ seit den Zeiten Maria Theresias nur mehr gegen AusländerInnen und zwar als Verschärfung einer Strafe wegen eines Kriminalverbrechens vom Strafgericht (i. d. R. bloß fakultativ) ausgesprochen wurde sowie stets für immer und alle Länder der Habsburgermonarchie galt, wie dies in der Constitutio Criminals Theresiana 1768 sowie den Strafgesetzen von 1803 und 1852 normiert war. Die gegen (In- und) AusländerInnen zu verhängende gerichtliche „Abschaffung“ kam bei geringer sanktionierten strafrechtlichen Delikten nach den genannten Strafgesetzen obligatorisch (z. B. bei Geheimbündelei) oder fakultativ (z. B. Aufwiegelungs- bzw. Aufreizungstatbestände) zur Anwendung und konnte nach dem StG 1852 nun bei AusländerInnen nicht nur für immer und aus dem ganzen Staatsgebiet, sondern auch zeitlich und räumlich abgestuft ausgesprochen werden. Die polizeiliche Ausweisung von AusländerInnen, die jahrhundertelang in zahlreichen Einzelbestimmungen verankert war, erfolgte entweder aus Gründen der Armenversorgung in Form der „Abschiebung“ über die Staatsgrenze oder zu Zwecken der Sicherheits-, Sitten- oder Gesundheitspolizei in Form der (polizeilichen) „Abschaffung“. So waren etwa nach einem Dekret von 1794 alle Fremden, welche „ohne Geleitsschein“ bzw. Pass im Lande betreten wurden, und „bedenkliche“ Fremde, selbst wenn ihnen sonst kein Vergehen zugerechnet werden konnte, unbedingt abzuschaffen.30 Aus Wien abzuschaffen waren auch Fremde ohne Beschäftigung oder sicheren Verdienst, wenn sie sich dem Müßiggange oder Betteln ergaben.31 Nicht geduldet werden durften weiters diejenigen Fremden, die mit „allerlei Thieren“, insbesondere mit „wilden Thieren als Bären, Affen, Murmelthiere[n]“, und den „damit verbundenen Gaukeleien“ zur „Schau in die österreichischen Staaten“ kamen, sowie ausländische „herumziehende Komödiantentruppen, Gaukler, Marionettenspieler, Seiltänzer, Springer“ und „derlei gymnastische Künstler“, „Taschenspieler, Guckkästeninhaber, Leiermänner, Vorzeiger sogenannter Spielarten der Natur, als Riesen, Zwerge, Mißgeburten“, fremde „Kunstbereiter“, „wandernde Musikanten, und Bänkelsänger beiderlei Geschlechtes“, „Affen- und Hundskomödien-Vorzeiger“, „Besitzer von Menagerien, oder einzelnen fremden Thieren, wenn selbe ekelerregend“, und „Inhaber von Wachsfigurenkabinetten“.32 Überdies erging zum Schutz der heimischen Wirtschaftsinteressen Ende des 18. Jahrhunderts die Anordnung, dass fremde Kommissäre, welche sich in die Landeshauptstädte zum Zweck der Aquirierung von Warenbestellungen einschlichen, streng zu überwachen und allenfalls auszuweisen seien, wobei es insbesondere verboten war, Muster und Musterkarten von außer Handel gesetzten Waren in die kai30 Dekret 8. 4. 1794, zit. n. Reiter, Ausgewiesen, 192. 31 Niederösterreichisches Regierungsdekret 11. 2. 1795, zit. n. ebd., 192. 32 Verordnungen 10. 6. 1768 und 8. 12. 1781, zit. n. ebd., 193.

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serlichen Staaten zu bringen sowie darauf Bestellungen zu sammeln, weil diese sogenannten Musterreiter „zum Nachtheile des inländischen Erwerbes den Schleichhandel beförderten“.33 Das polizeiliche Ausweisungsrecht wurde 187134 schließlich durch das Reichsschubgesetz reichseinheitlich geregelt, um die verschiedenen, „in mehr als einem halben Tausend von Verordnungen in den Landes-[…] Gesetzsammlung zerstreuten“ Vorschriften in Einklang zu bringen und die staatsbürgerlichen Rechte des Individuums mit dem „unerläßlichen Schutze der Gesellschaft gegen Angriffe auf die Sicherheit der Person und des Eigentums, sowie auf die öffentliche Sicherheit“ in Einklang zu bringen.35 Betreffend AusländerInnen wurde nun normiert, dass diese in Form der „Abschiebung“ in den Fällen, in denen für InländerInnen die Verweisung in die Heimatgemeinde vorgesehen war, auch über die Staatsgrenze verwiesen werden konnten, nämlich bei „Landstreicher[n] und sonstige[n] arbeitsscheue[n] Personen, welche die öffentliche Mildtätigkeit in Anspruch“ nahmen, „ausweis- und bestimmungslose[n] Individuen, welche kein Einkommen und keinen erlaubten Erwerb nachweisen“ konnten, „öffentliche[n] Dirnen, welche dem behördlichen Auftrage zur Abreise“ keine Folge leisteten, sowie „aus der Haft tretende[n] Sträflinge[n] und Zwänglinge[n], insofern sie die Sicherheit der Person oder des Eigenthums“ gefährdeten. Eine Rückkehr war dem/der Ausgewiesenen im Falle der „Abschiebung“ nicht verboten, im Wiederholungsfall konnte allerdings ein strafrechtlich sanktioniertes Rückkehrverbot ausgesprochen werden. Es war aber auch möglich, gleich eine „Abschaffung“, also ein polizeiliches Gebietsverbot unter Strafandrohung, auszusprechen, wenn sich der Aufenthalt eines Ausländers/einer Ausländerin in einem bestimmten Ort oder im gesamten Staatsgebiet „aus Rücksichten der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit als unzulässig“ darstellte. Die Durchführung der ausgesprochenen Ausweisung konnte mittels Zwangspasses, also Instradierung mit „gebundener Marschroute“, oder mittels Schubes, d. h. zwangsweiser Beförderung unter Begleitung von Wachorganen, stattfinden. Zahlreiche zwischenstaatliche Schubabkommen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts belegen die Häufigkeit der Abschiebungen von Ausländern, wobei in der Regel die gegenseitige Unentgeltlichkeit der Abschiebungen sowie eine gegenseitige Wiederaufnahmepflicht hinsichtlich ehemaliger StaatsbürgerInnen vereinbart wurden.36

33 34 35 36

Reiter, Ausgewiesen, 194. RGBl 88/1871. Nr. 11 der Beil. zu den Sten. Prot. des AH, V. Sess., 52. Reiter, Ausgewiesen, 723.

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1.4.

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ArbeitsmigrantInnen im Merkantilismus und Wirtschaftsliberalismus

1.4.1. Gewerbe Von besonderer Relevanz waren für die zugewanderten AusländerInnen freilich die Regelungen betreffend die konkrete Berufsausübung.37 In der Frühen Neuzeit erschwerte zumeist der Zunftzwang, von dem ursprünglich nur die sogenannten Hofhandwerker und Hofbefreiten ausgenommen waren, die Ausübung eines Manufaktur- oder Handelsgewerbes durch ArbeitsmigrantInnen.38 Daher musste sich etwa ein Meister, um an einem anderen Ort sein Gewerbe auszuüben, in die dortige Zunft einkaufen, wenn er nicht als „Störer“ behandelt werden wollte.39 Seit Ende des 17. Jahrhunderts kam es allerdings zunehmend zu einer Unterwerfung der Zünfte unter die Staatsgewalt und zur Beschränkung ihrer Macht. Für Zuwanderer von Bedeutung waren die Befreiung einzelner Gewerbe vom Zunftzwang sowie die Möglichkeit einer individuellen Nachsicht vom Befähigungsnachweis und Aufnahmezwang in die Zunft. Vor allem seit den 1720er und 1730er Jahren wurden als „Schutzdekretisten“ oder „Freimeister“ vorrangig Ausländer, Nichtkatholiken und bisherige „Störer“ vom zünftischen Nachweis der Meisterschaft sowie des Bürgerrechtes befreit und mussten nur mehr ein Schutzgeld an die Hofkammer entrichten.40 Unter Maria Theresia wurde im Sinne des Merkantilismus ein System der eher traditionellen, der Versorgung der Bevölkerung gewidmeten und staatlich kontrollierten zünftischen, „Polizeigewerbe“ einerseits und der wettbewerbsorientierten und vielfach innovativen freien „Kommerzialgewerbe“ entwickelt. Auch Josef II. setzte in weiterer Folge auf eine verstärkte Befreiung der Wirtschaft von ihren zünftischen Fesseln.41 Zur Realisierung des Gewerbefreiheit kam es in Österreich schließlich mit der Gewerbeordnung 1859,42 die nur für wenige Gewerbe (z. B. Rauchfangkehrer, Baumeister, Zimmerleute) aus v. a. sicherheitspolizeilichen Gründen eine behördliche Konzession bzw. behördliche Erteilung eines Gewerbescheins vorsah, während bei den „freien“ Gewerben die Behörde nur vom Antritt des Gewerbes verständigt werden musste. Die Zulassung von AusländerInnen zum selbstständigen Betrieb eines Gewerbeunternehmens war der Einzelfallentscheidung 37 Vgl. für diesen Abschnitt ebd., 51ff. 38 Die Hofhandwerker waren regelmäßig im Hofdienst beschäftigt, die Hofbefreiten wurden nur im bei Bedarf herangezogen, vgl. zu ihnen ausf. Günter Feltl, 150 Jahre österreichische Gewerbepolitik unter dem Aspekt der Zugangsvoraussetzungen zur Gewerbeausübung, Dipl. Arb., Wien 2011, 12ff. 39 Konsequenz war die Beschlagnahme des Handwerkszeuges, Geld- oder Freiheitsstrafe und allenfalls Ausweisung, vgl. ausf. ebd., 15f. 40 Ebd., 17ff. 41 Ebd., 21ff. 42 RGBl 227/1859.

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des Innenministers vorbehalten, sofern Staatsverträge nicht anderes vorsahen. Hinsichtlich des Marktbesuches waren sie InländerInnen gleichgestellt. Seit 1883 wurden im Fall der formellen Reziprozität AusländerInnen in Österreich auch hinsichtlich des Gewerbebetriebes den InländerInnen gleichgestellt.43 Ausländische GehilfInnen und seit 1885 HilfsarbeiterInnen in Gewerbebetrieben erfuhren ebenfalls insofern eine Gleichstellung mit den InländerInnen, als auch ausländische Arbeitsbücher als gesetzlich vorgeschriebene Ausweise akzeptiert wurden oder aber von der Aufenthaltsgemeinde ein inländisches Arbeitsbuch auszustellen war.44

1.4.2. Hausierhandel Für die ausländischen ArbeitsmigrantInnen bestand ein grundsätzlicher Ausschluss vom Hausierhandel, der schon in der Frühen Neuzeit für alle diejenigen „Kramer“ galt, die in den „Erb-Landen nicht gesessen“ und nicht von der „HofCammer oder von den Obrigkeiten, darunter sie gesessen, mit Paßporten nothdürfftiglich versehen seynd“, weil mit dem Hausieren „allerley böse Practiquen und Außkundschafftung“ verbunden seien.45 Allerdings erteilten die Obrigkeiten solche „Pässe für dergleichen Hausirer […] leichterdings“,46 weshalb den unbefugten Hausierern neben der Konfiskation ihrer Ware die Abgabe ins Arbeitshaus angedroht wurde. Das Hausieren der „ausländischen Bildelkrämer“ sollte überhaupt nur zu Jahrmarktszeiten erlaubt werden, da unter diesen „viele verdächtige, landesverderbliche Leute verborgen“ seien.47 Es erging daher ein Verbot an die Herrschaften, „Passir- und Consensbriefe“ für „ausländische Krämer und Hausirer“ außerhalb dieser Zeiten auszustellen.48 Trotz dieser Anordnungen wurde aber den „unbefugten […] Hausirern und kurzen Waarhändlern“ offenbar weiterhin nicht effizient genug entgegengetreten, weshalb das Verbot des Hausierhandels immer wieder eingeschärft werden musste.49 Auch die späteren Hausierpatente von 1811 und 185250 gestatteten den Hausierhandel explizit nur den InländerInnen, denn es bestand weiterhin die Sorge, dass dieser „nur zum Vorwande der Betreibung anderer gesetzwidriger Zwecke“ dienen könnte, da sich „unter der harmlosen Maske von Werkelmän43 RGBl 39/1883. 44 In dieses waren neben den Personalien insbesondere die jeweiligen Diensteintritte und -austritte einzutragen, RGBl 22/1885. 45 CA 1740, 467. 46 CA 1752, 42; CA 1758, 22. 47 CA 1758, 237. 48 CA 1758, 296. 49 CA 1758, 514, 1115f, CA 1777, 863, 875. 50 PGS 1811, 107ff, RGBl 252/1852.

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nern, Bilderhausierer u. dgl. Agenten der revolutionären Partei bergen“, wie dies v. a. dem Herumziehen italienischer Hausierer in den 1860er Jahren unterstellt wurde.51 Hinsichtlich der Italiener hielt sich generell das Vorurteil, dass sie „aus angeborener Arbeitsscheue jeden bettelhaften Wandererwerb der Arbeit vorziehen“ und mit „wenig schauwürdigen Produktionen abgerichteter Tiere […] sowie mit Drehorgelspiel und angeblich nationaler ohrenquälender Instrumentalmusik“ ihren Unterhalt verdienten.52

2.

Zwischenkriegszeit

2.1.

Migrationsvorgänge

Der Erste Weltkrieg führte zu zwei Phänomenen, die im gegenständlichen Zusammenhang von eminenter Bedeutung waren: einer massiven Fluchtwelle (bis 310.000 „nichtdeutsche“ Flüchtlinge53) und zur „Verwandlung bisheriger Bürger der Monarchie in Ausländer“.54 Infolge der staatsbürgerschaftsrechtlichen Folgen des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie (s. u.) wurde nämlich nun der Großteil der bisherigen Binnenmigration zur AusländerInnenmigration. Zum einen betraf dies in (Deutsch-)Österreich infolge der Kriegsereignisse aufhältige AltösterreicherInnen (v. a. aus Galizien), die in Niederösterreich im Zuge einer „Abreisendmachungsaktion“ zum Verlassen des Staatsgebietes aufgefordert wurden.55 Eine nicht unbedeutende Anzahl von Personen erhielt allerdings befristete oder unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigungen, weil sie als Saisonarbeiter oder aber als ArbeiterInnen in landwirtschaftlichen, gewerblichen und industriellen Betrieben bzw. als häusliches Dienstpersonal (jedenfalls mittelfristig) unentbehrlich erschienen, wobei es sich hauptsächlich um tschechoslowakische oder jugoslawische Staatsangehörige handelte.56 Zum anderen wurden ausländische Arbeitskräfte trotz der massiven Arbeitslosigkeit in Österreich57 unter Nichtbeachtung der einschlägigen Rechtsvorschriften (s. u.) ins Land geholt, wenn die Wirtschaft diese benötigte. Die Zerschlagung des früher einheitlichen Wirtschaftsgebietes durch die neuen 51 Andreas Gottsmann, Venetien 1859–1866. Österreichische Verwaltung und nationale Opposition, Wien 2005, 335. 52 Ebd., S. 336. 53 Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914, Wien 1995, 8. 54 Bauböck, Rasse, 3. 55 S. ausf. Reiter, Ausgewiesen, 478ff. 56 Reiter, Ausgewiesen, 485f. 57 S. den Beitrag von Irina Vana in diesem Band.

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Nationalstaatsgrenzen und die damit einhergehenden Beschränkungen der AusländerInnenbeschäftigung stieß nämlich auf wenig Akzeptanz bei der österreichischen Wirtschaft, die nun nicht mehr wie in der Monarchie über ein Arbeitskräftereservoir in den Ländern der Wenzels- und Stephanskrone verfügte. Vor allem in der Land- und Forstwirtschaft, bei Erd- und Bergwerksarbeiten und beim Haushaltspersonal, später auch bei den SpezialarbeiterInnen sowie KünstlerInnen, bestand jedoch ein deutlicher Arbeitskräftemangel. So war etwa in Kärnten und der Steiermark seit 1921 ein verstärkter Zuzug von italienischen Erd-, Holz- und Ziegelarbeitern festzustellen.58 Besonders hinsichtlich tschechoslowakischer Arbeitskräfte wurde wiederholt kritisiert, dass deren Einreise häufig unkontrolliert und ohne gültige Einreisedokumente, ja oft „auf Schleichwegen durch die Wälder“ stattfand.59 Diese illegale AusländerInnenbeschäftigung wiederum zog Beschwerden der österreichischen Bevölkerung nach sich, die in den ArbeitsmigrantInnen LohndrückerInnen sahen, es kam aber darüber hinaus sogar zu Entlassungen inländischer zugunsten ausländischer ArbeiterInnen.60 Oft weigerten sich freilich ÖsterreicherInnen auch, Arbeiten unter den gebotenen Bedingungen zu übernehmen, wie etwa über ein Kärntner Kohlewerk 1925 berichtet wurde, das über 2.000 Slowenen beschäftigte: „Man bekommt natürlich […] keine heimischen Arbeiter, wenn man verlangt, daß sie unter denselben Verhältnissen dort wohnen und leben sollen wie die Jugoslawen“.61 Bei den ausländischen ArbeiterInnen dominierten nach den Zahlen des Jahres 1924 die Deutschen (fast 4.000), TschechoslowakInnen (über 3.000) und ItalienerInnen mit über 1.000, gefolgt von den UngarInnen, JugoslawInnen, PolInnen, RumänInnen usw.62 Besonders viele ausländische Beschäftigte waren in Vorarlberg und Salzburg registriert, v. a. ItalienerInnen und Deutsche, was diese Bundesländer dazu veranlasste, besonders intensiv gegen die InländerInnenarbeitslosigkeit vorzugehen und länderweise Schutzmaßnahmen gegen den Zuzug deutscher Arbeitskräfte zu ergreifen.63 Als dann infolge der hohen Arbeitslosenzahlen die Nachbarstaaten begannen, ihre Arbeitsmärkte abzuschotten, musste auch Österreich versuchen, AusländerInnen vom Arbeitsmarkt auszusperren, was trotz legistischer Maßnahmen 1925 jedoch nicht gelang (s. u.).

58 59 60 61 62 63

Pelz, Ausländerbeschränkungen, 38. Schreiben der Landesregierung für Niederösterreich, 19. 8. 1921, zit. n. ebd., 40. Pelz, Ausländerbeschränkungen, 41. Ebd., 37ff. Ebd., 31. Ebd., 46ff.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

2.2.

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Staatsangehörigkeit

Mit dem Untergang des Kaisertums Österreich war einerseits als juristische Folge das Erlöschen der Stb zu diesem Staatswesen verbunden, andererseits bildeten mit der Gründung des Staates Deutschösterreich am 30. Oktober 1918 alle Personen, die an diesem Tag ein gültiges Heimatrecht im deutschösterreichischen Staatsgebiet besaßen, das deutschösterreichische Staatsvolk. Dies legte in gleicher Weise provisorisch bis zur endgültigen Regelung das Gesetz vom 5. 12. 191864 über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht fest, sah aber auch die Option für einen anderen Nachfolgestaat, v. a. aus Gründen der Nationalität, und die Staatsbürgerschaftserklärung für die (meisten) AltösterreicherInnen vor.65 Der Staatsvertrag von St. Germain 191966 sprach dann allen Personen mit Heimatrecht in einem Gebiet, das früher zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört hatte, die österreichische Stb zu. Mit seinem Inkrafttreten am 16. 7. 1920 verloren nun aber diejenigen Personen wieder die (deutsch-)österreichische Staatsbürgerschaft, die in einem von (Deutsch-)Österreich beanspruchten Gebiet heimatberechtigt waren, das aber nach dem Staatsvertrag nicht mehr zum Staatsgebiet der Republik gehörte. Allerdings gab es Sonderregelungen für Italien, den SHS-Staat und die Tschechoslowakei, um bestimmte Personen trotz Vorliegens einer dortigen Heimatberechtigung nicht als Staatsangehörige anerkennen zu müssen (Reklamation). Weiters bestand ein Optionsrecht der Staatsangehörigen von Nachfolgestaaten für Österreich kraft früheren Heimatrechts sowie ein Optionsrecht von ÖsterreicherInnen für einen Nachfolgestaat aus Gründen der „Rasse“. Die Verfassung von 192067 sah schließlich eine Landes- und eine Bundesbürgerschaft vor, wobei durch den Erwerb der Landesbürgerschaft, deren Voraussetzung ein Heimatrecht im Land war, die Bundesbürgerschaft erworben wurde. Nachdem die Aufteilung der Bevölkerung an die Nachfolgestaaten der Monarchie abgeschlossen war, erging anstelle des bislang geltenden Staatsbürgerrechts der Monarchie das Staatsbürgerschaftsgesetz 1925.68 Nach diesem konnte der Erwerb der Landesbürgerschaft für Zuwanderinnen durch Verehelichung erfolgen, ansonsten durch Abstammung (Legitimation) oder Verleihung durch den Landeshauptmann. Voraussetzung der Verleihung war die Zusicherung der Aufnahme in den Heimatverband einer österreichischen Gemeinde und ein mindestens vierjähriger ordentlicher Wohnsitz im Inland, wovon jedoch 64 65 66 67 68

StGBl 91/1918. S. zur antisemitischen Tendenz dieser Regelung Reiter, Ausgewiesen, 323. StGBl 303/1920. BGBl 1/1920. BGBl 285/1925.

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abgesehen werden konnte, wenn die Verleihung im Interesse des Bundes lag. Bei mindestens zehnjährigem Aufenthalt war die sofortige Verleihung der Landesbürgerschaft durch die Landesregierung möglich, ansonsten nur nach einer Bestätigung des Bundeskanzleramts, dass „vom Standpunkte der Interessen des Bundes kein Anstand obwaltet“. Erheblich eingeschränkt wurden in weiterer Folge die Einbürgerungsmöglichkeiten durch die Regierung Dollfuß aus (partei- und) wirtschaftspolitischen Gründen. Zum „Schutze des heimischen Arbeitsmarktes“ dekretierte die Regierung im November 193369 gleichsam eine „allgemeine Verleihungssperre an Ausländer“.70 Bis auf Weiteres durfte die Landesbürgerschaft an Zugewanderte nämlich nicht mehr verliehen werden, außer die Bundesregierung bezeichnete die Verleihung im Einzelfall als im Bundesinteresse gelegen.71 Grund dafür war insbesondere, dass die in Österreich geborene „Nachkommenschaft“ der „zahlreichen in Österreich wohnenden Ungarn, Polen, Rumänen und Jugoslawen […] auf sehr einfache Weise die österr[eichische] Staatsangehörigkeit erwerben“ konnte, wobei diese „volksfremde[n] Personen“ den „österrr[eichischen] Arbeitsmarkt und sonach auch die staatlichen Fürsorgeeinrichtungen belasten und schließlich der Armenfürsorge der Heimat- bezw. Aufenthaltsgemeinde anheimfallen“ würden.72 Als besonders problematisch stellte sich diese neue Regelung freilich für diejenigen Zuwanderer dar, deren Berufsausübung die österreichische Stb voraussetzte, wie ÄrztInnen oder RechtsanwältInnen, wobei Frauen diese Hürde allerdings durch die weiter bestehende Verehelichungsmöglichkeit mit einem Österreicher de facto umgehen konnten.

2.3.

ArbeitsmigrantInnen und der Schutz des nationalen Arbeitsmarktes

Während Frankreich und Russland in den 1920er Jahren einen erheblichen Arbeitskräftemangel aufwiesen und ArbeitsmigrantInnen auch aus Österreich anwarben,73 bestand in Österreich selbst eine hohe Arbeitslosenrate,74 was auch zu einer massiven Auswanderungswelle führte.75 Da Österreich also mehr Aus69 BGBl 523/1933. 70 Willibald Liehr, Das österreichische und ausländische Staatsbürgerschaftsrecht, Bd. 1, Wien 1950, 31. 71 Vgl. Ilse Reiter-Zatloukal, Staatsbürgerschaftsrecht in Österreich 1933–1938, in: BRGÖ 2 (2011), 291–316, 292ff. 72 Sitzung des Ministerrates 1. 9. 1933, zit. n. Reiter-Zatloukal, Staatsbürgerschaftsrecht, 311f. 73 Pelz, Ausländerbeschränkungen, 20ff. 74 S. einen Überblick m. w. N. Ilse Reiter-Zatloukal, „Abgeschobene“, „Notständler“, „Ausgesteuerte“. Von der „Polizeisozialpolitik“ zur Arbeitslosenfürsorge in Österreich, in: juridikum 1 (2016), 69–82. 75 Zwischen 1921 und 1937 wanderten rund 75.000 nach Übersee aus, vgl. Heinz Fassmann/

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wanderungs- als Einwanderungsland war, wurden auch zunächst keine besonderen Einreisebestimmungen normiert, sondern bloß die Regelungen der Habsburgermonarchie übernommen. 1919 erfolgte allerdings die Gründung eines „Wanderungsamts“ als Unterabteilung des Bundeskanzleramtes für die Abwicklung des gesamten Ein- und Ausreiseverkehrs,76 und ebenfalls seit 1919 bestand zur Kontrolle der Migrationsaktivitäten allgemein ein Visumzwang.77 Erleichterungen für den landwirtschaftlichen Arbeitskräftebedarf in Österreich schuf 1921 ein Abkommen über die „Anwerbung und Beistellung tschechoslowakischer Wander- bzw. Saisonarbeiter für die österreichische Landwirtschaft“.78 Mit dem von Österreich, Ungarn, Italien, Polen, Rumänien, dem SHS-Staat und der Tschechoslowakei unterzeichneten „Grazer Paßübereinkommen“ vom Jänner 192279 kam es in weiterer Folge zu einer einheitlichen Regelung betreffend Pässe und Sichtvermerke, die nun i. d. R. „sofort ohne Erhebungen oder vorherige Genehmigung erteilt“ wurden. Nur im Falle einer „Gefahr für die nationale Sicherheit oder für die öffentliche Gesundheitspflege und […] wegen interner Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur“ (z. B. um den Arbeitsmarkt zu regulieren) konnten Erhebungen vorgenommen werden. Vor Erteilung eines Visums an eine Person, die in Österreich Arbeit suchte oder eine Stelle antrat, hatten deren Vertretungsbehörden im Ausland eine Äußerung des Wanderungsamtes über die Lage des Arbeitsmarktes einzuholen, das zu diesem Zweck die diversen sachlich in Frage kommenden österreichischen Stellen konsultieren sollte. Ausnahmebestimmungen gab es für den „Kleinen Grenzverkehr“. In der Praxis zeigte dieses Zuwanderungsregime aber offenbar nicht die gewünschte Wirkung, da zahlreiche AusländerInnen ohne Zustimmung des Wanderungsdienstes in Österreich arbeiteten, denn „insbesondere im Wege des Kleinen Grenzverkehres und durch sonstige Umgehung des Kontrolldienstes“ gelang es „einer Anzahl von Ausländern“ doch, „ohne Zustimmung des Wanderungsdienstes zu Erwerbszwecken nach Österreich zu kommen“.80 Zur Verschärfung der Lage trug bei, dass die Nachbarstaaten vermehrt Maßnahmen zur Beschränkung und Kontrolle der Ausländerbeschäftigung trafen.81 So schrieb der SHS-Staat mit dem Arbeiterschutzgesetz 1922 den Arbeitgebern vor, für die Beschäftigung von AusländerInnen eine behördliche Genehmigung einzuholen,

76 77 78 79 80 81

Rainer Münz, Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen, Wien 1995, 31. S. zum folgenden Pelz, Ausländerbeschränkungen, 34ff. StGBl 340/1919. Ausf. Pelz, Ausländerbeschränkungen, 35f. BGBl 194/1922. Zit. n. Pelz, Ausländerbeschränkungen, 14. Pelz, Ausländerbeschränkungen, 43ff.

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1925 folgte das Deutsche Reich mit einer ähnlichen Bewilligungspflicht, in der Tschechoslowakei wurden die Unternehmen behördlicherseits aufgefordert, ausländische Arbeitskräfte zu entlassen, was ab 1923 in hohem Ausmaß ÖsterreicherInnen betraf. Die vom AusländerInnenzugzug, insbesondere durch Deutsche und ItalienerInnen, besonders betroffenen Bundesländer Vorarlberg und Salzburg reagierten darauf 1923 mit Verordnungen, die ebenfalls den Dienstantritt einer ausländischen Arbeitskraft an eine eigene behördliche Bewilligung banden,82 und seit 1923 drängte die Arbeiterkammer auf eine auch bundesgesetzliche Regelung. Als 1925 die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs zwischen Österreich und Deutschland83 die Arbeitsmarktsituation in Österreich weiter verschlechterte (fast 190.000 Arbeitslose im März und ca. 80.000 ausländische Arbeitskräfte im Juli84), sollte das an die Maßnahmen der Nachbarstaaten angelehnte Inlandarbeiterschutzgesetz von 192585 die „Überflutung des heimischen Arbeitsmarktes“86 durch ausländische Arbeitskräfte schließlich hintanhalten. Die Bauern bangten allerdings nun um ihre landwirtschaftlichen ausländischen SaisonarbeiterInnen und TaglöhnerInnen, die ArbeiterInnen befürchteten zu viele Ausnahmen und die UnternehmerInnen, dass mit diesem Gesetz „eine schwere Beeinträchtigung des Prinzips der Freizügigkeit auf dem internationalen Arbeitsmarkte“ erfolge, obwohl es „mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Wirtschaftsverhältnisse einen Erfolg zu gewährleisten nicht vermag“.87 Das Gesetz legte für die „Dauer der außerordentlichen Arbeitslosigkeit im Bundesgebiet“ fest, dass – vereinfacht formuliert – kein Arbeitgeber eine ausländische Arbeitskraft, die sich nicht seit mindestens 1. Jänner 1923 im Bundesgebiet ständig aufgehalten hatte, ohne behördliche Bewilligung beschäftigen durfte. Die Bewilligung durfte nur erteilt werden, wenn es die „Lage des Arbeitsmarktes“ zuließ, „wichtige Interessen der Volkswirtschaft“ dies erforderten oder „sonstige triftige Gründe, insbesondere wichtige Familienrücksichten oder Gründe der Menschlichkeit“, dafür sprachen. Ausnahmen gab es insbesondere für landwirtschaftliche ArbeiterInnen und bäuerliche DienstbotInnen sowie verschiedene KünstlerInnengruppen.88 Tatsächlich hatte das Gesetz kurzzeitig einen Rückgang bei den erteilten Beschäftigungsbewilligungen zur Folge (ca. 3.900 1926), allerdings war der Vollzug „sehr tolerant“, ja es wurde vielfach, so ein sozialdemokratischer Ab82 83 84 85 86

Vorarlberg. LGB. 79/1923; salzb. LGBl 115/1923. BGBl 264/1925. Pelz, Ausländerbeschränkungen, 77. BGBl 457/1925. Erl. Bem. zum Entwurf des Inlandarbeiterschutzgesetzes, zit. n. Pelz, Ausländerbeschränkungen, 58. 87 So die Handelskammer Linz, zit. n. ebd., 64. 88 BGBl 10/1926, 11/1926, 17/1926.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

131

geordneter 1930, „ganz einfach nicht eingehalten“ und kritisiert, dass „die Bezirkshauptleute und die Bundespolizeibehörden nicht einmal die Gendarmerie sich einmengen lassen, sondern ihre schützende Hand über alle Unternehmen halten, die unbefugt ausländische Arbeitskräfte beschäftigten“.89 Auch stiegen die Bewilligungen seit 1927 wieder deutlich an und erreichten 1932 einen Höhepunkt (mit fast 8.90090). Trotzdem blieb das Gesetz bis 1941 in Kraft, nachdem 1934 die KünstlerInnen aus den Ausnahmebestimmungen entfernt worden waren,91 und legte letztlich „den Grundstein für die heutige Regulierung der Ausländerbeschäftigung“,92 wenngleich das konkrete Bewilligungsregime der Zweiten Republik aus dem der NS-Zeit hervorging (s. u.).

2.4.

Aufenthalts- und Ausweisungsrecht

Hinsichtlich des Aufenthalts- und Ausweisungsrechts wurde 1918 die bisherige Rechtslage nicht nur übergeleitet, sondern es kam in weiterer Folge, etwa im Bereich der strafrechtlichen Nebengesetze, auch zur Schaffung neuer Ausweisungstatbestände für AusländerInnen (z. B. 192193 für Preistreiberei, Schleichhandel und andere „ausbeuterische oder die Versorgung der Bevölkerung gefährdende Handlungen“) oder bisher nur fakultativ vorgesehene Ausweisungen wurden in obligatorisch zu verhängende Maßnahmen umgewandelt (z. B. im Staatsschutzgesetz 1936).94 Von rein temporärer Bedeutung war allerdings die „Abreisendmachungsaktion“,95 die sich gegen die in Österreich aufhältigen Kriegsflüchtlinge richtete, die nicht die deutschösterreichische Staatsbürgerschaft besaßen. Der diesen Defacto-Ausweisungen zugrunde liegende Erlass des deutschösterreichischen Staatsamtes für Inneres und Unterricht vom 5. 9. 1919 und die in seiner Folge erlassene Kundmachung der niederösterreichischen Landesregierung, der sogenannte Sever-Erlass, forderten angesichts der „überaus schwierige[n] wirtschaftliche[n] Gesamtlage Deutschösterreichs“ die Flüchtlinge auf, das Staatsgebiet bis 20. 9. „freiwillig“ zu verlassen. Gegen „uneinsichtige“ Personen sollte „unnachsichtig“ mit der Abschaffung nach dem Schubgesetz vorgegangen werden. Nur ausnahmsweise konnte einzelnen Personen, wenn „deren Aufenthalt in Deutschösterreich im öffentlichen Interesse gelegen“ war, wenn sie hier in 89 90 91 92 93 94 95

Abg. Schlesinger im Nationalrat, 29. 1. 1930, zit. n. Pelz, Ausländerbeschränkungen, 83f. Vgl. ebd., 82. BGBl 172/1934. Bauböck, Rasse, 5. BGBl 253/1921. BGBl 223/1936. S. ausf. m. w. N. Reiter, Ausgewiesen, 478ff.

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einer „dauernden Arbeitsstellung“ standen oder „ganz besonders berücksichtigungswürdige Umstände“ vorlagen, der Aufenthalt für die Dauer des unumgänglichen Bedarfes gestattet werden. Dieser Bedarf bestand offenbar oft, sollten doch insbesondere im ländlichen Niederösterreich die Feldarbeiten ungestört zu Ende gebracht werden, außerdem wurden die ArbeiterInnen vielfach im Bergwerk und in Industriebetrieben weiterhin benötigt. In Wien, wo sich die Maßnahme vor allem gegen die 20.000 bis 30.000 „Ostjuden“ richtete, waren bis Oktober 1920 über 22.500 Gesuche um Aufenthaltsbewilligung eingegangen (davon bis zu diesem Zeitpunkt über 9.000 bewilligt) und über 1.250 Abschaffungserkenntnisse gefällt worden, während etwa 11.000 polnische Kriegsflüchtlinge Wien bis April 1920 „freiwillig“ verlassen hatten.

3.

Drittes Reich

3.1.

Migrationsvorgänge

Unter der NS-Herrschaft kam es einerseits zu einer Massenflucht von aus politischen und rassistischen Gründen verfolgten ÖsterreicherInnen (130.000 bis 194296), andererseits zu einer Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte größeren Umfangs seit 1939, nachdem die „Eingliederung Österreichs in den deutschen Wirtschaftsraum abgeschlossen und die Arbeitslosigkeit in den Alpen- und Donauländern beseitigt“ war.97 Da nach dem „Anschluss“ viele ÖsterreicherInnen ins „Altreich“ abgewandert oder dienstverpflichtet worden waren, trat nämlich bereits ab dem Frühjahr 1939 ein Arbeitskräftemangel auf, der auch nicht mehr mit volksdeutschen „Rückwanderern“ wettgemacht werden konnte, sodass ausländische Arbeitskräfte angeworben wurden, darunter auch LandarbeiterInnen mittels eines deutsch-italienischen Abkommens. Mit Kriegsbeginn änderte sich die Situation, und dem Arbeitskräftemangel wurde zunehmend mit immer gewaltigere Ausmaße annehmender Zwangsmigration98 begegnet. Im Herbst 1944 befanden sich 580.000 Menschen aus der Sowjetunion, der Slowakei und aus Tschechien, Ungarn, Polen, Frankreich, Belgien, den 96 ULR: http://www.doew.at/cms/download/d7ktr/auswandererkartei.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 97 Norbert Schausberger, Mobilisierung und Einsatz fremdländischer Arbeitskräfte während des zweiten Weltkrieges in Österreich, Wien 1970, 1. 98 S. zur NS-Zwangsarbeit ausführlich Mathias Krempl, Arbeitsamt und Staatsgewalt. Arbeitsmarktbehördliche Organisation und Sachfragen im politischen Wandel, in: Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis, Wien 2015, 150–165, sowie den Überblick im einschlägigen Kapitel des Beitrags von Mathias Krempl in diesem Band.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

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Niederlanden, Italien und anderen Ländern als „zivile Zwangsarbeiter“ in Österreich; dazu kamen Ende 1944 ca. 182.000, großteils zur Zwangsarbeit herangezogene Kriegsgefangene, rund 65.000 ungarische Juden, die beim Bau des „Südostwalls“ eingesetzt waren, und etwa 64.000 zur Zwangsarbeit herangezogene KZ-InsassInnen.99

3.2.

Staatsangehörigkeit

Der Nationalsozialismus unterschied zwischen Reichs- und Staatsangehörigen, wobei Staatsangehörige nur dem „Schutzverband des Deutschen Reiches“ angehörten, während ReichsbürgerInnen TrägerInnen von politischen Rechten waren. Nach dem (in Österreich im Mai 1938 in Kraft gesetzten) Reichsbürgergesetz 1935100 konnten ReichsbürgerInnen nur „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ sein, die durch ihr Verhalten bewiesen, dass sie „gewillt und geeignet“ seien, „in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen“. Während der Erwerb der Reichsbürgerschaft durch Verleihung des Reichsbürgerbriefes erfolgte, konnte die Staatsangehörigkeit seit 1934 nur mehr mit Zustimmung des Reichsinnenministers erlangt werden, wobei bereits im August 1933 ein Einbürgerungsverbot für Nicht-„Arierer“ verhängt worden war.101 1939 wurde eine Erleichterung der Einbürgerung für „rassisch und erbbiologisch geeignete einsatzfähige und arbeitswillige Bewerber“ dekretiert, da sich die „Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt […] inzwischen so grundlegend geändert“ hatten, dass dies „bei dem großen Kräftebedarf“ erforderlich schien, wobei freilich primär an „Volksdeutsche“ gedacht war.102

3.3.

Aufenthalts- und Ausweisungsrecht

Im Dienste der deutschen „Volksgemeinschaft“ und damit der „Beseitigung der Individualrechte des Ausländers“103 stand auch die Ausländerpolizeiverordnung vom 22. 8. 1938 (APVO), die Anfang Oktober 1938 sowohl im „Altreich“ als auch 99 Nationalfonds der Republik Österreich, 1938–1945. Zwangsarbeit in Österreich, URL: www. versoehnungsfonds.at/upload/doc/86/Broschuere.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 100 RGBl I S. 1146; GBlÖ 150/1938. 101 Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, 382. 102 Zit. n. ebd., 398. 103 Jan Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt. Paradigmatische Überlegungen zum grundrechtlichen. Freiheitsschutz in historischer und verfassungsrechtlicher Perspektive, Tübingen 1997, 328.

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im Land Österreich (an Stelle des Schubgesetzes) in Kraft trat.104 Sie räumte der Polizei ein „umfassendes Zugriffsrecht“ ein und unterwarf mit der fast jederzeit möglichen Abschiebung „die individuelle Ausländerbeschäftigung vollständig übergeordneten Bedarfserwägungen“, womit das Ausländerpolizeirecht zum Regulativ nicht nur „völkischer“, sondern auch „arbeitsmarktpolitischer Belange“ wurde.105 Nach der APVO war nämlich grundsätzlich nur denjenigen AusländerInnen der Aufenthalt im Reichsgebiet erlaubt, die „nach ihrer Persönlichkeit und nach dem Zweck ihres Aufenthalts im Reichsgebiet Gewähr dafür bieten, daß sie der ihnen gewährten Gastfreundschaft würdig sind“, also „einwandfreie Ausländer“ waren. Bei der Beurteilung dieser materiellen Voraussetzungen hatten die zuständigen Behörden alle „Tatsachen“ zu berücksichtigen, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit ermöglichten, wie etwa „die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis, zu einer bestimmten Volksgruppe oder ähnliches“. Wollte ein „einwandfreier Ausländer“ einer selbstständigen oder unselbstständigen Arbeit nachgehen oder über einen längeren Zeitraum im Deutschen Reich verbleiben, musste er/sie nach der APVO eine besondere Aufenthaltserlaubnis beantragen, wobei die Entscheidung im Ermessen der Behörde stand. Dieses Aufenthaltsrecht konnte jederzeit wieder entzogen werden, wenn der/die AusländerIn der „Gastfreundschaft“ als „unwürdig“ erachtet wurde. Dies war der Fall, wenn sein/ihr Verhalten geeignet war, „wichtige Belange des Reichs oder der Volksgemeinschaft zu gefährden“, oder wenn er/sie „als Landstreicher, Zigeuner oder nach Zigeunerart umherzieht, der Gewerbsunzucht nachgeht oder sich als arbeitsscheu erweist“ oder „nicht über genügende Mittel zur Bestreitung seines oder des Unterhalts seiner Familie verfügt“. Auch diese Entscheidung stand im freien Ermessen der Behörde. Verließ der/die Ausgewiesene das Reichsgebiet nicht innerhalb der „Reisefrist“, so erfolgte die Abschiebung über die Reichsgrenze, allenfalls nach vorheriger Verwahrungshaft. In Durchführung der APVO wurde in weiterer Folge in Berlin die „Ausländerzentralkartei“ zum Zweck der absoluten Erfassung und Kontrolle der AusländerInnen im Reich installiert.106 Mit Kriegsbeginn erfolgte eine Verschärfung des Ausländerpolizeirechts.107 Angehörige von Feindstaaten unterlagen nun einer besonderen Meldepflicht und bekamen grundsätzlich auch nur eine auf den Aufenthaltsort einge104 GBlLÖ 379/1938. 105 Gosewinkel, Einbürgern, 398. 106 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, 125 f; s. zur Durchführung z. B. Karl Fallend, Zwangsarbeit Sklavenarbeit in den Reichswerken Hermann Göring am Standort Linz. (Auto-)Biographische Einsichten, Wien–Köln–Weimar 2001, 87f. 107 RGBl 1939 I S. 1667; GBlLÖ 1134/1939.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

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schränkte Aufenthaltserlaubnis. Für den Verbleib im Reichsgebiet des/der feindlichen Ausländers/Ausländerin konnten außerdem Beschränkungen der persönlichen Freiheit bis hin zur Internierung angeordnet werden. Für das Verlassen des Reichsgebietes bedurften sie einer Erlaubnis des Reichsführers SS, und eine Ausweisung, die ohnedies für viele Betroffenen „keine Bestrafung, sondern eine Befreiung“108 bedeutet hätte, war für diese Personengruppe überhaupt nicht mehr vorgesehen.

3.4.

Ausländerbeschäftigung

Nach dem „Anschluss“ 1938 blieb zunächst das Inlandarbeiterschutzgesetz von 1925 (in seiner geltenden Fassung) in Kraft. Erst 1941 wurde im Rahmen der Vereinheitlichung des Ausländerrechts im gesamten Deutschen Reich die deutsche Verordnung über ausländische Arbeitnehmer vom 23. 11. 1933109 in der Ostmark eingeführt.110 Sie sah vor, dass ArbeitgeberInnen für die Beschäftigung ausländischer ArbeitnehmerInnen eine „Beschäftigungsgenehmigung“ benötigten und ArbeitnehmerInnen eine „Arbeitserlaubnis“. Erforderliche Voraussetzungen für die Erteilung einer Beschäftigungsgenehmigung waren die „Bedürfnisse der inländischen Wirtschaft“ und „die Lage des inländischen Arbeitsmarkts“ sowie allfällig festgesetzte Höchstzahlen für die Ausländerbeschäftigung. Sie konnte vom Landesarbeitsamt auf maximal zwei Jahre erteilt und an Bedingungen geknüpft werden. Die „Arbeitserlaubnis“ war auf eine konkrete bewilligte „Arbeitsstelle“ beschränkt. Die Entscheidung über den bei der Polizeibehörde zu stellenden Antrag traf das Landesarbeitsamt, das eine Arbeitskarte ausstellte. Ein zwei Jahre gültiger „Befreiungsschein“ war hingegen erst nach zehn Jahren ununterbrochenen Aufenthalts im Reichsgebiet erteilbar. Besondere Vorschriften bestanden für ausländische landwirtschaftliche ArbeiterInnen.

108 Tobias Schwarz, Bedrohung, Gastrecht, Integrationspflicht: Differenzkonstruktionen im deutschen Ausweisungsdiskurs, Bielfeld 2010, 75. 109 RGBl 1933 I S. 26. 110 RGBl 1941 I S. 44.

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4.

Zweite Republik

4.1.

Migrationsvorgänge

Seit 1945 war Österreich Ziel zahlreicher Migrationswellen, die regelmäßig nicht primär Gründen der Arbeitssuche, sondern vielmehr verschiedenen politischen Ereignissen geschuldet waren, wobei Österreich oftmals nicht Zuwanderungs-, sondern nur Transitland war (Displaced Persons und Volksdeutsche nach Kriegsende, UngarInnen 1956, TschechoslowakInnen 1968, PolInnen 1980, BosnierInnen 1991ff, dzt. SyrerInnen, AfghanInnen und IrakerInnen). Dazu kamen in den Zeiten des „Wirtschaftswunders“ die „GastarbeiterInnen“ als zunächst reine ArbeitsmigrantInnen, die jedoch entgegen den Erwartungen nicht bloß als „Gäste“ gekommen waren, sondern vielfach, um zu bleiben. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre nahm so die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte jährlich um 20.000 bis 40.000 Personen zu und erreichte mit 230.000 „GastarbeiterInnen“ einen Höhepunkt (10 %-Ausländeranteil bezogen auf alle unselbstständig Beschäftigten bzw. 4 % bezogen auf die Gesamtbevölkerung), wobei JugoslawInnen und TürkInnen dominierten. Innerhalb der nächsten zehn Jahre ging der Ausländeranteil um 40 % zurück.111 Trotz der Verschärfung der Bestimmungen für Arbeitsmigration und Stb-Erwerb seit den 1980er Jahren setzte sich in weiterer Folge neben illegaler De-facto-Immigration einerseits die (legale) Zuwanderung von AusländerInnen, v. a. im Wege des Familienzuzuges, fort, andererseits gewann die temporäre Beschäftigung von AusländerInnen und die Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften zunehmend an Bedeutung. Darüber hinaus brachte der Zerfall Jugoslawiens zahlreiche Kriegsflüchtlinge nach Wien (ca. 100.000 zwischen 1992 und 1995), wobei die BosnierInnen die größte Gruppe stellten. Der Beitritt zur Europäischen Union (EU) 1995 veränderte die Arbeitsmigration grundlegend, denn die Zuwanderung verschob sich zunehmend von AusländerInnen aus dem einstigen Jugoslawien und der Türkei auf die EUStaaten. Seit der Jahrtausendwende stellen deutsche Staatsangehörige die größte Gruppe der MigrantInnen nach Österreich dar, neben Studierenden v. a. als SaisonarbeiterInnen in der Tourismusbranche. Die Osterweiterungen 2004 und 2007 zogen weitere Arbeitsmigrationsströme nach sich, insbesondere nach dem Ende der Übergangsfristen aus Rumänien und Bulgarien. So waren rezent ca. 230.000 Personen aus diesen beiden neuen Mitgliedsländern in Österreich beschäftigt.112 Insgesamt kamen zwischen 1996 und 2001 rund 100.000 Auslän111 Fassmann/Münz, Einwanderungsland, 41f. 112 URL: http://www.profil.at/oesterreich/arbeitsmarkt-oesterreich-zuwanderung-osteuropa6240120 (abgerufen am 15. 7. 1960).

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

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derInnen mehr nach Österreich als wieder wegzogen, während der Zuwachs 2002 bis 2005 insgesamt etwa 220.000 betrug. Waren 2006 noch 69 % der Zuwanderer aus Drittstaaten, so sank durch die verschärfte Regelung deren Anteil bis 2007 auf 37 %,113 2014 bereits auf ein Drittel – darunter nach wie vor mehrheitlich BürgerInnen des ehemaligen (außerhalb der EU befindlichen) Jugoslawiens und der Türkei.114

4.2.

Staatsangehörigkeit

Nach dem Wiedererstehen der Republik Österreich wurden einerseits staatsbürgerschaftsrechtliche Regelungen für Vertriebene und Flüchtlinge des NSRegimes erlassen, andererseits normierte das Staatsbürgerschaftsgesetz 1945115 neben allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen die Verleihung der Stb für AusländerInnen bei Vorliegen insbesondere eines ordentlichen Wohnsitzes in Österreich durch mindestens vier Jahre, wobei von diesem Erfordernis abgesehen werden konnte, wenn die Einbürgerung im Interesse des Staates lag. Eine Verleihung durfte aber nicht erfolgen, wenn durch die Einbürgerung für den Staat „Nachteile zu befürchten“ waren. Weiters konnten AusländerInnen mit zehnjährigem Aufenthalt im Staatsgebiet nach Ermessen der Landesregierung eingebürgert werden, wenn gegen die Verleihung der Stb „vom Standpunkt der Interessen des Bundes kein Anstalt obwaltet[e]“. Darüber hinaus wurden alle seit 1915 ununterbrochen im Staatsgebiet aufhältigen AusländerInnen eingebürgert. Seit 1949116 bestand nach 30-jährigem Aufenthalt allgemein ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung, aus dem Ausland berufene HochschullehrerInnen erwarben die Staatsbürgerschaft durch Antritt ihres Amtes. 1965 erfolgte dann eine staatsbürgerschaftsrechtliche Verselbstständigung der Ehefrau,117 die bisher bezüglich Erwerbs und Verlustes der Staatsangehörigkeit vom Mann abhing, und 1983 die Gleichstellung der Geschlechter in staatsbürgerschaftsrechtlicher Hinsicht.118 1965 erfolgte aber auch insofern eine Verschärfung der Einbürgerung,119 als der Neuerwerb der Stb für AusländerInnen nun an einen mindestens zehnjäh113 Stephan Marik-Lebeck, Einwanderungsland Österreich. Strukturen und Trends, in: Standort – Zeitschrift für Angewandte Geographie 33 (2009), 63–70, 67. 114 Statistik Austria/Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, migration & integration. Zahlen.daten.indikatoren 2015, Wien Wien 2015, 34. 115 BGBl 60/1945. 116 BGBl 142/1949, 276/1949. 117 BGBl 250/1965. 118 BGBl 566/1983. 119 BGBl 250/1965, wiederverlautbart 311/1985.

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rigen ordentlichen Wohnsitz in Österreich geknüpft war. Auch die folgenden Staatsbürgerschaftsgesetz-Novellen erschwerten den Stb-Erwerb weiter. Seit 1998120 konnten die Fristen zur Verleihung der österreichischen Stb jedoch „unter besonders berücksichtigungswürdigen integrationsindizierenden oder integrationsfreundlichen Umständen“ verkürzt werden (z. B. EWR-BürgerInnen: vier Jahre, Fremde mit Nachweis nachhaltiger persönlicher und beruflicher Integration: sechs Jahre). Jedenfalls müssen seitdem für den Erwerb der österreichischen Stb „unter Bedachtnahme auf die Lebensumstände des Fremden jedenfalls entsprechende Kenntnisse der deutschen Sprache“ nachgewiesen werden, weil die Verleihung der Staatsbürgerschaft als „letzte[r] Schritt einer geglückten Integration“ Fremder in Österreich galt.121 2005122 wurden in Anpassung an die Neukodifikation des österreichischen Zuwanderungsrechts die Aufenthaltsfristen harmonisiert und auch nicht mehr an den Wohnsitz, sondern den ununterbrochenen Aufenthalt angeknüpft, die Einbürgerungsvorschriften durch Erweiterung der Verleihungshindernisse (u. a. bzgl. strafrechtlicher Verurteilungen) und die Anforderungen an den „hinreichend gesicherten Lebensunterhalt“ weiter verschärft. Außerdem war ein Test über Kenntnisse betreffend die demokratischen Ordnung sowie die Geschichte des jeweiligen Bundeslandes zu absolvieren. Seit 2013123 wurde bei diesem Test der Fokus allerdings nun weniger auf historisches Faktenwissen, sondern viel stärker auf „Werte und Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ gelegt.124 Außerdem kam es 2013 zu einer Verkürzung der Anwartszeit für „besonders gut integrierte Fremde“ auf sechs Jahre.

4.3.

Aufenthaltsrecht

4.3.1. Einreiserecht und Fremdenpolizei Nach dem Zweiten Weltkrieg galt in Österreich zunächst weiterhin die APVO 1938. Darüber hinaus regelte das Passgesetz (PassG) 1945125 die Einreisebe120 BGBl I 124/1998. 121 Beil. 1283 Sten. Prot. NR, URL: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XX/I/I_01283/ fname_140172.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 122 BGBl I 37/2006, vgl. den Überblick auf URL: http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Oeffentliche Sicherheit/2006/05_06/files/Staatsbuergerschaft.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 123 BGBl I 136/2013. 124 Stephan Wiener/Jeanette Benndorf, Der neue Weg zur österreichischen Staatsbürgerschaft. Die Staatsbürgerschaftsnovelle als gesetzlicher Schritt zur Stärkung des Themas Integration und Gleichheit, SIAK-Journal @ Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis 4 (2013), 43–50, http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_SIAK/4/2/1/2013/ausgabe_4/files/Wiener_ 4_2013.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 125 BGBl 180/1945.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

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stimmungen, wonach i. d. R. für AusländerInnen ein Sichtvermerk vorgeschrieben war. 1954 wurde die APVO durch das Fremdenpolizeigesetz (FrPolG)126 ersetzt, das die bisherige ausländerpolizeiliche Aufenthaltserlaubnis aufgab und Fremde grundsätzlich wieder zwecks Liberalisierung des zwischenstaatlichen Verkehrs zum zeitlich unbeschränkten Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigte, dafür aber die jederzeitige Möglichkeit der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes vorsah (und eventuell deren Abschiebung, s. u.). Die Einreise von AusländerInnen wurde in weiterer Folge durch das PassG von 1969127 neu geregelt. Dieses verlangte von AusländerInnen für die Einreise weiterhin grundsätzlich einen Sichtvermerk, außer es bestanden zwischenstaatliche Übereinkommen wie mit den meisten europäischen Staaten, durch welche ein visumfreier Touristenaufenthalt in der Dauer von drei Monaten ermöglicht wurde. Unabhängig vom Vorliegen eines Visums konnte nach dem PassG aber von den österreichischen Grenzkontrollbehörden die Einreise verweigert werden, wenn die einreisewillige Person nicht glaubhaft machen konnte, dass sie für sich selbst aufkommen konnte, ohne zu arbeiten, zu betteln oder zu stehlen, oder wenn die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach dem FrPolG bestanden. Im Sinne einer Neuordnung des AusländerInnenrechts und europäischer Harmonisierungsbestrebungen – sollte doch der EWR mit Beginn des Jahres 1993 realisiert werden – erging (neben einem neuen Asylgesetz 1991128) auch das „Ausländerpaket“ 1992, also ein Aufenthaltsgesetz (AufenthG), ein neues PassG und ein neues Fremdengesetz (FrG), womit das Migrationswesen nicht mehr allein eine fremdenpolizeiliche Materie darstellte, das Ausländerbeschäftigungsgesetz (s. u., AuslBG) blieb jedoch weitgehend unverändert. Das AufenthG 129 sah erstmals „nach US-amerikanischem und kanadischen Vorbild Obergrenzen der Bruttozuwanderung“ vor130 und verschob die Kompetenz für die Zuwanderung vom Sozial- ins Innenministerium. Es führte die 1954 abgeschafften ausländerpolizeiliche Aufenthaltsbewilligungen wieder ein, für welche die Bundesregierung eine jährliche Höchstzahl festlegen musste, wobei sie u. a. die „Entwicklung eines geordneten Arbeitsmarktes sicherzustellen“ und auf die Zahl der bereits vorhandenen Fremden Bedacht zu nehmen hatte. Bei dieser „Bundeshöchstzahl“, die 126 BGBl 75/1954; s. Margarete Grandner, Das österreichische Fremdenpolizeigesetz von 1954, in: Thomas Angerer (Hg.), Geschichte und Recht. FS für Gerald Stourzh zum 70. Geburtstag, Wien–Köln–Weimar 1999, 225–245. 127 BGBl 422/1969. 128 Es löste das Asylgesetz von 1968 ab. 129 BGBl 466/1992. 130 Heinz Fassmann/Rainer Münz, Österreich – Einwanderungsland wider Willen, in: dies. (Hg.), Migration in Europa. Historische Entwicklung, aktuelle Trends, politische Reaktionen, Frankfurt a. M.–New York 1996, 209–230, 227.

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aus mehreren bundesländerweise vergebenen Teilquoten (z. B. für Studierende, Schlüsselkräfte, Familienangehörige) bestand, ging es neben der Regelung des Neuzuzugs von Einwanderern natürlich auch um eine „flexible Kontingentierung des Bestandes ausländischer Arbeitskräfte“.131 Anerkannte Flüchtlinge mussten auf die Quote angerechnet werden, und diese wurde im Sinne einer „Zugangssperre zum Arbeitsmarkt“ auch in weiterer Folge von 10 % auf 8 % abgesenkt.132 Anträge auf Aufenthaltsbewilligung waren nun grundsätzlich vor der Einreise aus dem Ausland zu stellen, denn, so der seinerzeitige Innenminister, „kein Tourist und kein abgewiesener Asylwerber sollten nachträglich zum Zuwanderer mutieren können“.133 Nur Verlängerungen konnten im Inland beantragt werden, unterlagen aber einer Frist, deren Versäumnis den Verlust des Aufenthaltsrechts bedeutete. Für eine auf sechs Monate befristete Aufenthaltsbewilligung war erforderlich, dass der Unterhalt und eine ortsübliche Unterkunft gesichert waren sowie kein Grund für die Versagung eines Sichtvermerks nach dem Fremdenrecht vorlag. Das AufenthG stimmte aber das Aufenthaltsrecht auch auf das AuslBG ab (s. u.), was bedeutet, dass bei Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung eine Bewilligung nach dem AufenthG, also ein gültiger Aufenthaltstitel, vorhanden sein musste, während für eine Aufenthaltsbewilligung der Nachweis eines gesicherten Lebensunterhalts zu erbringen war. Fremde mit Aufenthaltsbewilligung hatten Anspruch auf „Integrationshilfe“, also etwa Sprach- sowie Aus- und Weiterbildungskurse u. dgl. Erstmals wurde die Möglichkeit vorgesehen, einen Aufenthaltstitel auch in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen zu erteilen. Gleichzeitig gab es aber weitere Verschärfungen insofern, als eine Quote für den Familienzuzug und eine Befristung der ersten Bewilligung für Familiengehörige, selbst wenn die Bezugsperson einen unbefristeten Aufenthaltstitel hatte, festgelegt wurden (fünf Jahre). Das FrG 1992134 legte den Fokus auf die Regulierung der Einreise und normierte neue Sichtvermerksbestimmungen, wobei nun grundsätzlich zwischen Touristen- und Einwanderungsvisa unterschieden wurde, um eine nachträgliche Legalisierung von als TouristInnen eingereisten ArbeitsmigrantInnen zu verunmöglichen (s. o.). Nach dem Ablauf eines Touristenvisums mussten also AusländerInnen auf jeden Fall Österreich verlassen. Darüber hinaus fasste das FrG die bisher im PassG und im FrPolG enthaltenen 131 Bauböck, Rasse, 18; vgl. zu den Unterschieden dieser Quote zu derjenigen des AuslBG Pöschl, Migration, 50f. 132 Rainer Bauböck/Bernhard Perchinig, Migrations- und Integrationspolitik in Österreich, 20, URL: http://www.okay-line.at/file/656/osterr-migr-integr-politik.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 133 Franz Löschnak, zit. n. Maria Perusich, Ausländerbeschäftigung der Zweiten Republik im wirtschaftshistorischen Überblick unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage der Arbeitsmigranten in den 90er Jahren, insbesondere nach dem EU-Beitritt, Dipl. Arb., Univ. Wien 1997, 41. 134 BGBl 838/1992.

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ausländerrechtlichen Bestimmungen zusammen, während das PassG nun, verringert um fremdenrechtliche Bestimmungen, wiederverlautbart wurde.135 Die Restriktionen im Aufenthaltsrecht 1992 waren allerdings der FPÖ zu wenig, weshalb zu Beginn des Jahres 1993 das „Österreich zuerst“-Volksbegehren u. a. eine Verfassungsbestimmung des Inhalts „Österreich ist kein Einwanderungsland“ forderte, weiters einen „Einwanderungsstop bis zur befriedigenden Lösung der illegalen Ausländerfrage, bis zur Beseitigung der Wohnungsnot und Senkung der Arbeitslosenrate auf 5 Prozent“, „rigorose Maßnahmen gegen illegale gewerbliche Tätigkeiten“ und „gegen Missbrauch von Sozialleistungen“, „sofortige Ausweisung und Aufenthaltsverbot für ausländische Straftäter“, restriktive Einbürgerungsvorschriften u. dgl., woraufhin die Initiative „SOS Mitmensch“ eine Gegenveranstaltung unter dem Motto „Anständigkeit zuerst“ veranstaltete, nämlich das „Lichtermeer“ mit ca. 250.000 TeilnehmerInnen.136 Mit dem Beitritt Österreichs zur EU mit Wirkung zum 1. 1. 1995 waren EUBürgerInnen und ÖsterreicherInnen im Aufenthaltsrecht gleichgestellt. 1997 erging ein neues FrG,137 mit dem einerseits internationale Verpflichtungen (Schengen-Vertrag) umgesetzt, andererseits das Fremdenpolizei- und Aufenthaltsrecht in einem einzigen Gesetz zusammengeführt werden sollten. Es unterschied nun zwischen einem temporären Aufenthalt, etwa von Studierenden oder SaisonarbeiterInnen, für den eine „Aufenthaltserlaubnis“ zu erwirken war, und einer dauerhaften Niederlassung, die einer „Niederlassungsbewilligung“ bedurfte. Für die Niederlassung wurde die Quotierung beibehalten, die im Wesentlichen den Neuzuzug von Schlüsselkräften und Familiennachzug zum Ziel hatte, während es für den befristeten Aufenthalt keine Höchstgrenze mehr gab. Für unselbstständig Erwerbstätige war eine Beschäftigungsbewilligung vorgesehen, um eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten. Darüber hinaus sollte die Rechtsstellung für alle in Österreich niedergelassenen AusländerInnen mit den Mitteln der „Aufenthaltsverfestigung“ (s. u.) und des Familiennachzuges gestärkt werden. Der Integration der ansässigen Fremden kam also Vorrang vor Neuzuwanderung zu. Das Gesetz beinhaltete daher auch Sonderregelungen für die Niederlassung der Familienangehörigen von ÖsterreicherInnen und EWRBürgerInnen, die Sichtvermerks- und Niederlassungsfreiheit genossen und unter bestimmten Voraussetzungen auch einen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hatten, sowie Maßnahmen zur Hintanhaltung von 135 BGBl 839/1992. 136 Isabella Skrivanek, Die Ausländerbeschäftigungspolitik 1987–2006, Inhalte und Veränderungen, Dipl. Arb., Wien 2008, 93. 137 BGBl I 75/1997; vgl. Ulrike Davy/Dilek C ¸ inar, Österreich, in: Ulrike Davy (Hg.); Die Integration von Einwanderern. Rechtliche Regelungen im europäischen Vergleich, Frankfurt–New York 2001, 567–708.

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Scheinehen.138 Ebenfalls 1997 wurde gesetzlich darauf reagiert, dass die Regelungen über das Aufenthaltsrecht der Vertriebenen aus Bosnien und der Herzegowina („Bosnieraktion“) ausliefen. Die integrierten Vertriebenen, die bisher nur ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht hatten, sollten in das „Regime der Aufenthaltstitel des Fremdengesetzes“ überführt werden und für den weiteren Aufenthalt lediglich einer weiteren Niederlassungsbewilligung bedürfen.139 Das Jahr 2000 (ÖVP-FPÖ-Regierung) wurde sodann zu einem „Wendejahr“ im Bereich der Ausländerbeschäftigung. Das „Ausländerpaket“ 2002140 beschränkte zur Durchsetzung des Prinzips „Integration vor Neuzugang“ die Zuwanderung praktisch nur mehr auf Schlüsselkräfte, weitete im Sinne des „neuen Regierens“ der ÖVP-FPÖ-Regierung aber die Beschäftigung von Saisonniers und PendlerInnen aus, die nun in allen Branchen beschäftigt werden konnten, wobei die Beschäftigungsdauer auf 12 Monate ausdehnbar war, was einem neuen GastarbeiterInnenprogramm gleichkam.141 Im Gegenzug wurde die Überführung der Gastarbeiterbevölkerung in eine dauerhafte Niederlassung verstärkt betrieben. Nicht nur wurde der „Niederlassungsnachweis“ eingeführt, der alle Drittstaatsangehörigen mit mindestens fünf Jahren Niederlassung vom AuslBG befreite, sondern auch die „Integrationsvereinbarung“, in deren Rahmen verpflichtende Deutschkurse vorgeschrieben wurden. 2005 erging das „Fremdenrechtspaket“,142 das Fremdenpolizei und Aufenthaltsrecht wieder (wegen der Einarbeitung der Judikatur und gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben) in zwei Gesetzen regelte, dem Fremdenpolizeigesetz, das die Erteilung von Visa und allgemeine fremdenrechtliche Maßnahmen regelte, darunter strengere Bestimmungen betreffend Schlepperei, Scheinadoptionen und Scheinehen, und dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz 2005 (NAG), das die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln normierte. Das NAG differenzierte nun aus migrationspolitischen Gründen zwischen verschiedenen Personengruppen und Aufenthaltstiteln: Niederlassungsbewilligung (nur mehr befristet, geteilt in „Schlüsselkraft“ und privat, unbeschränkt/beschränkt, Angehöriger), Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“, „Daueraufenthalt EG“, „humanitäre Gründe“ und Aufenthaltsbewilligungen für einen vorübergehenden Aufenthalt. Der Neuzuzug blieb weiterhin im Wesentlichen Schlüsselkräften 138 URL: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XX/I/I_00755/fnameorig_139632.html (abgerufen am 15. 7.2016) 139 URL: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XX/I/I_01032/fname_139924.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016) 140 D. h. Änderung des FrG-, AsylG und AuslBG, BGBl I 126/2002; vgl. Lena Muttonen, Die Integration von Drittstaatsangehörigen in den österreichischen Arbeitsmarkt, Wien 2008, 17ff. 141 Vgl. Torben Krings, Von der „Ausländerbeschäftigung“ zur Rot-Weiß-Rot-Karte: Sozialpartnerschaft und Migrationspolitik, in: ÖZP 42 (2013) 3, 263–278, 269. 142 AsylG, FPG und NAG, BGBl I 100/2005.

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vorbehalten, Angehörige von niedergelassenen Drittstaatsangehörigen wurden jetzt aber nach einem Jahr Niederlassung vom AuslBG befreit, außerdem kam es zu einer Ausweitung der Integrationsvereinbarung hinsichtlich der betroffenen Personen und der Kurse. Mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2011 (FrÄndG)143 wurde das System der Aufenthaltstitel um die Kategorien „Rot-Weiß-Rot-Karte“, „Rot-Weiß-RotKarte plus“ und „Blaue Karte EU“ erweitert, wobei den Karten ein Punktesystem zugrunde liegt, das Deutschkenntnisse, Alter und spezielle Berufsausbildung bewertet. Auf diese Weise sollte ein neues, kriteriengeleitetes Zuwanderungssystem für qualifizierte MigrantInnen geschaffen werden, nach welchem anstelle des bis dahin geltende Quotensystems die Zuwanderung „dem österreichischen Bedarf entsprechend, aufgrund festgelegter klarer und transparenter Kriterien sowie ohne Quotenregelungen erfolgt“.144 Es fokussiert bei der „Rot-Weiß-RotKarte“ auf „besonders Hochqualifizierte“, die nun schon mit einem sechsmonatigen Aufenthaltsvisum einreisen können, um sich eine Arbeitsstelle zu suchen, „Fachkräfte in Mangelberufen“ und „sonstige Schlüsselkräfte“, welche neben dem Erreichen der erforderlichen Punktezahl insbesondere den Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzangebotes erbringen müssen. Die „Rot-Weiß-RotKarte“ bedeutet allerdings nur eine einjährige Niederlassungs- und Beschäftigungsbewilligung, danach kann die „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“, die zum unbeschränkten Arbeitsmarkt berechtigt, und nach fünf Jahren ein Daueraufenthalt beantragt werden.

4.3.2. Ausweisungsrecht 1945 wurde mit der Wiederverlautbarung des Strafgesetzes von 1852 das strafgerichtliche Ausweisungsrecht in die Zweite Republik übertragen und sein Anwendungsbereich in weiterer Folge durch neue strafrechtliche Nebengesetze weiter ausgedehnt.145 Erst das Strafrechtsanpassungsgesetz 1974 hob die ge143 Novelle u. a. des NAG, AsylG und StbG, BGBl I 38/2011; vgl. etwa Stephan Wiener/Jeanette Benndorf, Das Fremdenrechtsänderungsgesetz 2011. Schaffung eines kriteriengeleiteten Zuwanderungssystems und Anpassung fremdenpolizeilicher Bestimmungen an EU-Vorgaben, in: SIAK-Journal @ Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis 3 (2011), 34–45, URL: http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_SIAK/4/2/1/2011/ausgabe_3/files/ Wiener_3_2011.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 144 URL: https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/171/Seite.1710407.html (abgerufen am 15. 7. 2016). 145 S. dazu Ilse Reiter-Zatloukal, „… ein äußerst gefährliches Subjekt“! Zur Rechtsgeschichte des österreichischen Ausweisungsrechts, in: Edith Saurer/Manfred Nowak (Hg.), Vom Umgang mit den „Anderen“. Historische und menschenrechtliche Perspektiven von Abschiebung (Studienreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte 25), Wien–Graz 2013, 61–96, 75f.

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richtliche Landesverweisung und Abschaffung für AusländerInnen auf. Damit fiel die Ausweisung wieder (wie zwischen 1938 und 1945) ausschließlich in die Kompetenz der Verwaltung, für die zunächst weiterhin die APVO galt. Erst 1954 wurde das neue FrPolG erlassen, nach dem jederzeit ein Aufenthaltsverbot über AusländerInnen verhängt werden konnte, wenn z. B. „deren Aufenthalt die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit gefährdet oder anderen öffentlichen Interessen zuwiderläuft“, wenn sie wegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen oder schwereren strafbaren Handlungen bestraft worden waren, den Besitz oder redlichen Erwerb der Mittel zu ihrem Lebensunterhalt nicht nachweisen konnten oder sich gegen die Republik Österreich betätigt hatten. Zur Sicherung der Abschiebung konnte (wie zuvor) die Schubhaft angeordnet werden. Nachdem 1985 die Regelung des Aufenthaltsverbots im FrPolG vom Verfassungsgerichtshof wegen zu geringer Determinierung aufgeboben worden war,146 1986 ebenso die Novellierung,147 wurden 1987 die Ausweisungstatbestände präziser formuliert.148 Ein Aufenthaltsverbot konnte nun erlassen werden, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen (festgelegte Straftaten oder Verwaltungsübertretungen) die Annahme gerechtfertigt erschien, dass der Aufenthalt des Ausländers/der Ausländerin im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden oder anderen in Art. 8 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten 1950149 genannten öffentlichen Interessen zuwiderlaufen würde (nämlich der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, dem wirtschaftlichen Wohl des Landes, der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Verhütung von Straftaten, dem Schutz der Gesundheit oder der Moral oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer). Wenn das Aufenthaltsverbot einen Eingriff in das Privat- oder Familienleben des/der Fremden darstellte, so war nun auch zwingend eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Außerdem wurde nun sichergestellt, dass nicht mehr wie zuvor über langjährig in Österreich lebende und beschäftigte Personen ein Aufenthaltsverbot verhängt werden könne, wenn diese die Mittel zu ihrem Unterhalt nicht mehr nachweisen konnten, womit „jene Fremden, die im Bundesgebiet auf dem Arbeitsmarkt und auch als Steuerzahler integriert waren und die auf Grund einer Veränderung ihrer wirtschaftlichen Situation womöglich unverschuldet in Not geraten“ waren, gegen die Ausweisung wegen Mittellosigkeit geschützt wurden.150 146 147 148 149 150

Walter Schrammel, Rechtsfragen der Ausländerbeschäftigung, Wien 1995, 27. BGBl 555/1986. BGBl 575/1987. BGBl 210/1958. URL: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XVII/ME/ME_00035/imfname_530474.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016).

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1990 wurde mit einer Novelle zum FrPolG151 die (schon in der Frühen Neuzeit praktizierte) „Zurückschiebung“ eingeführt, die alle diejenigen AusländerInnen betraf, die unbefugt die Grenze überschritten hatten und im Grenzgebiet angetroffen wurden. Darüber hinaus wurde das neue Institut der „Ausweisung“ eingeführt, das im Unterschied zum Aufenthaltsverbot nicht untersagte, abermals in das Bundesgebiet einzureisen (was der „Abschiebung“ nach dem Reichsschubgesetz entsprach, während das Aufenthaltsverbot der „Abschaffung“ entsprach). Im FrG 1992152 kam es in weiterer Folge zur Ausweitung der Ausweisung auf jeden rechtswidrigen Aufenthalt in Österreich, und der Katalog der Gründe für die Verhängung eines Aufenthaltsverbots wurde deutlich verändert. Das FrG 1997 differenzierte bei den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Ausweisung Fremder mit oder ohne Aufenthaltstitel und sah erstmals die „Aufenthaltsverfestigung“ vor,153 die nach Ablauf verschiedener Aufenthaltszeiten (fünf, acht, zehn Jahre) im Bundesgebiet unter bestimmten Umständen vor der Ausweisung schützte. So durften z. B. Fremde, die „von klein auf im Inland aufgewachsen“ und langjährig rechtmäßig niedergelassen waren, nicht mehr ausgewiesen werden. Der seinerzeitige Innenminister meinte über die sonstigen Verbesserungen durch die „Aufenthaltsverfestigung“: „Bisher konnte der Betroffene jederzeit ausgewiesen werden, wenn er arbeitslos wurde. Künftig soll er nur ausgewiesen werden, wenn er im ersten Jahr mehr als vier Monate ohne Arbeit ist. Für Ausländer, die zwischen einem und acht Jahren hier sind, gilt: Wenn jemand über ein volles Jahr hindurch arbeitslos ist, wird er ausgewiesen. Ab dem neunten Jahr ist Arbeitslosigkeit kein Ausweisungsgrund mehr. Der Betroffene erwirbt das Recht auf Notstandshilfe, das ist eine klare Verbesserung.“154 Auf der anderen Seite konnte seit 2002 aber auch nach einer verweigerten bzw. gescheiterten Integration eines Neuzuwanderers eine Ausweisung verhängt werden, wenn anzunehmen war, dass er bzw. sie nicht bereit war, „die Befähigung zur Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich zu erwerben“.155 Das FPG 2005 sah weiterhin die „Ausweisung“ vor, die einerseits in einer Aufforderung an eine/n Fremde/n ohne Aufenthaltstitel, aus Österreich auszureisen, besteht, und zwar aufgrund bestimmten strafrechtlich relevanten Ver151 BGBl 190/1990. 152 BGBl 838/1992; vgl. Ewald Wiederin, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Fremdenpolizeirecht. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zur Zurückschiebung, Ausweisung und Abschiebung nach dem Fremdengesetz 1992, Wien 1993, 51ff. 153 BGBl I 75/1997; ausf. Davy/C ¸ inar, Integration, 588ff. 154 Innenminister Karl Schlögl, Standard 15./16. 3. 1997, zit. n. Perusich, Ausländerbeschäftigung, 77. 155 BGBl I 126/2002; vgl. etwa Magdalena Pöschl, Die Integration nach dem österreichischen Fremdengesetz – Lässt sich Integration erzwingen? in: Konrad Sahlfeld/Martina Caroni u. a. (Hg.), Integration und Recht. 43. AssÖR, München 2003, 197–241, 201.

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haltens bzw. mangels der erforderlichen Mittel zum Unterhalt, andererseits an eine/n nicht aufenthaltsverfestigte/n Fremde/n mit Aufenthaltstitel, wenn z. B. ein Versagungsgrund nachträglich eintrat oder der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels im Weg stand, er/sie die sog. Integrationsvereinbarung nicht erfüllte oder im ersten Jahr der Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen war. Ebenfalls im FPG 2005 vorgesehen war weiterhin das „Aufenthaltsverbot“, das in einer Verpflichtung des/r Fremden, Österreich zu verlassen, und einem Einreiseverbot für bestimmte oder unbefristete Zeit besteht. Zu den bisher vorgesehenen Tatbeständen, welche die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes und eine Ausweisung rechtfertigten, kam aus Angst vor dem internationalen Terrorismus nun ein neuer Tatbestand hinzu, nämlich wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt erschien, dass der/die Fremde einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung angehört oder angehört hat, durch sein/ihr „Verhalten ,insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen und Aufreizungen die nationale Sicherheit gefährdet“, oder wenn er/sie öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt. Ein Ausweisungsschutz besteht jedoch weiterhin in den Fällen der Aufenthaltsverfestigung, wenngleich dieser Schutz nun etwa für im Land geborene und aufgewachsene ausländische Kinder und Jugendliche nicht mehr galt, sowie im Fall der gerichtlichen Verurteilung wegen bestimmter Delikte und zu einer bestimmten Mindeststrafe deutlich eingeschränkt wurde. Das FrRÄG 2009156 brachte zum Zweck einer Effizienzsteigerung weitere Verschärfungen z. B. durch massive Erweiterung der Schubhafttatbestände und Beschränkungen der Rechtsschutzmöglichkeiten. Sonderbestimmungen für die Schubhaft und Abschiebung von Minderjährigen sah das FrRÄG 2011157 vor, weiters führte es als aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen Drittstaatsangehörige, die sich nicht rechtmäßig in Österreich aufhielten, die „Rückkehrentscheidung“ ein, die stets mit einem zeitlich festzulegenden Einreiseverbot verbunden ist. Denjenigen Personen, die mit dieser neuen fremdenpolizeilichen Maßnahme der Rückkehrentscheidung belegt werden, kann bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise eingeräumt werden Schranken für die Ausweisung von AusländerInnen, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann, setzten und setzen das Refoulementverbot, das 156 BGBl I 122/2009. 157 BGBl I 38/2011.

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Asylrecht und der menschenrechtlich verankerte Schutz des Privat- und Familienlebens. Nach 1945 finden sich Refoulementverbote (Prinzip der Nichtzurückweisung und Nichtzurückschiebung) v. a. in der Genfer Flüchtlingskonvention 1951,158 in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1950,159 im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966 und der UN-Antifolterkonvention 1984.160 Eine weitere Einschränkung des Ausweisungsrechts besteht im Asylrecht, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 niedergelegt ist. Eine Verpflichtung zur Gewährung von internationalem Schutz für anerkannte Flüchtlinge normierte die Genfer Flüchtlingskonvention 1951, die neben dem grundsätzlichen Refoulementverbot die Ausweisung prinzipiell nur mehr „aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ zulässt, und das Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge; darüber hinaus bestehen zahlreiche asylrechtliche Rechtsvorschriften der Europäischen Union. Die Aufenthaltsberechtigung von Flüchtlingen wurde in Österreich zunächst durch das Asylgesetz von 1968 geregelt, dann durch die einschlägigen Regelungen von 1991, 1997 und 2005161 samt ihren zahlreichen Novellierungen, wobei es im Zuge der Entwicklung zu einer Aushöhlung des Asylrechts kam. Allerdings wurde 2003 der Status der „subsidiär Schutzberechtigten“ geschaffen, der vorübergehenden Schutz vor Verfolgung auf individueller Basis gewährt.162 Aber auch das in der EMRK niedergelegte Recht auf Privat- und Familienleben kann einen Ausweisungsschutz bieten, da Eingriffe in dasselbe nur unter bestimmten Voraussetzungen (s. o.) erlaubt sind.

4.4.

ArbeitsmigrantInnen zwischen Marktliberalisierung und Abschottung

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt in Österreich weiterhin die Verordnung über ausländische Arbeitnehmer von 1933 (s. o.). Je nach Arbeitsmarktlage stellten die Arbeitsämter die Beschäftigungsgenehmigung und die Arbeitserlaubnis für maximal 12 Monate aus, und mit dem Ende des Dienstverhältnisses endete auch die Arbeitserlaubnis. Die Arbeitsmarktpolitik orientierte sich also am Schutz inländischer ArbeiterInnen,163 die Unternehmer liefen allerdings Sturm gegen 158 BGBl 55/1955. 159 BGBl 59/1964, vgl. dazu etwa Magdalena Pöschl, Migration und Mobilität. Gutachten (Verhandlungen des 19. Österreichischen Juristentages Wien 2015 I/1), Wien 2015, 41ff. 160 BGBl 591/1978, 482/1987. 161 BGBl 126/1968, 8/1992, I 76/1997, I 100/2005. 162 UNHCR Österreich, Susidiär Schutzberechtigte in Österreich, Wien 2015, URL: http:// www.unhcr.at/fileadmin/user_upload/dokumente/07_presse/material/Bericht_subsidia erer_Schutz.pdf (abgerufen 15. 7. 2016). 163 Denen auch durch das Betriebsratsgesetz von 1947 zunächst allein das Recht aktive und passive Wahlrecht eingeräumt wurde, BGBl 97/1947.

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diese restriktive Migrationspolitik des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB), die von SPÖ und KPÖ mitgetragen wurde. Während es Mitte der 1950er Jahre in Zentral- und Westeuropa zu einer steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften kam, konnte Österreich zunächst noch inländische Arbeitskräftereserven mobilisieren.164

4.4.1. Die Zeit der „Gastarbeiter“ Eine intensive Phase der Arbeitsimmigration begann, nachdem Österreich 1960 mehr oder weniger einen Vollbeschäftigungsstatus erreicht hatte.165 Im Dezember 1961 einigten sich der ÖGB und die Bundeswirtschaftskammer im „Raab-Olah-Abkommen“ darauf, nach Branchen und Bundesländern Kontingente für „Fremdarbeiter“ befristet auf ein Jahr festzulegen, für die vereinfachte Bedingungen betreffend das Verfahren der Beschäftigungsgenehmigung galten. Bis zur Höhe dieses Kontingents (47.000, dann 1962 bis 1965 jeweils etwa 37.000) konnten die Arbeitsämter Anträge auf Beschäftigungsgenehmigungen ohne spezifische Prüfung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen Erfordernisse erteilen. Die Einstellung ausländischer ArbeitnehmerInnen musste aber zu den gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen erfolgen, sie durften nicht auf Arbeitsplätzen streikender InländerInnen beschäftigt und mussten jedenfalls vor InländerInnen gekündigt werden. Außerhalb der Kontingente bestand weiterhin die Möglichkeit einer individuellen Antragsstellung, für eine Genehmigung musste aber in jedem Fall die wirtschaftliche Notwendigkeit der Ausländerbeschäftigung gegeben sein. Auch nach 1962 wurde die Praxis der Kontingentierung fortgesetzt, da dies jedoch nicht ausreichte, um genügend Arbeitswillige nach Österreich zu locken, erfolgte nun eine „organisierte Migration“ mittels gezielter Anwerbungen ausländischer Arbeitskräfte. Zu diesem Zweck wurden zwischen 1962 und 1966 Anwerbeabkommen mit Spanien, der Türkei und Jugoslawien abgeschlossen, Verhandlungen mit Griechenland und Italien scheiterten hingegen. In dieser Zeit der Hochkonjunktur bestand aber kein Interesse daran, dass aus den mittlerweile „Gastarbeiter“ genannten ArbeitsmigrantInnen endgültige Zuwanderer wurden, weshalb sie als „AusländerInnen“ von politischen Rechten zunächst ausgeschlossen blieben, im Genuss sozialer Rechte eingeschränkt waren und stets unter dem „Damoklesschwert des Entzugs aller Rechte durch Ausweisung“ 164 Vgl. Bernhard Perchinig, Ein langsamer Weg nach Europa: österreichische (Arbeits-)migrations- und Integrationspolitik seit 1945, in: Sozialwissenschaftlicher Fachinformationsdienst soFid (2010), Migration und ethnische Minderheiten 2010/1, 11–32, 14f, URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-205859 (abgerufen 15. 7. 2016). 165 Vgl. dazu m. w. N. Reiter, Rahmenbedingungen, 60ff.

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standen.166 Da die „Gastarbeiter“ in besonderem Ausmaß als SaisonarbeiterInnen eingesetzt wurden, erfolgte auch eine Abwälzung der Saisonarbeitslosigkeit auf diese AusländerInnen, welche die Zeit der Arbeitslosigkeit in ihrer jeweiligen Heimat verbrachten, und zwar oft ohne Arbeitslosenunterstützung, weil die Beschäftigungsdauer in Österreich dafür zu kurz war. Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise 1973 vereinbarten die Sozialpartner in Österreich dann einen Anwerbestopp bzw. ein „Einfrieren“ der Ausländerbeschäftigung.167 Nach 1973 sollten reduzierte Kontingente und schärfere Kontrollen einen Rückgang der Ausländerbeschäftigung bewirken, überdies wurde das Konzept kurzfristiger Arbeitsaufenthalte zunehmend durch die Perspektive der längerfristigen Beschäftigung und Niederlassung samt Familienzuzug ersetzt. Die Zeit der „Gastarbeiter“ endete schließlich mit der Einführung der gesetzlichen AusländerInnenquoten 1992 und 1993 (s. o.).

4.4.2. Ausländerbeschäftigung 1975 bis 1995 Die Periode des Wachstums und der Vollbeschäftigung fand in den 1970er Jahren ihr Ende, die Ausländerbeschäftigung musste nun in Form einer Reduzierung der vereinbarten Kontingente zurückgefahren werden, was gleichzeitig zu einer Dämpfung der InländerInnenarbeitslosigkeit führte. Das Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) von 1975168 behielt das System der Kontingentsvereinbarung und legte das Prinzip der Rotation als Steuerungsinstrument der Ausländerbeschäftigung fest, womit die Funktion der ArbeitsmigrantInnen als „Konjunkturpuffer“ bzw. „Reservearmee“ ihren gesetzlichen Niederschlag fand und letztlich auch die „gescheiterte Gastarbeiterpolitik“ festgeschrieben wurde.169 Ein Arbeitgeber durfte grundsätzlich eine ausländische Arbeitskraft nur beschäftigen und diese eine Beschäftigung nur dann antreten bzw. ausüben, wenn sie eine Beschäftigungsbewilligung oder einen Befreiungsschein besaß. Eine Beschäftigungsbewilligung war durch das Arbeitsamt v. a. dann zu erteilen, wenn es „die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes“ und die Rücksicht auf „wichtige öffentliche und gesamtwirtschaftliche Interessen“ zuließ, wobei diese Prüfung im Rahmen des Kontingents entfiel. Im Vordergrund der Prüfung stand 166 Stefan Rosenmayer, Die öffentlich-rechtliche Stellung von Gastarbeitern, insbesondere das Aufenthaltsrecht, in: Hannes Wimmer (Hg.), Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Frankfurt a. M.–New York 1986, 89–166, 102ff. 167 Michael John, Ausländerbeschäftigung in Österreich nach 1945. Historische Einordnung und Thesen, in: BMWFK (Hg.), Gesellschaft und Demokratie nach 1945. Symposium. Oktober 1995, Wien 1996, 79–95, 80. 168 BGBl 218/1975; s. Christof Bergkirchner, Zur Genese des Ausländerbeschäftigungsgesetzes, Dipl. Arb., Wien 2013. 169 Bauböck, Rasse, 15.

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jedoch tatsächlich, ob die Arbeitsbewilligung etwa die Beschäftigung von InländerInnen gefährdete, zu einer Verschlechterung von deren Arbeitsbedingungen führte oder die erforderlichen Umstrukturierungen und Umsetzungsprozesse des Arbeitsmarktes der InländerInnen behinderte. Beschäftigungsbewilligungen waren grundsätzlich nur mehr maximal für ein Jahr (oder für die Dauer der Saison) und nur örtlich (d. h. auf einen bestimmten Arbeitsplatz) gebunden zu erteilen. Damit sollte der rein temporäre Aufenthalt der AusländerInnen sichergestellt werden. Erst nach einer achtjährigen ununterbrochenen Beschäftigung hatten sie Aussicht auf einen „Befreiungsschein“, der sie auf die Dauer von zwei Jahren mit inländischen ArbeitnehmerInnen gleichstellte und ihnen die freie Arbeitsplatzwahl ermöglichte. In den Wirtschaftszweigen, die nicht vom Kontingentsystem erfasst waren, musste jeder einzelne Antrag nach zusätzlichen Kriterien des AuslBG geprüft werden, etwa ob die Beschäftigung des Ausländers/der Ausländerin aus besonders wichtigen Gründen erfolgen sollte (z. B. Schlüsselkraft). Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention unterlagen grundsätzlich nicht dem AuslBG.170 Das Ausländerbeschäftigungsgesetz brachte also wieder eine strenge staatliche Reglementierung der Ausländerbeschäftigung, woraufhin auch der Ausländeranteil bis Mitte der 1980er Jahre deutlich zurückging. Die Novelle 1988 zum AuslBG171 erschwerte in weiterer Folge die illegale Arbeitsaufnahme und erneut den Neuzugang von AusländerInnen, da nun bei Erteilung einer erstmaligen Beschäftigungsbewilligung die Prüfung der Voraussetzungen auch bei vereinbarten Kontingenten stattfinden sollte. Davon abgesehen lag aber ein Hauptaugenmerkt der Novelle auf der Integration der in Österreich bereits aufhältigen AusländerInnen und dem Familienzuzug. So wurden nun die Tatbestände zur Erlangung eines Befreiungsscheins für langjährig in Österreich tätige AusländerInnen ausgeweitet, indem die strenge Achtjahresfrist durch Einführung von „Ersatzzeiten“ (Arbeitslosigkeit, Krankengeldbezug etc.) gemildert und auch der Befreiungsschein für Angehörige (Zweite Generation) eingeführt wurde. Überdies betrug die Geltungsdauer des Befreiungsscheins nun drei Jahre, galt aber nicht für SaisonarbeiterInnen. Über einen Ministerialerlass wurde 1989 außerdem die Möglichkeit geschaffen, AsylwerberInnen noch vor dem Ende des Asylverfahrens am Arbeitsmarkt zuzulassen und sie bei der Erteilung von Ausländerbeschäftigungsbewilligungen neueinreisenden AusländerInnen vorzuziehen.172 Die weiteren Reformen des AuslBG dienten primär der Integration vorhan170 Wenn sie zum dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt waren oder mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet waren, außer sie hatten den Ehegatten verlassen oder ein Kind österreichischer Staatsbürgerschaft, § 1 Abs. 2, lit. a. 171 BGBl 231/1988. 172 Christian Uchann, Ausländerbeschäftigung in Österreich, Dipl. Arb., Wien 1992, 61.

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dener ArbeitsmigrantInnen, der Einschränkung der Arbeitsmigration geringer qualifizierter Arbeitskräfte und der Bekämpfung illegaler Beschäftigung. So wurde 1990 in einer weiteren Novelle des AuslBG173 der Tatsache Rechnung getragen, dass ausländische ArbeitnehmerInnen in hohem Maße tatsächlich Einwanderer/Einwanderinnen sind, weshalb nun die Möglichkeiten neuer Beschäftigungsbewilligungen für AusländerInnen abermals eingeschränkt wurden. Eine Bewilligung erfolgte nur mehr, wenn nach einem Prioritätenkatalog für den zu besetzenden Arbeitsplatz insbesondere keine InländerInnen, diesen gleichgestellte AusländerInnen (EW-BürgerInnen, anerkannte Flüchtlinge), integrierte AusländerInnen oder AsywerberInnen mit vorläufiger Aufenthaltsberechtigung vermittelt werden konnten. Weitere Neuerungen waren, dass nun ausländische ArbeitnehmerInnen nur mehr im ersten Jahr an einen Betrieb gebunden waren, danach konnte dem/der ArbeitnehmerIn bei ausreichend langer Beschäftigungsdauer (52 Wochen in den letzten 14 Monaten) eine „Arbeitserlaubnis“ erteilt werden. Sie galt zwei Jahre lang für ganz Österreich und konnte verlängert werden, wenn während dieser Zeit eine Beschäftigung von 18 Monaten nachgewiesen wurde. Dem Integrationsbedürfnis der ausländischen Arbeitskräfte in Österreich wurde aber auch durch die Herabsetzung der achtjährigen Frist für den Befreiungsschein auf fünf Jahre durchgehende Beschäftigung Rechnung getragen, im Gegenzug entfiel die komplizierte Ersatzzeitenberechnung. Der Befreiungsschein galt außerdem nicht mehr drei, sondern fünf Jahre lang und brachte volle Gleichstellung von Aus- und InländerInnen, auch eine Verlängerung war möglich. Außerdem wurde als neues Steuerungsinstrument die jährliche Festsetzung von Bundes- und Landeshöchstzahlen ausländischer Beschäftigter in der Höhe von 10 % des österreichischen Arbeitskräftepotentials festgesetzt, wobei die Bundeshöchstzahl in weiterer Folge reduziert wurde (1993 8 %174). Als Maßnahme gegen die illegale Beschäftigung erfolgte einerseits eine „Sanierungsaktion“, die illegal beschäftigte AusländerInnen unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag in den legalen Arbeitsmarkt überführte, andererseits wurden verschärfte Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten eingeführt.

4.4.3. Ausländerbeschäftigung seit dem EU-Beitritt Eine entscheidende Zäsur für die Arbeitsmigration nach Österreich stellte der mit Wirkung vom 1. 1. 1995 erfolgte Beitritt Österreichs zum EWR dar, weil er das „Ende des nationalen Arbeitsmarktes“175 bedeutete. Schon in den Römi173 BGBl 450/1990, ausf. Perusich, Ausländerbeschäftigung, 32ff. 174 BGBl 501/1993. 175 Perchinig, Weg, 22.

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schen Verträgen 1957 waren die vier Freiheiten des Binnenmarktes (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) verankert und im Rahmen der Freizügigkeitsbestimmungen und des Niederlassungsrechts berücksichtigt worden. Mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986 wurde das Binnenmarktkonzept mit seinem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital geschaffen, das auch eine Harmonisierung der AusländerInnen- und Sicherheitspolitik notwendig machte. An diesem Konzept hielt auch der am Maastrichter Gipfel 1991 abgeschlossene EUVertrag fest. Als Konsequenz des Binnenmarktkonzepts sind im Europäischen Binnenraum ArbeitsmigrantInnen die gleichen Bedingungen garantiert wie allen anderen ArbeitnehmerInnen, es ist insbesondere keine auf der Stb basierende unterschiedliche Behandlung in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen mehr erlaubt. Im Mai 1992 schlossen die Mitgliedstaaten der EFTA, darunter auch Österreich, das Assoziierungsabkommen mit der EU zur Schaffung des EWR, wobei dieser zum 31. 12. 1992 realisiert sein sollte (tatsächlich erst 1994). Daher wurden in Österreich auch 1992 durch Novellierung des AuslBG176 die Staatsangehörigen der EWR-Mitgliedstaaten sowie deren EhegattInnen und Kinder, selbst wenn diese nicht die Staatsangehörigkeit eines EWR-Staates besaßen, aus dem Geltungsbereich des AuslBG ausgenommen. Seit dem EU-Beitritt unterliegen daher nur mehr Drittstaatsangehörige dem AuslBG, wobei auch diesen infolge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte seit 1997 ein Anspruch auf Notstandshilfe gleich wie InländerInnen zusteht.177 Ebenfalls 1997 trugen Sonderbestimmungen im AuslBG dem Assoziationsabkommen EWGTürkei Rechnung.178 2002 wurden weiters alle Drittstaatsangehörigen mit mindestens fünf Jahren Niederlassung vom AuslBG befreit, 2005 außerdem Angehörige von niedergelassenen Drittstaatsangehörigen nach nur einem Jahr Niederlassung (s. o.). Nachdem 2004 die EU um zehn neue Mitgliedsstaaten erweitert worden war, hielt Österreich seinen Arbeitsmarkt für acht der zehn neuen EU-Staaten (darunter Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn) für sieben Jahre (bis 2011) geschlossen. Zum Schutz des österreichischen Arbeitsmarktes vor „unlauterem Wettbewerb“179 erging in Reaktion auf die Öffnung des österreichischen Arbeitsmarktes 2011 ein neues Gesetz gegen „Lohn- und Sozialdum176 BGBl 475/1992. 177 BGBl I 78/1997. Dies bedeutete jedoch für viele AusländerInnen eine Schlechterstellung, vgl. Perusich, Ausländerschäftigung, 85. 178 BGBl II 256/1997; I 78/1997. 179 So der SPÖ-Wirtschaftssprecher Christoph Matznetter, URL: http://www.ots.at/pres seaussendung/OTS_20100715_OTS0138/matznetter-endlich-schutz-vor-unlauteren-wettbewerb-fuer-kmu (abgerufen 15. 7. 2016).

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ping“,180 das ein „Beispiel für eine nationale Re-Regulierung des Arbeitsmarktes innerhalb der erweiterten EU“181 darstellt, weil diese erweiterte EU deutliche Unterschiede in Bezug auf Löhne und Sozialstandards aufweist. 2007 traten Rumänien und Bulgarien der EU bei, und ab 2014 gilt die Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit auch für Staatsangehörige aus diesen Ländern. Mit dem EU-Erweiterungs-Anpassungsgesetz 2004182 erfolgte eine Änderung des AuslBG hinsichtlich der AsylwerberInnen dahingehend, dass die Erteilung einer Bewilligung für Asylsuchende drei Monate nach asylrechtlicher Antragstellung erfolgen konnte, wenn noch keine rechtskräftige Entscheidung ergangen war. Mit dem Grundversorgungsgesetz 2005183 wurde die Aufnahme einer unselbstständigen Tätigkeit durch AsylwerberInnen an eine Beschäftigungsbewilligung durch das Arbeitsmarkservice gebunden, eine selbstständige Erwerbstätigkeit war in den ersten drei Monaten nach Einbringung eines Asylantrages unzulässig, danach bloß der Behörde mitzuteilen. Im Gegensatz dazu hatte allerdings 2004 der nach dem seinerzeitigen Sozialminister genannte „Bartenstein-Erlass“184 festgelegt, dass Beschäftigungsbewilligungen an AsylwerberInnen ausschließlich im Bereich von Kontingenten für Saisonbeschäftigung ausgestellt werden dürfen, was angesichts der niedrigen Kontingentszahlen de facto ein Arbeitsverbot bedeutete. Das FrÄndG 2011 (s. o.) stellte sodann insofern eine Zäsur in der Arbeitsmigrationspolitik dar, als es signalisierte, dass sich Österreich um die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften ernsthaft bemüht, wenngleich die Bedingungen im Vergleich zu anderen Einwanderungsländern noch immer sehr restriktiv gestaltet sind, erhalten doch etwa in Australien legale Einwanderer sofort eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung.185 In Übereinstimmung mit dem FrÄnd 2011 brachte die Novelle des AuslBG 2013186 eine kombinierte Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung entsprechend der „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ insbesondere für Inhaber von Niederlassungsbewilligungen unter bestimmten Bedingungen, womit diese auch nicht mehr einer „Arbeitserlaubnis“ und eines „Befreiungsscheins“ bedürfen, sondern unbeschränkten Arbeitsmarktzugang haben.

180 181 182 183 184

BGBl I 24/2011. Krings, Beschäftigungspolitik, 274. BGBl I 28/2004. BGBl I 100/2005. Erlass des BMWA April 2004 (GZ: 435.006/6-II/7/04), vgl. etwa URL: https://www.parla ment.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/I/I_01189/fname_218141.pdf (abgerufen am 15. 7. 2016). 185 Anja Schubert, Australien, in: Thomas Giegerich/Rüdiger Wolfrum (Hg.), Einwanderungsrecht – national und international. Staatliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Opladen 2001, 333–365, 341. 186 BGBl I 72/2013.

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4.4.4. Handel und Gewerbe Nach der Wiederherstellung des österreichischen Gewerberechts187 normierte die GewO-Novelle 1952188 die Möglichkeit der Anerkennung ausländischer Meisterprüfungen in Österreich. 1973189 erging eine neue GewO, die vorsah, dass wie bisher AusländerInnen „Gewerbe wie Inländer ausüben“ durften, wenn dies in Staatsverträgen festgelegt war, oder der Bezirksverwaltungsbehörde (als Gewerbe-Anmeldungsbehörde) nachgewiesen wurde, dass österreichische StaatsbürgerInnen im Heimatstaat des Ausländers/der Ausländerin bei Ausübung des betreffenden Gewerbes „keinen anderen wie immer gearteten Beschränkungen unterliegen als die Angehörigen dieses Staates (Gegenseitigkeit)“. Lag keine Gegenseitigkeit vor oder handelte es sich um Staatenlose, bedurfte es zur Gewerbeausübung einer Gleichstellung durch den Landeshauptmann, die zu erteilen war, wenn angenommen werden konnte, dass dies „den öffentlichen Interessen, insbesondere den Interessen der österreichischen Wirtschaft, sei es auch den örtlichen Interessen eines Wirtschaftszweiges, nicht zuwiderläuft“, was allerdings nicht für Konventionsflüchtlinge mit dreijährigem Aufenthalt galt. In den Römischen Verträgen 1957 waren bereits im Rahmen des Niederlassungsrechts die „Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen“ geregelt, und dementsprechend mussten gewerbetreibende EU-BürgerInnen den InländerInnen gleichgestellt werden. Die Gewerberechtsnovelle-Novelle 1992190 legte in weiterer Folge als Voraussetzung der Gleichstellung fest, dass die Gewerbeausübung durch AusländerInnen oder Staatenlose im „volkswirtschaftlichen Interesse“ liegen musste und nicht den sonstigen öffentlichen Interessen zuwiderlaufen durfte, wobei seit 1994191 Konventionsflüchtlinge mit dreijährigem Aufenthalt im Staatsgebiet davon ausgenommen waren. Für Staatsangehörige der EWR-Vertragsparteien entfiel allerdings mit Verwirklichung des EWR-Binnenmarktes 1994 der mit der GewO 1994192 ansonsten für AusländerInnen weiterhin grundsätzlich notwendige Reziprozitätsnachweis. Erst die GewR-Novelle 2002193 verzichtete auf das Erfordernis des Nachweises des volkswirtschaftlichen Interesses und die Gegenseitigkeit. Es wurde nun bei AusländerInnen, bei denen die Gewerberechtsfähigkeit nicht durch Staatsverträge festgelegt war, bei Konventionsflüchtlingen oder bei Staatenlosen nur mehr verlangt, dass sie sich mit

187 188 189 190 191 192 193

Vgl. zum Folgenden Feltl, Gewerbepolitik, 184ff. BGBl 179/1952. BGBl 50/1974. BGBl 29/1993. BGBl I 194/1994. Ebd. BGBl I 111/2002.

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einem zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltstitel befugt in Österreich aufhielten. Seit der GewO-Novelle 2008194 dürfen außerdem Familienangehörige von EU-/EWR-Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht in einem EU-/EWR-Mitgliedstaat innehaben, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit wie InländerInnen ein Gewerbe ausüben. In weiterer Folge ergingen aufgrund des EU-Rechts Anpassungen betreffend die Anerkennung ausländischer Befähigungsnachweise.195

Schlussbemerkung Die Rechtsgeschichte der Arbeitsmigration nach Österreich weist im Betrachtungszeitraum sowohl Paradigmenwechsel im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Krisen bzw. Umbrüchen als auch Kontinuitäten über politische Systemwechsel hinweg auf. In der vom Merkantilismus geprägten frühen Neuzeit stellte die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften einen nicht unerheblichen Faktor neben der Binnenmigration dar. Kennzeichnend für diese frühe Phase ist eine zunehmende Verrechtlichung und Kontrolle der Migrationsvorgänge. Heimatrecht, Passwesen, Ausweisungsrecht und Grenzsicherung stellten sodann zentrale Elemente insbesondere der Arbeitsmarktpolitik im sich ausprägenden modernen Staat dar. Wenngleich seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Sinne des Wirtschaftsliberalismus immer deutlicher eine Öffnung der nationalen Arbeitsmärkte und die Beseitigung von Mobilitätseinschränkungen gefordert wurden, kam es zunächst zu keinen grundlegenden Änderungen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Passvorschriften nicht nur für in-, sondern auch ausländische ArbeitsmigrantInnen gelockert und das Gewerberecht liberalisiert. Weiterhin blieb aber die – durch Heimat- und Ausweisungsrecht staatlich kontrollierte – Binnenwanderung das dominante Phänomen, mit der Arbeitskräftemängel in den städtischen und industriellen Zentren durch Zuzug aus den peripheren Regionen weitestgehend ausgeglichen werden konnten. Im Vergleich zum Zuzug in die Habsburgermonarchie überwog freilich in dieser Zeit die Auswanderung. Der Umbruch 1918 brachte dann insofern einen Paradigmenwechsel, als sich aufgrund der neugezogenen Staatsgrenzen die bisherige Binnenmigration innerhalb des Staatsgebietes prinzipiell zu einer Migration ausländischer Arbeitskräfte nach Österreich wandelte. Damit im Zusammenhang wurden nun wieder rigide Passvorschriften erlassen, nachdem die weitgehende Reisefreiheit ohnedies schon mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu Ende gegangen war. Die 194 BGBl I 24/2008. 195 Feltl, Gewerbepolitik, 322ff.

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wirtschaftliche Krisenlage und massive Arbeitslosigkeit der 1920er Jahre führten dann, obwohl Österreich weiterhin ein Aus- und nicht Einwanderungsland war, zu ersten Schutzmaßnahmen für den nationalen Arbeitsmarkt. Da die Wirtschaft jedoch vielfach aus ökonomischen Gründen entgegen dieser protektionistischen Abschottung agierte und je nach Bedarf ausländische Arbeitskräfte illegal einschleuste, blieben deren Auswirkungen gering. In der Zeit des „Dritten Reiches“ wurden einerseits das Prozedere der Ausländerbeschäftigung angesichts des Arbeitskräftemangels zum Zweck einer totalen Kontrolle zentralisiert und die aufenthaltsrechtliche Situation der ArbeitsmigrantInnen deutlich verschärft, andererseits überlagerte nun die Zwangsarbeit generell die bisherigen Formen der Ausländerbeschäftigung. Auf die Flüchtlingsströme der Nachkriegszeit folgte die Periode des „Wirtschaftswunders“ mit nationaler Vollbeschäftigung und gezielter Anwerbung von „Gastarbeitern“, wobei hinsichtlich des Ausländerbeschäftigungsrechts zunächst weitgehende Kontinuitäten mit dem NS-Regime bestanden. Zu einem erneuten Paradigmenwechsel führte erst die Rezession der 1970er Jahre, die mittels neuer Ausländerbeschäftigungsnormen nicht nur die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte an sich reduzieren sollte, sondern diese infolge des nun verankerten Rotationsprinzips auch pro futuro zur bloßen Arbeitsmarktreserve umfunktionierte. Angesichts des nicht unerheblichen türkischen Familiennachzugs in den 1980er und 1990er Jahren sowie der Zuwanderung aus Ostmitteleuropa nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ dienten die weiteren Reformen primär der Umsetzung der Neuakzentuierung des Ausländerbeschäftigungsrechts: „Integration vor Neuzuzug“. Österreich betrieb zu dieser Zeit also weiterhin eine rein arbeitsmarktorientierte Ausländerbeschäftigungspolitik und verstand sich noch überhaupt nicht als Einwanderungsland. Dazu kam, dass Ende der 1980er Jahre auch die „Ausländerfrage“ in Österreich vermehrt an öffentlicher Aufmerksamkeit gewann, und v. a. von der FPÖ Ängste und Vorurteile geschürt wurden („Überfremdung“, Kriminalitätsanstieg, Konkurrenz am Arbeits- und Wohnungsmarkt). Die Gesetze 1992 markierten dann freilich bereits den „Übergang vom jahrzehntelang praktizierten System des weitgehend flexiblen Reagierens auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes zu einem System streng regulierter und begrenzter Zuwanderung“196 und enthielten damit erstmals ein – wenngleich nur eingeschränktes – Bekenntnis zur Notwendigkeit dauerhaften Zuzugs ausländischer Arbeitskräfte. 196 Karin König/Bettina Stadler, Entwicklungstendenzen im öffentlich-rechtlichen und demokratiepolitischen Bereich, in: Heinz Fassmann/Irene Stacher (Hg.), Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht. Demographischer Entwicklungen – sozioökonomische Strukturen – rechtliche Rahmenbedingungen, Wien 2003, 226–259, 229.

Ausländische Arbeitskräfte in Österreich

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Der EU-Beitritt brachte schließlich einen weiteren Paradigmenwechsel in der österreichischen Ausländerbeschäftigungspolitik, reduzierte er sie doch auf Drittstaatsangehörige, während EU-Angehörige mit ÖsterreicherInnen gleichgestellt waren. Hinsichtlich der Drittstaatsangehörigen wurden nun die Ziele einer Begrenzung der Neuzuwanderung auf Schlüsselkräfte, Liberalisierung der Ausländerbeschäftigung betreffend Saison- und PendlerInnenbeschäftigung sowie Verschärfung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen und Bekämpfung der Schwarzarbeit verfolgt. Eine weitere Herausforderung für die Arbeitsmigrationspolitik stellte die EU-Osterweiterung 2004 dar. Sie führte unter dem Gesichtspunkt eines Schutzes des österreichischen Arbeitsmarktes vor Lohnund Sozialdumping auch zu einer partiellen Renationalisierung des Arbeitsmarktes. 2011/13 wurde dann das Zuwanderungsrecht für hochqualifizierte Drittstaatsangehörige deutlich verbessert, wenngleich das österreichische Regelwerk im Vergleich zu anderen Einwanderungsländern noch immer sehr restriktiv ausgestaltet ist. Auf der anderen Seite verlangt die EU-„Aufnahmerichtlinie“ von 2013 von den EU-Mitgliedstaaten u. a., für AsylwerberInnen einen „effektiven Arbeitsmarktzugang“ zu schaffen.197 Die Rechtsgeschichte der Arbeitsmigration weist freilich nicht nur den naheliegenden Befund auf, dass das Ausländerbeschäftigungsrecht durchgängig primär an den Interessen der Wirtschaft und den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes orientiert ist, sondern lässt darüber hinaus auch ein damit verschränktes Etikettenproblem erkennen: „Begriffe wie Asylbewerber, Wirtschaftsflüchtling, Gastarbeiter, arbeitssuchender Tourist oder illegal anwesender Ausländer beziehen sich oft auf den gleichen Personenkreis“. Was sich ändert, „sind oft nur die gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen im jeweiligen Zielland“,198 oder in anderen Worten: „Illegal migration is […] a product of the laws made to control migration“.199

197 Aufnahmerichtlinie RL 2013/33/EU, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/public/ Reception-DE.pdf; https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/A/A_00737/imfname_ 369845.pdf. 198 Fassmann/Münz, Österreich, 228. 199 Stephan Castles/Mark J. Miller, The age of migration: international population movements in the modern world, New York 1998, 96.

Emmerich T#los

Sozialpartnerschaft: Ein zentraler Gestaltungsfaktor im Österreich der Zweiten Republik

1.

Einleitung

In der sozialwissenschaftlichen Literatur zählt Österreich zu jenen Ländern, die den Typus des Neokorporatismus1 bzw. der korporatistischen Verhandlungsdemokratie2 repräsentierten. Die in Österreich realisierte „Interessenvermittlung und Politikausführung im Verbund von Staat, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden“3 stellt keine Singularität dar. Der österreichischen Sozialpartnerschaft wurde allerdings durchwegs attestiert, dass es sich dabei nicht nur um eine besondere Realisationsform, sondern auch um eine vergleichsweise stabile Ausprägung korporatistischer Interessenpolitik handelte.4 Ihre Träger sind die großen Dachverbände der ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInnen-Interessenorganisationen sowie die Regierung bzw. die Fachressorts. Diese Interessenorganisationen, die teils rechtlich, teils realiter über ein Vertretungsmonopol verfügen, sind durch einen hohen Konzentrati-

1 Gerhard Lehmbruch, Sozialpartnerschaft in der vergleichenden Politikforschung, in: Peter Gerlich/Edgar Grande/Wolfgang C. Müller (Hg.), Sozialpartnerschaft in der Krise, Wien 1985, 85–107; Philippe Schmitter, Interessenvermittlung und Regierbarkeit, in: Ulrich Alemann/ Rolf Heinze (Hg.), Verbände und Staat, Opladen 1979, 92–114. 2 Gerhard Lehmbruch, Die korporative Verhandlungsdemokratie in Westmitteleuropa, in: Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft 2 (1996), 19–41; Roland Czada, Demokratietypen, institutionelle Dynamik und Interessenvermittlung: Das Konzept der Verhandlungsdemokratie, in: Hans-Joachim Lauth (Hg.), Vergleichende Regierungslehre, Wiesbaden 2002, 292–318; Klaus Armingeon, Interest Intermediation: The case of Consociational Democracy and Corporatism, in: Hans Keman (ed.), Comparative Democracy Politics, London 2002, 143–165. 3 Roland Czada, Korporatismus, in: Manfred Schmidt (Hg.), Westliche Industriegesellschaften. Pipers Wörterbuch zur Politik 2, München 1983, 209. 4 Gerhard Lehmbruch, Sozialpartnerschaft, 85–107; Colin Crouch, Generalized Political Exchange in Industrial Relations in Europe during the Twentieth Century, in: Bernd Marin (ed.), Governance and Generalized Exchange, Frankfurt 1990, 69–116.

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ons- und Zentralisationsgrad gekennzeichnet.5 Ersteres ergibt sich vor allem auch aus dem Prinzip der Pflichtmitgliedschaft zu den Kammern. Sozialpartnerschaft ist ein Muster der Interessenvermittlung, das zum einen wesentlich durch die privilegierte Einbindung dieser Dachverbände in den Prozess der Politikformulierung (Konzertierung) und der Implementierung gesetzlicher Regelungen, zum anderen durch die Abstimmung der Interessen zwischen diesen Trägern (Akkordierung) in Entscheidungsprozessen gekennzeichnet ist. Der Aktionsradius und der Einfluss betreffen drei Ebenen: – Beratung und Expertise im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsvorbereitungsprozess, – inhaltliche Mitgestaltung von Entscheidungen über gesetzliche Normen in einer Reihe wichtiger Politikfelder wie die Einkommens-, Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, – Implementation gesetzlicher Normen (z. B. im Rahmen von Institutionen wie der Sozialversicherung, in Beiräten und im Arbeitsmarktservice). Die Zusammenarbeit und Interessenakkordierung beruhte auf der von den involvierten Akteuren geteilten Überzeugung gesamtwirtschaftlicher Verantwortung und der Verfolgung der gesamtwirtschaftlichen Ziele Wirtschaftswachstum, Beschäftigungssicherung, Kaufkraft- und Währungsstabilisierung sowie Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Mit dieser Ausrichtung korreliert die strategische Orientierung an der Kompromissfindung, die sich in einer vergleichsweise äußerst niedrigen Streikquote spiegelt.6 Wichtig zu betonen ist: Sozialpartnerschaft beruht nicht auf einer gesetzlichen Grundlage, sondern ist ein freiwilliges Arrangement der involvierten Akteure. Sozialpartnerschaft erfuhr breite Akzeptanz sowohl seitens der politischen Akteure als auch seitens der Bevölkerung. Sie galt und gilt als wesentlicher und wünschenswerter Bestandteil des politischen Systems. Ihre Spielregeln wurden akzeptiert und ihr Nutzen positiv bewertet. Kennzeichnend für das politische System ebenso wie für das System der Interessenvertretung in der Zweiten Republik ist, dass neben der sozialpartnerschaftlichen Interessenvermittlung auch ein Netzwerk vertikaler Verflechtungen besteht: nämlich in Form der institutionell-organisatorischen Beziehungen zwischen Interessenorganisationen und Parteien (ÖGB und BAK zu SPÖ, WKÖ 5 Ferdinand Karlhofer, Arbeitnehmerorganisationen, in: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Herbert Gottweis/Helmut Kramer/Volkmar Lauber/Wolfgang C. Müller/Emmerich T#los (Hg.), Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien 2006, 462–479; Marcel Fink, Unternehmerverbände, in: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Herbert Gottweis/Helmut Kramer/Volkmar Lauber/Wolfgang C. Müller/Emmerich T#los (Hg.), Politik, 443–461. 6 Emmerich T#los, Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor in der Zweiten Republik, Innsbruck 2008.

Sozialpartnerschaft: Ein zentraler Gestaltungsfaktor

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und PRÄKO zu ÖVP) sowie der personellen Verflechtungen durch Funktionskumulierung auf Ebene der Verbände, der Parteien, des Parlaments und der Regierung. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, wie sich dieses interessenpolitische Muster entwickelt hat, welchen Einfluss Sozialpartnerschaft auf die Gestaltung verschiedener Politikfelder, vor allem auch der Arbeitsmarktpolitik, hatte, ob und wie sich die Rolle der Sozialpartnerschaft unter den seit den 1980er Jahren veränderten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verändert hat.

2.

Entwicklung der Sozialpartnerschaft

Sozialpartnerschaftliche Interessenvermittlung und -politik hat ihre Ausformung im Wesentlichen Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre erfahren. Ansätze dazu gibt es im Entwicklungsprozess nach 1945 in mehrfacher Hinsicht. Hier sei insbesondere auf die Politik der Interessenabstimmung in der Wiederaufbauphase verwiesen, die neben der Sozialpolitik vor allem in den fünf Lohn- und Preisabkommen zwischen 1947 und 1951 ihren Niederschlag fand. Darin zeichnen sich bereits wesentliche Komponenten des sozialpartnerschaftlichen Musters ab, nämlich ein mehrdimensionales Kooperationssystem zwischen Regierung und Interessenvertretungen sowie die Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Ziele durch die beteiligten Akteure. Diese vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), von den Arbeiterkammern (AK) und der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) mitgetragene Akkordierung in der Interessenpolitik stieß bei den ArbeitnehmerInnen nicht auf ungeteilte Zustimmung. Exemplarischer Ausdruck dafür ist die breite Streikbewegung im Herbst 1950, der sogenannte Oktoberstreik 1950.7 Bemerkenswert ist, dass in der Geschichte der Zweiten Republik der Oktoberstreik von 1950 den weitreichendsten und zugleich letzten manifesten Widerstand gegen sozialpartnerschaftliche Politik darstellt. Die in den 1940er und 1950er Jahren etablierten Kooperationsforen blieben zunächst zeitlich befristet und inhaltlich eingeschränkt. Die Problematik einer Verrechtlichung der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Interessenvertretungen und einer gesetzlichen Formalisierung des Einflusses der Interessenvertretungen auf den staatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, sofern sie über die „vertikale Verbändebeteiligung“ (Beratung, Begutachtung usw.) hinausging, wurde am Scheitern des Wirtschaftsdirektoriums 7 Michael Ludwig/Klaus Dieter Mulley/Robert Streibel (Hg.), Der Oktoberstreik 1950, Wien 1991.

162

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deutlich. Damit wurde 1951 ein zeitlich befristetes wirtschaftliches Koordinationsinstrument auf gesetzlicher Basis geschaffen. Die Errichtung war Teil eines Paketes von Wirtschaftslenkungsgesetzen. Aufgrund des Einspruches der Vorarlberger Landesregierung wurde per Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes 1952 die Bindung des zuständigen Bundesministers an die Gutachten des Wirtschaftsdirektoriums als verfassungswidrig aufgehoben. Die Tätigkeit des Wirtschaftsdirektoriums wurde 1954 beendet. Als Konsequenz für die weitere Entwicklung ist die Orientierung an Informalität in den Beziehungen zwischen den involvierten Akteuren konstatierbar. Mit Zustimmung der Regierung wurde in der Folgezeit die Kooperation zwischen den Interessenorganisationen ausgebaut und auf dieser Basis deren Beteiligung am Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess – in erster Linie im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik – ausgeweitet. Anstöße dazu bot die damalige Verdichtung ökonomischer und politischer Probleme. Ersteres ist am Preisauftrieb, an der anstehenden wirtschaftlichen Integration, an Anzeichen einer Wachstumsschwäche und an der Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials, Zweiteres an der Erosion der politischen Zusammenarbeit der Koalitionsparteien in Regierung und Parlament ablesbar. Die Initiativen für eine Stärkung und Verbreiterung der Zusammenarbeit zwischen den Verbänden gingen Mitte der 1950er Jahre von der Führung des ÖGB aus. Nach Beschluss in der Wirtschaftskommission und auf Empfehlung durch den Ministerrat wurde 1957 die „Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen“ vorerst als befristetes Kooperations- und Akkordierungsinstrument konstituiert. In den folgenden Jahren kam es nicht nur zu einer Verstetigung der Arbeit dieser Kommission. Zugleich mit der institutionellen Ausdifferenzierung erfolgte eine Ausweitung der Bezugspunkte der Interessenpolitik und der Akkordierung von Regierung (bzw. staatlicher Bürokratie) und dominierenden Interessenorganisationen im Prozess der politischen Willensbildung. Diese Ausweitung in der Interessenpolitik kommt in der Definition der Aufgaben des 1963 eingerichteten „Beirates für Wirtschafts- und Sozialfragen“ deutlich zum Ausdruck: Seine Aufgaben sollen darin bestehen, „Untersuchungen anzustellen, deren Ziel es ist, wirtschafts- und sozialpolitische Fragen unter gesamtwirtschaftlichem Aspekt zu behandeln und jene Empfehlungen auszuarbeiten, die zur Stabilisierung der Kaufkraft, zu einem stetigen Wirtschaftswachstum und zur Vollbeschäftigung beitragen.“8 Der Ausbau der akkordierten Interessenpolitik war verbandsintern umstrit-

8 Zit. in: Materialien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik, Heft 2, Zur Paritätischen Kommission für Preis-und Lohnfragen, hg. vom Institut für angewandte Sozial- und Wirtschaftsforschung, Wien 1966, 191.

Sozialpartnerschaft: Ein zentraler Gestaltungsfaktor

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ten9 und stieß auch in der politischen Öffentlichkeit auf Ablehnung bzw. Skepsis. Die Ablehnungsfront bröckelte jedoch sehr schnell ab. Denn die Ausfächerung des sozialpartnerschaftlichen Politikmusters in der ersten Hälfte der 1960er Jahre fand in der Regierung, die in der Paritätischen Kommission vertreten war, ebenso Zustimmung wie bei den Koalitionsparteien, die mit den jeweiligen Interessenorganisationen eng vernetzt waren. Die politische Kritik an der verstärkten De-facto-Einbindung bzw. am Gewicht der Interessenorganisationen im politischen Entscheidungsprozess verdichtete sich in der Folge im Begriff der „Nebenregierung“. Die aus verfassungsrechtlicher Sicht vorgebrachten Bedenken wurden allerdings zunehmend mehr abgeschwächt und durch eine differenziertere Sichtweise ersetzt.10 Bis in die 1980er Jahre ist die weitere Entwicklung der österreichischen Sozialpartnerschaft durch eine institutionelle Ausdifferenzierung, Kontinuität und Stabilität gekennzeichnet. Die informelle wie formelle Institutionalisierung der Zusammenarbeit wurde beträchtlich ausgeweitet.11 Der Übergang von der Koalitionsregierung der beiden Großparteien zu Alleinregierungen jeweils einer Partei – der ÖVP von 1966 bis 1970, der SPÖ von 1970 bis 1983 – hatte zu keiner grundsätzlichen Infragestellung der Sozialpartnerschaft geführt.

3.

Einfluss der Sozialpartnerschaft in der Phase der Hochblüte (1960er–1980er Jahre)

Das klassische Muster sozialpartnerschaftlich akkordierter Mitgestaltung rechtlicher Regelungen kam in einigen Politikfeldern zum Tragen.12 Zu diesen Politikfeldern zählten die Sozialpolitik und Teile der Wirtschafts- (z. B. die Agrarpolitik) und Bildungspolitik (Berufsausbildung). Am stärksten ausgeprägt findet sich der sozialpartnerschaftliche Einfluss in der Gestaltung des Arbeitsrechtes, obwohl diesbezüglich die Interessenpositionen durchwegs äußerst konträr waren und sind. Die inhaltliche Substanz der Regelungen resultierte durchwegs auf Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den Interessenorganisationen, über deren Ergebnis Einvernehmen mit dem zuständigen Sozialministerium sowie mit dem Ministerrat hergestellt werden konnte. Die Mitgestaltung bezog sich darüber hinaus vor allem auch auf Materien wie 9 Emmerich T#los, Sozialpartnerschaft: Zur Entwicklung und Entwicklungsdynamik kooperativ-konzertierter Politik in Österreich, in: Peter Gerlich/Edgar Grande/Wolfgang C. Müller (Hg.), Sozialpartnerschaft in der Krise, Wien 1985, 41–83, 72–74. 10 Peter Gerlich, Sozialpartnerschaft und Regierungssystem, in: Peter Gerlich/Edgar Grande/ Wolfgang C. Müller (Hg.), Sozialpartnerschaft in der Krise, Wien 1985, 109–133. 11 T#los, Sozialpartnerschaft, 46. 12 Ebd., 56–73.

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die aktive Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitslosenversicherung und die Ausländerbeschäftigungspolitik.13 An diesen drei Materien ist zum einen ersichtlich, dass neben der Regierung bzw. der zuständigen Regierungsadministration (vor allem den Fachabteilungen14) die Dachverbände der wirtschaftlichen Interessenorganisationen eine privilegierte Stellung hatten. Zum anderen zeigt sich, dass es bei aller privilegierten Einbindung in politische Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse durchaus Unterschiede im jeweiligen Politiknetzwerktyp15 gab. Ausgeprägtere konträre Positionen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen bei Änderungen der Arbeitslosenversicherung waren der Grund dafür, dass einige Entscheidungen ohne Akkordierungen zwischen den Verbänden und mit der Regierung getroffen wurden (Beispiele: Novelle 1976 und 1987). Ungleich stärker kam das sozialpartnerschaftliche Muster bei Entscheidungen betreffend die Ausländerbeschäftigung und die Arbeitsmarktpolitik zum Tragen. Trotz inhaltlicher Differenzen im Willensbildungsprozess erfolgten durchwegs Kompromisse zwischen den Verbänden sowie zwischen Regierung und Verbänden. Die Verbände prägten die inhaltliche Substanz gegenständlicher Regelungen in einem Ausmaß, dass heftige Bedenken gegen das realpolitische Entscheidungsgewicht der Sozialpartnerverbände angemeldet wurden. Als Beispiel dafür sei die Wortmeldung des damaligen Obmannes des ÖAAB und ÖVP-Abgeordneten Kohlmaier in der Nationalratsdebatte zur AMFG Novelle 1976 angeführt: „Es entsteht nämlich hier wiederum die Frage nach der Funktion der Sozialpartner in unserem System, nach ihrer Aufgabe, nach der Aufgabe der beruflichen Interessenvertretungen im Gang der Sozialgesetzgebung und der Gesetzgebung überhaupt. Ich glaube, dass die Sozialpartner in der Gesetzgebung eine wichtige Funktion wahrnehmen können im Sinne einer unterstützenden Funktion. (…) Ich frage aber dennoch (…): ist es Aufgabe der beruflichen Interessenvertretungen, die Sozialgesetzgebung praktisch an sich zu ziehen? (…) Wenn wir das weiterhin so praktizieren (…), wird da nicht einmal die Gefahr sichtbar, dass das Parlament nur mehr noch zum Staatsnotar für Beschlüsse der Sozialpartner wird?“16 Wie daran ersichtlich, war der Einfluss der Sozialpartnerverbände auf die inhaltliche Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik sehr groß. Weniger galt dies für die Implementation arbeitsmarktpolitischer Regelungen, solange die Arbeits13 Siehe ausführlich zu den einzelnen Politikfeldern: Emmerich T#los/Bernhard Kittel, Gesetzgebung in Österreich, Wien 2001, 123–149. 14 Ferdinand Lechner/Walter Reiter/Marius Wilk, Arbeitsmarktverwaltung und Sozialpartnerschaft, in: Emmerich T#los (Hg.), Sozialpartnerschaft, Wien 1993, 220. 15 Siehe näher dazu T#los/Kittel, Gesetzgebung, 2001. 16 Stenographisches Protokoll des Nationalrates, XIV. Gesetzgebungsperiode, 7. Juli 1976, 2792f.

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marktverwaltung im Rahmen des Sozialministeriums staatlich verwaltet wurde. Das 1968 verabschiedete Arbeitsmarktförderungsgesetz räumte den Interessenvertretungen Partizipationsmöglichkeiten auf Ebene des zuständigen Ministeriums im Beirat für Arbeitsmarktpolitik, bei den Landesarbeitsämtern in den Verwaltungsausschüssen und bei den Arbeitsämtern in den Vermittlungsausschüssen ein. Gestärkt wurde das Gewicht der Interessenvertretungen in der Implementation dann erst im Gefolge der Auslagerung der bisher staatlich verwalteten Arbeitsmarktverwaltung mit der Einführung des Arbeitsmarktservice im Jahr 1993. Im Unterschied zum Arbeitsrecht und der Arbeitsmarktpolitik war die Akteurskonstellation bei Materien wie der Sozialversicherung ungleich breiter, Akkordierungen waren nicht die Regel. Selektiver noch war der Einfluss im Bereich der Wirtschaftspolitik: Sozialpartnerschaftliche Mitgestaltung betraf vor allem (vor dem EU-Beitritt) die Agrarmarktordnung und die Abstützung der Hartwährungspolitik sowie die Berufsausbildung. In Politikfeldern wie der Schul-, Hochschul-, Umwelt-, Justizpolitik und Politik der Inneren Sicherheit waren die großen Dachverbände zwar formell eingebunden, übten allerdings keinen relevanten Einfluss auf deren inhaltliche Gestaltung aus. Auch dies unterstreicht, dass die Sozialpartnerschaft selbst in Zeiten ihrer Hochblüte keine politische „Allkompetenz“ in Österreich besaß. Anderseits sei angemerkt, dass der Einfluss der Akkordierung zwischen den Interessenorganisationen über die Mitgestaltungsfunktion des Rechts hinausreichte und reicht, wie die gesamtwirtschaftlich orientierte Einkommenspolitik oder diverse abgestimmte Initiativen beispielsweise im Bildungsbereich belegen.17 Der Einfluss verbandlicher Akkordierung ist vor allem bis in die 1970er Jahre hinein hoch zu veranschlagen: Die Verbände leisteten einen wesentlichen Beitrag zur ökonomischen Stabilisierung und zur Steuerung von Arbeitsmarktproblemen. Weiters resultierte eine Reihe von Gesetzen aus der im vorparlamentarischen Bereich erfolgten verbandlichen Konfliktregelung und Interessenabstimmung. Exemplarisch seien das – Berufsausbildungsgesetz und Arbeitszeitgesetz (1969), – das Kartellgesetz (1972), – das Arbeitsverfassungsgesetz (1973), – das Entgeltfortzahlungsgesetz (1974), – das Ausländerbeschäftigungsgesetz (1975), – die Marktordnungsgesetze, die Arbeitsmarktförderungsgesetz-Novelle – und das Pflegeurlaubsgesetz (1976) angeführt.

17 T#los, Sozialpartnerschaft, 57–60, 119–120.

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Im Vergleich dazu weist die weitere Entwicklung der Sozialpartnerschaft uneinheitliche Züge auf. Wenn auch der politische Entscheidungsprozess in der ersten Hälfte der 1970er Jahre kein uniformer war (siehe Müller 1985), so ist dieser in der Folgezeit stärker vom Dissens zwischen den Interessenorganisationen wie auch vom Dissens innerhalb der tripartistischen Kräftekonfiguration (Regierung, Unternehmer- und ArbeitnehmerInnenvertretungen) geprägt. Dies zeigt sich daran, dass bei einer Reihe arbeits-, sozial-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Entscheidungen (z. B. Arbeiterabfertigung 1979, Gleichbehandlungsgesetz 1979, Urlaubsverlängerung 1981, Gewerbeordnungsnovelle 1981, Maßnahmenpaket 1983, 40. ASVG-Novelle 1984) die Interessenabstimmung nicht funktionierte. Ungeachtet dessen kam das Muster sozialpartnerschaftlicher Konfliktregulierung und inhaltlicher Akkordierung zwischen den Verbänden und zwischen Verbänden und der Regierung bei vielen Gesetzen zum Tragen. Beispielhaft können das Entgeltfortzahlungsgesetz (1978), die ArbeitnehmerschutzgesetzNovelle (1982), die Kartellrecht-Novelle (1981), das Produktsicherungsgesetz (1982) oder die Arbeitsverfassungsgesetz-Novelle (1986) angeführt werden. Die Beteiligung der FPÖ an der Regierung in den Jahren 1983 bis 1986 hat das Muster der Interessenakkordierung zwischen Verbänden und Regierung nicht substanziell tangiert. Die neuerliche Große Koalition ab 1987 bildete erneut einen günstigen Boden für Akkordierungsprozesse. Dies zeigte sich neben Materien wie dem Ladenschlussgesetz (1989) und der Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes (1990) auch an der Novellierung des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (1990) sowie der Neuregelung der Arbeitsmarktverwaltung im Rahmen des Arbeitsmarktservice im Jahr 1993. Damit ist eine substanzielle Aufwertung der Interessenorganisationen in der Implementation der Arbeitsmarktpolitik verbunden. Repräsentanten der Dachverbände sind Mitglieder in den Entscheidungsgremien dieser ausgelagerten Organisation: im Verwaltungsrat der Bundesorganisation, in den Landesdirektorien und den paritätisch besetzten Regionalbeiräten. Kurz gesagt: Seit Beginn der 1960er Jahre erlebte die österreichische Sozialpartnerschaft ihre Hochblütephase. Sie stellte ebenso wie das Duopol von ÖVP und SPÖ einen zentralen Faktor österreichischer Politik dar. Daneben gab es auch andere Formen der Interessenpolitik – ablesbar an der Verfolgung von Interessen im Rahmen des vertikalen Netzwerkes zwischen Parteien und nahe stehenden Verbänden. Sozialpartnerschaft bedeutet nicht nur „Wachstumskoalition“ bei Aufrechterhaltung bestehender ökonomischer Ungleichheiten, sondern auch „Erwerbstätigenkoalition“ im Bereich sozialer Sicherung. Die Konsequenzen dieser Erwerbsarbeitsorientierung sind: Ausgrenzung jener Menschen aus dem sozialen

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Sicherungssystem, die nicht in bezahlte Erwerbsarbeit integriert sind. Die ökonomische Einkommensungleichheit wird im Leistungssystem der Sozialversicherung reproduziert, was ungleiche Versorgungsniveaus zur Folge hat. Im Unterschied zur Hochblütephase zeichnen sich seit Mitte der 1980er Jahre merkbare Veränderungen in mehrfacher Hinsicht ab.

4.

Veränderungen

4.1

Veränderungen im Bereich der Interessenvertretung

Während die traditionell korporatistisch geprägte Interessenvermittlung in Ländern wie den Niederlanden18 und in Schweden19 in den 1970er bzw. 1980er Jahren an Relevanz einbüßte, erwies sich die österreichische Variante des Korporatismus noch bis Ende der 1990er Jahre als relativ stabil. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen für Interessenvermittlung bereits seit den 1980er Jahren maßgeblich gewandelt. Dies war nicht folgenlos für die Rolle der großen Dachverbände. Der Rückbau auf Ebene sozialpartnerschaftlicher Institutionen und sozialpartnerschaftlich mitgestalteter Politik wurde zwar unter der schwarzblauen/orangenen Regierung (2000–2006) radikalisiert, seine Wurzeln finden sich allerdings bereits in der vorausgehenden Entwicklung. Wenn auch die traditionelle Form und Struktur des Verbände- und Kammernsystems im Wesentlichen aufrecht blieb, zeigen sich Veränderungen an den einzelnen Organisationen. Dies gilt seit Ende der 1980er und in den 1990er Jahren vor allem für die großen Kammern. Einen diesbezüglichen Indikator stellt der starke Rückgang der Beteiligung an den Kammerwahlen dar. Sank bereits bei der Arbeiterkammerwahl im Jahr 1989 die Wahlbeteiligung von 63 % (1984) auf 49 %, so bildete die Wahl 1994 mit 31 % den bisherigen Tiefpunkt. Bei den folgenden Wahlen schwankte die Beteiligung zwischen 49 % (2000) und 39,7 % (2014), wobei die Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen nach wie vor die absolute Mehrheit an Stimmen (2014: 57,16 %) und an Mandaten in der Vollversammlung der AK-Länderkammern (2014: 489 von 840) besitzt. Wenn auch nicht im gleichen Ausmaß, so verlief die Entwicklung bei den Wirtschaftskammern ähnlich. Lag die Wahlbeteiligung 1985 noch bei 70 %, so 1991 bei 61,9 % und 2010 bei 41,3 %. 18 Anton Hemerijck, A Paradoxical Miracle: The Politics of Coalition Government and Social Connection in Dutch Welfare Reform, in: Sven Jochem/ Nico A. Siegel (Hg.), Konzertierung, Verhandlungsdemokratie und Reformpolitik im Wohlfahrtsstaat, Opladen 2003, 232–270. 19 Sven Jochem, Konzertierung und Parteienwettbewerb: Das schwedische Modell im Wandel, in: Sven Jochem / Nico A. Siegel (Hg.), Verhandlungsdemokratie und Reformpolitik im Wohlfahrtsstaat, Opladen 2003, 271–310.

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Die rückläufige Wahlpartizipation kann u. a. als Ausdruck beträchtlich gestiegener Legitimations- und Mobilisierungsprobleme interpretiert werden. Die traditionelle, in den Nachkriegsjahrzehnten weitgehend unhinterfragte Pflichtmitgliedschaft in den Kammern wurde ebenso zu einem in der Öffentlichkeit breit diskutierten Thema wie die Einkommensprivilegien von Kammerfunktionären. Im Kontext der gestiegenen Parteienkonkurrenz gingen die beiden – seit 1987 wieder gemeinsam regierenden – großen Parteien SPÖ und ÖVP auf Distanz zu ihren jeweils nahe stehenden Kammern. Am deutlichsten sichtbar wurde dies daran, dass das Koalitionsabkommen zwischen SPÖ und ÖVP aus 1994 die Abhaltung einer „Urabstimmung“ über die Pflichtmitgliedschaft in allen Kammern vorsah. Die in den Jahren 1995/96 dann tatsächlich durchgeführte Mitgliederbefragung – Zustimmung oder Ablehnung der Kammern als gesetzliche Interessenvertretung – brachte eine breite Zustimmung zu deren Weiterbestand: 82 % bei den Wirtschaftskammern, 91 % bei den Arbeiterkammern.20 Dieses für die Kammerinstitutionen sehr positive Votum ließ das Thema „Pflichtmitgliedschaft“ in der Folgezeit in den Hintergrund treten. Nachdem bereits 1992 mit einer Novellierung des Arbeiterkammergesetzes eine Erweiterung der Partizipation der Mitglieder erfolgt war, unterzogen sich die Kammern 1998 einer Reform, deren Kernpunkt einige Modifikationen der Bestimmungen über Wahlen (betreffend Wahltermin, Wahlzeitraum und Wahlmodus) waren. Die Wirtschaftskammer startete im Jahr 2001 eine große Kammerreform, zu deren Bestandteilen die Senkung der Umlage, die Verringerung des Personals und die Ausweitung des Leistungsangebotes zählten. Veränderungen betrafen vor allem auch die Gewerkschaften. Steigende Arbeitslosigkeit, die Krise der Verstaatlichten Industrie, wirtschaftliche Internationalisierung und die Zuspitzung von Verteilungsfragen führten zu deren Schwächung. Die Veränderung des Arbeitsmarktes in Richtung Verbreitung atypischer Beschäftigungsformen stellt insbesondere für Gewerkschaften im Dienstleistungsbereich wie die GPA oder VIDA beträchtliche Herausforderungen dar. Die Zunahme der Heterogenität und Flexibilität der Erwerbsarbeitsverhältnisse erschwerte die Interessenvereinheitlichung ebenso wie die verbandliche Integration. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad, der in Österreich 1970 noch bei 60 % lag, erfuhr einen kontinuierlichen Rückgang: 2000 lag er 36,6 %, 2005 bei 33,3 % und 2011 bei 27,8 %. Der Organisationsgrad ist vor allem bei Frauen und atypisch Beschäftigten gering. Betrug die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder 1990 noch über 1,6 Millionen, so reduzierte sich diese von 1,44 Millionen im Jahr 2000 auf 1,38 Millionen 2003, auf 1,33 Millionen 2005 und 20 Ferdinand Karlhofer, Verbände: Organisation, Mitgliederintegration, Regierbarkeit, in: FerdinandKarlhofer/ Emmerich T#los (Hg.), Zukunft der Sozialpartnerschaft, Wien 1999, 15–46, 18–20.

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1,2 Mio. im Jahr 2013. Die Beschleunigung dieses Prozesses steht mit Veränderungen auf betrieblicher und außerbetrieblicher Ebene in Zusammenhang. Die Privatisierung der Verstaatlichten Industrie, die Internationalisierung und Konzentrationsprozesse von Großunternehmen schwächten die Betriebsräte, die für die gewerkschaftliche Organisierung eine zentrale Rolle spielten. Ihre Zahl hat kontinuierlich abgenommen. Der Rückgang der gewerkschaftlichen Organisierung resultierte auch aus der größten Krise in der Geschichte des ÖGB nach 1945: Gewaltige Verluste der gewerkschaftseigenen Bank BAWAG, der viertgrößten Bank Österreichs, infolge von riskanten Spekulationsgeschäften („Karibikgeschäfte“) zeitigten enorme finanzielle Probleme, die eine Staatshaftung für die BAWAG und Unterstützung durch andere Banken, einen teuren Vergleich mit amerikanischen Gläubigern als Voraussetzung für den Verkauf der BAWAG und zahlreicher Immobilien (wie beispielsweise der ÖGB-Zentrale), die Abgabe von Anteilen an der Nationalbank und die Offenlegung des Vermögens und des traditionell streng geheimen Strukturfonds erforderlich machte. Die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen des ÖGB, die bisher im wesentlichen Ausmaß durch die Dividendenzahlungen der BAWAG geschlossen worden war, wurde nunmehr größer. Die Folgeprobleme waren allerdings nicht nur finanzieller Natur. Auch das politische Image des ÖGB war ramponiert – ablesbar an einer massiven Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise. Nach einer Umfrage vom Juli 2006 hatten nur noch 5 % der Bevölkerung insgesamt, und 8 % der Mitglieder großes Vertrauen in die Gewerkschaften, gar kein Vertrauen hatten 22 % bzw. 10 %.21 Der ÖGB, dessen politisches Bedeutungsgewicht bereits durch die Strategien der ÖVP/FPÖ-Koalition vermindert wurde, erfuhr mit dem BAWAGDesaster eine weitere Schwächung. Nicht zuletzt erfolgten im Zusammenhang mit dem Mitgliederschwund, dem Strukturwandel und den veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt innerorganisatorische Änderungen. Dazu zählen die Fusionierungen einstiger selbstständiger Teilgewerkschaften: Deren Zahl wurde von 15 zu Beginn der 1990er Jahre auf neun bzw. sieben in den Jahren 2007 und 2011 reduziert. Es erfolgten Fusionen beispielsweise zwischen der Gewerkschaft Metall/ Textil und Agrar/Nahrung/Genuss, zwischen der Gewerkschaft der Privatangestellten und der Gewerkschaft Druck/Journalisten/Papier sowie zwischen den Teilgewerkschaften der Eisenbahner, Hotel/Gastgewerbe/Persönliche Dienste und Handel/ Transport/Verkehr – Letztere im Rahmen der neu gebildeten Organisation VIDA. Ein zweiter Punkt innerorganisatorischer Veränderungen steht mit der Gewerkschaftskrise in engem Zusammenhang: Am Gewerkschaftskongress 2007 21 IFES, Image der Gewerkschaft, Studie vom Juli 2006.

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wurde eine Organisationsreform beschlossen. Damit versuchten die Gewerkschaften, auf mehrere Probleme und offenkundigen Handlungsbedarf zu reagieren: mehr Mitwirkungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für Mitglieder (Urabstimmungen zu wichtigen gewerkschaftspolitischen Fragen, Mitgliederbefragungen, Projekt- und Regionalgruppen), stärkere Repräsentanz von Frauen in zentralen Funktionen (Wahl mindestens einer Frau als Präsidentin bzw. Vizepräsidentin), Stellung der Teilgewerkschaften (Errichtung als rechtsfähige Zweigvereine), stärkeres Gewicht für kleinere Fraktionen (in der Kontrollkommission), Ausbau des Controlling-Systems und Einkommensbegrenzung für Funktionäre. Der ÖGB, der nach 1945 durchwegs mehr auf die Einflusslogik als auf die Mitgliederlogik gesetzt hatte, versucht nunmehr Mitgliederinteressen verstärkt zu berücksichtigen. Ansatzweise fand dies seinen Ausdruck auch darin, dass der ÖGB zumindest punktuell einen stärker konfrontativen Stil verfolgte. Aktionstage und Kampagnen wurden abgehalten, im Herbst 2001 eine Urabstimmung unter Mitgliedern (mit 56 % Beteiligung ein beachtlicher Erfolg) und 2003/4 Streikaktionen mit einer Beteiligung von 780.000 ArbeitnehmerInnen durchgeführt. Die Aktionen und Streikaktivitäten richteten sich in erster Linie gegen den von der ÖVP/FPÖ-Koalition realisierten Um- und Abbau im Bereich der Sozialpolitik. Dass im Streikverhalten des ÖGB allerdings keine grundsätzliche Änderung eingetreten ist, ist daran ersichtlich, dass es in den Jahren 2005–2010 keine Streiks gab. Das Ausmaß der Streiks in den letzten Jahren hielt sich in Grenzen (so z. B. 2013 und 2014 mit 0,5 Streikminuten pro ArbeitnehmerIn). Kontinuität ist im Wesentlichen hinsichtlich der Monopolstellung des ÖGB bei der Vermittlung der Interessen von Arbeitern, Angestellten und Beamten feststellbar. Es gab zwar in der Nachkriegszeit Bemühungen, neben dem ÖGB auch andere Organisationen zu etablieren. Diese Bemühungen scheiterten durchwegs. Der letzte Versuch der Gründung einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung außerhalb des ÖGB stellt die Freie Gewerkschaft Österreichs (FGÖ) dar. Anzeichen dafür, dass die FGÖ wenig Eigenleben entwickelt, ist, dass sie es seit ihrer Gründung weder zu einem eigenständigen Statut noch zu einer eigenständigen Geschäftsordnung gebracht hat. Beides ist der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger und Freiheitlicher (AUF) aus 1988 entnommen. Zudem hat es die FGÖ bisher unterlassen, beim zuständigen Bundeseinigungsamt einen Antrag auf Kollektivvertragsfähigkeit zu stellen. Damit hat sie sich der gewerkschaftlichen Kernaufgabe entschlagen. Merkbare Veränderungen hinsichtlich des Organisationsverständnisses und der strategischen Orientierung sind für die VÖI zu konstatieren. Die VÖI versteht sich heute mehr als ein europäischer Verband, der sich weitgehend aus dem sozialpartnerschaftlichen Konzert absentierte, der zu einem dezidierten Kritiker

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der Sozialpartnerschaft und zu einer Lobby-Organisation auf österreichischer und europäischer Ebene wurde. Im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt verzeichneten die Landwirtschaftskammern einen Bedeutungsgewinn. Die Abwicklung von EU-Förderungen wurde nun zu einer Hauptaufgabe. Die Verlagerung der Kompetenzen für die Agrarpolitik auf die EU-Ebene ging allerdings mit einem Bedeutungsverlust einher. Denn vor dem EU-Beitritt waren die Landwirtschaftskammern bzw. die PRÄKO die zentralen Akteure in der Gestaltung der österreichischen Agrarpolitik. Im Kontext veränderter wirtschaftlicher Bedingungen und Herausforderungen – wie der wirtschaftlichen Internationalisierung, der Privatisierung der einstigen Verstaatlichten Industrie, der Problematik der Budgetdefizite, der Verringerung des Verteilungsspielraums und Vorgaben der Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion – steigerten sich die Interessendifferenzen zwischen den sozialpartnerschaftlich involvierten Interessenorganisationen hinsichtlich der als notwendig präferierten Maßnahmen. Eine Interessenabstimmung wurde damit schwieriger. Oder anders gesagt: Bereits für die 1980er, vor allem für die 1990er Jahre ist feststellbar, dass sozialpartnerschaftliche Akkordierung vergleichsweise weniger oft und bei weniger Materien zum Tragen kam.22 Das einstige „Flaggschiff“ der Sozialpartnerschaft, die Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen, ist realiter inexistent. Deren wichtigstes Entscheidungsorgan, die Vollversammlung, tagte im Jahr 1998 zum letzten Mal. Bereiche mit sozialpartnerschaftlicher Beteiligung haben an Bedeutung verloren (z. B. die Forschungs- und Technologiepolitik) oder wurden abgeschafft (wie der Paritätische Ausschuss für Kartellrechtsfragen). Merkbare Einbußen gab es auch beim dichten Netzwerk sozialpartnerschaftlicher Beiräte und Kommissionen.

4.2

Neue Akteure im Feld der Interessenpolitik

Wurde die Vermittlung wirtschaftlicher und sozialer Interessen nach 1945 weitgehend von den sozialpartnerschaftlich involvierten Dachverbänden dominiert, zeichnet sich seit den 1990er Jahren eine Änderung in der Akteurekonstellation ab. Neue Akteure etablierten sich auf der Bühne der Interessenpolitik. Dazu zählen Public Affairs-Agenturen ebenso wie einzelne große Unternehmungen.23 Im Unterschied zu den sozialpartnerschaftlich involvierten 22 Ferdinand Karlhofer/Emmerich T#los, Sozialpartnerschaft am Abstieg, in: Emmerich T#los (Hg.), Schwarz-Blau, Wien 2006, 102–116. 23 Irina Michalowitz/Emmerich T#los, Österreichs Interessenpolitik auf neuen Pfaden – zwi-

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Interessenverbänden, die grundsätzlich zu einem Interessenausgleich und zur Verfolgung gemeinsamer Verbandsinteressen sowie übergreifender Ziele bereit sind, geht es bei Agenturen ausschließlich um die Verfolgung partikularer Interessen. Diese Agenturen stellen für ihre Auftraggeber Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern her und planen Strategien für diese, sie bereiten Informationen und Argumentationen auf. Ihr Schwerpunkt liegt auf Ebene der Beratung und der Entscheidungsvorbereitung, sie sind aktiv im Vorfeld politischer Entscheidungsprozesse, nicht jedoch unmittelbar in diese und deren inhaltliche Mitgestaltung eingebunden. Über ihre Kommunikationsprofessionalität können sie Einfluss auf politische Willensbildungsprozesse ausüben. Die Gründe für die Ausweitung des Akteurespektrums sind exogener wie endogener Natur. Die Internationalisierung und Europäisierung sowie die zunehmende Komplexität von Politik haben zu einem gesteigerten Bedarf an professioneller Verhandlungs- und Argumentationsfähigkeit geführt. Zugleich ist die Aufbereitung von Informationen wichtiger geworden. Zu den endogenen Faktoren kann der Bedeutungsverlust der traditionellen Interessenvermittlung und der sozialpartnerschaftlichen Expertise ebenso gezählt werden wie der politisch bedingte Einflussverlust der österreichischen Verbändeakteure.

4.3

Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen

Das einstige Duopol von SPÖ und ÖVP ist seit den 1980er Jahren mit mehr Konkurrenz konfrontiert. Die Grünen haben sich als eine für die Regierungsbildung relevante Partei etabliert. Aus der einstigen parlamentarischen „Restgröße“ FPÖ wurde vor allem seit den 1990er Jahren eine einflussreiche Oppositionspartei. Hand in Hand mit den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der EU-Integration Österreichs erfolgte in der Regierungspolitik ein Prioritätenwandel. Budgetkonsolidierung und Standortsicherung wurden zu leitenden Orientierungen. Dies blieb nicht ohne Folgen für die tradierten vertikalen Netzwerke, was vor allem am wachsenden Spannungsverhältnis zwischen SPÖ und ÖGB in den 1990er Jahren ersichtlich ist. Eine Akkordierung der Interessen zwischen Regierung und Verbänden war vor diesem Hintergrund ebenso erschwert realisierbar wie die zwischen den Verbänden selbst. In dem veränderten Umfeld ist ein sinkender Einfluss der Sozialpartnerschaft als politischer Mitgestaltungsfaktor zu konstatieren. Die größere inhaltliche Nähe der

schen Austrokorporatismus und Lobbying?, in: ÖZP 36 (2007), 369–388; Ferdinand Karlhofer, Filling the Gap? Korporatismus und neue Akteure in der Politikgestaltung, in: ÖZP 36 (2007), 389–403.

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Unternehmerpositionen zu jenen der Regierung lief realiter auf eine Schieflage der Interessenberücksichtigung zuungunsten des ÖGB und der AK hinaus. Darüber hinausgehende Erosionsprozesse im Muster der Sozialpartnerschaft stehen mit innerösterreichischen Entwicklungen in engstem Zusammenhang: Unter der erstmaligen Regierungskoalition von ÖVP und FPÖ/BZÖ (2000–2006) erfolgte eine Beschränkung der traditionellen paritätischen Einbindung. Für die ArbeitnehmerInnenorganisationen wurden die bedeutenden informellen Zugänge und Beteiligungsmöglichkeiten weitgehend blockiert. Ungeachtet auch damals noch funktionierender Beziehungen zwischen den Interessenorganisationen wurden Akkordierungen zwischen Verbänden und Regierung vom Regelfall bei einschlägigen Materien zur seltenen Ausnahme. Die Koalition zwischen ÖVP und FPÖ/BZÖ deutet darauf hin, dass eine Koalitionsregierung mit Beteiligung einer Partei, die die traditionelle sozialpartnerschaftliche Einbindung in politische Prozesse dezidiert ablehnt, einschneidende Konsequenzen in Richtung Erosion der Sozialpartnerschaft insgesamt mit sich bringen kann. Dies ist nicht der einzige Grund dafür. Die wirtschaftliche und politische Internationalisierung Österreichs – insbesondere im Rahmen der EU-Gemeinschaft – führt strukturell und real zu einschneidenden Begrenzungen eines derartigen Musters.

4.4

Änderungen bei Zielsetzungen und politischen Orientierungen

Unübersehbar zeichnen sich seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, verstärkt noch nach dem EU Beitritt, Veränderungen auf Ebene der Zielsetzungen und Orientierungen einzelverbandlicher und gemeinsamer Positionen ab. Marktliberalisierung, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Entlastung von Unternehmen (z. B. im Steuerbereich) und deren Förderung (z. B. Investitions- und Forschungsförderung), Privatisierung des bedeutenden verstaatlichten Sektors, Budgetsanierung durch Ausgabenkürzungen (auch im Bereich sozialer Sicherung) wurden – von den Unternehmervertretungen verstärkt forciert – zu Leitlinien staatlicher Politik. Lohnzurückhaltung und Flexibilisierung der Arbeitszeit fanden Eingang in die Kollektivvertragspolitik. Die Betonung von Wettbewerb und Wirtschaftswachstum ist nicht neu, sie zählt zum Kanon sozialpartnerschaftlichen Grundkonsenses. Neben der Nachfrage- war die Angebotsorientierung schon in den 1970er/1980er Jahren Teil der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in Reaktion auf die steigende Arbeitslosigkeit.24 Ohne sich von der Nachfrageorientierung zu verabschieden, bekam die Angebotsorien24 Emmerich T#los, Arbeitslosigkeit und beschäftigungspolitische Steuerung, in: Emmerich T#los/ Margit Wiederschwinger (Hg.), Arbeitslosigkeit, Wien 1987, 91–166.

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tierung in interessenpolitischen Optionen ein stärkeres Gewicht. In der Konkretisierung gab es durchwegs merkbare Differenzen zwischen Unternehmerund Arbeitnehmerorganisationen (z. B. betreffend steuerliche Entlastungen, Kürzungen im Sozialbereich, Flexibilisierung der Arbeitszeit), die keineswegs nur unter der rechtskonservativen Regierungskoalition (2000–2006) zum Vorschein kamen. Exemplarisch dafür stehen die Auseinandersetzungen um die Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Novellierung der Arbeitslosenversicherung. Die Kompromisse, die jeweils zwischen den Dachverbänden der Interessenorganisationen gefunden wurden, sind Beleg dafür, dass trotz gewerkschaftlicher Schwäche und Defensive die Lösungen nicht einseitig auf eine Flexibilisierung, sondern auf eine Verbindung von Flexibilität mit sozialer Abfederung hinausliefen. Allerdings spiegeln sie die eingetretene Verschiebung in den Kräfteverhältnissen.

4.5

EU-Beitritt als veränderter Rahmen für Interessenvermittlung

Der EU-Beitritt hat die politische Landkarte Österreichs wesentlich verändert, ist dafür jedoch nicht der einzige Bestimmungsfaktor. Im Gegenzug zu ihrem aktiven und offensiven Eintreten für den Beitritt Österreichs zur EU im Jahr 1995 erhielten die großen Dachverbände vorerst seitens der SPÖ/ÖVP-Regierung weitreichende Zusagen wie die gleichberechtigte Teilnahme an der österreichischen Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung betreffend EUMaterien und die räumliche Integration in die österreichische Mission in Brüssel. ÖGB, VÖI und WKÖ sind in europäische Dachverbände (Businesseurope, EGB, UEAPME) integriert, die auf EU-Ebene als Akteure im „sozialen Dialog“25 agieren. Welche Folgen hat der EU-Beitritt für die Sozialpartnerschaft als traditioneller und wesentlicher österreichischer politischer Faktor? Wesentliche Eckpunkte der gesamtwirtschaftlichen makroökonomischen Steuerung stehen mit der Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion der EU nationalstaatlichen Akteuren nicht mehr zur Disposition. Mit dem EUBeitritt hat auch die sozialpartnerschaftliche Preisregelung und -kontrolle ihre Existenzberechtigung verloren. Die EU-Mitgliedschaft Österreichs betrifft vor allem zwei zentrale Dimensionen sozialpartnerschaftlich organisierter Interessenpolitik, nämlich die Einbindung in und die akkordierte Mitgestaltung von Entscheidungsprozessen. Sie veränderte die institutionellen wie realpolitischen Möglichkeiten der Interessenpolitik der großen österreichischen Dachverbände. Im Vergleich mit deren weitreichender, unmittelbarer und paritätischer Ein25 Simone Leiber/Gerda Falkner, Sozialer Dialog der EU und nationale Sozialpartnerschaft, in: Ferdinand Karlhofer/Emmerich T#los (Hg.), Sozialpartnerschaft, Wien 2005, 159–183.

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bindung in politische Willensbildungsprozesse betreffend innerstaatlich bestimmbare Materien ist die Einbindung bei EU-Materien eine merkbar begrenzte. In erster Linie werden die Interessen der österreichischen Verbände über andere „Medien“ transportiert: über die Bundesregierung und die jeweiligen europäischen Verbände. Unmittelbar eingebunden sind die sozialpartnerschaftlich involvierten Interessenorganisationen in den Prozess der Positionsfindung des Mitgliedslandes Österreich und in die Umsetzung von EURichtlinien in österreichische Gesetze. Zugleich wurde mit der Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die Gemeinschaftsebene Lobbying für Verbändepolitik, insbesondere für die VÖI und die Landwirtschaftskammern, wichtiger. Die Mediatisierung von Interessen sowie die Reduktion auf eine reaktive Rolle (auf EU-Vorhaben und -Vorgaben) begrenzen den Gestaltungsspielraum akkordierter Politik. Es besteht eine beträchtliche Ungewissheit darüber, ob überhaupt und wie die mit der Regierung akkordierten Positionen im EUKonzert von 28 Mitgliedstaaten durchsetzbar sind. Die Vermittlung der Interessen der Verbände ist damit auch vom politischen Gewicht der österreichischen Regierung in EU-Entscheidungsprozessen abhängig. Dieses ist, wie auch bei anderen kleinen EU-Mitgliedsländern, nicht allzu hoch zu veranschlagen. Die EU-Mitgliedschaft hat nicht nur institutionelle Konsequenzen für die Sozialpartnerschaft, sondern tangiert substantiell deren Einflussmöglichkeiten: Eine Reihe von Politikfeldern, deren inhaltliche Gestaltung traditionell wesentlich durch Kompromisse der Dachverbände und auf dem Weg ihrer Akkordierung mit der nationalen Regierung bestimmt wurden, unterliegen nunmehr entscheidungsmäßig dem Reglement der EU. Akkordierungen zwischen den österreichischen Verbänden und der Regierung spielen damit nur mehr eine eingeschränkte, das Ergebnis von Entscheidungsprozessen der EU nicht mehr direkt bestimmende Rolle. Ein zentrales Kennzeichen der Sozialpartnerschaft, die Interessenabstimmung, ist grundsätzlich zum einen nur noch im Vorfeld europäischer Entscheidungsprozesse, nämlich bei der mitgliedstaatlichen Positionierung möglich. Eine andere mögliche Ebene stellt der Umsetzungsprozess von Richtlinien dar. Realiter zeigt sich allerdings, dass die Dachverbände dabei oft als jeweils partikulare Interessenvertretung fungieren. Dass Akkordierungen nationaler Verbände den Einigungsprozess der europäischen Partner im sozialen Dialog betreffend Vorhaben der EU-Kommission beeinflussen, ist nicht ausgeschlossen. Real ist dies von geringer Bedeutung. Derartige Vereinbarungen stellen eher eine Ausnahme im Bereich der dominant partikularistisch ausgerichteten Interessenvermittlung auf Gemeinschaftsebene dar. Die sozialpartnerschaftliche Kultur der Verhandlungsdemokratie ist auf Ebene der EU und insbesondere in den jüngeren Mitgliedsländern schwach ausgeprägt bzw. nicht vorhanden.

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Bei aller Europäisierung des Aktivitätsradius der Verbände und allen im Zusammenhang mit dem Beitritt getroffenen, für die österreichischen Dachverbände relevanten Regelungen – wie das verfassungsmäßig verankerte Begutachtungsrecht der Dachverbände hinsichtlich EU-Richtlinien, der bevorzugte Informationsfluss oder die räumliche Nähe zur österreichischen Vertretung in Brüssel – wird der Bedeutungsverlust, der aus dem Transfer von inhaltlichen Kompetenzen auf die Gemeinschaftsebene und der damit verbundenen Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten von Österreich betreffend EU-Politik resultiert, nicht kompensiert. Der EU-Beitritt verstärkte zudem die in Österreich seit den 1980er Jahren sich abzeichnende Verschiebung des Kräfteverhältnisses – sowohl zwischen den Arbeitgeber- und ArbeitnehmerInneninteressenorganisationen als auch zwischen den Arbeitgeberorganisationen selbst. Die prioritäre Ausrichtung der EU an wirtschaftlichen Zielen und der dominierende lobbyistische Vertretungsstil bilden für die Unternehmerverbände einen günstigeren Boden zur Durchsetzung ihrer Interessen. Der Lobbyismus großer Konzerne und von Unternehmerorganisationen ist ungleich breiter institutionalisiert, verfügt über ungleich mehr personelle und finanzielle Ressourcen als die ArbeitnehmerInnenvertretungen.26 Die traditionelle Schieflage der EU-Politik zulasten der sozialen Dimension, deren Ausbau eines der Kernziele der europäischen ArbeitnehmerInneninteressen darstellt, ist in den wirtschafts-, finanz- und budgetrelevanten Aktivitäten der EU-Kommission seit Ausbruch der Wirtschaftskrise besonders deutlich geworden. Die Verschiebung des politischen Bedeutungsgewichtes innerhalb der Unternehmervertretungen resultiert aus dem unterschiedlichen Gewicht ihrer europäischen Dachverbände. Die VÖI ist Mitglied des wichtigsten Arbeitgeberverbandes auf Gemeinschaftsebene, der zudem einer der drei in den Sozialen Dialog eingebundenen Verbände ist (Businesseurope, früher UNICE). Im Unterschied dazu kann die WKÖ aufgrund der kammerspezifischen Pflichtmitgliedschaft nur Mitglied der weniger bedeutenden Dachorganisation des Handwerks sowie der kleinen und mittleren Unternehmen (UEAPME) sein.

5.

Sozialpartnerschaftliche Kontinuitäten

Die seit mehr als zwei Jahrzehnten auf den verschiedenen Ebenen feststellbaren Entwicklungen haben die politische Landkarte Österreichs generell, das „Gesicht“ des politischen Gestaltungsfaktors Sozialpartnerschaft im Besonderen verändert. Die angeführten Veränderungen schließen allerdings Kontinuitäten 26 Alice Wagner/Valentin Wedl, Lobbyismus in Europa, Infobrief eu& international, Wien 2011.

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der sozialpartnerschaftlichen Tradition keineswegs aus. Dies ist an einigen Aspekten ablesbar :

5.1

Politischer Grundkonsens und öffentliche Akzeptanz

Der traditionelle Grundkonsens über die Orientierung an gemeinsamen bzw. an gesamtwirtschaftlichen Zielen ist aufrecht. In der Vereinbarung aus 1992 heißt es: „Die bisherige, auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit basierende, Kooperation der Sozialpartner war von dem Bewusstsein getragen, dass durch eine sinnvolle Zusammenarbeit am besten die Ziele eines beschleunigten Wachstums und einer Steigerung des Volkseinkommens angestrebt und erreicht werden können.“ Eng damit verbunden ist das Festhalten am traditionellen Stil der Interessenvermittlung: „Sozialpartnerschaft ist gekennzeichnet durch eine besondere Art der Gesprächs- und Verhandlungskultur und durch die Bereitschaft der beteiligten Verbände, Kompromisse nach außen und innen durchzustehen und unterschiedliche Interessen unter Bedachtnahme auf mittelfristige gemeinsame Ziele und gesamtwirtschaftliche Interessen zu vertreten. Dies bedingt eine permanente Gesprächsbasis und einen laufenden Informationsaustausch“27. Die Deklaration der vier großen Dachverbände „Austria 2016“ vom September 2006 enthält ähnliche Vorstellungen: „Zentrales Ziel der österreichischen Sozialpartner ist die Absicherung und weitere Steigerung des Wohlstandes für alle Bevölkerungsschichten durch eine Stärkung des Wirtschaftsstandortes Österreich. Durch eine nachhaltige Wachstumspolitik soll Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2016 erreicht werden (…) Die Sozialpartner stehen für eine umfassende Mitgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik durch faire Zusammenarbeit und Partnerschaft mit allen verantwortlichen Entscheidungsträgern. Sie sehen sich als Mitgestalter der Zukunft und werden ihre Expertise, Praxisorientiertheit und Handlungskompetenz in so wichtigen Bereichen wie der Aus- und Weiterbildung, der Wirtschaftspolitik, dem Arbeitsmarkt und der sozialen Sicherheit verstärken.“ Übereinstimmend wird betont, dass es um die Herstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen wirtschafts-, budgetpolitischen und sozialen Zielen sowie eine ausgewogene Berücksichtigung der Angebots- und Nachfrageseite geht.28 Das Bekenntnis der involvierten Akteure zur Zusammenarbeit ist auch unter EU-Bedingungen weiterhin aufrecht; es besteht Konsens über den notwendigen und unverzichtbaren Beitrag der Sozialpartnerschaft zur Krisenlösung: Hier sei 27 Zit. in Ferdinand Karlhofer/Emmerich T#los, Sozialpartnerschaft und EU, Wien 1996, 207, 211. 28 Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, Zukunft Europa, Bad Ischl 15. 10. 2012.

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beispielhaft auf die annähernd gleichlautenden Stellungnahmen der Präsidenten der sozialpartnerschaftlich involvierten Verbände und des Sozialministers im Rahmen der parlamentarischen Enquete zur Sozialpartnerschaft im 21. Jahrhundert (April 2011) sowie im Rahmen der Tagung des Beirates für Wirtschaftsund Sozialfragen (2014) verwiesen. Die österreichischen Sozialpartnerverbände treten in gemeinsamen Positionspapieren für den Ausbau der Sozialpartnerschaft ebenso wie für den Ausbau der Demokratie und Partizipation auf EUEbene ein.29 Letzteres entgegen der Kommissionsstrategie, die auf eine Stärkung der Entscheidungskompetenzen des Exekutivapparates und eine Schwächung demokratischer Institutionen hinausläuft.30 In Abgrenzung zur Schieflage der von der Kommission und vom Rat verfolgten wirtschafts- und budgetpolitischen Prioritäten wird die Verbindung von wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Fortschritt, die Gemeinsamkeit bzw. die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen betont.31 Diese interessenpolitische Orientierung liegt zwar auf Linie der sozialpartnerschaftlichen Tradition, war aber bisher nicht auf die EU mit ihrer Schlagseite zugunsten der „Marktinteressen“ übertragbar. Das traditionell hohe Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sozialpartnerschaft und deren Träger ist nach wie vor gegeben.32

5.2

Sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit und Interessenabstimmung

Neben den angesprochenen Veränderungen auf Ebene institutionalisierter Kooperation gab es diesbezüglich durchaus auch Kontinuitäten. Hier sei sowohl auf die bereits angesprochene Mitgestaltung auf allen drei Ebenen des AMS, im Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen oder im Rahmen der Kollektivvertragspolitik hingewiesen. Die inhaltliche Akkordierung der Verbändepositionen ist in erster Linie an den Aktivitäten des Beirates für Wirtschafts- und Sozialfragen ersichtlich. In dessen Rahmen wurden eine Reihe von gemeinsamen Positionspapieren beschlossen: „Österreich und die internationale Finanzkrise“ (2009), „Zukunft der Wettbewerbspolitik“ (2010), „Zukunft Europa“ (2012), „Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in Österreich und Europa“ (2014), „Bildungsfunda29 Ebd. 30 Lukas Oberndorfer, Die Renaissance des autoritären Liberalismus?, in: Prokla (2012) 413–431; ders., Vom neuen, über den autoritären zum progressiven Konstitutionalismus, in: Juridicum (2013) 76–86. 31 Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, Zukunft Europa, 2012. 32 Tobias Hinterseer, Sozialpartnerschaft in Zeiten der Krise, in: WISO 37 (2014) 2, 135–147; Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft, Vertrauen in Institutionen im Zeitverlauf, Wien 2015.

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mente“ (2013), „Europäische Wirtschaftspolitik zum Abbau der Ungleichgewichte“ (2012). In der Koalition von SPÖ und ÖVP (ab 2007) erfuhr die Praxis der sozialpartnerschaftlichen Abstimmung untereinander und mit der Regierung ein Revival. Akkordiert wurden beispielsweise Maßnahmen gegen Schwarzarbeit und Sozialbetrug, das Jugendbeschäftigungspaket, der Aktionsplan für ältere ArbeitnehmerInnen. Sozialpartnerschaftliche Kooperation und Mitgestaltung spielte dann auch eine wesentliche Rolle bei der Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise – ablesbar am akkordierten Arbeitsmarktpaket und am Beschäftigungsförderungsgesetz aus 2009. Akkordierungen erfolgten auch bei Materien wie der Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes, der Bildungsreform oder Reform der Arbeitszeit. Aktuelle Beispiele für inhaltliche Kompromisse sind die Behinderteneinstellungsnovelle und das Vereinbarkeitspaket betreffend die Rechte für Mütter und Väter am Arbeitsplatz. Der seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verfolgte Weg, atypische, flexibilisiert Beschäftigte wie neue Selbstständige, freie DienstnehmerInnen oder LeiharbeiterInnen in den sozialen Schutz einzubeziehen33, wurde nach der Abwahl der schwarz-blauen/orangen Regierung fortgesetzt: Die freien DienstnehmerInnen sind mit ihrer Arbeitslosenpflichtversicherung nunmehr in alle Bereiche der sozialen Sicherung einbezogen – im Abtausch mit der Möglichkeit der freiwilligen Arbeitslosenversicherung von Selbstständigen. Die LeiharbeiterInnen erhielten einen eigenständigen, ihre Bedingungen deutlich verbessernden Kollektivvertrag. Kontinuität ist auch für das Kollektivvertragssystem zu konstatieren, und zwar sowohl im Hinblick auf den nach wie vor vergleichsweise sehr hohen Deckungsgrad als auch auf die Einkommensungleichheit zwischen Branchen und Geschlechtern. Die auch für die jüngere Entwicklung feststellbaren sozialpartnerschaftlichen Interessenabstimmungen bedeuten nicht, dass zurzeit Interessenpolitik in Österreich ohne Konflikte und Dissens realisiert wird. Es gibt Materien, bei denen sich eine Akkordierung nicht abzeichnet bzw. deutlich erschwert ist. Beispiele dafür sind die Materien Steuerpolitik/Vermögensteuern, die weitere Ausweitung der Flexibilisierung der Arbeitszeit, weitere Änderungen des Pensionssystems oder die Frage des Freihandelsabkommens zwischen den USA und der EU (TTIP). Die Interessenakkordierung ist unter Krisenbedingungen und bei zunehmender Interessenheterogenität in den Verbänden und zwischen diesen schwieriger geworden.

33 Martin Kronauer/Gudrun Linne (Hg.), Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität, Berlin 2005, 9–28.

180 5.3

Emmerich Tálos

Einbindung in Regierungsvorhaben

Ebenso wie bei den vorausgehenden Regierungserklärungen (2006, 2009) hat die Regierung in ihrem letzten Programm (Arbeitsprogramm 2013) nicht nur die Absicht deklariert, die Sozialpartnerverbände in diverse Regierungsaktivitäten einzubeziehen (z. B. betreffend die Evaluierung des „Fiskalpaktes“, in die Beratung der Novellierung des Kinderbetreuungsgeldes, in die Erarbeitung von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von „Praktikanten“). Sie beabsichtigt, diese beispielsweise auch bei bestimmten Materien wie der Festlegung der Ausbildungsstunden an Berufsschulen, an der Steuerreform, an der Prüfung und Beseitigung von Diskriminierungen von Frauen zu beteiligen. Die SPÖ/ ÖVP-Regierung hat einen wesentlichen Aspekt der institutionellen Voraussetzungen der Sozialpartnerschaft, das Kammernsystem (als Form der nicht-territorialen Selbstverwaltung), mit einer Verfassungsergänzung abgesichert (2007). Zudem liegt nach wie vor die Gestaltung wichtiger Materien – wie die Arbeitslosen- und Pensionsversicherung – im Kompetenzbereich österreichischer Politik mit Einflussmöglichkeit der Interessenorganisationen.

5.4

Erfolge der Sozialpartnerschaft

In der Literatur besteht weitgehend Konsens, dass Sozialpartnerschaft zur günstigen wirtschaftlichen und sozialen Performance Österreichs in den Nachkriegsjahrzehnten einen wichtigen Beitrag geleistet hat.34 Neue Studien belegen dies auch für die jüngste Entwicklung. Der Vergleich mit Ländern, in denen es eine tripartite Tradition der Interessenpolitik nicht gab bzw. gibt, zeigt dass sozialpartnerschaftlich geprägte Länder die Wirtschaftskrise besser bewältigt haben: Österreich verzeichnet ebenso wie Deutschland oder die Niederlande eine vergleichsweise günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt, in der sozialen Absicherung und beim Wachstum des BIP.35

5.5

Eigeninteresse der Akteure

Die Aufrechterhaltung der Sozialpartnerschaft liegt letztlich im Interesse der involvierten Verbände. Das sozialpartnerschaftliche Muster der Interessenvermittlung bietet ein breites Spektrum institutionalisierter Möglichkeiten der Macht34 Siehe T#los, Sozialpartnerschaft, 65–67. 35 Markus Leibrecht/Silvia Rocha-Akis, Sozialpartnerschaft und makroökonomische Performance, Wirtschaftsforschungsinstitut, März 2014.

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ausübung und des politischen Einflusses – vor allem durch Einbindung in die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung bei Materien, die ihre Interessen tangieren. Die WKÖ kann auf diesem Weg auch ihre traditionelle Dominanzposition bei politischen Entscheidungen, die in Österreich getroffen werden, gegenüber der VÖI aufrechterhalten. Für den ÖGB bietet sozialpartnerschaftliche Akkordierung nicht zuletzt eine kalkulierbare Alternative zu einer unkalkulierbaren Konfliktstrategie.

Abschluss Wie aus den Ausführungen ersichtlich wird, weist die österreichische Sozialpartnerschaft bis in die jüngste Zeit Kontinuitäten auf. Im Vergleich mit ihrer Ausprägung in den 1960er/1970er Jahren ist seit geraumer Zeit ein reduzierter Aktionsradius und eingeschränkter politischer Einfluss konstatierbar. Obwohl jüngste Untersuchungen gezeigt haben, dass Länder mit sozialpartnerschaftlichen Strukturen in der Krise besser abgeschnitten haben, bildete dies bisher keinen Anstoß zur Vertiefung sozialpartnerschaftlicher Orientierung und zum Ausbau der Sozialpartnerschaft auf EU-Ebene. Warum ist das so? Es gibt auf EU-Ebene zwar einige institutionelle Voraussetzungen wie den Sozialen Dialog oder die Möglichkeit der Mitgestaltung von EU-Normen (Richtlinienvorschläge der Sozialpartner). Was fehlt, ist der Grundkonsens über gemeinsame Ziele, über die Notwendigkeit und Wichtigkeit eines Interessenausgleichs sowohl auf Ebene der Kommission, des Rates als auch der interessenpolitischen Player. Es besteht ein tiefgehender Interessendissens über die Wege aus der Krise aufgrund des Dissenses über die Grundausrichtung der EU. Es fehlt an einer Balance zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Interessen. Ein nur punktueller, beschränkter sozialer Dialog auf EU-Ebene wird zwar den Stellenwert der Sozialpartnerschaft in den Mitgliedsländern nicht mindern, aber auch nicht befördern. Es wird wohl, wenn überhaupt, nur umgekehrt gehen, nämlich durch verstärkte Anstöße seitens der Mitgliedsländer – allerdings sind dafür die Bedingungen selbst in Ländern mit sozialpartnerschaftlicher Tradition wie Österreich erschwert. Und die Zukunft der Sozialpartnerschaft in Österreich? Ausgehend vom aktuellen Stand wie auch den anerkannten positiven Auswirkungen sozialpartnerschaftlicher Interessenpolitik in der aktuellen Wirtschaftskrise ist zum einen eine „abgeschlankte“ Version der Sozialpartnerschaft zukünftig wahrscheinlich. Da allerdings davon auszugehen ist, dass die traditionelle Koalition von SPÖ und ÖVP, die ein enges Naheverhältnis zu den großen Interessenorganisationen hatten und haben, in Zukunft keineswegs wie bisher die dominante Regie-

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rungsform sein wird, ist die Wahrscheinlichkeit von zwei anderen Szenarien größer geworden: – die Reduktion der Interessenvermittlung auf punktuelle Absprachen # la Sozialpakte – wozu es Ansätze auch schon unter Schwarz-Blau gab; – die Reduktion auf bipartite Beziehungen der traditionellen Interessenorganisationen vor allem im Rahmen der Tarifpolitik. Die Auflösung jeglicher Elemente des sozialpartnerschaftlichen Musters ist für die absehbare Entwicklung nicht sehr wahrscheinlich, da zumindest auf Verbändeebene die Option der Verhandlung und Interessenabstimmung noch immer tief verankert ist.

Ulrike Schulz

„Österreich als Modellfall.“ Die Überleitung der Sozial- und Arbeitsverwaltung in Österreich durch das Reichsarbeitsministerium 1938/391

Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 12./13. März 1938 reiste der Oberregierungsrat Joachim Fischer-Dieskau aus der Abteilung Wohnungswesen im Reichsarbeitsministerium (RAM) nach Wien. In den Berliner Ministerien war man sich einig, dass nur noch wenig Zeit blieb, bis Hitler die „Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich“ verkünden würde. Das geschah offiziell am 15. März 1938. Per Erlass erteilte Hitler den Obersten Reichsbehörden den Auftrag, die Rechts- und Lebensverhältnisse in Österreich an diejenigen im Reich anzugleichen.2 Mit den Kollegen aus den anderen Ressorts nahm Fischer-Dieskau hierzu beim Stab des „Reichsbeauftragten für Österreich“, Wilhelm Keppler, Quartier. Scheinbar unbeeindruckt von der Tatsache, dass der Staat Österreich nur Tage zuvor noch souverän und eigenständig war, prüfte der Verwaltungsbeamte nun seine österreichischen Amtskollegen auf fachliche Eignung, konsultierte Experten zu Rechtsfragen und inspizierte Verwaltungsgebäude. Er erörterte in Briefen nach Berlin die verschiedenen Sachprobleme und bereitete Entscheidungsvorlagen für die Rechtsanpassungen vor.3 Angesichts des weit verzweigten Behördenapparates und der spezifischen Aufgabengebiete des RAM hatte er viele Bereiche in seiner Verantwortung. Er berichtete über die hohe Arbeitslosigkeit und wies auf das lohnpolitisch bedenkliche Stadt-Land-Gefälle hin. Er empfahl, das Wohnungselend in Wien besonders schnell „anzugehen“. Er diskutierte die Versorgung der Kriegsbeschädigten und die fehlende Invalidenversicherung für die österreichischen Arbeiter. Fischer-Dieskau verstand es – wie nebenbei und ohne einen offiziellen Briefverkehr auszulösen –, nach Berlin zu berichten, dass innerhalb von nur zwei Wochen nach dem „Anschluss“ 1 Für eine ausführliche Darstellung siehe: Ulrike Schulz, The First Takeover. The Implementation of Social Policy Measures in Austria by the Reich Labour Ministry After the Anschluss, forthcoming. 2 RGBl I, 15. März 1938, 247. 3 Joachim Fischer-Dieskau, Bericht über die Verhältnisse in Österreich, 27 Apr. 1938, BArch, R 3901, 1770, Bl. 97–99.

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Ulrike Schulz

alle Juden und politisch unliebsamen Beamten aus dem Ministerium für soziale Verwaltung in Österreich „ausgeschieden waren.“4 Auf das Ganze gesehen erwartete er für die Übernahme der Steuerung sozialpolitischer Aufgaben durch das deutsche Arbeitsministerium Schwierigkeiten, wenn überhaupt, „nur auf organisatorischem Gebiet.“5 Doch in diesem Optimismus sah sich die Leitung des Ministeriums in Berlin genauso wie ihr Beauftragter in Wien alsbald getäuscht, denn kurz nach dem „Anschluss“ sollte ein innenpolitischer Machtkampf zwischen den deutschen Staats- und Parteibehörden um die Macht in den Amtsstuben ausbrechen, der die Position der deutschen Ministerialverwaltung nachhaltig veränderte. Der von Hitler zusätzlich zum „Reichsbeauftragten“ eingesetzte „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs“, Josef Bürckel, trachtete mit allen Mitteln, die Zuständigkeiten der österreichischen Ministerialressorts an sich zu bringen, entsprechend auch jene des Bundesministeriums für soziale Verwaltung in Österreich. Das Reichsarbeitsministerium wurde von ihm mehrfach in seiner Zuständigkeit übergangen, den Takt gaben auf einmal NSDAP-Parteigenossen vor. Das größere Bild, das sich hier abzeichnete, war die Initiative Bürckels, zusammen mit der Münchener Parteizentrale sowie dem Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, die Übernahme Österreichs als Anlass zu nutzen, um die Einflussnahme der Obersten Reichsbehörden in den Gauen endgültig zu beschränken.6 Von diesen politischen Turbulenzen wiederum gänzlich unberührt arbeiteten die Beamten im RAM die Wochen und Monate nach dem „Anschluss“ an der von ihnen zu bewältigenden Rechtsvereinheitlichung. Sie bemühten sich, die Steuerung der österreichischen Behörden von Berlin aus einzurichten. In ihren jeweiligen Spezialbereichen erarbeiteten die Beamten die erforderlichen Anpassungen, indem sie die vorher bereits bestandenen zwischenstaatlichen Vereinbarungen studierten, die Unterschiede in den Gesetzesvorlagen in beiden Ländern evaluierten, den Kosten- und Personalbedarf für die Überleitung errechneten etc. Mit dieser Arbeit schufen sie ihrerseits Fakten, die mindestens genauso nachhaltig wirkten wie die von der großen Politik geschaffenen. Es waren diese drei Prozesse, die den Transfer sozial- und arbeitspolitsicher Regelungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und Österreich zwischen 1938 bis 1945 bestimmten: 1. Das RAM war – und blieb – bis Kriegs4 Kerber an Meves, betr. GVP Ministerium in Österreich, 9 Apr. 1938, BArch, R 3901, 1770, Bl. 94. 5 Joachim Fischer-Dieskau, Österreich kehrt ins Reich zurück, Reichsarbeitsblatt (Rabl), 9 (1938), 93. 6 Reichskanzlei an Frick, Saarpfalz und Österreichgesetz, 06 Aug. 1938, BArch, R 43 II, 1353a, Bl. 47–61; Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg: Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989, 208–212.

Die Überleitung der Sozial- und Arbeitsverwaltung in Österreich

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ende zuständig für die Sozial- und Arbeitsverwaltung in Österreich. Es setzte den rechtlichen Rahmen nationalsozialistisch ausgeformter Sozialpolitik. 2. Dabei hatte das RAM empfindliche Kompetenzbeschränkung durch NSDAP-Behörden, allen voran den Gauleitern in den sieben entstandenen österreichischen Gauen hinzunehmen. Die darauf teils auf persönlicher Machtfülle Einzelner erfolgten Regelungen in der Verwaltungsorganisation hatten wiederum Rückwirkungen auf die Einrichtung der deutschen Besatzungsverwaltung in Österreich. 3. Diese Machteinbuße der Fachverwaltungen und auch des RAM wurde jedoch dadurch kompensiert, dass die Beamten des RAM in den Detailproblemen der Verwaltungsarbeit und für die Rahmengesetzgebung federführend blieben. Auch die Beschäftigung mit der Sozial- und Arbeitspolitik als einem Teilaspekt der deutschen Besatzungspolitik in Österreich zwischen 1938–1945 kann sich nicht der Diskussion entziehen, ob sich für Österreich überhaupt von Besatzung oder Annexion sprechen lasse oder ob der „Anschluss“ am 13. März 1938 an das nationalsozialistisch regierte Deutschland nicht mehr oder minder freiwillig erfolgt sei.7 Interessanterweise stellt sich mit Blick auf die Verwaltung die Lage recht eindeutig dar. Sofort nach dem „Anschluss“ entstanden Unterstellungsverhältnisse, die es rechtfertigen, das Verhältnis zwischen Deutschen und ÖsterreicherInnen als eines zwischen Besatzern und Besetzten zu beschreiben. In der Verwaltung wurde der persönliche Wille Hitlers, Österreich zu einem deutschem „Stammland“ zu machen, umstandslos exekutiert; das bilaterale Verhandeln zweier souveräner Staaten war schon kurz nach dem 13. März 1938 vorbei. Die so vollzogene Übernahme auf der großen politischen Bühne übersetzte sich in die einzelnen Verwaltungsbereiche der entsprechenden Politikfelder – so auch die Sozial- und Arbeitsverwaltung. Schon für Oberregierungsrat Joachim Fischer-Dieskau gab es keinen Zweifel über sein Mandat. Er moderierte Gespräche zwischen der Leitung des RAM und des ehemals österreichischen Sozialministeriums in dem sicheren Wissen, wer die Entscheidungen traf und wer sie auszuführen hatte. Um diese Machtbeziehung zu realisieren, musste keine physische Gewalt angewendet werden: Dieser Umstand verhält sich ähnlich zu dem aus der Forschung beschriebenen Phänomen der „indirekten Herrschaft“ im Kontext des Kolonialismus und Imperialismus.8 7 Hans Haas, Der „Anschluss“, in: Emmerich T#los (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich: ein Handbuch Wien 2000, 26–54; Mathias Krempl, Arbeitsamt und Staatsgewalt. Arbeitsmarktbehördliche Organisation und Sachfragen im politischen Wandel, in: Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis, Wien 2015, 95; Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien: Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938–1939, Wien 2008, 55–248. 8 Andreas Eckert, Herrschen und Verwalten. Afrikanische Bürokraten, staatliche Ordnung und Politik in Tanzania, 1920–1970, München 2007, 39–50; Martin Shipway, Decolonization and

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Die neue Qualität der Machtbeziehung manifestierte sich vor allem auch in der Übergabe der materiellen Ressourcen, seien es die Rentenfonds oder der Immobilienbesitz der bisherigen österreichischen Verwaltung. Nicht zuletzt ist die Lernerfahrung innerhalb dieser neuen Hierarchien zu beachten, welche die Besetzung und Besatzung Österreichs für die weitere Entwicklung der nationalsozialistischen Expansionspolitik anderthalb Jahre vor Kriegsbeginn prägend werden lässt. Juristen, Unternehmer, NSDAP-Funktionäre und eben auch Ministerialbeamte übten ihre neue Rolle als Besatzer ein. Sie erlebten diesen individuellen Machtzuwachs kollektiv und damit nochmals sozial verstärkt. Eine großzügige Sozialpolitik sowie „Lohn und Brot“ für alle war das mit großem propagandistischem Aufwand ausgegebene Versprechen von Hitler und anderen deutschen NSDAP-Funktionären. Dieses Versprechen verfehlte im Jahr 1938 seine Wirkung angesichts der teilweise dramatischen Notlage der österreichischen Bevölkerung, vor allem der Arbeiterschaft, nicht.9 Die Wirtschaftsdaten für Österreich seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1938 zeichneten ein überaus düsteres Bild. Im Jahr 1933 hatte die Arbeitslosigkeit als das mit Abstand dringendste Problem der österreichischen Wirtschaft einen Höchststand von 26 Prozent erreicht, die bis 1937 nur wenig bis auf 22 Prozent zurückging.10 Die hohe Arbeitslosigkeit sorgte wiederum für zahlreiche Folgeprobleme und brachte auch die staatlich verantwortete Absicherung gegen die Risiken wie Alter, Gesundheit und Unfall in finanzielle Notlagen. Angesichts dieser materiellen und sozialen Lage stieß nicht nur das Versprechen der Angleichung der Lebensbedingungen an das deutsche Niveau auf hohe Resonanz, sondern es schuf auch hohe Erwartungen an die Leistungsfähigkeit und finanzielle Potenz des deutschen Sozialsystems in der österreichischen Bevölkerung. Die so geweckten Heilserwartungen setzten vor allem die für die Sozial- und Arbeitspolitik zuständigen Verantwortlichen des RAM unter beträchtlichen Handlungsdruck. Ihre Aufgabe war der geregelte und dauerhafte Ablauf für die Anpassungen, der beträchtliches Personal und Budget erforderte. Im Grunde mussten die österreichischen Verwaltungsstrukturen zunächst erst einmal an die deutschen Vorgaben angeglichen werden, um diese dann in die Verwaltungsroutinen der deutschen Arbeits- und Sozialverwaltung einzupassen. Die Anpassungen mussten organisatorisch Umstellungen in den Abläufen einer BeIts Impact: A Comparative Approach to the End of Empires, Malden/Massachusetts 2008, 17–34. 9 Emmerich T#los, „Austrofaschismus und Arbeiterschaft“, in: Ilse Reiter-Zatloukal, Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien–Köln–Weimar 2012, 167–180. 10 Siehe für einen neuesten Literaturüberblick zur wirtschaftlichen Situation im Österreich der Zwischenkriegszeit und des austrofaschistischen Herrschaftssystems: Krempl, Arbeitsamt, 36–37.

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hörde wie des RAM nach sich ziehen, deren Größe und Organisation einer schnellen umstandslosen Übernahme durchaus entgegenstanden. Das deutsche Reichsarbeitsministerium war im Oktober 1919 neu gegründet worden.11 In den ersten zehn Jahren seiner Existenz war das Ministerium auf die Milderung der großen Not der Bevölkerung nach Ende des Ersten Weltkriegs ausgerichtet. Zwischen 1919 und 1929 wuchs die Organisation so schnell zu einer Art „Superministerium“. Das Ministerium war für das Lohn- und Tarifwesen, Arbeitsschutz und betriebliche Sozialpolitik, Arbeitsnachweis und -vermittlung, Berufsberatung, Arbeitsverwaltung sowie Teile des Gewerbewesens, die Arbeitslosenversicherung, die Sozialversicherung mit allen Versicherungszweigen (Unfall, Angestellte, Rente, Invalidität, Arbeitslosenversicherung), das Wohnungs- und Siedlungswesen, die Reichsversorgung vor allem der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge sowie die Verwaltung der Krankenkassen zuständig.12 Diese zahlreichen und sehr spezifischen Aufgabengebiete wurden im Laufe der Zeit auf fünf übergreifende Abteilungen in der Berliner Zentrale des Ministeriums verteilt: Allgemeine Verwaltung und Reichsversorgung (Hauptabteilung I), Sozialversicherung (Hauptabteilung II), Arbeitsrecht (Hauptabteilung III), Wohnungs- und Siedlungswesen (Hauptabteilung IV) und Arbeitsverwaltung (Hauptabteilung V). In den fünf Abteilungen bearbeiteten bis 1938 durchschnittlich fünfhundert Beamtinnen und Beamte sowie dreihundert Angestellte die Gesetzesvorlagen sowie die Strategie und konzeptionelle Ausrichtung der deutschen Arbeits- und Sozialpolitik. Ein wesentlicher weiterer Aufgabenbereich der Zentrale war es zudem, seine nachgeordneten Behörden in den Ländern und Kommunen, also der Mittel- und Unterstufe, zu koordinieren. Im Jahr des „Anschlusses“ 1938 waren vier nachgeordnete Behörden bedeutsam, die zusammen mit der Zentrale in Berlin die Sozial- und Arbeitsverwaltung organisierten: die Hauptversorgungsämter (HA I), das Reichsversicherungsamt (HA II), die Treuhänder der Arbeit (HA III) sowie die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (ab 1939 HA V des Ministeriums). Dieser nachgeordnete Bereich war in den Länderregierungen und Kommunen der verlängerte Arm der Zentrale und für die Durchsetzungsfähigkeit des Ministeriums von entscheidender Bedeutung; ein Großteil der Verwaltungsarbeit des RAM ging hier vonstatten, von der Rentenberechnung bis zur ärztlichen Begutachtung eines Versorgungsfalles. Allein die beiden größten Bereiche, die Reichsversorgung und die Arbeitsver11 Ulrike Schulz, Das Reichsarbeitsministerium 1919–1945: Organisation, Personal und politische Handlungsspielräume, in: Alexander Nützenadel (Hg.) Das Reichsarebitsministerium im Nationalsozialismus, Göttingen 2017, in Vorbereitung. 12 Hartrodt, Georg, Das Reichsarbeitsministerium. Seine Entstehung, sein Aufgabenkreis und seine Organisation. Der Behördenorganismus auf dem Arbeitsgebiet des Reichsarbeitsministeriums, in: RABl II, Nr. 1/2 (1926), 14–16.

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mittlung, beschäftigten im Stichjahr 1939 zusammen etwa rund 14.000 Beamtinnen und Beamte und 46.500 Angestellte.13 Mit dieser verzweigten Organisation des Ministeriums verbanden sich zwei bedeutsame Konsequenzen für die Behörde bei ihrer Aufgabe der Rechtsangleichung und Organisationsübernahme für die unmittelbare Phase der Angleichung 1938/39. Zum einen gingen die vier erwähnten nachgeordneten Behörden nicht in den Verwaltungsstufen der staatlichen Verwaltung der Länder, Bezirke oder Gemeinden auf. Sie bildeten jeweils eigenständige Instanzenzüge. Zum anderen hatten diese vier zwar nachgeordneten Bereiche für sich genommen keinen einheitlichen Behördenaufbau. So umfassten beispielsweise die Verwaltungsbezirke der Treuhänder der Arbeit ein größeres Territorium, um möglichst unterschiedliche Branchen und Wirtschaftsstrukturen abzudecken. Welche Kommunen sie dabei einschlossen, war für diese Bezirkseinteilung zweitrangig. Ähnliches galt für die Errichtung der Arbeitsämter, die sich ebenfalls nicht nach Kreisen oder Kommunen ausrichtete, sondern nach der Bevölkerungsdichte oder dem Bedarf eines Industriestandortes. Angesichts dieser Verwaltungsstruktur erklärt sich, warum der Staatssekretär im RAM, Johannes Krohn, so sehr darauf drängte, die Verwaltungsorganisation des Ministeriums in den österreichischen Ländern bis in die Details nach dem deutschen Vorbild auszurichten: „Die beiden leitenden Gesichtspunkte für mich sind die, ein möglichst getreues Spiegelbild des Reichsarbeitsministeriums […] zu schaffen.“14 Aus Sicht der Leitung des RAM mussten die unterschiedlichen Aufgabengebiete in der dafür eingespielten Organisation bearbeitet werden – vor allem auch deswegen, da die Einrichtung der Verwaltungsstränge in der „Ostmark“ zusätzlich zu dem normalen Arbeitsaufkommen zu erledigen war. Zugleich schützte der eigene Behördenaufbau nach außen gegenüber den Organisationen und Gliederungen der NSDAP, die auf die Kompetenzen und Ressourcen des Ministeriums zugreifen wollten – eine Erfahrung, die man seit 1933 verstärkt gemacht hatte. Bei der Übernahme der österreichischen Sozial- und Arbeitsverwaltung jedoch wurde der bisherige Status quo im „Altreich“ durchbrochen. Starke Akteure der Partei, allen voran Bürckel, setzen nun durch, dass die Ministerialverwaltung zurückgedrängt wurde: Das RAM büßte noch im Laufe des Jahres 1938 Teile seiner Verwaltungshoheit ein. Schon in der Weimarer Republik störten sich Landes- und Kommunalpolitiker wie auch Verwaltungsexperten an der so aufgebauten Arbeits- und Sozialverwaltung durch das RAM in Deutschland. Sie bekämpften sie als eine 13 Schulz, Reichsarbeitsministerium, vgl. oben Fußnote 11. 14 Krohn an Minister, Zuschnitt Geschäftsbereich, 09 June 1938, BArch, R 3901, 1770, Bl. 240–242.

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komplizierte Sonderverwaltung, es fehlte jedoch die in der Weimarer Republik so umstrittene Reichsreform, um hier klare Zuständigkeiten zu schaffen. Diese Reichsreform war auch nach der Machtübernahme Hitlers bis 1938 immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten zwischen den Ministerien, den hinzutretenden NSDAP-Behörden sowie der Gauleiter gewesen. Mit dem „Anschluss“ trieben die Auseinandersetzungen auf einen nächsten Höhepunkt zu. Die Parteielite in München wollte im Verein mit Bürckel den außenpolitischen Erfolg des „Anschlusses“ nutzen und endlich einen Durchbruch zu ihren Gunsten erzielen. Die Gaue sollten alle Verwaltungskompetenzen in der Mittelstufe unter der Führung der Gauleiter vereinen; die zentrale Reichsverwaltung in Berlin entsprechend ihre Zuständigkeitsbereiche und Budgethoheit in den Gauen aufgeben.15 Josef Bürckel fasste es als seine persönliche Mission auf, klare Verhältnisse nicht nur für Österreich zu schaffen, sondern Österreich auch zum Modell für das „Altreich“ werden zu lassen. Nachdem Bürckel nach der Volksabstimmung im April 1938 den Posten des „Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs“ bis zur endgültigen Überführung durch das sogenannte „Ostmarkgesetz“16 erhalten hatte, verstand er es, die nötigen Abstimmungsprozesse zwischen den Ressorts für seine Zwecke zu nutzen. Indem er immer wieder neue Forderungen stellte, schürte er den Streit und schuf zugleich ein machtpolitisches Vakuum, das sich auf eine Entscheidung Hitlers zuspitzte. Bürckel erreichte auf diese Weise, dass die Entscheidung über die neu zu errichtenden Verwaltungsbezirke in Österreich bis zum Herbst 1938 ausblieb. Ohne klare Verwaltungsgebiete wiederum konnten die Ministerien über ihren weitverzweigten Verwaltungsunterbau nicht bestimmen und die Rechtsangleichung nur sehr eingeschränkt vorantreiben. Zeitgleich besetzte Bürckel Schlüsselpositionen mit Vertrauten und hielt vor allem die Referenten der Ministerien von Entscheidungsvorlagen gezielt fern. So wurde das RAM beispielsweise an der Entscheidung, das Bundesministerium für Soziale Verwaltung auf österreichischer Seite aufzulösen und Teile seiner Zuständigkeitsbereiche in das Wirtschafts- bzw. Handelsministerium aufzuteilen, nicht beteiligt. Auch zu den entsprechenden Diskussionen über seinen Zustän-

15 Die Gauleiter und Reichsstatthalter hatten nach der Auflösung der Länder durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934 zwar die politische Führung über die Länder erhalten. Die Reichsministerien aber hatten durch dasselbe Gesetz die Hoheit über die Steuereinkünfte der Länder erhalten. Ohne die Budgethoheit und ohne auch den Zugriff auf die jeweiligen nachgeordneten Behörden der Ministerien in der Verwaltungsstufe der Länder und Kommunen (Mittelstufe) konnte von einer Eigenständigkeit der Gauverwaltungen keine Rede sein, vgl. Radomir Luzˇa, Österreich und die großdeutsche Idee in der NSZeit, Wien 1977, 157–159. 16 RGBl I 1939, 777.

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digkeitsbereich im „Ostmarkgesetz“, das Bürckel federführend mit dem Innenressort auflegte, wurde der Reichsarbeitsminister nicht hinzugezogen.17 Ein solches Übergehen war ein im Geschäftsgang von Ministerien unerhörtes Ereignis. Sie setzten die Handlungsfähigkeit der Ministerialverwaltung außer Kraft und zugleich gab es für sie auf dieser Ebene des politischen Schlagabtauschs keine legitime Möglichkeit zur Gegenreaktion. Das politische Ränkespiel gelang Bürckel auch deswegen, weil Hitler ihm hierzu freie Hand ließ. Zwar passte diesem der monatelang währende Streit und die damit verbundenen Verzögerungen beim Auflegen des „Ostmarkgesetzes“ gar nicht, aber er fällte – wohl bewusst – auch keine Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Partei. Es war durchaus Hitlers Ansinnen, die Ministerialverwaltung aus der Länderverwaltung zurückzudrängen und stattdessen den Gauleitern mehr Kompetenzen zuzueignen. Zugleich wollte er aber nicht so weit gehen, die Verwaltungsorganisation im Reich in ihrem grundsätzlichen Funktionieren zu gefährden. Das zeigte sich besonders deutlich an den kurz darauf von ihm legitimierten Regelungen zur Verwaltungsorganisation der neu besetzten Gebiete Sudetenland, dem Protektorat Böhmen/Mähren sowie bei der Besetzung Polens. Außer in den Bereichen Post, Finanzen und Reichsbahn wurde die Ministerialverwaltung hier weitgehend aus den politischen Entscheidungsprozessen zugunsten der Gauverwaltungen hinausgedrängt. Die Erfahrung in Österreich war also nur der Anfang. Sie markierte für beträchtliche Teile der deutschen Fachverwaltungen die Einbuße von Entscheidungsspielräumen, wenn es fortan um die besetzten Gebiete ging. Die Kompromisslinie dieses Konflikts war es, dass man sich darauf einigte, dass die politische Entscheidungskompetenz bei den Gauleitern lag und die „sachlichen“ Aufgaben bei den nachgeordneten Behörden verblieben. Diese Unterscheidung wurde in den unterschiedlichen besetzten Gebieten dann sehr unterschiedlich ausgelegt und getroffen und muss im Einzelnen erforscht werden. Die Machteinbuße des RAM wirkte sich auf der Ebene politischer Entscheidung durchaus drastisch aus. In der Verwaltungspraxis jedoch kamen sie nur eingeschränkt zum Tragen, denn die „sachthematischen Aufgaben“ waren so komplex, dass keine NSDAP-Behörde diese ohne weiteres in eigener Regie übernehmen konnte. Die Dienststellen der Treuhänder und Arbeitsämter beispielsweise blieben faktisch weiterhin vom RAM beaufsichtigt; seine Beamten wurden aus dem Reich nach Österreich beordert, um fast immer die Spitzenposten vor Ort zu übernehmen.18 Nicht zuletzt verwaltete das RAM weiterhin große Teile des Haushalts, in den ab 1939 auch die regelmäßigen Ausgaben für 17 Franz Seldte, Aufbau der Verwaltung in der Ostmark, 27 Aug. 1939, BArch, R 3901, 1771, Bl. 31–33. 18 Krempl, Arbeitsamt, 122–129.

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die Positionen der „Ostmark“ eingestellt wurden. Die Budgethoheit, die Funktion des Gesetzgebers und nicht zuletzt die Expertise in den teilweise sehr technischen Fragen ließen sich nur sehr bedingt ohne die dafür notwendige spezifische Ausbildung erfüllen. Dies führte dazu, dass die staatliche Sozial- und Arbeitsverwaltung in der Praxis weiterhin (wenn auch relativ unbeobachtet) und in ihrer Tragweite wesentliche politische Entscheidungen in ihren Funktionsbereichen traf und auch durchsetzte. Wie sich die Übernahme der einzelnen Politikfelder – von der Arbeitsverwaltung bis zur Angestelltenversicherung – im Einzelnen gestaltete, wurde bisher kaum erforscht. Allerdings lässt sich nur über die konkreten Maßnahmen in den Politikfeldern auch das Ausmaß des Transfers von gesetzlichen Regelungen, Verwaltungsorganisation und gegenseitiger Beeinflussung bestimmen, der in der Arbeits- und Sozialverwaltung von Deutschland nach Österreich im Zuge des „Anschlusses“ bzw. im Übergang 1938/39 vonstatten ging. Das Beispiel der Angestelltenversicherung etwa zeigt, dass zwar die Organisation zentral über Berlin lief, die Rechtsanpassung aber nicht vollständig vollzogen wurde, vor allem auch, weil Österreich keine der deutschen „unterlegene“ Versicherungsregelung hatte, sondern im Gegenteil mehr an seine Versicherten ausbezahlte als das in Deutschland der Fall war.19 Weitere empirische Forschung wird hier dringend nötig sein, um mehr über die konkrete Besatzungsverwaltung zwischen den österreichischen und deutschen Behörden zu erfahren.

19 Schulz, The First Takeover, vgl. Fußnote 1.

Martin Münzel

Das Führungspersonal des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und seiner Vorgängerbehörden 1945–1960

– Abstract –* Während die Ausgestaltung der bundesdeutschen Arbeits- und Sozialpolitik nach 1945 und dabei auch die Rolle des Bundesministeriums für Arbeit intensiv untersucht und breit dargestellt worden ist, haben die Personalstrukturen des haushaltsstärksten Bonner Ministeriums in der frühen Bundesrepublik und seiner Vorgängerbehörden in der Besatzungszeit bisher kaum Beachtung gefunden. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden eine knappe Übersicht darüber gegeben, wie sich der Mitarbeiterstab der zentralen westdeutschen Arbeitsbehörden vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1960 zusammensetzte und welche Zäsuren und Kontinuitätslinien sich für diesen Zeitraum ausmachen lassen. Ausgehend von der britischen Besatzungszone umreißt der Kurzbeitrag zunächst die behördlichen Strukturen, bevor er auf die personellen Entwicklungen und schließlich auf die NS-Vergangenheit von MitarbeiterInnen der obersten Behördenebenen eingeht. Das hierfür zugrunde gelegte Personensample umfasst für die Jahre bis 1949 die Beschäftigten ab der Referentenebene sowie für die Frühzeit des Ministeriums 1949–1960 alle BeamtInnen von den RegierungsdirektorInnen aufwärts – das sind insgesamt 141 Personen.

* Das Abstract basiert auf Ergebnissen eines Forschungsprojekts zum Spitzenpersonal der zentralen west- und ostdeutschen Arbeitsbehörden zwischen 1945 und 1960, das innerhalb der 2013 berufenen „Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus“ bearbeitet wird. Ein ausführlicher Aufsatz des Verfassers hierzu wird in einem vom Sprecher der Kommission Alexander Nützenadel herausgegebenen Sammelband zur Geschichte des Reichsarbeitsministeriums veröffentlicht, der Mitte 2017 im Wallstein Verlag erscheint.

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I.

Martin Münzel

Behördliche Kontinuitätslinien

Die westdeutschen Arbeitsbehörden nahmen ihre Arbeit schon bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder auf, zunächst auf lokaler und kommunaler, schließlich auch auf zentraler Ebene. In den Blickpunkt rückt hierbei insbesondere die britische Besatzungszone, in der ab Sommer 1945 zehn Zentralämter als maßgebliche Verwaltungsbehörden errichtet wurden, deren Zuschnitt sich an den früheren Reichsministerien orientierte. Eines davon war das im März 1946 entstandene „Zentralamt für Arbeit“ (ZfA) im ostwestfälischen Lemgo, das sich mit seiner Zuständigkeit für die Arbeitsvermittlung, das Arbeitsrecht, das Sozialversicherungswesen und den Bereich Städtebau/Wohnungswesen in organisatorischer Hinsicht zur „Keimzelle“ des Bundesministeriums für Arbeit entwickelte. 15 Monate nach der Zusammenlegung von amerikanischer und britischer Besatzungszone übernahm im September 1948 in der sogenannten Bizone die „Verwaltung für Arbeit“ (VfA) mit Sitz in Frankfurt am Main Aufgaben und Personal des ZfA. Schließlich war bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland die Notwendigkeit eines eigenen Arbeitsministeriums unumstritten, und im Oktober 1949 nahm das Bundesministerium für Arbeit (BMA) in Bonn seine Arbeit auf. Die Zuständigkeit für Städtebau und Wohnungswesen ging angesichts der enormen Herausforderungen auf diesem Gebiet indes auf ein eigenständiges Bundesministerium für Wohnungsbau über.

II.

Personelle Strukturen

Das Kriegsende 1945 zog für die BeamtInnen des untergegangenen Reichsarbeitsministeriums unmittelbar tiefe Einschnitte nach sich. Sie wurden aus dem Staatsdienst entlassen, waren zum Teil von einem automatischen Massenarrest betroffen, und für viele von ihnen begannen Jahre der Ungewissheit und des Kampfes um die bürgerliche Existenz. Gleichzeitig machten sich die Alliierten die Fachkenntnisse der deutschen Verwaltungselite zunutze, indem sie im Ministerial Collecting Center in Hessisch Lichtenau südöstlich von Kassel mehr als 1.200 ehemalige Ministerialangehörige, darunter 14 frühere höhere MitarbeiterInnen des Reichsarbeitsministeriums, mit der Erstellung von Denkschriften und Gutachten beauftragten. Im erwähnten Zentralamt für Arbeit signalisierte die Besetzung der Leitungsposten zunächst einen klaren Neubeginn. Sowohl bei Präsident Julius Scheuble (1890–1964) als auch bei Vizepräsident Walter Auerbach (1905–1975) handelte es sich um politisch unbescholtene und zugleich fachlich erfahrene Persönlichkeiten mit Gewerkschaftsvergangenheit. Auch darüber hinaus kamen gut 45 % aller erfassten ZfA-ReferentInnen weder aus dem alten Reichsarbeits-

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ministerium noch aus einer seiner nachgeordneten Behörden; bei vergleichsweise vielen handelte es sich um QuereinsteigerInnen oder lokale ExpertInnen. Schon bei der Überleitung der Behörde auf die Verwaltung für Arbeit zeichnete sich jedoch nicht zuletzt angesichts einer eklatanten Personalnot und eines Mangels an hochspezialisierten Fachkräften ab 1948 ein Wandel ab. Während Julius Scheuble nur Vizedirektor der VfA wurde und sich Walter Auerbach resigniert zurückzog, sank der Anteil von außen kommender MitarbeiterInnen auf insgesamt ein knappes Drittel. Eine noch stärkere Zäsur zog dann die Gründung des Bundesministeriums für Arbeit nach sich. Generell wurden in der ersten Bundesregierung und den neu gebildeten Ministerien zahlreiche BeamtInnen aus ehemaligen Reichsbehörden in Schlüsselpositionen gehievt und dabei zugleich sozialdemokratische Einflüsse zurückgedrängt. Und auch im BMA griffen die schlagartige Vergrößerung des Mitarbeiterkorpus und eine sprunghafte personelle Rekonstruktion ineinander : Im Laufe des Jahres 1950 erhöhte sich der Anteil derjenigen SpitzenbeamtInnen, die bereits im Reichsarbeitsministerium beschäftigt gewesen waren, auf 52,2 %. Bei einem nicht geringen Teil von ihnen handelte es sich allerdings um Angehörige der Geburtsjahrgänge vor 1890, die bereits binnen weniger Jahre in den Ruhestand traten. Besonders stabil war bis 1960 hingegen der etwa bei einem Drittel liegende Anteil früherer Beschäftigter aus den nachgeordneten Behörden des Reichsarbeitsministeriums. Mit Blick auf einzelne Personalien schien die Ernennung des (1948 schon zum Direktor der VfA gewählten) ersten Bundesarbeitsministers Anton Storch (1892–1975), eines profilierten, 1933 entlassenen Gewerkschaftsvertreters, wiederum eine personelle Diskontinuität zu demonstrieren. Zu bedenken ist gleichwohl, dass Storchs Position eher schwach blieb und er nur gegen heftige Widerstände ins Amt kam, die vor allem von seiner Offenheit gegenüber der Idee einer Einheitsversicherung herrührten. Identitätsstiftende Bedeutung kam bei der Neuetablierung des Arbeitsministeriums nämlich vielmehr der Abteilung IV (Sozialversicherung) zu, deren ProtagonistInnen sich gerade den Erhalt der – auch in der NS-Zeit bedrohten – „klassischen“ deutschen Sozialversicherung mit einer Selbstständigkeit der einzelnen Versicherungszweige und einer Vielfalt von Versicherungsträgern auf die Fahnen geschrieben hatten. Mit Maximilian Sauerborn (1889–1963) wurde Storch daher nicht zufällig ein mächtiger Staatssekretär an die Seite gestellt, der schon seit 1923 dem Reichsarbeitsministerium angehört hatte und als Hüter dieser Tradition par excellence gelten konnte. Als Schlüsselfigur außerhalb des BMA ist in diesem Zusammenhang auch Johannes Krohn (1884–1974) zu erwähnen, von 1933 bis 1939 Staatssekretär im Reichsarbeitsministerium. Krohn avancierte zum zentralen Hoffnungsträger, der sich mit bemerkenswertem Erfolg gegen die Einheitsversi-

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cherung und überdies für die Bewahrung des traditionellen Berufsbeamtentums engagierte. Unter den Abteilungsleitern des frühen Bundesarbeitsministeriums, die auf unterschiedliche Weise für eine personelle Diskontinuität standen, bleiben Professor Wilhelm Herschel (1895–1986) und Rudolf Petz (1904–1970) hervorzuheben. Herschel, einem aus der Wissenschaft kommenden renommierten Juristen ohne Ministerialerfahrung, kam an der Spitze der Abteilung III (Arbeitsrecht, Lohn-, Tarif- und Schlichtungswesen, Arbeitsschutz) insofern eine besondere Bedeutung zu, als gerade das Gebiet des Arbeitsrechts als stark von nationalsozialistischen Einflüssen unterminiert galt. Der in Graz geborene Petz gehörte hingegen als früherer Mitarbeiter des Reichsinnenministeriums zu den wenigen aus anderen Reichsressorts kommenden führenden Beamten des BMA. Nach dem Krieg wechselte Petz zunächst ins Bundeskanzleramt, bevor er 1952 als Nachfolger Julius Scheubles Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik wurde.

III.

Das Führungspersonal und die NS-Vergangenheit

Wendet man sich schließlich der NS-Vergangenheit des obersten Personals der Arbeitsbehörden zu, muss sich die kurze Darstellung hier auf die rein formale „Belastung“ in Form einer früheren Zugehörigkeit zu NSDAP, SA und SS beschränken. Diese war schon dahingehend von Relevanz, dass ein abgeschlossenes Entnazifizierungsverfahren und eine Einstufung in die Kategorie V („entlastet“) Voraussetzung für eine Einstellung im Zentralamt für Arbeit waren, auch wenn gerade in der britischen Zone die Entnazifizierungspraxis eher pragmatisch gehandhabt wurde. Auch ZfA-Präsident Scheuble selbst wandte sich im Februar 1946 angesichts der Personalengpässe, aber auch aus seinem Selbstverständnis als Verwaltungsbeamter heraus gegen eine „schematische, nach äusseren Merkmalen arbeitende Entnazifizierung“. De facto hatte mindestens die Hälfte der Abteilungsleiter und ReferentInnen des ZfA zuvor nicht der NSDAP angehört, ein Anteil, der sich in der VfA eher noch vergrößerte. Mit der Gründung des Bundesarbeitsministeriums setzte jedoch ein frappanter Umschwung ein, in dessen Folge ab 1953 die Zahl der ehemaligen NSDAPMitglieder die der Nicht-Parteimitglieder signifikant überstieg. 1960 war der Anteil derjenigen SpitzenbeamtInnen des BMA, die vor 1945 ein Parteibuch besessen hatten, auf 70,1 % angestiegen, fast ein Drittel von ihnen hatte eine SAVergangenheit und drei waren der SS beigetreten. Bezogen auf den gesamten Untersuchungszeitraum 1949–1960 setzte sich das oberste Personal des Bundesarbeitsministeriums zu etwa 60 % aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern zusammen. Zu finden waren diese insbesondere unter den aus dem früheren Reichsarbeitsministerium kommenden BeamtInnen, wohingegen die „Exter-

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nen“ zu weniger als der Hälfte der Partei angehört hatten. Erhöht wurde der Grad der „Belastung“ durch die Tatsache, dass sich der Anteil derjenigen, die bereits 1933 NSDAP-Mitglied geworden waren, 1953 abrupt auf ein Drittel erhöhte und bis 1960 auf knapp 43 % anstieg. Wie weit diese Entwicklung im BMA bewusst in Kauf genommen wurde, welche möglichen Netzwerke alter beruflicher und persönlicher Verbindungen dabei gezielt aktiviert wurden oder ob es gar Momente selbstkritischer Reflexionen gab, muss quellenbedingt weitgehend offen bleiben. Etwaige Hindernisse bei Einstellungen und Beförderungen konnten in der Regel unter Verweis auf das „dienstliche Interesse“ und die persönliche fachliche Bewährung des Einzelnen aus dem Weg geräumt werden. Auch wenn es dabei zu einzelnen Konfliktfällen kam, verliefen der Beginn der neuen Karrieren im bundesrepublikanischen Arbeitsministerium und der rasche (Wieder-)Aufstieg innerhalb der Beamtenhierarchie im Ganzen reibungslos und ohne größeres Aufsehen.

IV.

Fazit

Die Geschichte des Führungspersonals der zentralen westdeutschen Arbeitsbehörden lässt sich für die Zeit zwischen 1945 und 1960 nicht in simple Kontinuitäts- und Diskontinuitätsbegriffe fassen. Denn während zwar als behördliche Basis recht klar das Zentralamt für Arbeit, die Verwaltung für Arbeit und das Bundesministerium für Arbeit benannt werden können, verbanden sich – gerade unter Einbeziehung der in diesem Kontext oftmals vernachlässigten Besatzungszeit – Zäsuren, Rekonstruktionsprozesse und generationelle Umbrüche miteinander. Hinzu kommt, dass auch der im Vergleich mit anderen Bundesministerien auffallend hohe Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder unter den Spitzenbeamten des BMA differenziert zu bewerten ist. Denn zum einen müssten stärker auch das tatsächliche Verhalten der Einzelnen nach 1933 und ihre persönlichen Einstellungen und Selbstverständnisse berücksichtigt werden. Zum anderen können von der NS-Vergangenheit seiner MitarbeiterInnen nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf die Verwaltungspraxis und die arbeits- und sozialpolitischen Initiativen des Arbeitsressorts ab 1949 gezogen werden. Zweifellos aber fordern die für die ersten Nachkriegsjahrzehnte der Bundesrepublik gewonnenen empirischen Erkenntnisse dazu auf, die Rolle des Bundesministeriums für Arbeit bei der Personalrekrutierung und seinen Umgang mit problematischen personellen Kontinuitäten kritisch zu hinterfragen.

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Martin Münzel

Zentrale Quellenbestände Bundesarchiv Koblenz Z 40 (Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone) B 149 (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) Z 11 (Personalamt des Vereinigten Wirtschaftsgebietes) B 126 (Bundesministerium der Finanzen) NL 430 (Nachlass Johannes Krohn) NL 1299 (Nachlass Wilhelm Claussen)

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Berlin Personalakten des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung

Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, Duisburg Entnazifizierungsakten

Archiv der sozialen Demokratie, Bonn Nachlass Walter Auerbach

Literaturauswahl (Bundes-)Arbeitsblatt, 1947–1960. Bundesarchiv/Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, München u. a. 1976–1983. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Baden-Baden 2001–2008. Dienstliche Mitteilungen der Verwaltung für Arbeit/des Bundesministeriums für Arbeit 1948–1960. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2012. Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 1), Stuttgart 1980. Institut für Zeitgeschichte/Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (Hg.), Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1947–1949, München/Wien 1977. Wolfgang Langhorst, Beamtentum und Artikel 131 des Grundgesetzes. Eine Untersuchung über Bedeutung und Auswirkung der Gesetzgebung zum Artikel 131 des Grundge-

Das Führungspersonal des deutschen Bundesministeriums für Arbeit

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setzes unter Einbeziehung der Position der SPD zum Berufsbeamtentum, Frankfurt am Main 1994. Bernhard Löffler, Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard (VSWG / Beihefte 162), Stuttgart 2002. Rudolf Morsey, Personal- und Beamtenpolitik im Übergang von der Bizonen- zur Bundesverwaltung (1947–1950). Kontinuität oder Neubeginn?, in: Rudolf Morsey (Hg.), Verwaltungsgeschichte. Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele. Vorträge und Diskussionsbeiträge der verwaltungsgeschichtlichen Arbeitstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Schriftenreihe der Hochschule Speyer 66), Berlin 1972, 191–243. Walter Vogel, Westdeutschland 1945–1950. Der Aufbau von Verfassungs- und Verwaltungseinrichtungen u¨ ber den La¨ ndern der drei westlichen Besatzungszonen, 3 Teile (Schriften des Bundesarchivs 2/12/32), Boppard am Rhein 1956–1983. Udo Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 74), Düsseldorf 1984.

Silvia Spattini

The Historical Evolution of Public Employment Services in Italy From a Comparative Perspective

I.

Introduction: Job Placement Models

By investigating the historical evolution of how employment services are regulated by law, and of how the relevant systems developed in their various national contexts, scholarly literature internationally has identified several main features of these systems and classified them according to three different models of labour market regulation and job matching services: monopoly, coexistence, and market systems.1 These three models are distinguished according to the role of public and private employment services in the labour market, and the obligations imposed on their activities by legal provisions.2 This paper will discuss the historical evolution of public employment services in Italy with a focus on the regulation of the labour market and the problem of matching labour supply and demand, thereby examining how the various models of job matching services evolved. The strict monopoly model is characterized by a prohibition of private employment services. Only public employment services operate in the labour market to match labour supply and demand. Registration of vacancies by employers, as well as of jobseekers, is mandatory. In the moderate monopoly model, private employment agencies are banned in principle, but some exceptions exist (for example for certain professional groups or non-profit agencies). In general, registration of vacancies by employers and of jobseekers is not mandatory. In the coexistence model, both public and private employment services may operate to match labour demand and supply. While the regulated coexistence model requires a specific authorization or licence for private employment agencies, the free coexistence model places no restrictions on private employ1 Regina Konle-Seidl/Ulrich Walwei, Job Placement Regimes in Europe: Trends and Impacts of Changes, in: IABTopics 46 (2001), 1–52, 6. 2 For a description of these three job placement models, see Silvia Spattini, Il governo del mercato del lavoro tra controllo pubblico e neo-contrattualismo, Milano 2008, 39–40.

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Silvia Spattini

ment agencies’ access to the labour market. They do not need licenses, but are required to abide by general rules for economic activities (such as mandatory registration to conduct commercial activities). The market model is characterized by private employment agencies operating as exclusive job placement providers. Within the market model, it is possible to distinguish between a semi-market and a pure market model. In the semi-market model, the operation of private employment agencies may be either free or regulated by a licencing system. Here, public employment services do not provide job placement services – these are contracted out to private employment agencies.3 Nevertheless, the state still retains competence over these services and public intervention in the labour market. Finally, in the pure market model public intervention in the labour market is absent, and thus the establishment and operation of private employment agencies are not regulated in any way.

II.

Job Placement Regulation in Early Capitalism

In the nineteenth century, both in Italy as well as internationally,4 matching labour demand and supply was managed and controlled by profit-oriented private intermediaries. In accordance with mainstream liberal economic theory, the state did not involve itself in job placement, and public employment offices did not exist.5 In terms of job placement models, this situation – characterized by private, for-profit intermediaries and no public intervention or public employment agencies – would be classified as a “pure market” model. Before its unification in 1861, there was no regulation of labour relationships, no social security or any other kind of labour protection in Italy, nor any regulation of job placement at all. During the first two decades following unification, public intervention in the field of social and labour legislation was very limited. Social assistance was organized by religious and charitable organizations; from

3 Konle-Seidl/Walwei, Job Placement Regimes, 7. 4 For an overview of the earliest comprehensive European laws on unemployment insurance, see for instance Jens Alber, Regierungen, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenschutz. Zur Entwicklung der Arbeitslosenversicherung in Westeuropa, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 30/4 (1978) 726–760. 5 J. Timo Weishaupt, Social Partners and the Governance of Public Employment Services: Trends and Experiences From Western Europe, International Labour Organization, Working Document Number 17, Geneva 2011, 1; Sigrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik, Introduction. Finding Work and Organizing Placement in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Sigrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik (eds.), The History of Labour Intermediation, New York-Oxford 2015, 2.

The Historical Evolution of Public Employment Services in Italy

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the 1870s onwards, mutual aid societies emerged.6 With public employment offices absent and the process of matching labour supply and demand unregulated, the Italian job placement regime of this period was still that of a pure market system. However, this period also saw the first public interventions in labour and social legislation, namely : – the first “Consultative Commission for Labour and Social Security”, established in 1869; – the first Insurance National Fund against accidents at work, established in 1883; – and the first law regulating and limiting child labour, as well as the law recognizing mutual aid societies, approved in 1886. Only at the end of the century were the law on compulsory insurance against accidents at work in the industry (Law of 17 March 1898, No. 80) and the law on the establishment of a National Welfare Fund against disability and old age issued (Law of 17 July 1898, No. 350). From the point of view of Italy’s “conservative liberalism”, these social reforms were necessary to defend liberal institutions and to debilitate the emerging labour movement.7 This was the context in which, during a political meeting in 1888, the idea was first expressed to create labour exchanges organized by workers’ associations and to abolish private and for-profit employment agencies. Some years later, in 1891, the first camere del lavoro (labour exchanges) managed by trade unions8 were set up in Milan, Turin and Piacenza. Indeed, at the beginning of Italian industrialization, the control of access to employment was one of the main issues of the emerging trade unions, since such control was an essential condition for the development of the movement itself, for the consolidation of its actions9 and for the protection of the unions’ rates of remuneration.10 In a larger perspective, the socio-political developments taking place in Italy during the late nineteenth century were crucial for the formation of the country’s conservative welfare state model, which it shared with neighbouring countries11 such as Germany and Austria and which was even more fully 6 Giovanna Procacci, Le politiche di intervento sociale in Italia tra fine ottocento e prima guerra mondiale. Alcune osservazioni comparative, in: Economia & Lavoro (2008) 1, 17–43. 7 Procacci, Intervento sociale, 17–43. 8 For the origins of the trade unions movement in general, see Stefano Merli, Proletariato di fabbrica e capitalismo industriale. Il caso italiano 1880–1900, Florence 1972. 9 Stefano Musso, Le regole e l’elusione, Torino 2004, 15; Michele Tiraboschi, Lavoro temporaneo e somministrazione di manodopera, Torino 1999, 118; Adolfo Pepe, Il collocamento in Italia in una dimensione storica, in: Piano del lavoro e contrattazione (2012) 11, 71–113, 74. 10 Pepe, Il collocamento, 75. 11 For a groundbreaking study of the European models of the welfare state, see Gøsta EspingAndersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism (Princeton 1993) 27.

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realized in the era of prime minister Giovanni Giolitti at the beginning of the twentieth century.

III.

The Strategic Importance of Job Placement Control

While by the end of the nineteenth century, national states had not yet developed measures to tackle the growing unemployment and to organize job placement, in the first twenty years of the twentieth century national governments, including Italy, began to understand the relevance of addressing the unemployment issue, public intervention in the labour market, and the control of matching labour demand with supply.12 Indeed, the control of labour intermediation was not merely a question of influencing the capitalist production process, but it was a matter of national sovereignty, that is to say, a means to ensure political and institutional balances13 and public order.14 Besides, the socio-historical conditions of the labour class urgently called for restructuring the system of the existing, profit-oriented employment agencies. During the period of industrialization in the late nineteenth century, Southern Italy was drained by emigration, while the agrarian sector of Northern Italy experienced a substantive loss of labourers to the cities,15 and by far not all members of the rapidly growing social group of factory workers were able to find permanent jobs. With the implementation of compulsory employment rates under the Giolitti government, the trade unions achieved a powerful instrument in favour of the labourers, which forced great land owners to employ a certain proportion of farm workers in their companies.16 The goal of this instrument clearly was to improve the situation of the rural workers. Consequently, during the period between the last two decades of the nineteenth and the first decades of the twentieth century17 (the experience of the First World War and the corresponding flooding of the labour markets after de-

12 International Labour Office, The Role of Private Employment Agencies in the Functioning of Labour Markets, International Labour Conference, 81st Session, Report VI, Geneva 1994, 6, and Weishaupt, Public Employment Services, 2. 13 Tiraboschi, Manodopera, 117. 14 Pepe, Il collocamento, 72. 15 Franco Della Peruta, Milano. Lavoro e fabbrica 1814–1915, Milan 1987, 127–130. 16 Renato Zangheri (ed.), Lotte agrarie in Italia. La Federazione nazionale dei lavoratori della terra 1901–1926, Milan 1960; Idiomeo Barbadoro, Storia del sindacalismo italiano dalla nascita al fascismo, Florence 1973. 17 The first public employment offices were established in France at the end of the nineteenth century, while public employment offices were created in Great Britain, Belgium, Sweden and Norway at the beginning of the twentieth century, and even later in Germany and Italy.

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mobilization providing the final impetus),18 most countries established national public employment services and broadly organized the labour market administration.19 Moreover, in 1919 the Unemployment Convention No. 2 was adopted by the International Labour Organization, stating that “each member which ratifies this Convention shall establish a system of free public employment agencies under the control of a central authority.” In terms of job placement regulation models, the Convention designed a coexistence model in which both public and private entities could operate to match labour demand and supply. But private employment agencies were not to act for profit. In fact, ILO Recommendation No. 1 recommended “to prohibit the establishment of employment agencies which charge fees or which carry on their business for profit. Where such agencies already exist, it is further recommended that they be permitted to operate only under Government licences, and that all practicable measures be taken to abolish such agencies as soon as possible.”20 In Italy, job placement was first regulated by a Lieutenant Decree (No. 1911) issued in 1918, which was subsequently repealed and replaced by a Royal Decree Law (No. 224) in 1919, regulating job placement and also establishing compulsory insurance against involuntary unemployment. Italy had its first public employment service, the Central Employment Office hosted by the Ministry of Industry, Trade and Labour, with provincial and municipal placement offices. Financial support was provided not only to public placement offices, but also to placement offices run, jointly or singly, by employers’ organizations or trade unions which were registered with the Ministry. For-profit job mediation was banned altogether. This legislation created a sort of regulated coexistence model21 in which private non-profit bodies, managed by a social partner and registered with the Ministry, could engage in job mediation in concert with public placement offices. Meanwhile the Fascist movement swelled, and in 1922 Mussolini was appointed Prime Minister by the King. The Royal Decree Law of 1919 was repealed in 1923 by Royal Decree Law No. 3158/1923.22 Under this law, regulations on job placement were abolished, the national placement office was closed, and the ban on private and for-profit employment agencies was lifted. New legislation regulating job placement offices was issued in 1926. Royal Decree No. 1130/1926 stated that corporate bodies (corporations) could estab18 For the role of WWI as a motor for state-run public employment offices in Austria, see the paper of Mathias Krempl, for the specific dimension of the veterans’ unemployment the paper of Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (both in this volume). 19 Weishaupt, Employment Services, 2. 20 ILO Recommendation No. 1/1919. 21 With reference to the coexistence model, see Spattini, Il governo, 40–41. 22 Pepe, Il collocamento, 96.

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lish employment offices and prohibit other employment offices from operating.23 The following year, the Charter of Labour declared the right of the state to control the flow of employment and to manage unemployment, establishing joint employment offices run by employers’ organizations and trade unions under state supervision and affirming the employers’ obligation to hire through these offices. Indeed, the Charter of Labour stated that members of the Fascist Party or of the Fascist trade unions should be preferred to non-members in the process of job mediation.24 Thus, the Charter of Labour offers profound proof for the willingness of the Fascist regime to state its clear preference for loyal workers and practically to force them to join the movement, especially during the harsh years of economic crisis and unemployment. The principles outlined in the Charter of Labour were translated into legislation by Royal Decree No. 1003/1928, which aimed at establishing strict public control over the matching of labour demand with supply. Even if the objective of the Fascist government was to create a job placement monopoly, the conversion of the principles of the Charter of Labour into the said decree failed because of several significant gaps in the regulatory procedure. Actually, this piece of legislation merely empowered the Ministry of Corporations to prohibit all job mediation performed, even if on a non-profit basis, by private intermediaries, associations or organizations of any kind.25

IV.

The Emergence of the Public Job Placement Monopoly Model in International Law

In most European states concern grew over possible abuses by private intermediaries in their role of job matching,26 and in 1933 the International Labour Organization adopted a convention (No. 34) concerning “Fee-Charging Employment Agencies”, agreeing on the elimination of private for-profit employment agencies, while non-profit agencies could operate on the basis of licences and under the control of public authority. Thus, the Convention promoted and aimed at affirming the model of a public job placement monopoly. This system 23 Tiraboschi, Manodopera, 170. 24 Article 13 Charter of Labour; regarding similar regulations during the so-called period of Austrofascism during 1933–1938, see Mathias Krempl, Arbeitsamt und Staatsgewalt. Arbeitsmarktbehördliche Organisation und Sachfragen im politischen Wandel, in: Mathias Krempl/Johannes Thaler, Arbeitsmarktverwaltung in Österreich 1917–1957. Bürokratie und Praxis, Wien 2015, 13–274, 79–92. 25 Tiraboschi, Manodopera, 171. 26 “The agencies were thus accused of exploiting job seekers by charging high fees for their services” (Wadauer/Buchner/Mejstrik, Introduction, 5).

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can be classified as a moderate monopoly model. While Convention No. 34 completely proscribed private for-profit employment agencies, it made no provision for the abolition of non-profit private employment agencies. Italy was not among the eleven countries that ratified the Convention.27 However, as the basic ideas of this Convention would later be crucial for Italy as well, it needs to be discussed here. The main reason for promoting a job placement monopoly and for abolishing for-profit employment agencies was the danger that workers might be abused or exploited. “[L]abour is not a commodity”,28 stated the Convention, and thus it was considered unethical to profit from a worker’s search for a job. A more ideological argument for the placement monopoly model was the need to distribute job opportunities equally. Other reasons for endorsing the monopoly model were of a political and institutional nature. The states had decided to respond to “the claim of the masses” through public measures that tackled high unemployment: on one hand, by controlling the match of labour supply and demand and, on the other hand, by introducing social assistance measures for the unemployed. The best way to control the matching of labour supply and demand seemed to be the introduction of a job monopoly system. In Italy, Royal Decree No. 1978/1934 wrested the employment services from the trade unions, instead establishing in each province a single employment office based at the “Provincial Bureau of Corporate Economy” under the administrative control of the Ministry of Corporations and the Prefect. Within this new legal framework, the trade unions’ objective of establishing their own monopoly on job placement became impossible.29 Instead, a public job placement monopoly was created.

V.

The Establishment of Public Job Placement Monopolies in Italy

Supported by ILO Convention No. 34 (1933), the desire for public control over the matching of labour supply and demand, along with the institutional, political and ideological reasons discussed above, gradually led nation states to establish public job placement monopolies. In this context it is necessary to consider the

27 http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f ?p=NORMLEXPUB:11300:0::NO::P11300_INSTRU MENT_ID:312179 (accessed on 5. 3. 2017). 28 Declaration of Philadelphia, 26th Conference of the ILO, 1944. 29 Tiraboschi, Manodopera, 171–172.

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experience of the Second World War, when in many – not only European30 – countries the role of governments within the employment system became preeminent. However, the development of this job placement model was further shaped by two new conventions: Conventions No. 88 (1948) and No. 96 (1949). In 1948 the International Labour Organization approved Convention No. 88 concerning public employment services and provided to maintain a free public employment service tasked with ensuring “the best possible organisation of the employment market as an integral part of the national programme for the achievement and maintenance of full employment and the development and use of productive resources”. The Convention affirms that the public employment service shall consist of a national system of employment offices under the direction of a national authority and shall be so organised as “to ensure effective recruitment and placement”. In 1949, the “Fee-Charging Employment Agencies Convention” was issued. This Convention provided that the Member States could ratify either Part II or Part III of the Convention. While Part II called for the progressive abolition of for-profit employment agencies,31 promoting a public job placement monopoly (as did Convention No. 34/1933), Part III provided the option of keeping forprofit employment agencies, albeit under a very strict regulation and licensing system and subject to the supervision of competent authority.32 As discussed, the International Labour Organization encouraged the adoption of a public monopoly system that excluded private employment agencies. As an alternative to this model, it proposed a highly regulated coexistence system of public and private agencies. Following the ILO’s advice and after ratification of their Conventions, between the 1920s and the end of the Second World War most continental European countries implemented public job placement monopoly systems. Such systems were implemented in Germany in 1931, in Sweden in 1935, in the Netherlands and Spain in 1940 and in France in 1945. In 1949, only one year after the foundation of the First Italian Republic, a monopoly system was also established in Italy under Prime Minister Alcide De Gaspari (Christian Democracy party) – which is, perhaps, little surprise, for Italy in this period was 30 For Austria, see the paper of Mathias Krempl, for Japan that of David Chiavacci, both in this volume; for Germany : Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002, Nuremberg 2003, 247. 31 Article 3 paragraph 1. 32 Article 10: “Fee-charging employment agencies conducted with a view to profit as defined in paragraph 1 (a) of Article 1, (a) shall be subject to the supervision of the competent authority, (b) shall be required to be in possession of a yearly licence renewable at the discretion of the competent authority, (c) shall only charge fees and expenses on a scale submitted to and approved by the competent authority or fixed by the said authority, (d) shall only place or recruit workers abroad if permitted so to do by the competent authority and under conditions determined by the laws or regulations in force.”

The Historical Evolution of Public Employment Services in Italy

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closely cooperating with countries such as Germany and France on such crucial economic subjects as labour policy. Two years later, in 1951, the same three countries were among the main founders of the European Coal and Steel Community, to cite only one example of the European Integration Process. In Denmark and Belgium, the monopoly system was not introduced until 1970 and 1975, respectively. After the Second World War, Eastern European countries too began to develop job placement monopolies. On the one hand, this was the result of an understanding similar to that in Western European countries, namely that control over the matching of labour demand with supply was in the public interest and needed to be managed by the state. On the other hand, it was also an unavoidable consequence of the development of political regimes based on a planned economy. In Italy, after the Second World War the trade unions sought to regain control over job placement, but Law No. 264/1949 definitely excluded them from managing access to the labour market. Indeed, this law created a public, state-run job placement monopoly in which any kind of private job mediation was prohibited, even if non-profit or free of charge. The public employment service was centrally managed by the Ministry of Labour, on which depended the structure of the public employment service constituted by local public employment offices. Actually, the system was not built on an effective matching of labour supply with demand, but rather on the placement of jobseekers according to seniority. The system was based on mandatory registration of jobseekers in placement lists held by local employment offices and on mandatory registration of vacancies. Employers hired workers registered in the list by presenting a “numerical request” (chiamata numerica), indicating the category and the professional qualification required. It was not possible for an employer to hire a specific jobseeker whom he himself had selected. This method of managing job placement and of organizing public employment offices was consistent with the notion of public control over employment flows in the labour market and of a public interest in fairly allocating a scarce resource such as employment was (and remains). In the 1970s the principle of numerical request came under scrutiny, as it strongly limited the contractual freedom of both parties to establish employment relationships. In practice, the principle was frequently circumvented, and exceptions were soon introduced to the Italian legal system. In the mid-eighties, the “nominative request” (richiesta nominative) was introduced, which would override numerical request. On the basis of this principle, employers were able to hire a specific worker by formally requesting permission from the public employment office. Not until the early 1990s was the nominative request of workers finally made

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the rule and the numerical request abandoned. Thus, employers could hire the workers they chose, though jobseekers still had to be registered on placement lists held by the local public employment offices. In 1996, with Law No. 608/1996, the nominative request was also abandoned, and employers could finally hire workers directly and inform the local employment office about the recruitment afterwards.

VI.

Overcoming the Job Placement Monopoly Model

If recruitment procedures based on numerical and nominative requests represented a limitation to entrepreneurial freedom and activities, the same held true for the public monopoly on job placement and the ban on private mediation. While public employment services did not offer adequate recruitment and job matching services to employers within the monopoly regime, private employment agencies were banned. For this reason, Italy was condemned by the European Court of Justice (Judgment of 11 December 1997), as the state’s monopoly on job placement services was deemed to infringe the prohibition against abuse of a dominant position. “The public placement offices” were “manifestly unable to satisfy the demand on the market for all types of activity”33 and “the actual placement of employees by private companies” was “rendered impossible by the maintenance in force of statutory provisions under which such activities are prohibited and non-observance of that prohibition gives rise to penal and administrative sanctions”.34 At the international level, a new ILO Convention (No. 181)35 concerning private employment agencies was issued in 1997. Its purpose was once more to allow the operation of private employment agencies. With this Convention, the International Labour Organization shed its hostility towards private employment services and acknowledged the important role they played in the labour market36 by helping to match labour demand and supply through greater transparency. This increasingly positive view of private employment agencies led the International Labour Organization to abandon its preference for job placement 33 European Court of Justice, Judgment of 11 December 1997, C-55/96. 34 European Court of Justice, Judgment of 11 December 1997, C-55/96. 35 Before the approval of Convention No. 181/1997, the International Labour Organization studied the phenomenon of the spread of private employment services in the labour market and published a relevant report, International Labour Office, The Role of Private Employment Agencies in the Functioning of Labour Markets, International Labour Conference, 81st Session, Report VI, Geneva 1994. 36 “Recognizing the role which private employment agencies may play in a well-functioning labour market”, ILO Convention No. 181/1997.

The Historical Evolution of Public Employment Services in Italy

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monopolies37 and instead to promote the adoption of a regulated coexistence system. In fact, the Convention recommended organizing “a system of licensing or certification”,38 which was considered an effective way “to protect workers against abuses”.39 In Italy, the ineffectiveness of public employment services and the limitations they imposed on the freedom of private initiative led to ever stronger criticism of the job placement monopoly and to demands for reforming the regulation of the labour market and the organization of public employment services. In consideration of these criticisms as well as of international developments, the reform of public employment services and of the regulation and organization of the labour market in Italy was approved in late 1997. On the one hand, all competencies and functions regarding public employment services and active labour market policies (ALMPs) were decentralized to the Regions. The new public employment offices were managed by Provinces on the basis of guidelines laid down by the Regions. They were neither run nor coordinated by the Ministers. Public employment offices were responsible for career guidance, the matching of labour supply with demand, preliminary selection procedures, advice to employers, and assistance to people with disabilities or in underprivileged groups. On the other hand, the job placement monopoly was eliminated and a regulated coexistence system was created in which (by definition) public and private employment services coexist and private employment agencies may act in matching labour demand with supply on the basis of state-issued authorization, subject to certain economic and legal standards. The new regulated coexistence system abolished the registration of vacancies and of jobseekers in the placement lists that had been maintained by local employment offices, as indeed were the placement lists altogether.

VII.

A New Governance of Public Employment Services

In 2003 a new labour market reform (Legislative Decree No. 276/2003) modified several regulations governing private employment agencies, especially the authorization system and the requirements for authorization itself.40 The regulated 37 38 39 40

Weishaupt, Public Employment Services, 3. Art. 3, ILO Convention No. 181/1997. Preamble, ILO Convention No. 181/1997. The Ministry of Labour and Social Policy issues authorizations only to private employment agencies that meet the following conditions: the registered office must be located in Italy or another EU member state, the agency must have suitable premises, the staff of the agency must have approved qualifications, the directors and managers of the agency must not have a

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coexistence system, however, was confirmed. While this was an extremely important reform for the private pillar of the labour demand and supply matching process, it did not affect the public employment service. The institutional framework also underwent changes. In reaction to the widespread lack of effectiveness and efficiency of public employment services under the state monopoly, Italy in 1997 allowed private employment agencies to operate in the labour market and opted for the decentralization of all functions and legislative powers regarding the public employment services and active labour market policies. Consequently, the Regions have obtained legislative powers regarding active labour market policies. The state has shared its legislative powers with the Regions. Owing to the same ineffectiveness and inefficiency of public employment services and the considerable differences in the provision of services by local public employment offices among the Regions, Italy in 2015 approved a new major labour market reform. This reform introduced a more centralized approach which was to promote higher levels of coordination and harmonization and to increase the effectiveness of active labour market measures and placement services by creating a national employment agency supervised by the Ministry of Labour. This agency would coordinate public employment services on a national scale with the Regions in charge of local public employment offices. Thus, the labour market reform re-organized the system of public employment services without affecting the labour market regulation system, which remained based on the regulated coexistence of public and private employment services as well as on the regulation of private employment agencies. Following a highly centralized governance of the labour market and the job placement monopoly, Italy in 1997, reacting to inefficiency, adopted a decentralized governance of the labour market, while in 2015 Italy opted for a more centralized system. Re-centralization will be completed pending the approval of the constitutional reform, which will return to the state its legislative competence in active labour market policies.

VIII. Conclusions In Italy – as well as in the majority of European countries, more generally – the development of labour market regulation models that accompanied the evolution of public employment services has followed a parabolic trend. The parabola began with a pure market system, developed into a (free or regulated) coexcriminal record, and the agency is required to be linked to and share data with the online national employment database.

The Historical Evolution of Public Employment Services in Italy

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istence system and ultimately into a monopoly system (with some exceptions), finally returning to a (free or regulated) coexistence system and, in some cases, to a sort of semi-market model. Until the First World War, labour market regulation in Italy was based on the “pure market model”, in which public employment offices did not exist and private agencies were by far the most important players, together with trade unions which set up labour exchanges. In the wake of the War, public employment offices were established in Italy which coexisted with private non-profit providers and with trade union labour exchanges, constituting a coexistence model. During the Fascist regime, first the national placement office was closed down and private, for-profit employment agencies could operate; later, employment offices managed by corporate bodies (corporations) were established and other employment offices were prohibited, including trade union labour exchanges. After the Second World War, most European countries – including Italy – established public job placement monopolies. While most European countries abandoned such monopolies from the early 1990s onwards, Italy abolished theirs only in 1997, establishing instead a system of regulated coexistence in which authorized private and public providers operate.

David Chiavacci

Staat und Arbeitsmarkt im modernen Japan: Transformation vom liberalen zum produktivistischen Wohlfahrtsregime

I.

Einleitung

Japan galt lange als das ökonomische Erfolgsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg, welches während des Hochwachstums bis 1973 durchschnittlich nahezu 10 % jährliches Wirtschaftswachstum realisierte und spätestens mit der Aufnahme in die OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) im Jahre 1964 als erste nicht-westliche Volkswirtschaft den Status als fortgeschrittenes Industrieland erreichte. Auch nach dem Ende des Goldenen Zeitalters des Kapitalismus mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems und der ersten Erdölkrise in den frühen 1970er Jahren wies Japan im Vergleich zu vielen und fast allen großen westlichen Industrieländern, welche mit diskontinuierlicher Wirtschaftsentwicklung, steigender Inflation und wachsenden Arbeitslosenquoten konfrontiert waren, weiterhin ein kontinuierliches und vergleichsweise hohes Wirtschaftswachstum und einen sehr gut funktionierenden Arbeitsmarkt auf. Japan begann zudem in diesen Jahren erfolgreich in die Hochtechnologiesektoren vorzustoßen und erzielte stark anwachsende Handelsüberschüsse mit fast allen westlichen Industrienationen, was zu starken Handelsfriktionen mit den USA und westeuropäischen Ländern führte. Die spezifischen Arbeitsmarktstrukturen und das damit verbundene Personalmanagement in japanischen Unternehmen sowie die staatliche Arbeitsmarktpolitik wurden hierbei oft als die zentralen Pfeiler und Grundlagen des japanischen Wirtschaftswunders hervorgehoben. Zwar befindet sich das Land nach dem Platzen von riesigen Spekulationsblasen an der Börse und im Immobilienmarkt in den frühen 1990er Jahren in einer langanhaltenden Phase von sehr geringem Wachstum, doch selbst in diesen in Japan als den „beiden verlorenen Jahrzehnten“ (ushinawareta 20-nen)1 bezeichneten Jahren ist die Arbeitslosigkeit im

1 Kyo¯ji Fukao, „Ushinawareta 20-nen“ to Nihon Keizai. Ko¯zo¯teki Genin to Saisei he no Gendo¯ryoku no Kaimei, Tokyo 2012; Yo¯ichi Funabashi, Kensho¯ Nihon no „Ushinawareta 20-nen“.

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David Chiavacci

Vergleich zu westlichen Industrieländern weiterhin auf einem geringen Niveau verblieben und beträgt auch in der Gegenwart weniger als die Hälfte des Durchschnittswertes aller OECD-Länder.2 Auch die japanischen Arbeitsämter, welche gegenwärtig offiziell als Hellowork (haro¯ wa¯ku) bezeichnet werden, scheinen bei einer Betrachtung anhand einiger quantitativen Indikatoren im internationalen Vergleich extrem effizient zu sein (vgl. Tabelle 1). So bestehen in Japan gegenwärtig gerade einmal 545 Arbeitsämter mit nicht ganz 12.000 BeamtInnen. Auf einen Mitarbeitenden kommen somit etwa 5.500 Arbeitstätige bzw. etwa 280 Arbeitslose. In Europa stehen hingegen im Verhältnis zu den ArbeitnehmerInnen und Arbeitslosen ein Vielfaches an MitarbeiterInnen in den Arbeitsämtern zur Verfügung und trotzdem sind die Arbeitslosenquoten in diesen europäischen Volkswirtschaften in der Gegenwart signifikant höher. Tabelle 1: Arbeitsämter im internationalen Vergleich

Deutschland Frankreich Japan Österreich

Arbeitstätige pro Mitarbeitende 400 620 5.500 1.125

Arbeitslose pro Mitarbeitende 30 45 280 65

Arbeitslosenquote 6,3 % 10,1 % 3,3 % 5,8 %

Vereinigtes Königreich 430 25 5,1 % Quellen: AMS (Arbeitsmarktservice) Österreich, Auf einen Blick, Wien 2015, 6–7; Ko¯kyo¯ Shokugyo¯ Anteisho (Haro¯ Wa¯ku) no omo na Torikumi to Jisseki, Seiryu¯, 181 (2014), 4.

Abgesehen von der grundlegenden Problematik in der Komparation solcher nationaler Daten, da jedes Land eigene Definitionen für die Erhebung der Anzahl der MitarbeiterInnen in den Arbeitsämtern verwendet, ist ein solcher Vergleich anhand quantitativer Indikatoren jedoch nicht nur zu vereinfachend, sondern geradezu irreführend. Denn damit werden unterschiedliche (Gesellschafts-)Systeme und somit Birnen mit Äpfeln verglichen. Im Falle von Japan ist hierbei zu beachten, dass das gegenwärtige Japan dem produktivistischen Wohlfahrtsregime zuzuordnen ist, welches nicht nur in Japan, sondern auch in anderen ostasiatischen Industrieländern besteht und sich grundsätzlich von den drei durch EspingAndersen für westliche Industrieländer elaborierten Wohlfahrtsregimen unterscheidet.3 Dies bedeutet konkret für den Fall der staatlichen Arbeitsvermittlung Nihon ha naze Teitai kara nukedasenakatta no ka, Tokyo 2015; Shinya Sugiyama, Nihon no Keizaishi. Kinsei – Gendai, Tokyo 2012, 508–513. 2 OECD, OECD Employment Outlook 2015, Paris 2015, 266. 3 Die bahnbrechende Arbeit zu Wohlfahrtsmodellen, in welcher ein liberales, konservatives und sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime in fortgeschrittenen Industrieländern unterschieden

Staat und Arbeitsmarkt im modernen Japan

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über Arbeitsämter und der Arbeitslosenversicherung in Japan, dass diese in den staatlichen Politikmaßnahmen nur eine untergeordnete Rolle spielen und durch verschiedene funktionale Äquivalente teilweise ersetzt werden. So wurde zwar im Jahre 1947 eine Arbeitslosenversicherung in Japan eingeführt, jedoch ist diese bis heute im internationalen Vergleich mit westlichen Industrieländern durch sehr strikte Konditionen in der Bezugsberechtigung, durch eine relativ geringe finanzielle Unterstützung von Arbeitslosen im Verhältnis zu ihrem früheren Lohn sowie eine kurze Bezugsberechtigungsdauer gekennzeichnet und ordnet sich hierbei ins Gesamtbild von geringen Ausgaben in der Arbeitsmarktpolitik durch den japanischen Staat ein.4 Hierdurch wird auch verständlich, weshalb die Arbeitsämter in Japan so „schlank“ sind und laut vergleichender Statistik über eine überraschend geringe Anzahl von MitarbeiterInnen verfügen (vgl. Tabelle 1). Das produktivistische Wohlfahrtsmodell und die damit verbundene Arbeitsmarktpolitik stellt jedoch keine Kontinuität in der Wirtschaftsentwicklung in der Moderne in Japan dar. Im Gegenteil: Die Ausgestaltungen des Sozialstaates und die Arbeitsmarktstrukturen, die sich in der Nachkriegszeit etabliert haben, stehen im starken Kontrast zu den Grundprinzipien und strukturellen Rahmenbedingen, wie sie sich vorerst ab dem späten 19. Jahrhundert in Japan entwickelt haben. Japan stellte in den ersten Jahrzehnten seiner Industrialisierung nahezu idealtypisch ein liberales Wirtschafts- und Wohlfahrtsmodell dar. Erst mit der zunehmenden und schlussendlich totalen Ausrichtung der Wirtschaft und Gesellschaft auf die Expansionskriege ab den 1930er Jahren wurde ein systemischer Wandel eingeleitet, welcher mit den Reformen in der US-amerikanischen Besatzungszeit von 1945–1952,5 wenn auch unter ganz anderen Vorwurde, ist von Esping-Andersen im Jahre 1990 publiziert worden, vgl. Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. Zusätzlich zu diesen drei Typen wurde in neueren Arbeiten ein produktivistisches Wohlfahrtsregime in ostasiatischen Industrieländern identifiziert, welches sich grundsätzlich in seiner Ausrichtung von westlichen Modellen unterscheidet, vgl. Raymond K.H. Chan, The Welfare Work Nexus in East Asia. A Comparison of Contexts, Paths and Directions, in: Journal of Asian Public Policy, 6 (2013) 1, 99–113; Young Jun Choi, Developmentalism and Productivism in East Asian Welfare Regimes, in: Misa Izuhara (Hg.), Handbook on East Asian Social Policy, Cheltenham 2013, 207–225; Ian Holliday, Productivist Welfare Capitalism. Social Policy in East Asia, in: Political Studies, 48 (2000) 4, 706–723; Huck-Ju Kwon, Transforming the Developmental Welfare State in East Asia, in: Development and Change, 36 (2005) 4, 477–497. 4 Für eine ausführlichere Analyse der staatlichen Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktvermittlung im gegenwärtigen Japan in internationaler Komparation, vgl. Nicola Duell/ David Grubb/Shruti Singh/Peter Tergeist, Activation Policies in Japan, OECD Social, Employment and Migration Working Papers No. 113, Paris 2010. 5 Offiziell wurde Japan nach Kriegsende bis 1952 von den Alliierten besetzt, de facto unterlag Japan jedoch im Gegensatz zu Deutschland der US-amerikanischen Kontrolle, welche die großen Reformen vorantrieben. Den Britten wurde hierbei eine unterstützende, jedoch für die Besatzungspolitik klar untergeordnete Rolle zugestanden, und die Sowjetunion hatte keinen nennenswerten Einfluss in Japan. Entsprechend spreche ich leicht verkürzend von der US-

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zeichen, fortgesetzt wurde und zu einer grundlegenden Transformation des Wirtschafts- und Arbeitsmarktmodells sowie des sich daraus entwickelnden Wohlfahrtsstaates führte. Entsprechend gliedert sich die nachfolgende Analyse der Beziehung zwischen staatlicher Sozialpolitik und Arbeitsmarktstrukturen in Japan im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklungen in der Moderne in drei Phasen: 1. Eine durch eine liberale Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtspolitik gekennzeichnete Phase der Spätentwicklung und Industrialisierung ab den 1850er bis in die 1930er Jahre. 2. Eine Transformationsphase des Totalen Kriegs und der Besatzungszeit ab den 1930er Jahren bis in die frühen 1950er Jahren, welche einen Bruch in der institutionellen Entwicklung Japans in der Moderne darstellt. 3. Eine durch eine stark intervenierende und planende Wirtschaftspolitik und die Etablierung des japanischen Beschäftigungsmodells als Sozialkompromiss zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gekennzeichnete Nachkriegszeit ab den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. In meinem Beitrag werde ich den Entwicklungspfad der japanischen Wirtschaftsentwicklung und Modernisierung ab der erzwungenen Öffnung von 1854 bis in die Gegenwart und der damit einhergehenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik des japanischen Staates nachzeichnen, um in diesem größeren gesellschaftlichen Kontext die Bedeutung und Rolle der Arbeitsämter und der Arbeitslosenversicherung herausarbeiten zu können. Der Beitrag gliedert sich hierbei entsprechend der drei oben identifizierten Phasen in drei Kapitel. Der Hauptteil des Beitrages wird durch ein viertes Kapitel abgeschlossen, in welchem die gegenwärtige Entwicklung und die damit verbundene Krise des Nachkriegsmodells kurz diskutiert werden. Aufgrund der langen Zeitspanne, welche im Beitrag bearbeitet wird, ist nur eine bruchstückhafte Darstellung der wichtigsten Entwicklungen möglich, mit welcher jedoch hoffentlich auch für die Leserschaft ohne Vorkenntnisse zu Japan nachvollziehbar die großen Entwicklungslinien Japans und seiner staatlichen Wirtschaftspolitik aufgezeigt werden können.

amerikanischen Besatzung Japans. Zur Besatzung Japans von 1945 bis 1952, vgl. John W. Dower, Embracing Defeat. Japan in the Wake of World War II, New York 1999; Eiji Takemae, Inside GHQ. The Allied Occupation of Japan and its Legacy, New York 2002.

Staat und Arbeitsmarkt im modernen Japan

II.

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Industrialisierung Japans als liberaler Spätentwickler

Nach über 200 Jahren japanischer Abschließungspolitik gegen außen (sakoku) erzwang Mitte des 19. Jahrhunderts die US-amerikanische Flotte unter Kommodore Perry die Öffnung Japans. In der Folge wurde Japan erst von den USA und anschließend in schneller Abfolge auch von den anderen wichtigen westlichen Kolonialmächten ungleiche Verträge aufgezwungen. Diese schränkten Japans Souveränität ein und wurden in Japan bald als eine große Gefahr und einen ersten Schritt in Richtung einer Kolonialisierung betrachtet. Die Folge war im Jahre 1868 die Meiji-Revolution von oben, in welcher das bisherige TokugawaRegime durch eine neue Machtelite verdrängt wurde, die sich um den japanischen Tenno¯ geschart hatte. Diese neue Machtelite der Meiji-Oligarchen (genro¯) begann einen Nationsbildungs- und Modernisierungsprozess nach westlichem Vorbild voranzutreiben, in welchem unter anderem innert weniger Jahre die bisherigen Stände aufgelöst, ein modernes Staatswesen sowie ein Bildungs- und Rechtssystem eingeführt und eine moderne Armee aufgebaut wurden. Das zentrale Ziel der politischen Reformen und gesellschaftlichen Umgestaltung war hierbei, möglichst bald die ungleichen Verträge mit den Westmächten aufheben zu können und auf Augenhöhe mit ihnen selber eine Führungsmacht im Weltsystem zu bilden. Wie erfolgreich und schnell dieses Transformationsprojekt vorangetrieben wurde, ist daran ersichtlich, dass bereits im Jahre 1876 Japan seinerseits Korea einen ungleichen Vertrag aufzwang, welcher die Kolonialisierung Koreas ab 1910 einleitete. Bereits zwei Jahrzehnte nach dem Auftauchen der „Schwarzen Schiffe“ (kurofune) der US-amerikanischen Flotte war Japan somit vom möglichen Objekt des westlichen Kolonialismus selber zum kolonialen Akteur geworden. Mit den militärischen Erfolgen gegen die bisherige Führungsmacht China, Ende des 19. Jahrhunderts, und gegen Russland, im frühen 20. Jahrhundert, festigte das japanische Kaiserreich seine Position im exklusiven Zirkel der führenden Nationen des Hochimperialismus. Die Wirtschaftsentwicklung war für die politischen Eliten hierbei primär ein Mittel zum Zweck. Mit der Modernisierung der Wirtschaft und der Industrialisierung sollten die ökonomischen Grundlagen für eine starke Armee und Marine sowie für eine politische Vormachstellung in Ostasien geschaffen werden. Die Meiji-Oligarchen und ihre neu geschaffene Ministerialverwaltung hatten zudem kaum Erfahrung in der staatlichen Wirtschaftsplanung. Zwar wurde im Zuge der Nationsbildung ein sehr starker Zentralstaat geschaffen, welcher jedoch nur eine stark untergeordnete Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung spielte und diese primär privatwirtschaftlichen Kräften überließ. Gerade auch dafür, dass Japan ein Spätentwickler in der Industrialisierung war,6 6 Zur Spätindustrialisierung vgl. Alice Amsden, Asia’s Next Giant. South Korea and Late In-

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entsprach seine politische Ökonomie insgesamt in einem überraschenden Ausmaß einem liberalen Wirtschaftsmodell.7 Japan wies jedoch in seiner Industrialisierung einige strukturelle Besonderheiten auf, welche zu einer eigenen Pfadabhängigkeit führten und wichtige Faktoren für das hohe Tempo der nachholenden Wirtschaftsentwicklung sind. Entscheidend war hierbei die ökonomische Entwicklung Japans bereits vor der erzwungenen Öffnung als Ausgangslage für die Industrialisierung. Bereits in der späteren Tokugawa-Zeit (1603–1868) war es gerade im ländlichen Raum zu einer Protoindustrialisierung mit der Herausbildung indigener Industrien gekommen. Zwar waren während der Tokugawa-Zeit etwa 80 % der Bevölkerung primär in der familienbasierten Agrarwirtschaft tätig, aber es entwickelten sich auch eine Binnenmigration von Arbeitskräften in die urbanen Zentren und funktionierende Arbeitsmärkte für saisonale Arbeitskräfte.8 Diese Protoindustrien und die signifikanten Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft nach der Meiji-Revolution waren von zentraler Bedeutung für die Industrialisierung Japans und stellten das eigentliche Fundament derselben dar.9 In diesem Sinne kann auch von einem eigenen Entwicklungspfad in Japan gesprochen werden, in welchem Industrialisierung und Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft parallel erfolgten und interdependente Prozesse waren.10 Dies bedeutet auch, dass die Industrialisierungspfad in Japan nicht ein unidirektionaler und klarer Übergang vom Agrarsektor in den Industriesektor darstellte, sondern eine wechselwirkende Entwicklung war.

7

8 9

10

dustrialization, Oxford 1989; Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge 1962. Damit soll nicht impliziert werden, dass der Staat gar keine Rolle in der Frühindustrialisierung innehatte. Im Gegenteil, der Staat hatte neben seiner Infrastruktur- und Finanzpolitik auch eine aktive Industrialisierungspolitik und war oft der zentrale Akteur bei der Gründung moderner Industrien nach westlichem Vorbild in der frühen Meiji-Zeit. Diese staatlichen Pionierunternehmen wurden jedoch bereits in den 1880er Jahren privatisiert. Vgl. Penelope Francks, Japanese Economic Development. Theory and Practice, London 1999, 36–41; Lind Weiss, War, the State, and the Origins of the Japanese Employment System, in: Politics & Society, 21 (1993) 3, 333f. Osamu Saito, Land, Labour and Market Forces in Tokugawa Japan, in: Continuity and Change, 24 (2009) 1, 169–196. Für eine detailliertere Analyse und Diskussion der Protoindustrialisierung in der TokugawaZeit und ihrer Rolle in der späteren Industrialisierung Japans, vgl. Akira Hayami, Japan’s Industrious Revolution. Economic and Social Transformations in the Early Modern Period, Tokyo 2015; David L. Howell, Proto-Industrial Origins of Japanese Capitalism, in: The Journal of Asian Studies, 51 (1992) 2, 269–286; Takanori Matsumoto/Miyako Okuda, Senzenki Nihon ni okeru Zairai Sangyo¯ no Zenkoku Hatten. Eigyo¯ De¯ta ni yoru Su¯ryo¯teki Bunsei, in: Takafusa Nakamura, Nihon no Keizai Hatten to Zairai Sangyo¯, Tokyo 1997, 11–68; Masayuki Tanimoto (Hg.), The Role of Tradition in Japan’s Industrialization. Another Path to Industrialization, Oxford 2006. Francks, Japanese, 112–123; Ryo¯shin Minami/Fumio Makino, Nihon no Keizai Hatten, Tokyo 2002, 47–70.

Staat und Arbeitsmarkt im modernen Japan

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Dies zeigt sich gerade auch in den Arbeitsmarktstrukturen, die sich im Zuge der Industrialisierung in Japan entwickelten. In der Frühindustrialisierung bis zum Ersten Weltkrieg waren private Arbeitsmarktvermittler von eminenter Bedeutung. Die Mehrzahl der Industriearbeitskräfte war indirekt beschäftigt, und der Arbeitsmarkt zeichnete sich durch extrem hohe Fluktuationsraten aus. In der Leichtindustrie wurden vor allem junge Frauen beschäftigt, die indirekt und mit zeitlich befristeten Verträgen über Vermittler angestellt wurden und oft zwischen Landwirtschaft und Fabrik pendelten.11 Auch bei den männlichen Arbeitskräften, die bis in die 1930er Jahre eine Minderheit gegenüber Industriearbeiterinnen darstellten, erfolgte in der sich entwickelnden Schwerindustrie die Rekrutierung von Arbeitskräften meist indirekt über Anführer (oyakata) von Arbeitergruppen, welche in der Anfangszeit der Industrialisierung oft auch die Arbeits- und Produktionsprozesse in den Fabriken kontrollierten und sehr häufig mit ihren Gruppen den Arbeitgeber wechselten.12 Diese Organisationsform in Arbeitergruppen mit ihren Anführern in der zentralen Vermittlerrolle war eine Kontinuität zu den umherziehenden Handwerkergruppen der Tokugawa-Zeit. Entsprechend bestand bei vielen männlichen Industriearbeitskräften aus Sicht der Behörden und der Öffentlichkeit ein fließender Übergang zwischen Anstellung und Selbstständigkeit, wodurch Arbeitslosigkeit selbst als Konzept vorerst kaum in der staatlichen Politik und Öffentlichkeit thematisiert wurde.13 Die Arbeitsbedingungen waren in der Frühindustrialisierung in der Regel äußerst schlecht und oft wortwörtlich gesundheitsgefährdend für die ArbeiterInnen. Auch die Entlohnung war sehr gering. So begannen sich beispielsweise erst in den 1920er Jahren signifikante Lohnunterschiede für gering qualifizierte Arbeitskräfte in der Industrie im Vergleich zur Agrarwirtschaft herauszubilden.14 Wenn Industriearbeitskräfte ihre Stelle verloren bzw. ihr zeitlich befristeter Arbeitsvertrag nicht erneuert wurde, oder sie wegen Arbeitsunfall bzw. Krankheit nicht mehr arbeitsfähig waren, kehrten sie meistens zu ihren Familien auf dem Land zurück, die in diesen Jahren das soziale Sicherheitsnetz waren. Auch in Japan war die Industrialisierung jedoch durch das Entstehen und Anwachsen einer urbanen Unterschicht in extrem prekären Lebensverhältnissen begleitet, was wiederum die Diffusion marxistischen und anarchistischen Ge11 Francks, Japanese, 221–225; Jun Sasaki, Factory Girls in an Agrarian Setting circa 1910, in: Masayuki Tanimoto (Hg.), The Role of Tradition in Japan’s Industrialization. Another Path to Industrialization, Oxford 2006, 121–139. 12 Francks, Japanese, 225–230; Andrew Gordon, The Evolution of Labor Relations in Japan. Heavy Industry, 1853–1955, Cambridge 1985, 36–41. 13 Kazutoshi Kaze, Unemployment Policy in Prewar Japan: How Progressive Was Japanese Social Policy?, in: Social Science Journal Japan, 7 (2004) 2, 200f. 14 Takafusa Nakamura, Economic Growth in Prewar Japan, New Haven 1983, 213–231.

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dankenguts förderte und zur Herausbildung einer Arbeiterbewegung führte. Der Staat versuchte, auf diese sozial und politisch destabilisierenden Entwicklungen mit Reformen und neuen Vorschriften zu reagieren. Diese stießen jedoch auf den erbitterten Widerstand von Seiten der Arbeitgeber und Wirtschaftselite, so dass 1911 schlussendlich nur eine stark verwässerte Fassung des Fabrikgesetzes für minimale Arbeitsstandards verabschiedet wurde.15 Nachdem Japan im Ersten Weltkrieg überaus hohe Wachstumsraten gerade in der Schwerindustrie aufgewiesen hatte, begannen sich die sozialen Probleme und die damit verbundenen Konflikte mit dem Ende des Wirtschaftsbooms nach Kriegsende zu verschärfen. In Reaktion darauf wurden 1921 gesetzliche Grundlagen für staatliche Arbeitsämter geschaffen und in den 1920ern wiederholt Vorschläge für die Einführung einer Arbeitslosenversicherung vorgebracht, welche jedoch nie im Parlament verabschiedet wurde.16 Auf nationaler Ebene wurde eine solche Arbeitslosenversicherung erst 1947 eingeführt, und die staatlichen Arbeitsämter waren gerade bzgl. der erfolgreichen Vermittlung von Arbeitskräften an Arbeitgeber durch grundlegende Probleme gekennzeichnet, so dass auch in der Folge vorerst private Akteure die weitaus wichtigeren Arbeitsvermittler im Arbeitsmarkt blieben.17 Immerhin wurden im Laufe der 1920er Jahr auf lokaler Ebene in den urbanen Industriezentren Arbeits- und Unterstützungsprogramme für Arbeitslose eingeführt,18 um die soziale Not zu lindern und die zunehmenden Arbeitskonflikte abzuschwächen. Insgesamt blieb Japan jedoch bis in die 1930er Jahre sowohl im Wohlfahrtsregime wie auch im Wirtschaftssystem eindeutig ein liberales Modell. Entsprechend zeichnete sich auch der Arbeitsmarkt durch sehr hohe Fluktuationsraten aus. Beispielsweise wechselte auch in der Zeitperiode von 1924–1936 jedes Jahr über die Hälfte der LohnempfängerInnen ihren Arbeitgeber.19 Trotz ersten Ansätzen in der staatlichen und lokalen Sozialpolitik war die Familie weiterhin das soziale Sicherheitsnetz der Arbeitskräfte im Industrie- und Dienstleistungssektor. Und trotz staatlicher Arbeitsämter waren es vor allem private Vermittler, die Arbeitskräfte und Arbeitgeber zusammenführten. Ab den frühen 1930er Jahren war Japan jedoch zunehmend in kriegerische Konflikte verwickelt, was eine grundlegende Transformation und Abkehr vom liberalen Modell einleitete. 15 Sheldon Garon, The State and Labor in Modern Japan, Berkeley 1987, 18–23; Andrew Gordon, Evolution, 64–68; Ryo Kambayashi, The Role of Public Employment Services in a Developing Country. The Case of Japan in the Twentieth Century, PRIMCED Discussion Paper Series No. 40, Tokyo 2013, 7f. 16 Kaze, Unemployment, 202–203; Hans Martin Krämer, Historical Origins of a Welfare-State Regime: Unemployment Protection in Japan, in: Social Science Journal Japan, 16 (2013) 1, 135. 17 Kambayashi, Role, 15–21. 18 Krämer, Historical, 143–148. 19 Arne Holzhausen, Das japanische Beschäftigungssystem in der Krise, Wiesbaden 1998, 23.

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III.

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Transformationsphase im Totalen Krieg und der Besatzungszeit

Die Transformation Japans von einem liberalen zu einem produktivistischen Modell vollzog sich ab den 1930er Jahren bis in die frühen 1950er Jahre. Diese Transformationsepoche besteht aus zwei Perioden, in welchem der Umbau unter ganz anderen politischen Vorzeichen erfolgte. In der ersten Phase des Totalen Kriegs bis 1945 wurde die japanischen Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend auf die Kriegsführung ausgerichtet, wobei der Staat in einem ganz neuen Ausmaß begann, in die Arbeits- und Produktionsmärkte planend einzugreifend. Aus einem stark ausgeprägten Laissez-faire-Kapitalismus wurde ein stark reguliertes Wirtschaftssystem erschaffen, in dem sich die Wirtschaftsakteure dem höheren Ziel des Kriegserfolges unterzuordnen hatte. Während der US-amerikanischen Besatzungszeit von 1945–1952 war zwar die Demokratisierung und Verwandlung Japans in einen Friedensstaat das zentrale Ziel, jedoch wurden mit den umfassenden Reformen die Grundlagen für den starken japanischen Entwicklungsstaat der Nachkriegszeit geschaffen, welche den Bruch mit dem liberalen Modell vollendeten. Somit stellen die beiden Phasen des Totalen Kriegs und der Besatzungszeit in einem angesichts der diametral entgegengesetzten Politikziele in überraschendem Ausmaß eine Kontinuität im Umbau Japans dar. In einer europazentrierten Lesart wird vom Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 gesprochen. Bei einer adäquaten Berücksichtigung Ostasiens muss der Kriegsbeginn jedoch einige Jahre früher angesetzt werden. Im Jahre 1931 marschierten japanische Truppen in die Mandschurei ein. In der Folge errichtete Japan den Marionettenstaat Mandschukuo und begann, in der Mandschurei eine riesige Siedlungskolonie aufzubauen. Aufgrund der Instabilität in der Region war Japan jedoch weiterhin in Kriegshandlungen involviert, welche in die japanische Invasion in China im Jahre 1937 mündeten. Entsprechend wird vom Fünfzehnjährigen Krieg (1931–1945) und/oder vom Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg (1937–1945), zu welchem nach dem Angriff auf die USA in PearlHarbor noch der Pazifische Krieg (1941–1945) mit der vorübergehenden Eroberung eines riesigen Territoriums in Südostasien durch Japan dazukam. In diesen Kriegsjahren wurde die japanische Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend auf diese Expansionskriege ausgerichtet. Durch eine Reihe von einschneidenden Gesetzen und Verordnungen erfolgte im Laufe der 1930er Jahre eine Abkehr von der bisherigen liberalen Wirtschaftsordnung zu einer zentralstaatlichen Kontrolle der Wirtschaft und ihrer Lenkung entsprechend den Anforderungen der Kriegsführung.20 Im Zuge dieser Unterordnung der Wirtschaft

20 Für eine chronologische Auflistung aller Gesetze und Erlässe zur staatlichen Kontrolle der

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auf den Totalen Krieg wurden die Grundlagen für viele Elemente erschaffen, welche die Wirtschaftsstrukturen Japans in der Nachkriegszeit auszeichneten.21 Oft wird in diesem Kontext im Anschluss an Yukio Noguchi vom „1940er System“ gesprochen, welches die politische Ökonomie und Wirtschaft der Nachkriegszeit geprägt habe.22 Eine im Vergleich zu früher extrem intervenierende Arbeitsmarktpolitik war ein zentrales Element dieser Ausrichtung der Gesellschaft und Wirtschaft auf den Totalen Krieg.23 Anvisiert wurde ein nationaler Schulterschluss inklusive Arbeiterschicht für die Kriegsanstrengung und den totalen Einsatz für den Kriegserfolg. Hierzu galt es, über eine staatliche Inklusionspolitik die ArbeiterInnen für dieses gemeinsame Ziel zu gewinnen und die bisher stark konfliktiven industriellen Beziehungen zwischen Arbeitgebern24 und ArbeitnehmerInnen zu befrieden. Zur Aktivierung der ArbeiterInnen wurden diese in patriotischen Verbänden (sanpo¯) am Arbeitsort organisiert, in welche auch die bestehenden Gewerkschaften eingegliedert wurden. Der Staat versuchte auch die Arbeitsbedingungen und das Einkommen der Arbeiterschaft zu verbessern, selbst wenn der Erfolg in diesen Bereichen auch aufgrund der Kriegsumstände sehr bescheiden blieb. In der Arbeitsvermittlung erfolgte im Jahre 1938 eine umfassende Revision, mit welcher private Agenturen und Vermittler aufgehoben und der Staat die zentrale Rolle in der Arbeitsvermittlung übernahm.25 Der freie Arbeitsmarkt wurde in den folgenden Jahren schrittweise aufgehoben und Arbeitskräfte zunehmend den Wirtschaftssektoren und Unternehmen entsprechend ihrer Bedeutung für die Kriegsführung von staatlicher Seite zugeteilt. Die Frage einer möglichen Einführung einer Arbeitslosenversicherung war in den Kriegsjahren angesichts des ausgeprägten Arbeitskräftemangels obsolet. Im Gegenteil, um die Kriegswirtschaft trotz der totalen Mobilmachung der Männer

21

22 23 24 25

Wirtschaft in den Kriegsjahren ab 1937 vgl. den Appendix zu Kapitel 10 bei Nakamura, Economic, 302–310. Kanji Ishi’i, Shihonshugi Nihon no Sekishi Ko¯zo¯, Tokyo 2015, 179–202; Takafusa Nakamura, The Postwar Japanese Economy. Its Development and Structure, 1937–1994, Tokyo 1995, 3–21; Nakamura, Economic, 263–301; Tetsuji Okazaki/Masahiro Okuno-Fujiwara (Hg.), The Japanese Economic System and Its Historical Origins, Oxford 1999; Eisuke Sakakibara/Yukio ¯ kurasho¯-Nichigin no Bunseki. So¯ryokusen Kezai Taisei no Shuen, in: Chu¯o¯ Ko¯ron, Noguchi, O 1085 (1977) August: 96–150. Yukio Noguchi, 1940-nen Taisei. Saraba Senji Keizai, Tokyo 1995. Garon, State, 187–227; Gordon, Evolution, 257–326; Weiss, War, 342–346. Da sich dieser Begriff nicht auf natürliche Personen, sondern auf juristische (d. h. Unternehmen) bezieht, findet hier die männliche Form Anwendung. Die Grundlage für das Funktionieren dieser Verstaatlichung der Arbeitsvermittlung war, dass die staatlichen Arbeitsämter ihre Dienstleistungen ab den frühen 1930er Jahren sukzessive verbessert hatten. Zum Zeitpunkt der Revision im Jahre 1938 hatten einige Arbeitsämter in den Regionen, für die sie zuständig waren, bereits vollständig private Netzwerke und Vermittler absorbiert, vgl. Kambayashi, Role, 25–28.

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für den Militärdienst und Fronteinsatz am Laufen zu halten, begann der Staat, auch Betagte, Frauen und Kinder in den Arbeitsdienst einzuteilen und verfrachtete Zwangsarbeitskräfte aus den Kolonien und vor allem Korea in die Kerngebiete des japanischen Kaiserreiches. Auf den Totalen Krieg folgte 1945 die totale Niederlage Japans mit der bedingungslosen Kapitulation nach dem Abwurf der beiden Atombomben. Die USamerikanische Besatzungspolitik bis 1952 kann grob in zwei Phasen eingeteilt werden.26 In einer ersten Phase bis 1947 war die Pazifizierung und Demokratisierung Japans das zentrale Politikziel. Japan sollte in eine funktionierende und außenpolitisch friedliche Demokratie verwandelt werden, welche nie mehr eine Gefahr für die USA darstellen sollte. Die treibenden Kräfte innerhalb der USamerikanischen Besatzungsmacht waren hierbei Beamte, die durch den New Deal in den USA der 1930er Jahre geprägt worden waren und somit progressive und arbeitnehmerfreundliche Ideen vertraten. Auf Geheiß der Besatzungsverwaltung wurde eine von ihr selbst geschriebene neue Verfassung verabschiedet, in welcher sich Japan im pazifistischen Artikel 9 zum Verzicht auf Kriegsführung verpflichtete. In die Nachkriegsverfassung, die bis heute unverändert in Kraft ist, wurde jedoch auch das Recht der ArbeitnehmerInnen auf gewerkschaftliche Organisation und kollektive Interessensvertretung verankert. Damit war zum ersten Mal in der japanischen Geschichte eine Rechtsgrundlage für Gewerkschaften geschaffen worden. Auch die soziale Wohlfahrt wurde in der neuen Verfassung als Aufgabe des Staates hervorgehoben. Im Zuge der umfassenden Reformen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wurden im Jahre 1947 ein Arbeitsministerium und eine Arbeitslosenversicherung eingerichtet. Die USamerikanische Besatzungsmacht führte auch einen sogenannten white purge durch, bei welchem die Elite der Kriegsjahre aus Armee, Politik und Wirtschaft signifikant geschwächt wurde. Fast ungeschoren kam hingegen die Staatsbürokratie davon, was ein wichtiger Faktor für ihren großen Einfluss auf die Entwicklung von Nachkriegsjapan ist. Angesichts des Kalten Kriegs, welcher sich in Ostasien im Gegensatz zu Europa schnell zu großen kriegerischen Konflikten mit Millionen von Opfern entwickelte und somit alles andere als „kalt“ war, erfolgte 1948 jedoch eine Neuausrichtung in der US-amerikanischen Besatzungspolitik. In dieser zweiten Phase der Besatzungszeit bis 1952 wurde Japan angesichts der neuen geopolitischen Vorzeichen als wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Kommunismus betrachtet. Japan war für die USA nun primär ein unsinkbarer Flugzeugträger vor dem asiatischen Festland. In diesem Kontext galt es nun, Japan als Teil des kapitalistischen Blocks zu festigen, weshalb viele führende Politiker der Kriegsjahre wieder rehabilitiert und ein red purge gegen die neu entstandenen linken Parteien und Gewerkschaften durchgeführt wurde. Auch 26 Dower, Embracing; Takemae, Inside.

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war nun im klaren Gegensatz zu Artikel 9 eine Wiederbewaffnung Japans ein Ziel der USA. Im Vergleich zum Regime der Kriegsjahre war die Besatzungszeit somit insgesamt einerseits durch radikale Reformen und deren spätere Abschwächung geprägt, beinhaltete jedoch andererseits keine Rückkehr zum liberalen Wirtschafts- und Sozialstaatsmodell Japans aus der Zeit bis in die frühen 1930er Jahre. Der Staat hatte in Fortsetzung der Kriegsjahre weiterhin eine äußerst aktive Rolle in der Wirtschaft inne. Innenpolitisch war es jedoch zu einer grundlegenden Machtverschiebung gekommen. Als Erbe aus der Besatzungszeit sahen sich die Arbeitgeber und konservativen Eliten trotz dem red purge nun einer weitaus besser organisierten Arbeiterschaft und starken progressiven Gesellschaftskräften gegenüber, mit welchen es galt, eine stabile Gesellschaft zu arrangieren und einen tragenden Kompromiss zu erarbeiten.

IV.

Beschäftigungsmodell und produktivistisches Wohlfahrtsregime

Nicht nur hatte Japan grundlegende Reformen in den Kriegsjahren und während der Besatzungszeit durchlaufen, sondern angesichts der Zerstörung und Niederlage war das bisher in der Moderne durch die Eliten vorgegebene Entwicklungsziel einer politischen und militärischen Führungsposition Japans im Weltsystem in den Augen vieler JapanerInnen delegitimiert. Die vorerst unbeantwortete Grundfrage lautete jedoch, auf was die Gesellschaft und Nation neu ausgerichtet werden sollte. Hierbei wurde nicht nur zwischen den konservativen Gesellschaftskreisen und der neuen progressiven Opposition gerungen, sondern auch innerhalb der konservativen Eliten traten offene Konflikte auf.27 Durchsetzen konnte sich schlussendlich Shigeru Yoshida, welcher als Premierminister von 1946–1947 und 1948–1954 wie kein anderer mit seinen Ideen entscheidend die Neuausrichtung Japans beeinflusste. Obwohl er auch ein konservativer Politiker war, formulierte er mit der Yoshida-Doktrin eine radikale Abkehr von den

27 Kenneth B. Pyle, The Japanese Question. Power and Purpose in a New Era, Washington 1992, 31–32; Bai Gao, The Search for National Identity and Japanese Industrial Policy, 1950–1969, in: Nations and Nationalism 4 (1999) 2, 230–233. Dieser Konflikt wurde nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ausgetragen, sondern fand seinen Wiederhall auch in einzelnen Politikfeldern. So war beispielsweise auch die Arbeitsmarktpolitik in den ersten Nachkriegsjahren in Japan durch ähnliche Positionen und damit verbundene Auseinandersetzungen gekennzeichnet, vgl. Ikuo Kume, Institutionalizing the Active Labor Market Policy in Japan. A Comparative View, in: Hyung-ki Kim/Michio Muramatsu/T. J. Pempel/Kozo Yamamura (Hg.), The Japanese Civil Service and Economic Development. Catalysts of Change, Oxford 1995, 320–322.

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bisherigen Entwicklungszielen. Laut dieser neuen Doktrin sollte Japan Wirtschaftswachstum priorisieren und zum Erreichen dieses Ziels eine sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA in Kauf nehmen. Während Wirtschaftswachstum bis 1945 nur ein Mittel zum Zweck gewesen war, um das Ziel einer politisch und militärisch starken Nation zu erreichen, so wurde nun von Yoshida der wirtschaftliche Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Kriegs zum zentralen Ziel erklärt, für welches sogar eine politische Unterordnung unter die USA und die Präsenz von US-amerikanischen Streitkräften auf japanischem Territorium zu akzeptieren waren.28 Der von Yoshida zu Ende der Besatzungszeit geschlossene Sicherheitspakt mit den USA stellt in diesem Sinne auch weitaus stärker einen ungleichen Vertrag dar, als die oben erwähnten Verträge mit den westlichen Kolonialmächten im 19. Jahrhundert. Es mag entsprechend nicht überraschen, dass die Yoshida-Doktrin nicht nur von der progressiven Oppositionskräften kritisiert wurde, sondern auch innerhalb konservativer Politikkreise heftig umstritten war. Erst mit Hayato Ikeda (Premierminister 1960–1964) erfolgte im Jahre 1960 die soziale Verankerung der Yoshida-Doktrin als gemeinsamer Wachstumspakt, womit sie zur dominanten Norm und dem Kernelement des neuen Gesellschaftsvertrages zwischen konservativen Eliten und Bevölkerung wurde.29 Hierbei ist zu beachten, dass die Yoshida-Doktrin durch Ikeda entscheidend erweitert und revidiert wurde. Ursprünglich sollte das Wirtschaftswachstum dem Wiederaufstieg Japans dienen, wofür auch von der Bevölkerung Opfer erwartet wurden. Mit Ikeda und dem von ihm verkündeten Plan zur Verdoppelung des Volkseinkommens war nun jedoch nicht mehr die Stärkung der Nation das eigentliche Ziel des Wachstumsprojektes, sondern das ökonomische Wachstum sollte zu Wohlstand der gesamten Bevölkerung führen. Mit dieser Reformulierung unter Ikeda wurden die Yoshida-Doktrin zu einem Pakt für ein „gemeinsames Wachstum“30 und die Konservativen zum Garanten einer ökonomischen Prosperität für die gesamte Gesellschaft. Es war auch ein wichtiger Umkehrpunkt in der Entwicklung Japans nach 1945, indem die soziale Verankerung der Yoshida-Doktrin durch Ikeda zu einem Rückgang der bisher virulenten und teilweise mit Gewalt ausgetragenen gesellschaftlichen und politischen Konflikte in Japan führte. Nicht nur erfolgreich realisiert, sondern sogar noch weit über28 Für eine ideengeschichtliche Einordnung des Wachstumskonzepts und einer Analyse seiner ganz neuen Relevanz im Nachkriegsjapan, vgl. Scott O’Bryan, The Growth Idea. Purpose and Prosperity in Postwar Japan, Honolulu 2009. 29 David Chiavacci, The Social Basis of Developmental Capitalism in Japan. From Postwar Mobilization to Current Stress Symptoms and Future Disintegration, in: Asian Business & Management, 6 (2007) 1, 37–38. 30 Jose Edgardo Campos/Hilton L. Root, The Key to the Asian Miracle. Making Shared Growth Credible, Washington 1996.

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troffen wurden die mit dem Plan zur Verdoppelung des Volkseinkommens versprochenen Wachstumsziele gerade auch durch eine planende Wirtschafts- und Industriepolitik.31 Dieser starke Entwicklungsstaat der Nachkriegszeit stellte mit seiner intervenierenden Wirtschaftspolitik eine Kontinuität gegenüber den Kriegsjahren dar, wobei das Augenmerk nicht nur auf die Generierung von Wachstum, sondern auch auf die Steigerung von Produktivität und Effizienz gelegt wurde. Neben der zentralstaatlichen Planung war gerade auch die Lösung des Konfliktes in den industriellen Beziehungen von zentraler Bedeutung für den japanischen Wirtschaftserfolg der Nachkriegszeit. Der Arbeitsmarkt war vorerst durch eine grundlegende Auseinandersetzung zwischen den neu etablierten, starken Gewerkschaften und den Arbeitgebern gekennzeichnet. Erst im Laufe der späten 1950er Jahre zeichnete sich zunehmend ein Sozialkompromiss ab, der dann ab den 1960er Jahren diffundierte und die Arbeitsmarktstrukturen in Japan prägte. Dieser Kompromiss war das japanische Beschäftigungsmodell, welches eine implizite langfristige Beschäftigungsgarantie (shu¯shin ko¯yo¯), eine auf dem Senioritätsprinzip basierende Entlohnungs- und Beförderungspolitik in den Firmen (nenko¯ joretsu) und eine enge mikrokorporatistische Sozialpartnerschaft auf Unternehmensebene zwischen Betriebsgewerkschaft und Management (kigyo¯betsu ro¯do¯ kumiai) umfasste.32 Damit verbunden war ein idealer Lebenslauf, in welchem nach dem Bildungsabschluss die Transition in ein Unternehmen erfolgt, und bei dem man bis zur Pensionierung verbleibt und eine interne Karriere durchläuft. Somit gewann in Japan der firmeninterne Arbeitsmarkt im Vergleich zu westlichen und gerade auch den liberalen angelsächsischen Industrieländern mit viel häufigeren Arbeitgeberwechseln im Laufe der Erwerbsbiografie eine weitaus stärkere Bedeutung. Ebenso stark war der Kontrast jedoch auch zum japanischen Arbeitsmarkt bis in die 1930er Jahre, bei welchem – wie oben diskutiert – sehr hohe Fluktuationsraten bestanden und welcher insgesamt eindeutig einem liberalen Arbeitsmarktmodell entsprach. Große Industrieunternehmen hatten zwar erste Ansätze für interne Arbeitsmärkte und ein Senioritätsprinzip in der Entlohnung angesichts eines einsetzenden Fachkräftemangels bereits im Laufe der 1920er Jahren eingeführt.33 Jedoch erst nach der strikten staatlichen Regulation des Arbeitsmarktes in den 31 Chalmers Johnson, MITI and the Japanese Miracle. The Growth of Industrial Policy, 1925–1975, Stanford 1982; Daniel I. Okimoto, Between MITI and the Market. Japanese Industrial Policy for High Technology, Stanford 1989. 32 Für ausführlichere Darstellungen des japanischen Beschäftigungsmodells inklusive einiger statistischer Evidenz für die knapp beschriebenen Arbeitsmarktstrukturen, vgl. David Chiavacci, Der Boom der ausländischen Unternehmen als Arbeitgeber. Paradigmawechsel in Japan?, München 2002, 31–54; Holzhausen, Beschäftigungssystem, 9–79. 33 Gordon, Evolution, 132–155; Nakamura, Economic, 220–224; Weiss, War, 339–341.

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Kriegsjahren und vor allem in Reaktion auf den massiven Druck von Seiten der Gewerkschaften nach mehr Beschäftigungssicherheit und der Einführung des Senioritätsprinzips in der Nachkriegszeit wurde ein auf interne Arbeitskarrieren und langfristige Beschäftigung ausgerichtetes Personalmanagement flächendeckend zur Norm für männliche Arbeitnehmer. Bei Arbeitnehmerinnen ist anzumerken, dass parallel mit der Institutionalisierung des Beschäftigungsmodells sich auch ein neues Familienmodell im Nachkriegsjapan etablierte, in welchem es zu einer ungleich strikteren Trennung der Genderrollen kam.34 Frauen waren nun primär für die Familie zuständig und in der Regel explizit vom Beschäftigungsmodell ausgeschlossen, indem sie meist nur als Teil der Randbelegschaft eingestellt wurden. Erst dieses frauenzentrierte Familienmodell und die damit verbundene Entbindung der Männer von familiären Pflichten ermöglichte die „Rundumnutzung“35 der männlichen Arbeitskräfte durch ihren Arbeitgeber. Umfassend realisiert wurden zudem diese Normen des Beschäftigungsmodells nur für die männliche Stammbelegschaft in Großunternehmen. Kleine und mittlere Firmen konnte sie hingegen weitaus weniger stark implementieren. Trotzdem entwickelte sich das Beschäftigungsmodell zu einer zentralen gesellschaftlichen Norm im Japan der Nachkriegszeit, an welcher sich die individuellen Lebensläufe als Ideal orientierten. Das Beschäftigungsmodell wurde zudem ab den 1960er Jahren zunehmend als kulturelle Besonderheit Japans im Vergleich zum Westen und vor allem zu den USA betrachtet und oft als der zentrale Faktor für den japanischen Wirtschaftserfolg positiv hervorgehoben.36 Obwohl der Arbeitsmarkt bis in die 1930er Jahre ganz anders funktioniert hatte, war das Beschäftigungsmodell nun von eminenter Bedeutung in Japan für das kulturelle Selbstverständnis und nationale Selbstbewusstsein. Der Wandel des Arbeitsmarktes von einem liberalen Typ zu einem stark koordinierten Typ mit dem Beschäftigungsmodell war keine isolierte Entwicklung. Auch in anderen Bereichen fand in institutioneller Komplementarität eine Transformation statt. Der japanische Wirtschaftshistoriker Tetsuji Okaza zeigt beispielsweise in seinen Analysen der Unternehmensführung in Japan,37 dass auch diese bis in die 1930er Jahre einem liberalen Modell entsprach, indem der 34 Chiavacci, Social, 40–41. 35 Christoph Deutschmann/Claudia Weber, Arbeitszeit in Japan. Organisatorische und organisationskulturelle Aspekte der „Rundumnutzung“ der Arbeitskraft, Frankfurt 1987. 36 Chiavacci, Boom, 40–49. 37 Tetsuji Okazaki, The Japanese Firm under the Wartime Planned Economy, in: Masahiko Aoki/Ronald Dore (Hg.), The Japanese Firm. Sources of Competitive Strength, Oxford 1994, 350–378; Tetsuji Okazaki, Corporate Governance, in: Tetsuji Okazaki/Masahiro OkunoFujiwara (Hg.), The Japanese Economic System and Its Historical Origins, Oxford 1999, 97–144.

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Großteil des Profits an die Aktionäre über die Dividenden ausgeschüttet wurde. Erst mit der staatlichen Regulation und Begrenzung der Dividenden in den Kriegsjahren und aufgrund des Drucks von gewerkschaftlicher Seite in der Nachkriegszeit wurde dazu übergegangen, den größten Anteil des Profits im Unternehmen für neue Investitionen zu behalten und im internationalen Vergleich eher bescheidene Dividenden auszuzahlen. Das Beschäftigungsmodell und diese neue Form der Unternehmensführung waren wichtige Faktoren, welche zu einer sehr langfristigen, auf Marktanteile und nicht kurzfristigen Profit ausgerichteten Strategie vieler japanischer Firmen führte, für welche diese in der Nachkriegszeit auch bekannt wurden. Japan entwickelte sich somit in der Nachkriegszeit zu einem koordinierten Volkswirtschaftsmodell, welches auf einem Sozialvertrag für gemeinsames Wachstum zwischen den Eliten und der Bevölkerung basierte und in Kontinuität zu den Kriegsjahren durch eine stark intervenierende Wirtschafts- und Industriepolitik von Seiten des starken Entwicklungsstaates gekennzeichnet war. Die Sozialpolitik spielte hierbei weiterhin eine untergeordnete Rolle, indem sich in Japan als Teil der Wachstumspolitik ein produktivistisches Wohlfahrtsregime herausbildete.38 Allgemeiner Wohlstand sowie soziale Inklusion, Egalität und Fairness wurden nicht über eine Umverteilung von Steuern und umfassende staatliche Sozialversicherungssysteme realisiert, sondern wurden über Wachstum, Produktivitätssteigerung und Strukturwandel generiert, welche zu einer rapiden Kaufkraftzunahme und einer allgemeinen sozialen Aufwärtsmobilität der Bevölkerung führten. Anstatt einer klassischen Sozialpolitik mit umfassend ausgebauten und finanziell gut ausgestatteten Programmen bediente sich der Staat primär funktionalen Äquivalenten.39 Kapital wurde in diesem System prioritär produktiv für Wirtschaftsinvestitionen und somit Wirtschaftswachstum eingesetzt und war kaum für Sozialprogramme vorgesehen. Deshalb lagen die Ausgaben in der japanischen Sozialpolitik gemessen zur Wirtschaftskraft bis in die 1990er Jahre weit unter dem OECD-Durchschnitt. Paradigmatisch ist das produktivistische Wohlfahrtsregime in der Arbeitsmarktpolitik realisiert worden. Das Kernelement stellt hierbei das oben beschriebene Beschäftigungsmodell dar. Über die langfristige Beschäftigungs- und planbare Einkommensgarantie und die damit hohe Integration und Teilhabe im Unternehmen wurden die einzelnen Arbeitnehmer am Betriebserfolg und dem 38 Young Jun Choi, End of the Era of Productivist Welfare Capitalism? Diverging Welfare Regimes in East Asia, in: Asian Journal of Social Science 40 (2012) 3, 282–284; Holliday, Productivist, 711f. 39 Margarita Est8vez-Abe, Welfare and Capitalism in Postwar Japan, Cambridge 2008; Mari Miura, Welfare through Work. Conservative Ideas, Partisan Dynamics, and Social Protection in Japan, Ithaca 2012; Takafumi Uzuhashi, Gendai Fukushi Kokka no Kokusai Hikaku. Nihon Moderu no Ichizuke to Tenbo¯, Tokyo 1997.

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damit verbundenen Wirtschaftswachstum beteiligt. Der Erfolg des Arbeitgebers war auch der Triumph seiner Belegschaft. (Garantierte) Arbeitstätigkeit wurde bei solchen Arbeitsmarktstrukturen und damit der Arbeitsmarktpolitik zum Äquivalent für Wohlfahrt. Somit ersetzte diese „Wohlfahrt durch Arbeit“40 im Japan der Nachkriegszeit eine umfassend ausgebaute und finanziell gut ausgestattete Arbeitslosenversicherung. Das hohe Wachstum und die damit verbundene geringe Arbeitslosigkeit bzw. Vollbeschäftigung führte zu einer extrem hohen Funktionalität des Modells. Als Teil des Beschäftigungsmodells sind nicht die Arbeitsämter, sondern Bildungsinstitutionen die zentralen Organisationen in der Arbeitsvermittlung, indem Schulabgänger bei der Transition in den Arbeitsmarkt idealerweise ihrem lebenslangen Arbeitgeber vermittelt werden.41 Schulen und Universitäten pflegten Beziehungen und unterhielten Netzwerke zu potentiellen Arbeitgebern ihrer Absolventen und führten diese sowohl in beratender wie vermittelnder Funktion langfristiger Beschäftigung zu. Auch hier zeichnete sich Japan durch eine extreme Funktionalität und großen Erfolg im Platzieren von Absolventen in unbefristeten Anstellungsverhältnis zum Zeitpunkt des Schulabschlusses im Vergleich zu vielen westlichen Industrieländern mit wachsender Jugendarbeitslosigkeit gerade ab den 1970er Jahren aus, weshalb die Transition aus dem Bildungssystem in den Arbeitsmarkt in Japan als „super-highway“42 bezeichnet wurde. Die Arbeitsämter hatten im Modell hingegen nur eine ergänzende Funktion bei Fällen, in welchen die Integration in die Arbeitsmarktstrukturen nicht oder nur teilweise realisiert worden war. Auch bei der sozialen Vorsorge zeigt sich die Bedeutung des Beschäftigungsmodells, indem diese primär auf der Ebene des einzelnen Betriebs und nicht der staatlichen Vorsorgesysteme erfolgte. Damit gewann der Arbeitgeber in Japan nicht nur eine zentrale Bedeutung für die Identität der Arbeitnehmer, sondern prägte deren Lebenslauf auch über die eigentliche Beschäftigung hinaus, weshalb japanische Autoren von einer „unternehmenszentrieren Gesellschaft“ (kaishashugi) sprachen.43 Diese Priorisierung des Beschäftigungsmodells in der Arbeitsmarktpolitik als 40 Miura, Welfare. 41 Mary C. Brinton/Takehiko Kariya, Institutional Embeddedness in Japanese Labor Markets, in: Mary C. Brinton/Victor Nee (Hg.), The New Institutionalism in Sociology, New York 1998, 181–207; David Chiavacci, Transition from University to Work under Transformation. The Changing Role of Institutional and Alumni Networks in Current Japan, in: Social Science Japan Journal, 8 (2005) 1, 25–33; Takehiko Kariya/Shinji Sugayama/Hiroshi Ishida (Hg.), Gakko¯ Shokuan to Ro¯do¯ Shijo¯. Sengo Shinki Gakusotsu Shijo¯ no Seidoka Katei, Tokyo 2000. 42 Paul Ryan, The School-to-Work Transition: A Cross-National Perspective, in: Journal of Economic Literature, 39 (2001) 1, 59. 43 Hiroji Baba, Japanese Companyism and the End of the Cold War, in: Junji Banno (Hg.), Political Economy of Japanese Society (Volume 1). The State or the Market?, Oxford 1997, 162–189; Jiro¯ Sakamoto, Kaishashugi Sengen, in: Chu¯o¯ Ko¯ron, 81 (1966) 5, 80–105.

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Teil des produktivistischen Wohlfahrtsregimes ist gerade auch ab den 1970er Jahren deutlich zu erkennen, als im Zuge der Erdölkrise von 1973 plötzlich eine angesichts der Hochkonjunktur der zurückliegenden Jahre einschneidende Rezension auftrat. In dieser Krise im Wachstumsmodell wurde die langfristige Beschäftigungsgarantie durch die staatliche Arbeitsmarktpolitik gestützt, indem anstatt eines umfassenden Ausbaus der Arbeitslosenversicherung vor allem Unterstützungsmaßnahmen für die Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmern selbst im Falle von betrieblichen Schwierigkeiten verstärkt wurden.44 Die schnelle Überwindung der Rezession und die nachfolgende Wachstumsphase schienen hierbei den Erfolg des japanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zu unterstreichen. In den 1990er Jahren begann der Wind sich jedoch zu drehen.

V.

Jenseits des Wachstumsmodells?

Die ökonomische Erfolgsgeschichte Japans fand in den frühen 1990er Jahren ein abruptes Ende. Wie bereits in der Einleitung beschrieben, leitete das Platzen der riesigen Spekulationsblasen im Immobilien- und Aktienmarkt zu einer lang anhaltenden Phase der Stagnation bis in die Gegenwart, mit welcher Japan international seinen Vorbildcharakter verlor und auch in Japan selbst ein Hinterfragen des bisherigen Modells einsetzte. Japan war im letzten Vierteljahrhundert nicht nur durch ein geringes Wachstums und wiederholt auftretende Rezessionen gekennzeichnet, sondern vor allem schien auch eine aktive Wirtschaftspolitik von staatlicher Seite nicht mehr die erhofften Resultate zu liefern. Alle staatlichen Investitions- und Ankurbelungsprogramme / la Keynes führten nicht zu einer Rückkehr zu kontinuierlichem Wirtschaftswachstum, sondern zu einer stetig steigenden Staatsverschuldung, die in der Gegenwart mit weit über 200 % des Bruttoinlandsprodukts ein gigantisches Ausmaß erreicht hat.45 Zudem hat Japan parallel zu diesen Entwicklungen auch in seiner demografischen Struktur einen grundlegenden Wandel durchlaufen. In der kurzen Zeit44 Kume, Institutionalizing, 312–313; Martin Seeleib-Kaiser, Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung im deutsch-japanischen Vergleich, in: Dietrich Thränhardt (Hg.), Japan und Deutschland in der Welt nach dem Kalten Krieg, Münster 1996, 139–140. 45 Laut Berechnungen der OECD könnte die japanische Staatsverschuldung bis 2040 ohne Haushaltskonsolidierung sogar auf über 400 % wachsen, vgl. OECD (Organisation of Economic Co-operation and Development), OECD Economic Surveys. Japan, Paris: 2015, 34. Es gibt jedoch auch Analysen der japanischen Entwicklung nach dem Platzen der Spekulationsblasen, welche die aktive Wirtschaftspolitik Japans sehr positiv bewerten und sie den westlichen Industrieländern angesichts der Weltwirtschaftskrise ab 2007 explizit zur Nachahmung empfehlen, vgl. Richard C. Koo, The Holy Grail of Macro Economics. Lessons from Japan’s Great Recession, Singapur 2009.

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spanne von etwa 15 Jahren zwischen 1990 und 2005 hat sich Japan von einer gerade im Vergleich zu den westlichen Industrieländern noch jungen Gesellschaft in die älteste Gesellschaft weltweit transformiert.46 Das ausbleibende Wachstum hatte ebenso Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit ist gerade im internationalen Vergleich zwar nur sehr moderat angestiegen, aber es kann in der Gegenwart auch in Japan nicht mehr von einer Vollbeschäftigung gesprochen werden. Vor allem hat jedoch außerdem der Anteil der atypischen Beschäftigungen stark zugenommen: von 20,9 % im Jahr 1995 auf 37,4 % im Jahr 2014.47 Zwar haben die Arbeitgeber nicht eine totale Abkehr vom japanischen Beschäftigungsmodell vollzogen, jedoch haben viele Firmen umfassende Adaptionen im Personalmanagement vorgenommen, welche zu einem starken Anwachsen der Randbelegschaft in zeitlich befristeten oder Teilzeitarbeitsverträgen geführt hat.48 Das Beschäftigungsmodell prägt somit zwar weiterhin als Norm das Zusammenspiel von Staat, Arbeitgebern und Arbeitstätigen in Japan, jedoch ist ein zunehmend kleiner Anteil der Beschäftigten umfassend oder zumindest teilweise in dieses Modell integriert. Dieser Wandel im Arbeitsmarkt und die signifikante Abschwächung des Beschäftigungsmodells haben zusammen mit dem Einbruch in der Kaufkraftzunahme und der sozialen Aufwärtsmobilität ab der Jahrtausendwende zu einer neuen Wahrnehmung Japans als einer zunehmend durch soziale Ungleichheit und soziale Exklusion gekennzeichnete „Gesellschaft der Kluft“ (kakusa shakai) geführt.49 Dieser neue Diskurs ist ein Indikator, wie in der Gegenwart große Teile der Bevölkerung bis in die Mittelschichten durch das Ausbleiben eines gemeinsamen Wirtschaftswachstums als dem Kernelement des Sozialvertrages der Nachkriegszeit verunsichert sind und sich nicht mehr vollständig in die japanische Mehrheitsgesellschaft integriert fühlen. Trotz dieser anhaltenden Krise kann bisher in der Sozialpolitik nicht von einer 46 Eine Übersicht zu den Auswirkungen und Herausforderungen dieser demografischen Transformation gibt der Sammelband des Deutschen Instituts für Japanstudien, vgl. Florian Coulmas/Harald Conrad/Annette Schad-Seifert/Gabriele Vogt (Hg.), The Demographic Challenge. A Handbook about Japan, Leiden 2008. 47 Ministry of Internal Affairs and Communications, Labour Force Survey, Tokyo 2015. 48 Alexander Hijzen/Ryo Kambayashi/Hiroshi Teruyama/Yuji Genda, The Japanese Labour Market during the Global Financial Crisis and the Role of Non-standard Work. A Micro Perspective, in: Journal of the Japanese and International Economies, 38 (2015), 260–281; Ryo Kambayashi/Takao Kato, Long-Term Employment and Job Security over the Past 25 Years. A Comparative Study of Japan and the United States, in: ILR Review, 70 (2017) 2, 359–394; Michio Nitta, Evolution of Japanese Employment Systems in the Lost Decade and After, in: Shakai Kagaku Kenkyu¯, 60 (2009) 1, 33–42. 49 David Chiavacci, From Class Struggle to General Middle-Class Society to Divided Society. Societal Models of Inequality in Postwar Japan, in: Social Science Japan Journal, 11 (2008) 1, 5–27; David Chiavacci/Carola Hommerich (Hg.), Social Inequality in Post-Growth Japan. Transformation during Economic and Demographic Stagnation, London 2016.

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Abkehr vom produktivistischen Wohlfahrtsregime und seiner Ausrichtung auf das Beschäftigungsmodell gesprochen werden. Zwar ist es in der Arbeitsmarktpolitik zu einzelnen Reformen gekommen, jedoch wurde bisher eine Neuausrichtung des Sozialstaates nicht realisiert, bei welcher eine grundlegende Bedeutungszunahme der Arbeitsämter und Arbeitslosenversicherung erfolgt wäre.50 Im Gegenteil: Die Wirtschaftspolitik der gegenwärtigen Regierung unter Premierminister Shinzo¯ Abe, welche unter der Schlagwort Abenomics bekannt wurde, stellt im Grunde den erneuten Versuch dar, Japan zurück auf einen kontinuierlichen Wachstumspfad zu führen und somit den Wachstumspakt wieder zu erneuern. Allerdings müssen die Erfolgsaussichten der Abenomics als stark begrenzt eingeschätzt werden,51 womit sich langfristig nach wie vor die Frage einer grundlegenden Neuausrichtung Japans angesichts des langsamen Niedergangs des Nachkriegsmodells stellt.

VI.

Fazit

Die Entwicklung Japans in der Moderne ist durch eine Transformationsphase gekennzeichnet, die einen Bruch in der institutionellen Pfadabhängigkeit darstellt. Während Japan bis in die 1930er Jahre in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie den Arbeitsmarktstrukturen ein liberales Modell par excellence darstellte, zeichnet es sich ab den 1950er Jahren durch eine dem Laissez-faire-Kapitalismus entgegengesetzte, aktive Wirtschaftspolitik in der Form des starken Entwicklungsstaates mit einem damit verbundenen produktivistischen Wohlfahrtsregime und einem durch das Beschäftigungsmodell geprägten Arbeitsmarkt aus. Japan ist somit auch ein Paradebeispiel für die Diskontinuität des sozialen Wandels und für eine systemische Umgestaltung der politischen Ökonomie. In der sozialwissenschaftliche Debatte zur Frage, ob Japan eine andere Art von Moderne darstelle,52 wirft die vorliegende Analyse somit die Frage auf, ob Japans 50 Young Jun Choi, End of the Era of Productivist Welfare Capitalism? Diverging Welfare Regimes in East Asia, in: Asian Journal of Social Science, 40 (2012) 3, 275–294; Yasuhiro Kamimura/Naoko Soma, Active Labour Market Policies in Japan. A Shift Away from the Company-Centred Model?, in: Journal of Asian Public Policy, 6 (2013) 1, 42–59; Jiyeoun Song, Inequality in the Workplace. Labor Market Reform in Japan and Korea, Ithaca 2014. 51 David Chiavacci/Carola Hommerich, Reassembling the Pieces. The Big Picture of Inequality in Japan, in: David Chiavacci/Carola Hommerich (Hg.), Social Inequality in Post-Growth Japan. Transformation during Economic and Demographic Stagnation, London 2016, 294–297; Tim Tiefenbach, Eine Frage der Zeit. Das Scheitern von Abenomics, in: David Chiavacci/Iris Wieczorek (Hg.), Japan 2015: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München 2015, 203–221. 52 Jjhann P#ll ]rnason, The Peripheral Centre. Essays on Japanese History and Civilization, Melbourne 2002; S. N. Eisenstadt, Japanese Civilization. A Comparative View, Chicago 1996.

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Entwicklungsgeschichte an sich nicht bereits zwei unterschiedliche Arten von Moderne umfasst. Die Transformationsphase in der japanischen Entwicklung ist hierbei äußerst komplex. Sie gliedert sich in zwei Phasen, welche unter ganz anderen politischen Vorzeichen (totaler Expansionskrieg versus Demokratisierung und Pazifizierung) stehen und doch bzgl. ihrer transformativen Dynamik ergänzend ineinandergreifen. Durch die Reformen und Neuerungen während der Transformationsphase kam es zu einer grundlegenden Veränderung des Kräfteverhältnisses in der japanischen Gesellschaft, welche die Etablierung eines neuen Sozialkompromisses und Sozialvertrages zwischen Eliten und Bevölkerung nötig machte. Trotz dieses transformativen Bruches in der japanischen Entwicklung und des damit verbundenen grundlegenden, systemischen Wandels besteht über die ganze 150-jährige Entwicklung hinweg in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Japans eine klare Kontinuität. Die staatliche Arbeitsvermittlung über die Arbeitsämter und die staatliche Arbeitslosenversicherung spielten vor und nach der Transformationsphase nur eine untergeordnete Rolle. Diese in westlichen Industrieländern in der Regel zentralen Instrumente in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik waren in der japanischen Moderne nur von sekundärer Bedeutung. Allerdings unterscheiden sich in den beiden Phasen die Gründe hierfür. Während bis in die 1930er Jahren der Staat eine ausgesprochen liberale Wirtschaftsund Sozialpolitik im Sinne eines Manchesterkapitalismus verfolgte, wurde ab den 1950er Jahren vor allem über das gemeinsame Wachstumsprojekt die Inklusion großer Gesellschaftskreise erreicht.53 Hierbei ersetzten das Beschäftigungsmodell und die damit verbundene „Wohlfahrt durch Arbeit“ als funktionale Äquivalente lange sehr erfolgreich eine klassische Arbeitsmarktpolitik mit gut ausgebauten Arbeitsämtern und einer umfassenden Arbeitslosenversicherung. Im letzten Vierteljahrhundert ist dieses Gesellschaftsmodell der Nachkriegszeit jedoch in eine große Krise geraten. Zwar sind trotz einiger Reformen die Grundzüge des Modells weiterhin in einem überraschenden Ausmaß intakt, und die aktuelle Wirtschaftspolitik ist ein erneuter Versuch der Überwindung der Krise und vollen Reetablierung des Modells, jedoch stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit die Frage, ob Japan nicht erneut an einem Umkehrpunkt 53 Die ungeheure integrative Kraft dieses Gesellschaftsmodells der Nachkriegszeit ist gerade bei der Entwicklung der koreanischen Minderheit in Japan deutlich erkennbar. Obwohl sich diese Minderheit nicht nur von privaten Akteuren, sondern auch von staatlicher Seite mit einer sehr starken Form der Diskriminierung konfrontiert sah, erreichte sie doch im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte zunehmend mehrheitlich Mittelschichtspositionen und wurde somit sukzessive sozio-ökonomisch in die japanische Mehrheitsgesellschaft integriert, vgl. Bumsoo Kim, Bringing Class Back In: The Changing Basis of Inequality and the Korean Minority in Japan, in: Ethnic and Racial Studies, 31 (2008) 5, 871–898.

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in seiner modernen Entwicklungsgeschichte angekommen ist. Im Vergleich zum Totalen Krieg und zur Besatzungszeit verfügt die gegenwärtige Elite sicherlich über weitaus weniger Machtressourcen und Handlungsmöglichkeiten, um eine erneute Transformation des modernen Japans einzuleiten, aber eine Abfolge von Reformen und Veränderungen, welche mittelfristig zu einem inkrementellen, jedoch doch grundlegenden institutionellen Wandel führen, scheint nicht nur ein möglicher, sondern auch ein wahrscheinlicher Entwicklungspfad zu sein.

Ursula Prutsch

Arbeiterpolitik in Brasilien unter Getúlio Vargas (1930–1945)

Im Jahr 1930 schwang sich der südbrasilianische Großgrundbesitzer Getffllio Dornelles Vargas durch einen „Putsch von oben“ zum Präsidenten Brasiliens auf. Seine erste Regierungsperiode von 1930 bis 19451 sollte wie keine andere die Weichen für die Transformation des heterogenen Agrarstaates in der Größe Europas zu einer modernen Industrienation stellen. Ihre Hauptakteure, die „Arbeiterschaft“, verstand das Regime allerdings nicht als Klasse, sondern als entideologisiertes Kollektiv eines paternalistischen Staates. Denn Vargas war kein linker oder liberaler Politiker. Er war ein elitärer, technokratischer Positivist, der Parteiendemokratie nicht traute, sondern Stabilität in einem hierarchisch geordneten, katholischen Ständestaat verortete.2 1 Getffllio Vargas wurde im Jahre 1950 noch einmal demokratisch gewählt und nahm sich im August 1954 nach massiver Kritik an seiner korrupten Politik das Leben. 2 Es gibt einige strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem österreichischen Ständestaat und der brasilianischen Politik, gerade auch was die Bedeutung der Vatikanischen Katholischen Soziallehre, die „organisch hierarchische“ Strukturierung der Gesellschaft und die gewaltbereite Disziplinierung der Arbeiterschaft betrifft. Während der Debatten zur verfassungsgebenden Versammlung – die Verfassung trat 1934 in Kraft – wurden auch die Weimarer Verfassung (Art. 157–165) und Hans Kelsens Verfassungsmodell diskutiert, wenngleich deren liberales Werteverständnis bewusst übersehen wurde. Vgl. Ricardo Borrmann, A recepżo de Hans Kelsen na Constituinte de 1933–34: peÅas de um quebra-cabeÅa incompleto. ,Positivismo‘ versus ,Positivismos‘?, in: Lena Medeiros de Menezes et al. (Hg.), Intelectuais na Am8rica Latina: pensamento, contextos e instituiÅles, Rio de Janeiro 2014, 385–405. In der Korporatismus-Forschung wurden auch immer wieder Ähnlichkeiten zwischen dem Vargas-Regime und jenem von Antjnio Salazar in Portugal, dem ehemaligen Mutterland Brasiliens, herausgearbeitet. Meiner Meinung nach gibt es einige zentrale Unterschiede: Salazar, der die niederen Weihen hatte und die Tugend der Bescheidenheit nicht nur predigte, sondern auch selbst lebte, wollte Portugal nicht weiter industrialisieren. Er strebte vielmehr nach dem agrarromantischen, antikapitalistischen Ideal, „bescheiden, aber glücklich zu sein“. Die Politik Salazars beruhte auch auf der Dichotomie zwischen dem kleinen, ethnisch sehr homogenen Portugal, das seine Grenzen für Einwanderer geschlossen hielt, und dem Selbstverständnis, eine jahrhundertealte Kolonialmacht zu sein. Brasiliens politische Elite tradierte die Lebensformen der Sklavenhaltergesellschaft weiter. Sie war nicht antikapitalistisch und verstand Industrialisierung als einen wichtigen Motor des Fortschritts. Was Salazar und Vargas verband, war ihre Kritik am demokratischen Liberalismus, weshalb sie die Arbeiterschaft mit

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Ursula Prutsch

Mit einem engen Kreis von Freunden und Beratern betrieb Vargas eine klientelistische Politik, indem er Parteien sukzessive verbieten ließ, Entscheidungen per Dekret fällte und nach einem selbstinszenierten Putsch Ende 1937 das Land bis zu seinem Sturz 1945 als Diktator regierte. Ähnlich wie der italienische Diktator Benito Mussolini vor ihm und der argentinische Militär Juan Domingo Perjn ein paar Jahre später, verstand es Vargas, eine wohlfahrtsstaatliche Arbeiterpolitik durchzusetzen, indem er Kapital und Arbeit miteinander „versöhnte“ und gewerkschaftlichen Aktivismus durch eine von oben gesteuerte Arbeitsgesetzgebung und Sozialpolitik im Keim zu ersticken versuchte. Aufgrund dieses Anspruches und dieser Politik ist Präsident Vargas bis heute in der nationalen Geschichtsschreibung als „Vater der Arbeiter“ und „Vater der Armen“ verankert. An diesem kollektiven Gedächtnis hat die Fundażo Getffllio Vargas einen beträchtlichen Anteil. 1945 von der Regierung Vargas nach US-amerikanischem Vorbild als Kaderschmiede für Management gegründet, beherbergt sie auch eines der bedeutendsten historischen Archive des Landes und beschäftigt eine Reihe von namhaften Historikern, deren Aufgabe es ist, das Erbe von Vargas zu verwalten und zu analysieren. Das sozialwissenschaftliche Zentrum dieser Stiftung brachte in den letzten Jahrzehnten wegweisende und durchaus auch kritische Bücher hervor ; gleichwohl hat es in der Vargas-Rezeption und Interpretation eine bedeutende Definitionsmacht.3 Neben diesem kollektiven Gedächtnis gibt es noch ein anderes, das Vargas aufgrund seiner Nähe zu europäischen, rechten Diktaturen bis heute als „Faschisten“ – und in manchen der so beliebten historischen Blogs sogar als „Nazifaschisten“ – bezeichnet.4 Dieser Beitrag konzentriert sich weniger auf die Arbeitsmarktverwaltung während der ersten Regierungsperiode von Getffllio Vargas, sondern bietet einen Überblick über die Arbeiter- und Sozialpolitik der Ära Vargas’. Er geht davon aus, dass die brasilianische Geschichte auch einem europäischen Fachpublikum der Nicht-Lateinamerikanisten fremd ist. Da Brasilien jedoch ein europäisch geprägtes Einwanderungsland ist und ebenso stark von der Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihren Folgen betroffen war wie viele andere Staaten auch, möchte diese Studie einen komparatistischen Beitrag zur Geschichte europäischer rechter Diktaturen mit wohlfahrtsstaatlichem Anspruch bieten. Die hier angestrebte thematische Breite hat vor allem einen wissenschaftlich Strategien des social engineering disziplinierten. Vgl. Ursula Prutsch, Iberische Diktaturen. Portugal unter Salazar, Spanien unter Franco, Innsbruck-Wien-Bozen 2012. 3 So war die Enkelin von Getffllio Vargas, Celina Vargas do Amaral Peixoto, die Gründerin des historischen Archivs und leitete zwischen 1990 und 1997 auch die Fundac¼o Getffllio Vargas. 4 In folgenden Kapiteln wird die Politik von Vargas noch detaillierter beschrieben. Hinzugefügt sei, dass in Lateinamerika unbekümmerter mit dem Faschismus-Begriff umgegangen wird als in Europa. Faschismus wird oftmals mit „rechter Politik“ gleichgesetzt.

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methodischen Grund. Obwohl die Ära Vargas wegen ihres nachhaltig prägenden Charakters die meistbeforschte der brasilianischen Geschichte ist,5 stellt die schlechte Quellenlage eine stete Herausforderung für Historikerinnen und Historiker dar. Diese manifestiert sich – wie die Autorin sehen musste – gerade auch im Fehlen relevanter Daten, die für die Rekonstruktion der Arbeitsmarktverwaltung jener Zeit notwendig wären. Abgesehen von einer geringer ausgeprägten Kultur des Bewahrens und Archivierens, beeinflusste auch die Politik des Verbergens und die Intransparenz der Diktatur den Umgang mit Dokumenten massiv. Die Aktenlage ist gerade für die Zeit zwischen 1937 und 1945 sehr lückenhaft. So fehlen beispielsweise Protokolle über arbeits- und sozialpolitische Debatten in den jeweiligen Ministerien. Die verbliebenen Aktenbestände der Arbeitsministerien sind dünn. Die programmatische, 1933 gegründete Monatsschrift „Revista do Trabalho“ („Zeitschrift der Arbeit“), in der auch der österreichische Hans-Kelsen-Schüler Rudolf A. Metall einige Artikel publizierte, ist, obwohl sie ohnehin nur als Forum für den internen Gebrauch gedruckt worden war, nur noch in den Ausgaben ab 1943 erhalten.6 Das legt die Interpretation nahe, dass das Vargas-Regime, das einem „kannibalistischen“ Eklektizismus7 huldigte, nicht zugeben wollte, wie sehr es wohl auch die Arbeiter- und Sozialpolitik faschistischer Staaten in Europa studiert hatte. Selbst in den aufbewahrten Bänden der Zeitschrift wurden keine offenen Debatten geführt, sondern vielmehr Referenzen abgedruckt, weil die Zeitschrift wie jedes andere Medien- und Kulturprodukt der Vargas-Ära durch die Hände der mächtigen Zensurbehörde Departamento de Imprensa e Propaganda (Presseund Propagandadepartement) ging. 5 Simon Schwartzman (Hg.), Estado Novo, um Auto-retrato, Brasilia 1982. 6 Die Bände befinden sich in der Bibliothek des Tribunal Regional do Trabalho und der JustiÅa do Trabalho (Arbeitsgericht) in Rio de Janeiro. Die Library of Congress in Washington D.C. besitzt die Bände 1939 und 1942. 7 Das Selbstverständnis, kannibalistisch zu sein, entstammt einem berühmten Manifest der Modernisten M#rio Andrade und Carlos Drummond de Andrade aus dem Jahr 1928. Sie nahmen damit ironisch die europäischen Fremdzuschreibungen aufs Korn, dass Brasilien ein Kannibalen-Land sei, wie es erstmals vom hessischen Landsknecht Hans Staden in seinem Bestseller „Warhafftig Historia“ (1557) formuliert worden war. Die beiden Modernisten erhoben in ihrem Manifest den Kannibalismus zur Handlungsanleitung für Brasilien, das sich endlich von Europa als Deutungsmacht distanzieren sollte, indem es Politiken und Kulturen des Alten Kontinents nicht mehr kopierte. Vielmehr sollte Brasilien sich ausländischer Ideen bedienen, sich das Brauchbare aneignen und das Nicht-Verwertbare ausspeien. Wichtig sei nur, dass durch Aneignung etwas Neues, Eigenes entstehe. Vgl. Ursula Prutsch, Enrique Rodrigues-Moura, Brasilien. Eine Kulturgeschichte, Bielefeld 2013. Während die ältere, vom Marxismus geprägte Vargas-Forschung sich ab den späten 1970er Jahren mit der Frage nach faschistischen Einflüssen auseinandersetzte, bestätigte die postkolonial geprägte Forschung mit ihrem Fokus auf das Eigene im Grunde genommen die Selbstdarstellung des VargasRegimes und relativierte den europäischen Einfluss, während jüngste brasilianische Forschungen wieder stärker europäische Einflüsse berücksichtigen.

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Dazu kommt das Fehlen statistischen Materials in einem Land von 8,5 Millionen km2, in dem 1920 geschätzte 30,6 Millionen Menschen lebten.8 Institutionen, die etwa Daten über die Lebensbedingungen der Bevölkerung erhoben, wurden erst im Laufe der 1930er Jahre gegründet. So rief die Vargas-Regierung 1934 ein Statistisches Zentralamt ( „Instituto Brasileiro de Geograf&a e Estat&stica“, IBGE) ins Leben, das die Aufgabe hatte, die Bevölkerung des riesigen Staates zu erfassen und ihre Lebensbedingungen und Lebenswelten zu erheben. Im selben Jahr wurde ein erstes Meldegesetz geschaffen. Bis 1940 unterschieden die Volkszählungen nicht zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen. Arbeitslosenstatistiken, die für diesen Artikel relevant wären, wurden erst ab 1950 errechnet, weshalb es zwar eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zur Inklusion marginalisierter Bevölkerungsgruppen in den Arbeitsmarkt gibt, aber eben kein statistisches Datenmaterial und nur allgemein gehaltene Publikationen zur Arbeitsmarktverwaltung. Sie verweisen stets auf einige Gesetze, können aber keine präzisen Aussagen über deren Umsetzung oder Übertretung treffen.9 Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, bestand die Arbeitsmarktverwaltung der Vargas-Zeit im Wesentlichen aus Beschränkungen der transatlantischen Immigration, aus Gesetzen zur Bevorzugung heimischer Arbeiterinnen und Arbeiter und einer Reihe von bundesstaatlich initiierten Projekten zur Arbeitsbeschaffung.

I.

Arbeitsmärkte, Migration und Gesellschaft in der „Alten Republik“

Fast während des gesamten 19. Jahrhunderts war Brasilien eine Monarchie geblieben und hatte an der Institution der Sklaverei festgehalten, um die wachsende internationale Nachfrage nach den cash crops Zucker, Baumwolle und vor allem Kaffee zu stillen. Bis auf wenige Grundnahrungsmittel wurden viele Konsumgüter aus Europa importiert. Der Binnenmarkt blieb gering, selbst die Verkehrsinfrastruktur beschränkte sich fast ausschließlich auf den Seeweg.10 Die Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 war auch mit Kritik am semifeudalen, politischen System und einer politikkonformen, katholischen Kirche gewesen. Mit der Abolition endete ein Jahr später auch die Monarchie durch 8 Vgl. Alberto Aggio et al., Pol&tica e Sociedade no Brasil (1930–1945), S¼o Paulo 2002. 9 Die Autorin dankt Antonio Luigi Negro, Universidade Federal da Bahia, Jo¼o F#bio Bertonha, Universidade de Maring# (Paran#) und ffngela de Castro Gomes, CPDOC der Fundażo Getffllio Vargas (Rio de Janeiro) für Literaturhinweise und für deren Aussagen zur Quellenlage. 10 Vgl. Bernhard Leubolt, Transformation von Ungleichheitsregimes. Gleichheitsorientierte Politik in Brasilien und Südafrika, Wiesbaden 2015, 137.

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einen Putsch positivistisch geprägter Militärs. Die Philosophie Auguste Comtes, dessen Motto „Ordem e Progresso“ („Ordnung und Fortschritt“) seit 1889 auf der brasilianischen Flagge prangt, wurde zum Leitmotiv der neuen laizistischen und technokratischen Politik. Die erste republikanische Verfassung von 1891 war an den USA orientiert. Brasilien definiert sich seitdem als föderale Republik mit 20 (heute 26) Einzelstaaten und Gouverneuren. Die geplante, im Landesinneren vorgesehene, Bundeshauptstadt, der Bundesdistrikt Bras&lia, wurde allerdings erst 1960 geschaffen und löste Rio de Janeiro ab. An den gesellschaftlichen Machtverhältnissen änderte sich dennoch wenig. Bis 1930 stellten die wohlhabendsten Bundesstaaten, der Kaffeeexport-Staat S¼o Paulo und der Milch-Export-Staat Minas Gerais alternierend die Bundespräsidenten. Strategien, um den äußerst heterogenen Agrarstaat mit dem tropischen Amazonasgebiet im Nordwesten, dem semiariden Nordosten und dem europäisch geprägten Süden in eine Nation mit starkem Identitätsgefühl zu verwandeln, scheiterten an Partikularinteressen. Weder wurde eine Landreform durchgeführt, Kapital umverteilt, noch die Bedeutung der Coroneis (Dorfpatriarchen), die über ökonomische, politische und sicherheitspolitische Macht gleichermaßen verfügten, verändert. Die bedeutendsten Städte des Landes – Rio de Janeiro, Porto Alegre, Salvador da Bahia, Recife und Fortaleza – lagen an der Atlantikküste, S¼o Paulo nicht allzu weit von der Küste entfernt. Das riesige Hinterland (der Sert¼o) mit seinen afrobrasilianischen, mestizischen und indigenen Bewohnern war für die urbanen und auf Europa als Leitbild ausgerichteten Eliten ein unbekanntes, ja feindliches Territorium. Zwar strebten diese die Integration des Hinterlandes in die Nation an, doch zweifelte die sozialdarwinistisch denkende Oberschicht an der Assimilationsfähigkeit der Mehrheitsbevölkerung, die sie im rassistischen Diskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als „degeneriert“ wahrnahm.11 So hatte es nach 1889 auch keinerlei Politiken gegeben, um die nach der Abolition der Sklaverei nunmehr Freien Schwarzen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Im Gegensatz zu den USA, wo das kurzlebige Freedmen’s Bureau zumindest für einige Jahre als erste bundesstaatliche Wohlfahrtsorganisation Afro-Brasilianern half, indem es Tausende von Schulen gründete, ein wenig Land verteilte und die ehemaligen Sklaven bei der Recherche über den Verbleib von Familienangehörigen unterstützte,12 gab es in Brasilien keine mit dem Freedmen’s Bureau vergleichbare Organisation. Freilich blieben viele Schwarze in den USA bei ihren ehemaligen Besitzern, wurden fortan als Pächter ausgebeutet, 11 Euclides da Cunhas, „Os Sertles“ (1902) [auf deutsch: „Der Krieg im Sert¼o“, Frankfurt a.M. 1994] gilt bis heute als eines der Schlüsselwerke der brasilianischen Nationalliteratur. 12 Vgl. Paul A. Cimbala/Randall M. Miller, The Freedmen’s Bureau and Reconstruction, New York 1999.

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politisch rasch durch staatliche Segregationsgesetze entmachtet und vom KuKlux-Klan massiv terrorisiert, bis die Südstaateneliten ihre Macht wiedergewonnen hatten. Weder gab es in Brasilien den Klan noch eine gesetzlich geregelte Apartheid. Auch war die Farbenlinie zwischen „schwarz“ und „weiß“ diffuser und flexibler. Trotzdem hatten Freie Schwarze im rassistischen Land kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Sie fanden meist als schlecht bezahlte Landarbeiter und Landarbeiterinnen bzw. Dienstboten und Dienstbotinnen ihren Weg in den Arbeitsmarkt. Von 1908 bis zur Weltwirtschaftskrise erhielten Afro-Brasilianer und Afro-Brasilianerinnen noch dazu von etwa 190.000 japanischen Billiglohnarbeitern und -arbeiterinnen Konkurrenz, die für die boomende Kaffeewirtschaft angeworben waren.13 Für Brasiliens rassistische Eliten war Fortschritt weiß. Deshalb schien die systematische „Aufweißung durch außen“ die einzige Möglichkeit zu sein, um ihre „unzivilisierte“, nicht-weiße Mehrheitsbevölkerung zu einer Minderheit werden zu lassen. Die Bundesregierung und die Regierungen der südlichen Bundesstaaten (S¼o Paulo, Paran#, Santa Catarina und Rio Grande do Sul) machten bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929 nun in Europa massiv für künftige Einwanderer Werbung. Seit 1824 waren ein paar hunderttausend westund zentraleuropäische Migranten und Migrantinnen ins Land gekommen. Im Rahmen der sogenannten Masseneinwanderung strömten bis 1929 mehr als dreieinhalb Millionen vorwiegend Südost- und Westeuropäer, Türken und Syrer ins Land und vertrieben indigene Stämme Richtung Westen. Unter den Einwanderern waren auch 100.000 Auswanderer aus der Habsburgermonarchie und der darauffolgenden Ersten Republik.14 Etwas kapitalkräftigere Landwirte erhielten sogenannte Grundstücke von 25 Hektar und Unterstützung bis zur ersten Ernte. Nicht-Bauern versuchten und verdingten sich als Lohnarbeiter in riesigen Kaffeeplantagen; viele Migranten arbeiteten im Bau- und Dienstleistungssektor der boomenden Großstädte mit ihren einheimischen, aber auch britischen, kanadischen und seit den 1920er Jahren auch US-amerikanischen Unternehmen. Obwohl Rio als Haupt-, Hafen- und Handelsstadt bedeutend blieb, entwickelte sich die Stadt S¼o Paulo früh zum Banken- und Finanzzentrum. Kein Bundesstaat investierte mehr in Migration wie der Kaffee-Export-Staat S¼o 13 Das brasilianische Portugiesisch kennt über 130 Ausdrücke für Hautfarben. Brasilien beherbergt die größte japanische Bevölkerungsgruppe außerhalb Japans. Nachdem in den USA durch den Chinese Exclusion Act von 1882 und einer anti-asiatischen und von Gewerkschaften mitgesteuerten Politik die Einwanderung fast versiegt war, unterzeichneten Brasilien und Japan 1908 ein bilaterales Einwanderungsabkommen. Japaner siedelten vor allem in den Bundesstaaten S¼o Paulo und Paran#. Den besten Überblick zur japanischen Immigration bieten Maria Luiza Tucci Carneiro und Marcia Yumi Takeuchi (Hg.), Imigrantes Japoneses no Brasil. Trajetjria, Imagin#rio e Memjria, S¼o Paulo, 2010. 14 Silvio Coelho dos Santos, 2ndios e Brancos no Sul do Brasil. A dram#tica experiÞncia dos Xokleng, Florianjpolis 1973.

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Paulo. Um 1920 waren 64,2 Prozent der Industrien von S¼o Paulo im Besitz von Immigranten. Brasilien hatte damals eine Bevölkerung von 30,6 Millionen Menschen. 275.000 arbeiteten in 13.300 Industriebetrieben. Immigranten gründeten nicht nur zahlreiche Unternehmen, sondern transferierten früh anarchistische, sozialistische und kommunistische Ideen. In diesem Klima entwickelte sich eine Gewerkschaftsbewegung, in der sich auch christliche Fraktionen formierten.15 Der Exporthafen von S¼o Paulo, Santos, wurde wegen seiner mitgliederstarken, selbstbewussten Gewerkschaften und Arbeitskämpfe bald das „Barcelona Brasiliens“ genannt.16 Während die Gewerkschaftsbewegung aufgrund ihrer regionalen Fragmentiertheit bis zum Ersten Weltkrieg mutualistisch agierte und mit lokalen Unternehmern um Verbesserungen in den Betrieben stritt, verstärkte sich unter dem erhöhten Produktionsdruck des Kriegs das Widerstandspotenzial gegen Lohndumping und schlechte, sogar gefährliche Arbeitsbedingungen in den Betrieben. Die von italienischen Unternehmern aufgebauten Schuh-, Textil- und Lebensmittelindustrien profitierten von den kriegswichtigen Exporten nach Europa. Als einer der wenigen Staaten Lateinamerikas hatte Brasilien den europäischen Mittelmächten den Krieg erklärt und war deshalb bei den Friedensverhandlungen in Versailles als Siegermacht präsent, doch es hatte keine Truppen nach Europa gesandt und deshalb auch keine Veteranen zu versorgen.17 1923 legte die Regierung Artur da Silva Bernardes erstmals ein Pensionsversicherungsgesetz (das Lei Eloy Chaves) für Beschäftigte im Privatsektor fest. Es schrieb für strategisch wichtige Berufsgruppen Pensionskassen vor. Arbeiter und Angestellte zahlten drei Prozent ihres Einkommens in einen Fonds, das Unternehmen lediglich ein Prozent, der Bund wiederum subventionierte die Pensionskassen. Sie waren so strukturiert, dass Arbeiter einer Sparte unabhängig von ihrem Status in einen Fonds einzahlten. Dieses Modell sollte die Vargas-Regierung später übernehmen und ausdifferenzieren.18 Die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf auch Brasilien massiv und verstärkte die Kritik am konservativen Liberalismus. Die Krise führte zum markantesten Umbruch in der jüngeren Geschichte Brasiliens. 15 Vito Giannotti, Historia das Lutas dos Trabalhadores no Brasil, Rio de Janeiro 2007; James M. Malloy, The Politics of Social Security in Brazil, London 1979, 31. 16 Fernando Teixeira da Silva/Maria Lucia Caira Gitahy, The Presence of Labour in the Urban Culture of Santos, in: Moving the Social. Journal of social history and the history of social movements, 49 (2013), 11–30. 17 Vgl. Stefan Rinke, Im Sog der Katastrophe. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg, Frankfurt am Main 2015. 18 Im Vargas-Regime war jede Berufsgruppe in einer Pensionskasse zusammengefasst, ungeachtet dessen, in welchem Unternehmen sie arbeitete. Vgl. Tanja Regina de Luca, Mutualism in Brazil (S¼o Paulo), in: Marcel van der Linden (Hg.), Social Security Mutualism, Bern et al. 1996, 609–626, 619.

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II.

Ursula Prutsch

Die Weltwirtschaftskrise und die Folgen für den Arbeitsmarkt

Bei den Wahlen von 1930 durchbrach der Südbrasilianer Getffllio Dornelles Vargas von der Oppositionspartei „Liberale Allianz“ das jahrelange politische Wechselspiel der Bundesstaaten S¼o Paulo und Minas Gerais um die Präsidentschaft. Unterstützt von Offizieren mittlerer Ränge putschte sich der Gafflcho aus Rio Grande do Sul im Oktober des Jahres an die Macht.19 Noch vor Jahresende gründete Vargas ein Ministerium für Arbeit, Industrie und Handel und ein Ministerium für Bildung und Gesundheit. Es war der Auftakt zu einer dirigistischen, staatsinterventionistischen Politik. Mit ihr verfolgte die Regierung mehrere Ziele. Erstens sollten die dramatischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 möglichst rasch durch eine Politik der Importsubstitution und des Abbaus der Arbeitslosigkeit minimiert werden. Zweitens wollte Vargas mittels eines zentral gesteuerten nation-building die bislang politisch und sozial marginalisierte Mehrheitsgesellschaft in die Nation holen: die zahlreichen Subsistenzbauern, Landarbeiter und Pächter, von denen viele Afro-Brasilianer und Mestizen waren. Damit verbunden war aber auch die Integration – nach dem damaligen sprachlichen Duktus die „Assimilation“ – der Migrantenbevölkerung in den Staat. Das dritte Ziel war es schließlich, die Brasilianerinnen und Brasilianer zu mobilisieren, dabei aber zu abhängigen Akteuren einer politischen Mission zu instrumentalisieren. In Anbetracht der geografischen Ausdehnung konzentrierte sich die Mobilisierung auf die Minderheit der Stadtbevölkerung, wenngleich die Regierung heftig in den Ausbau von Sendestationen für Radios investierte. Das Regime bezeichnete diesen umfassenden Umbau Brasiliens auch als „Revolution“.20 Mit diesem Anspruch verließ Vargas die Ebene der wirtschaftsliberalen Politik seiner Vorgänger, indem es eine stark paternalistische, autoritäre Politik mit populistischer Prägung betrieb. Die klassischen Wirtschaftseliten, die schon zuvor die Politik des Landes bestimmt hatten, wurden durch diese „Revolution“ freilich nicht entmachtet. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 waren die Agrarpreise eingebrochen, was sich besonders drastisch auf die cash crop Kaffee und die Industrieregionen in und um Rio de Janeiro und S¼o Paulo auswirkte. Die Regierung Vargas praktizierte einen „Keynesianismus vor Keynes“, indem sie durch eine pragmatische Ad-hoc-Politik die Binnenwirtschaft ankurbelte. Der 1931 gegründete „Kaffee-Rat“ kaufte mittels Krediten die Überschussproduktion von 19 Der Bundesstaat Rio Grande do Sul war ein Zentrum positivistisch geprägter, technokratischer Politik. 20 Luis Carlos Bresser-Pereira, A construżo pol&tica do Brasil: sociedade, econom&a e estado desde a Independencia, S¼o Paulo 2014.

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Kaffee auf und ließ 78 Millionen Tonnen Kaffee vernichten, um die Preise zu stützen und alternative Produkte zu subventionieren. Fotos von brennenden Kaffeesäcken gingen damals um die Welt.21 Die Strategie staatlicher Abnahmeund Preisgarantien sollte allerdings bald an der schwachen fiskalischen Kapazität der Bundesregierung scheitern. Auch stellte Getffllio Vargas alle Schuldenrückzahlungen an ausländische Gläubiger ein und erklärte Moratorien. Der Bund trat als Unternehmer auf. Er förderte und kontrollierte sukzessive Zucker, Alkohol, Bergbau und die Energieversorgung, wobei sich die Regierung Vargas über die Wasserkraftprojekte des US-amerikanischen New Deal informierte.22 Die durch die Krise arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer beschäftigte man in großangelegten Industrialisierungsprojekten. Im Laufe der 1930er Jahre investierte die Bundesregierung in Straßen- und Bahnbau, Hafenanlagen, Schwer-, Textil- und Chemieindustrie, auch fernab von Küstenregionen. Damals initiierte das Vargas-Regime ein großangelegtes Binnen-Entwicklungsprojekt „Marsch nach Westen“ („Marcha para a Oeste“), das schon die ab den 1890er Jahren postulierte und schrittweise Integration des Hinterlandes forcierte.23 Im Rahmen dieser Politik wurden Straßen- und Bahnverbindungen in die Bundesstaaten Mato Grosso do Sul und Goi#s – in dem später Bras&lia errichtet werden sollte – geschaffen. Zwischen 1933 und 1938 stampften in- und ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter die Stadt Goi.nia als neues politisches Zentrum des Bundesstaates von Goi#s aus dem Boden. Auch in der Hauptstadt Rio wurden gigantomanische stadtplanerische Projekte nach dem Vorbild von Le Corbusier und anderen französischen Stadtplanern vorangetrieben. Über 500 historische Gebäude mussten Prachtstraßen, einem neuen Bahnhof, Bürotürmen und Ministerien weichen, den Tempeln der positivistischen Technokratie. Ähnlich wie in den USA sollte dann der Kriegseintritt Brasiliens im Jahr 1942 helfen, die Wirtschaft noch weiter anzukurbeln.24 Ein weiterer Faktor, warum sich die heimische Ökonomie erholte, war die Kehrtwende in einer bislang großzügigen Einwanderungspolitik, die mit der Bevorzugung europäischer Migrantinnen und Migranten einhergegangen war. 21 Vgl. Walter Bernecker/Horst Pietschmann/Rüdiger Zoller, Eine kleine Geschichte Brasiliens, Frankfurt a.M. 2000, 246–248. 22 Maria Antonieta P. Leopoldi, A economia pol&tica do primeiro governo Vargas (1930–1945), in: Jorge Ferreira/Lucilia de Almeida/Neves Delgado (Hg.), O Brasil republicano. O tempo do nacional-estatismo do in&cio da d8cada de 1930 ao apogeu do Estado Novo, Rio de Janeiro, 241–286, 262. 23 Die Militärregierungen der Militärdiktatur (1964–1985) sollten daran anknüpfen und den „Marsch nach Westen“ in den Amazonasraum ausdehnen. 24 Zu Brasilien im Zweiten Weltkrieg vgl. Ursula Prutsch, Creating Good Neighbors? Die Kulturund Wirtschaftspolitik der USA in Lateinamerika im Zweiten Weltkrieg (1940–1946), Stuttgart 2008.

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Diese Bevorzugung resultierte aus der Bedeutung West-, Zentral- und Südosteuropas für Brasilien, der Vielzahl ausländischer Firmen, die wiederum ausländische Arbeiter beschäftigten, dem für Migrationsdynamiken charakteristischen Familiennachzug und schließlich aus der schwachen Binnen-Infrastruktur von Verkehrswegen vor 1930. Denn auch in Fragen der Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik bot das Jahr 1930 eine Zäsur. Bis zum Ende der 1920er Jahre war die Immigration aus Europa zwar schon etwas abgeflaut. Schiffspassagen waren für arbeitslose und verarmte Europäer nicht mehr bezahlbar, als der reiche Kaffeestaat S¼o Paulo im Jahr 1927 die Vorfinanzierung von Reisekosten für Landwirte und Erntearbeiter gestoppt hatte. Nun wurde künftiger Massenmigration ein Riegel vorgeschoben.25

III.

Das Zwei-Drittel-Gesetz und die Beschränkung der transatlantischen Migration

Bereits im Dezember 1930, nur ein paar Wochen nach dem Putsch, erließ die Provisorische Regierung unter Vargas das sogenannte „Zwei-Drittel-Gesetz“ („Lei 2–3“ oder „Decreto N8 19.482“). Dieses Gesetz zur „Nationalisierung der Arbeit“, wie es offiziell hieß, legte fest, dass zwei Drittel der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Betrieben, die drei oder mehr Angestellte hatten, „geborene Brasilianer“ sein mussten. Begründet wurde diese Maßnahme mit der unübersichtlichen Situation am Arbeitsmarkt, der stark angestiegenen Binnenmigration in die Städte und mit der „unorganisierten“ Einwanderung von Ausländern. Allein in der Diktion des Gesetzestextes, der häufig „ungeordnete“, „ungeregelte“ Zustände kritisiert, die zu beseitigen seien, manifestiert sich der planerisch-technokratische Anspruch des brasilianischen Positivismus.26 Das Gesetz, dem drei Jahre später dann ein neues Einwanderungsgesetz folgen sollte, zielte freilich auf den städtischen Arbeitsmarkt, wo die Folgen der Wirtschaftskrise am besten sichtbar waren und am ehesten in gewerkschaftliche Kämpfe und Arbeiterproteste mündeten. Arbeitsverhältnisse in Landwirtschaft und Haushalten waren vom Zwei-Drittel-Gesetz nicht betroffen.27 Auch schränkte das neue Gesetz den Erwerb von Konzessionen ein. Ausländer, die mit Brasilianern verheiratet waren und zehn Jahre lang im Land lebten, 25 Vgl. Ursula Prutsch, Das Geschäft mit der Hoffnung. Die österreichische Auswanderung nach Brasilien 1918–1938, Wien-Köln-Weimar 1996. 26 Vgl. http://www2.camara.leg.br/legin/fed/decret/1930-1939/decreto-19482-12-dezembro1930-503018-republicacao-82423-pe.html; vgl. Evaristo de Morais Filho, Lei dos 2–3, in: http://www.fgv.br/cpdoc/acervo/dicionarios/verbete-tematico/lei-dos-2-3 [jeweils letzter Zugriff: 30. 6. 2016]. 27 Vgl. Wilson Cano, Soberania e Pol&tica na Am8rica Latina. S¼o Paulo 2000.

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wurden geborenen Brasilianern allerdings gleichgestellt. Alle Betriebe, Unternehmen und Institutionen hatten binnen 90 Tagen den Nachweis zu erbringen, dass die Vorschriften des „Lei 2–3“ auch umgesetzt würden. Im August 1931 erfuhr das Gesetz durch das „Decreto N8 20.291“ noch eine Erweiterung: Heimische Arbeiter mussten in Industriebetrieben und Gewerben nun dasselbe verdienen, wie Ausländer, obwohl diese in der Regel besser qualifiziert waren als Brasilianer aus dem ländlichen Raum.28 Ein weiteres – am 10. Juni 1934 erlassenes – Dekret verbot Ausländern den Erwerb von Konzessionen für Minen und elektrische Industrien.29 Nostrifizierungsprüfungen für ausländische Akademiker (Ärzte, Architekten), aber auch Hebammen und Apotheker wurden erschwert und durch ein weiteres Dekret an den Erwerb der brasilianischen Staatbürgerschaft gebunden. Zur technokratischen Arbeitspolitik von Vargas gehörte auch die Gründung von Berufs- und Fachschulen, womit erst Anfang der 1940er Jahre begonnen wurde. Ob die Bestimmungen des Zwei-Drittel-Gesetzes und damit verbundene Dekrete tatsächlich strikt eingehalten wurden, kann nicht mehr eruiert werden. Es gab sicherlich zahlreiche Ausnahmen bzw. Institutionen, in denen eine solche Gesetzgebung keine Rolle spielte. Denn im Jahr 1934 und 1935 wurden in Brasilien die ersten Gesamtuniversitäten geschaffen, die Universidade de S¼o Paulo (USP) und die Universidade do Distrito Federal in Rio de Janeiro. Die beiden neuen Bildungsinstitutionen engagierten jüdische Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und anderen europäischen Ländern, obwohl Brasilien zu einer restriktiven Immigrationspolitik – auch gegenüber jüdischen Immigranten – übergegangen war, um das antisemitische Lager im eigenen Land zu beruhigen.30 Diese Wissenschaftspolitik wurde auch gezielt zur Imagestei28 Vgl. Botschafter Anton Retschek an Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, Gesandtschaft Rio de Janeiro, Kart. 1, Politische Korrespondenz 1925–38, Zl. 4/P, 1934, ÖStA, AdR, BKA/WA; vgl. Wochenbericht des Wanderungsamtes, Nr. 4 (Januar 1931) Kart. 2236/350b, ÖStA, AdR, BKA/WA. Arbeitsminister Lindolfo Collor begründete das Zwei-Drittel-Gesetz und seine Erweiterung wie folgt: „Die brasilianischen Gesetze […] zielen nicht auf die erzwungene Arbeitslosigkeit zahlreicher Fremder ab, die sich in unserem Land befinden. Was sie [die Gesetze] im Blick haben, ist, nicht zu erlauben, dass künftig die Arbeitslosen aus den Industrien und aus dem Gewerbe, die aus anderen Ländern kommen, innerhalb unserer Landesgrenzen die nationalen Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen vertreiben“. Vgl. Evaristo dos Morais Filho, Lei dos 2–3, in: http://www.fgv.br/cpdoc/acervo/dicionarios/verbete-te matico/lei-dos-2-3 [letzter Zugriff: 30. 6. 2016]. 29 Jos8 Fernando Carneiro, Imigrażo e colonizażo no Brasil, Rio de Janeiro 1950, 35. 30 Auch Wissenschaftler aus Frankreich, Italien und Deutschland unterrichteten an diesen Universitäten: Claude L8vi-Strauss (Soziologie), Pierre Monbeig (Soziologie), Fernand Braudel (Geschichte), Fortunat Strowski (Romanist), Pmile Coornaert (Kulturgeschichte), Francisco Piccolo (Altphilologie), Luigi Fantappi8 (Mathematik), Michel Berveiller (griechisch-lateinische Literatur), Ettore Onorato (Mineralogie), Ernst Breslau (Zoologie), Heinrich Rheinboldt (Chemie), Felix Rawitscher (Botanik). Vgl. Simon Schwartzman, Formażo da Comunidade Cient&fica no Brasil, Rio de Janeiro 1979, 188. Allein diese Ent-

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gerung betrieben. Zieht man auch noch US-amerikanische Wissenschaftler in Betracht, die in den 1930er Jahren ins Land kamen, waren Brasiliens Universitäten bald ein Mikrokosmos der Internationalität. Diese Politik der Inklusion von Wissenschaftlern, die den Nationsbildungsprozess und die Moderne voranbringen würden, und der Exklusion von überschüssigen, wenig gebildeten Arbeitskräften, ist charakteristisch für das System Vargas. Die an das Zwei-Drittel-Gesetz anknüpfende und sicherlich wirksame Maßnahme der Arbeitsmarktregulierung war das am 16. Mai 1934 erlassene Immigrationsgesetz, das – ebenfalls wie in den USA – eine Quotenregelung festlegte. Sie richtete sich dezidiert gegen die sogenannten Zwischendeckpassagiere bzw. Passagiere der 3. Klasse und reduzierte damit Migrationsflüsse drastisch. Aber auch hier gab es Ausnahmen. Familiennachzug, landwirtschaftliche Arbeiter und Bauernfamilien, die bereits einen Arbeitskontrakt oder Vertrag mit einer Siedlungsgesellschaft in der Tasche hatten, waren davon ausgenommen.31 Historikerinnen und Historiker gehen davon aus, dass viele der 1929 arbeitslos gewordenen Facharbeiter in den boomtowns Rio de Janeiro und S¼o Paulo mit seiner Hafenstadt Santos und durch die föderalen Großprojekte im Landesinneren absorbiert wurden. Allein in der Millionenstadt S¼o Paulo verdoppelte sich die industrielle Produktion zwischen 1935 und 1942. Der Anteil der Industrie stieg von 1930 bis 1950 von 16,5 Prozent auf 24,1 Prozent, während der Anteil der Landwirtschaft von 30,6 Prozent auf 24,3 Prozent sank.32 Im Laufe der 1930er Jahre machten auch die Niederlassungen und Zuliefererbetriebe deutscher Firmen wie Siemens-Schuckert und IG-Farben wieder Gewinne. Auch USamerikanische Unternehmen wie Ford, General Motors und Goodyear hatten seit den 1920er Jahren in Brasilien Zweigstellen eröffnet. Die mit der Drosselung der transatlantischen Migration verbundene, bundesstaatlich forcierte, Industrialisierung führte allerdings zu massiver Landflucht und zum Anwachsen von Armutsvierteln (Favelas) in den großen Städten. Um die Binnenmigration zu stoppen, versuchte die Regierung auf Ländereien wenig erfolgreich Agrarkolonien für Landlose einzurichten. Sie waren als Musterfarmen angelegt. Ideologisch verbrämt wurde diese nationalistische und nativistische Wende scheidungen zeigen, dass das Vargas-Regime trotz populistischer Elemente in seiner Politik bei Weitem nicht so anti-intellektuell war wie Juan Perjn (1946–1955) in Argentinien. Vargas integrierte österreichische jüdische Intellektuelle und politische Flüchtlinge wie Hans Klinghoffer, Rudolf A. Metall, Fritz Feigl und Otto Maria Carpeaux, der ein Verteidiger des austrofaschistischen Ständestaates gewesen war, geschickt in seine Politik der „autoritären Demokratie“. 31 Vgl. Edrica Geraldo, O combate contra os „quistos 8tnicos“: identidade, assimilażo e pol&tica imigratoria no Estado Novo, in: Revista da Histjria. Juiz de Fora, vol. 15, n8 1, 2009, 171–187. 32 Leubolt, Transformation von Ungleichheitsregimes, 148.

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weg vom Vorbild Europa hin zu einer Politik des „Brasilien zuerst“ durch eine klare Abkehr von sozialdarwinistischen Modellen, wie sie bis zum Ende der 1920er Jahre gepflegt worden waren. Als neues Leitkonzept fungierte der bis heute tradierte, verklärende Mythos von Brasilien als einer „Rassendemokratie“, einem konfliktfreien, plurikulturellen melting pot von Indigenen, Europäern und Afrikanern. Zunächst bedeutete diese vom Soziologen Gilberto Freyre entworfene Ideologie, dass die nicht-weiße Bevölkerung zumindest auf einer populärkulturellen Ebene in die Nation integriert würde.33 Als die Ausbreitung des Nationalsozialismus in Europa und sein mögliches Übergreifen auf die Amerikas von den nationalistischen und pro-US-amerikanischen Politikern in der Regierung Vargas zunehmend als Bedrohung der nationalen Sicherheit wahrgenommen wurde, bekam der Mythos der „Rassendemokratie“ auch die Funktion eines anti-nationalsozialistischen Gegendiskurses. Es war allerdings derselbe Gilberto Freyre, der – mit der restriktiven Immigrationspolitik einhergehend – die starke deutsch- und italienischsprachige Bevölkerung Südbrasiliens nun als „innere Feinde“ der brasilianischen Nation ausmachte, die in ihrer Kultivierung europäischer Superiorität noch immer eigene Schulen und Vereine unterhalte und damit zu potenziellen Akteuren und Sympathisanten europäischer Faschismen würde. Der am 26. September 1938 gegründete Rat für Immigration und Kolonisierung (Conselho de Imigrażo e Colonizażo) unterschied deshalb auch zwischen erwünschten und unerwünschten Migranten aus Europa. Hatten heimische Politiker bis dahin Brasilien noch als „größtes Experimentierfeld für die ,weiße Rasse‘ südlich des 20. Breitengrades“ gefeiert, waren die „erwünschten Migranten“ nunmehr jene aus Dänemark, Finnland, Norwegen, den Niederlanden, Portugal, Schweden, der Schweiz und Jugoslawien.34

33 Im Zuge dieser Politik wurden der Samba, der Kampf-Tanzsport Capoeira und der afrobrasilianisch geprägte Karneval zu Symbolen der Nationalkultur erhoben. Das offizielle Brasilien wurde somit etwas „dunkler“, wenngleich die Partizipation von Afro-Brasilianern im nationalen Projekt – ähnlich wie in den USA – auf die Sektoren Entertainment und Sport fixiert blieb. Der Aufstieg von Afro-Brasilianern in die Mittelschicht begann sukzessive erst ab den 1970er Jahren, und die Integration in die abgeschottete Welt der Universitäten erst mit den Regierungen Luiz In#cio Lula da Silva und Dilma Rousseff (2003–2016). Gilberto Freyre baute seine Ideologie vor allem auf einem wissenschaftlichen Aufsatz des bayerischen Naturforschers Carl Friedrich Philipp von Martius auf, der die österreichische Brasilien-Expedition von 1817 begleitet hatte. Martius nahm 1840 an einem international ausgeschriebenen Wettbewerb des Instituto Histjrico e Geogr#fico Brasileiro in Rio de Janeiro teil. Das Institut stellte die Frage, wie die Geschichte Brasiliens geschrieben werden solle. Martius baute seinen Entwurf auf einer ethnischen Dreiteilung (Indigene, europäische Einwanderer und afrikanische Sklavenbevölkerung bzw. ihre Nachkommen) auf und gewann den Wettbewerb. Vgl. Prutsch/Rodrigues-Moura, Brasilien. Eine Kulturgeschichte, 64. 34 Vgl. Geraldo, O combate contra os „quistos 8tnicos“, 176.

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IV.

Ursula Prutsch

Sozial- und Gewerkschaftspolitik

Die Sozialgesetzgebung der Ära Vargas zielte auf sozialen Frieden, auf die Vorstellung, dass zufriedene Arbeiter in fordistischem Sinne Produktion steigern würden, und sie zielte auf die Ausschaltung sogenannter „subversiver“ Elemente. Die Gewerkschaften waren gerade in S¼o Paulo Zentren des Anarcho-Syndikalismus und Kommunismus gewesen und hatten den neuen Etatismus in der Wirtschaft heftig kritisiert. Da sie über beträchtliche Machtressourcen und Möglichkeiten verfügten, um die Produktion lahmzulegen, versuchte die VargasRegierung die Arbeiterschaft zu integrieren, und die weiterhin Widerständigen durch ihren immer mächtigeren Apparat von Ordnungs- und Sicherheitskräften systemkonform zu machen. Bereits 1930 wurde das ehemals firmen- und vereinsrechtlich geregelte Verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer auf eine staatliche Ebene verlegt. Ein Arbeitsrecht war zuvor nicht in der Verfassung verankert gewesen. Die Verfassung von 1934 legte erstmals eine moderne Sozialpolitik fest. Dazu gehörten die Sechs-Tage-Woche, der Acht-Stunden-Tag, 14-tägiger Urlaub, Krankengeld, Unfallversicherung, „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, Kündigungsschutz, ein Schlichtungsverfahren bei Arbeitskonflikten sowie Regelungen für Frauen und Kinderarbeit. In der Logik des Regimes war Sozialpolitik kein Recht, sondern eine Gabe des paternalistischen Führers der Nation, des „Vaters der Arbeiter“.35 Im Gegensatz zum Lei Eloy Chaves restrukturierte die Vargas-Regierung das System der Pensionsversicherungen, um die Identifikation der Arbeiter mit einem Unternehmen zu reduzieren. Arbeit wurde viel mehr in funktionale Kategorien aufgeschlüsselt. So gehörten Arbeiter in einer Branche nunmehr unterschiedlichen Sozialversicherungskategorien an. Gleichzeitig erhöhten sich die Fusionierungen im Bereich von Sparten. Alle Transportunternehmer beispielsweise hatten dieselbe Versicherung, ebenso alle Metallarbeiter. Diese Regelungen zeigen, dass die Regierung Vargas innerhalb von vier Jahren einen beachtlichen Aktivismus entwickelte. Selbst wer Kapitän in der brasilianischen Handelsschifffahrt sein durfte, wurde festgelegt.36 Die Gewerkschaften spielten in der Arbeiterpolitik eine zentrale Rolle. Ihre Organisation gehörte zu den nachhaltigsten politischen Entscheidungen der Vargas-Zeit. Die beruflichen Interessenvertretungen durften den Staat auf Kosten ihrer eigenen Autonomie mitgestalten. Sie wurden als Einheitsgewerkschaften organisiert. Dabei nahm die Regierung – wie noch gezeigt wird – bei 35 Verglichen mit anderen lateinamerikanischen Staaten kam Brasiliens Sozialgesetzgebung später als etwa in Uruguay, Peru, Chile, Kolumbien, Paraguay und Bolivien, aber früher als in Argentinien. 36 Rüdiger Bernecker/Horst Pietschmann/Walter Zoller, Eine kleine Geschichte Brasiliens, Frankfurt a.M. 2000, 254.

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europäischen korporativen Systemen Anlehnung. Francisco Jos8 Oliveira Vianna wurde zum Chefideologen der neuen Sozialpolitik ernannt. Das Vargas Regime drängte die Arbeiter, einer der staatlich kooptierten Gewerkschaften beizutreten. Denn sie waren nach seiner Logik „Schulen für Einheit und Disziplin“. Wurden Analphabeten Gewerkschaftsmitglieder, erhielten sie das Wahlrecht, was ihnen sonst verboten war. Signifikant für die Disziplinierungspolitik war auch, dass nur Gewerkschaftsmitglieder die neuen arbeits- und sozialrechtlichen Leistungen beanspruchen konnten. Zwar durften die Gewerkschaften Kassen für wohltätige Zwecke anlegen, die Arbeitsvermittlung organisieren, soziale Fürsorge fördern und dafür sorgen, dass gleiche Löhne bei gleicher Arbeit ausbezahlt und Landarbeiter gegenüber den Stadtarbeitern nicht benachteiligt würden, doch die Praxis sah anders aus. Trotz dieser neuen Form der staatlichen Fürsorge arbeitete die Mehrheit der Bevölkerung in informellen Beschäftigungsverhältnissen. Arme waren auf die Familie und die mildtätige Fürsorge von Kirchen und Eliten angewiesen.37 Ende der 1930er Jahre konnte sich der Großteil der arbeitenden Bevölkerung trotz der neuen Sozial- und Arbeiterpolitik kein ausgewogenes, qualitätsvolles Essen leisten. Nur einer von zehn städtischen Beschäftigen hatte kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung. Restaurantbesuche waren ebenso wenig finanzierbar wie Mieten in den neuen Arbeiterwohnheimen.38 Zwar wurde die gewerkschaftliche Dichte mit der Zeit größer. Während es 1931 nur 32 offiziell anerkannte Gewerkschaften gab, waren es 1937 bereits 234, wobei die stärkste gewerkschaftliche Dichte in S¼o Paulo und Rio de Janeiro bestand. In der Hauptstadt waren mehr Arbeiter gewerkschaftlich organisiert, als im Rest Brasiliens. In der korporativen Struktur, die das Regime immer stärker ausdifferenzierte, war allerdings nur noch eine Interessensvertretung pro Berufskategorie erlaubt. Die Kontrollbefugnisse für die Gewerkschaften lag beim Arbeitsministerium, das Streiks immer stärker zu unterbinden trachtete. War die Mehrzahl der Gewerkschaften von S¼o Paulo Anfang der 1930er Jahre noch in Distanz zur Regierung verblieben und hatte es vorgezogen, Lohnverhandlungen in ihren Betriebsräten zu führen oder zu streiken, fand sie sich Mitte der 1930er Jahre massivem politischem Druck ausgesetzt. 1932 waren in einem Generalstreik 100.000 Textilarbeiterinnen auf die Straße gegangen, im November 1935 streikten in Rio de Janeiro 28.000 Metallarbeiter. Nach der Zerschlagung der linksliberalen Parteienallianz AlianÅa Libertadora Nacional im selben Jahre wurden Gewerkschaften von der „Politischen Polizei“ überwacht und gaben 37 Dulce Pandolfi, Os anos 1930: as incertezas do regime, in: Jorge Ferreira/Lucilia de Almeida Neves Delgado (Hg), O Brasil Republicano: O tempo do nacional-estatismo, Rio de Janeiro 2003, 13–37; vgl. Leubolt, Transformation von Ungleichheitsregimes, 150. 38 Joel Wolfe, Working Women, Working Men, S¼o Paulo and the Rise of Brazil’s Industrial Working Class, 1900–1955, Durham-London 1993, 90f.

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nach. M#rio Rotta, Präsident der Textilarbeitergewerkschaft von S¼o Paulo, zögerte nicht, selbst die Politische Polizei zu rufen, um Gegner seiner Interessen einzuschüchtern. Da jede Gewerkschaft eine Art von Stammdatenbuch mit persönlichen Daten ihrer Mitglieder haben musste, war ihre Überwachung recht leicht.39 Gleichzeitig blieb das Regime unternehmerfreundlich, ahndete Verstöße gegen Arbeitszeit kaum und wertete Proteste gegen die Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und Mieten als Zeichen illoyaler Undankbarkeit, die mit Gefängnis bestraft wurde, selbst wenn Arbeitnehmerinnen, wie in der Textilindustrie, erst 13 Jahre alt waren und nach der neuen Sozialgesetzgebung nicht hätten beschäftigt werden dürfen. Während staatlich kooptierte Gewerkschaften in S¼o Paulo unbeliebt blieben, war Rios Arbeiterschaft regimetreuer und angepasster, auch wenn sie in denselben Branchen arbeitete. Die Politische Polizei liebäugelte unter ihrem Chef Filinto Müller auch mit den Methoden der Gestapo und sandte einen Beamten zur Schulung nach Deutschland.40 Nach einem fehlgeschlagenen Putsch der Kommunisten im Jahr 1935 erhöhte sich der politische Druck auf die Arbeiterschaft noch mehr, ebenso der Druck, sie an den Staat zu binden. 1936 wurde durch ein präsidentielles Dekret ein nationsweiter Mindestlohn festgesetzt und ab dem 1. Mai 1940 für alle formell Beschäftigten erstmals ausbezahlt. Dabei wurde er in den 21 Bundesstaaten je nach Lohnniveau und Kaufkraft unterschiedlich geregelt.41 Die Politik der Modernisierung trug auch den Stempel des wieder erstarkten Einflusses rechtskatholischer Berater. Sie begannen rasch, traditionelle Genderverhältnisse zu verteidigen und vertraten die Meinung, dass Männer einer Gewerkschaft beitreten sollten, Frauen hingegen nicht. Außerdem fanden es die Verteidiger der katholischen Soziallehre absurd, wenn Frauen in einer Fabrik arbeiteten, während ihre Männer die Hausarbeit erledigten.42 Im November 1937 inszenierte Präsident Vargas einen fingierten kommunistischen Putschversuch, um seine Macht zu konsolidieren und die für 1938 anberaumten Wahlen zu umgehen. Er regierte den „organischen Staat“ bis 1945 diktatorisch und zentralistisch, entmachtete die Gouverneure der Einzelstaaten und ließ das Regime (wie in Portugal) „Estado Novo“ nennen. Das Prinzip des 39 Vgl. Maria Celina D’Araujo, Estado, classe trabalhadora e pol&ticas socias, in: Jorge Ferreira/ Lucilia de Almeida Neves Delgado: O Brasil Republicano, Rio de Janeiro 2003, 214–239, 229. Dieser Ausweis hieß Carteira Profissional. 40 Der Direktor des Sekretariats für Arbeit des Staates S¼o Paulo war ein Textilindustrieller, Wolfe, Working Women, Working Men, 64. 41 1940 war Brasilien außenpolitisch zwar neutral, doch der Krieg ließ die Lebenshaltungskosten steigen, weshalb 1940 über die „Behörde für Ernährung und Sozialfürsorge“ („ServiÅo da PrevidÞncia Social“, SAPS) Volksküchen eingerichtet wurden. 42 Wolfe, Working Women, Working Men, 73.

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Korporatismus wurde in der neuen Verfassung verankert. Die Ideologen des „Neuen Staates“ bezeichneten das Regime allerdings als „autoritäre Demokratie“, weil sich wahre Demokratie vielmehr durch die unmittelbare Nähe zwischen Führer und Bevölkerung erweise, statt durch eine entpersönlichte Politik von Institutionen und Parteien. Eine vom korporativen Denken stark beeinflusste Gründung war der „Rat für Nationalökonomie“ („Conselho de Economia Nacional“), der zwar aus Vertretern unterschiedlicher Produktionszweige und Gewerkschaften zusammengesetzt war, aber in der Praxis keine Macht hatte.43 Vargas und seine positivistischen und rechtskatholischen Unterstützer, zu denen die Industriellen, Großgrundbesitzer und das Militär gehörten, setzten im Rahmen der Diktatur noch stärker auf die Disziplinierung der sogenannten „gefährlichen Klassen“, weshalb die neue Verfassung von 1937 die Sozialrechte für formale Beschäftigungsverhältnisse noch weiter ausbaute. Sie legte etwa die Garantie für einen Berufsschulzugang, eigene Regelungen für geistige Arbeit und die Ausweitung des Kranken- und Pensionskassensystems fest. Streiks und Aussperrungen wurden gleichzeitig zu antisozialen Maßnahmen erklärt und verboten.44 Das neue Gewerkschaftsgesetz, das 1939 in Kraft trat, inkludierte nun auch hier das Zwei-Drittel-Gesetz, sodass in jeder Gewerkschaft zwei Drittel der Mitglieder geborene Brasilianerinnen und Brasilianer sein mussten.45 Ab Ende 1941 hatten alle Arbeiterinnen und Arbeiter, auch die nicht-organisierten, eine eigene jährliche Gewerkschaftssteuer in der Höhe eines Tageslohns an den Staat zu zahlen. Der Staat verteilte auf dem Weg über das Arbeitsministerium einen Teil des Geldes an die Gewerkschaften und behielt sich den Rest für Ausgaben, die nach außen nicht kommuniziert wurden. Wenn eine Gewerkschaft es wagte, das Geld als Streikfonds, oder auf eine andere, nicht erlaubte Weise zu nutzen, wurden diese finanziellen Reserven sofort eingefroren.46

43 Hingegen hatten der Außenhandelsrat und der Technische Rat für Wirtschaft und Finanzen als beratende Gremien auf den Präsidenten mehr Einfluss. Vgl. Boris Fausto, Getffllio Vargas, S¼o Paulo 2006, p. 92f. 44 Vgl. ffngela de Castro Gomes, Autoritarismo e Corporativismo no Brasil, in: Revista USP, S¼o Paulo 65 (marÅo/maio 2015), 105–119; vgl. Bernecker, Pietschmann, Zoller, Eine kleine Geschichte Brasiliens, 254f. 45 Adriano Luiz Duarte, Space, Culture, and Labour in Santa Catarina, 1900–1960, in: Moving the social. Journal of Social History and the History of Social Movements, 49 (2013), 53–74, 62. 46 Wolfe, Working Women, Working Men, 75; vgl. Maria Celina D’Araujo, Estado, classe trabalhadora e pol&ticas sociais, 228. Gewerkschaftsführer („pelegos“ genannt) erhielten in diesem System eine wichtige Vermittler- und Kontrollfunktion zwischen Staat und Arbeiterschaft.

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V.

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Europäische Einflüsse auf Sozialpolitik und Korporatismus

Der Ideologie der „Rassendemokratie“ widersprachen die brasilianische Außenwirtschaftspolitik und der Ideentransfer. Bis 1941 unterhielt Brasilien zu den USA und zu rechten Diktaturen in Europa gute Beziehungen. Zudem waren einige Politiker und Militärs von deutscher Effizienz und deutschem Militarismus fasziniert. Deutsche Produkte waren beliebt. Dazu kamen die florierenden Handelsbeziehungen, die aufgrund der starken deutsch-brasilianischen Minderheit in Südbrasilien eine lange Tradition hatten. All diese Faktoren trugen zum Image von Vargas als Faschisten bei. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage, ob das Vargas-Regime in seiner Arbeiter- und Sozialpolitik Anleihen beim Dritten Reich und Italien nahm. In der ersten Hälfte der 1930er Jahre beeinflussten auch zwei Werke des Rumänen Mihail Manoilescu („Die Theorie des Protektionismus“ von 1929 und „Das Jahrhundert des Korporatismus“ von 1934) die politischen Eliten. Manoilescu sprach darin vom „ungleichen Austausch“ und meinte zum einen bilaterale Beziehungen zwischen weniger und stärker entwickelten Staaten, zum anderen auch das binnenstaatliche Verhältnis zwischen Land und Stadt, zwischen agrarexportierenden Strukturen und urbaner Industrialisierung. Die Stadt beutete seiner Meinung nach das eigene Land aus. Um diese Diskrepanz zu überwinden, regte er etwa den Transport landwirtschaftlicher Überschüsse in die Städte an, um die Löhne auf dem Land zu heben und verstärkt überschüssige Arbeitskräfte in der Industrie anzustellen.47 Manoilescu entwickelte praktisch eine Theorie zur Überwindung des „internen Kolonialismus“, ohne diesen Begriff zu verwenden. Brasilianische Historiker wie ffngela de Castro Gomes, Jo¼o F#bio Bertonha und Fernando Teixeira da Silva behaupten zu Recht, dass die italienischen Arbeitsgesetze Brasilien viel mehr beeinflussten als die nationalsozialistischen.48 Gerade die Verfassung von 1937 und das Gesetz zur Neugestaltung von Gewerkschaften wurden durch Benito Mussolinis „Carta del Lavoro“ geprägt. Die italienische „Magistratura del Lavoro“ beeinflusste das geplante neue brasilianische Arbeitsgericht. Wie die verbliebenen Bände der programmatischen 47 Vgl. Joseph L. Love, Crafting the Third World. Theorizing Underdevelopment in Rumania and Brazil, Stanford 1996. Manoilescu war von FranÅois Peroux und Werner Sombart beeinflusst. In den späten 1930er Jahren driftete er auch in das Lager der Faschisten ab, bewunderte Mussolini und traf sich mit Alfred Rosenberg. 48 Vgl. Fernando Teixeira da Silva, The Brazilian and Italian Labour Courts: Comparative Notes, in: International Review of Social History, 55 (2010), 381–412; vgl. ffngela de Castro Gomes/ Fernando Teixeira da Silva, JustiÅa do Trabalho e Sua Histjria, Campinas 2014; vgl. Jo¼o F#bio Bertonha, Sobre a Direita. Estudos sobre o fascismo, o nazismo e o integralismo, Maring# 2008.

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Zeitschrift für die Arbeit (Revista do Trabalho) widerspiegeln, studierten die brasilianischen Arbeitsrechtler wie Oliveira Vianna minutiös die Arbeitsgesetzgebungen diverser europäischer Staaten. Freilich war die Sozialgesetzgebung von 1934, die drei Jahre später in der Verfassung von 1937 lediglich erweitert werden sollte, stark vom katholischen Thinktank Centro Dom Vital geprägt, der wiederum Anregungen aus der Vatikanischen Soziallehre und der französischen Action franÅaise bezog. Durch den starken Einfluss dieses Netzwerks wurde der antiklerikale Positivismus etwas reduziert. Gleichzeitig verhinderte das Centro Dom Vital die konsequente Implementierung des Korporatismus italienischer Prägung, (der von Ideologen wie Oliveira Vianna favorisiert worden war49), weil der italienische Korporatismus der Freiheit des Individuums zu wenig Rechnung trage. Deshalb verteidigte die Katholische Rechte den Pluralismus von Gewerkschaften und Berufsverbänden. Das „Organische Gesetz der Berufsverbände“ war dann auch von portugiesischen Ideen beeinflusst. Die nationalsozialistische Ideologie wurde wegen ihres „heidnischen Charakters“ und wegen der negativen Eugenik (etwa Sterilisation) abgelehnt.50 Über all diesen Debatten stand die stetig wiederholte Direktive, dass das nationalistische Vargas-Regime stets eigene Ideologien und Systeme entwickelt und keine ausländischen Modelle kopiert oder selbst in Ansätzen übernommen habe. Abgesehen von der schlechten Quellenlage erschwert diese Position die Beantwortung der Frage nach Kultur- und Ideentransfers. Freilich versuchten das Dritte Reich und Mussolini-Italien über ihre Auswanderer, deren Zeitungen und Schulen sowie Firmenniederlassungen Elemente ihrer Arbeiter- und Sozialpolitik zu bewerben. Italien warb etwa mit „Dopolavoro“ (”Kraft durch Freude”)51 erfolgreich bei der italienisch geprägten Industrie in S¼o Paulo, die diese Programme als selbstbewusstes Zeichen ihres Aufstiegs, als Zeichen ihres Anti-Kommunismus und schließlich der ideologischen Verbundenheit mit dem italienischen Faschismus rezipierte. Das Dritte Reich hielt seine großen Firmen wie Siemens-Schuckert, IG-Farben und Krupp an, die 49 Oliveira Vianna beschrieb in seinen „Ensaios Ineditos“ (Campinas 1991), wie sehr er und andere Ideologen den italienischen Faschismus rezipierten, dessen programmatische Werke in großer Zahl nach Brasilien exportiert und gerade in S¼o Paulo gelesen wurden. Gleichzeitig studierte Oliveira Vianna die Struktur der US-amerikanischen presidential leadership. Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr sich Brasilien im geopolitisch konfliktiven Kontext der späten 1930er Jahre zwischen den USA und europäischen Diktaturen zu positionieren und mit beiden „Weltanschauungen“ zu kooperieren versuchte. 50 Der einflussreichste Vertreter einer negativen Eugenik in Brasilien war der Deutsch-Brasilianer Renato Kehl, der für die Pharmafirma Bayer arbeitete. Die Implementierung der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ führte in Brasilien rasch zu einer Abkehr von negativer Eugenik. Vgl. Nancy Stepan, A Eugenia no Brasil – 1917 a 1940, in: Gilberto Hochmann/Diego Armus (Hg.), Cuidar, Controlar, Curar : ensaios histjricos sobre safflde e doenÅa na Am8rica Latina e Caribe, Rio de Janeiro 2004, 331–391. 51 Bertonha, Sobre a Direita, 114.

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Programme der „Deutschen Arbeitsfront“ und „Kraft durch Freude“ zu bewerben. Allerdings hörten diese ideologischen Verbindungen zu den Immigranten im April 1938 radikal auf, als Vargas in- und ausländische Parteien in Brasilien verbieten ließ und mit Polizeigewalt Mitglieder der NSDAP, der Faschisten, von „Dopolavoro“, „Kraft durch Freude“ und der „Deutschen Arbeitsfront“ verfolgte. Einige Mitglieder wurden auch interniert. Es überlebten nur jene Vereine und Institutionen den Krieg, die sich rechtzeitig (pro forma) nationalisierten.52 Im Laufe des Jahres 1941 wurden Firmen der Achsenmächte (wie Lufthansa, Lati, Bayer, Anilinfarben AG, Siemens) auf die sogenannte Schwarze Liste gesetzt, entweder aufgelöst oder nationalisiert. Von diesen Vakui profitierten USamerikanische Unternehmen.53 Ab dem 22. August 1942, der Kriegserklärung an Hitler-Deutschland und Italien, nahm der Druck auf Achsenangehörige noch weiter zu. Nun wurde in Artikeln in der „Revista do Trabalho“ zwar weiterhin auf deutsche und italienische Sozial- und Arbeitsgesetzgebung verwiesen, aber auch der später einflussreiche britische „Beveridge Report“ von 1942 diskutiert, der eine wichtige Grundlage für den britischen Wohlfahrtsstaat bilden würde. 1944 und 1945 publizierte auch der vom Internationalen Arbeitsamt in Genf nach Rio abgeworbene österreichische Kelsen-Schüler Rudolf Aladar Metall in der Zeitschrift. Seine Artikel sind analytischer und aufschlussreicher als jene seiner Kollegen, was allerdings auch einer Liberalisierung der Zensur geschuldet sein könnte, da Brasilien sich nun pro-amerikanisch gab. So schrieb Metall, dass seine Kollegen vom Arbeitsrecht NS-Reichsarbeitsblätter von 1941 und 1942 konsultiert hatten.54 Auch regte er eine bessere Integration der Bauern und Landarbeiter in das Sozialversicherungssystem an.

52 Vgl. Akten betreffend das Deutschtum in Brasilien. Oktober 1932–März 1935, Politik 25, R. 79001, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Abtl. III; vgl. Deutsche Arbeit. Mitteilungen der DA Rio de Janeiro, May 1936. Siemens Archiv Akte, Sig. 9432; vgl. Priscila Ferreira Perazzo, O Perigo Alem¼o e a Repress¼o policial no Estado Novo, S¼o Paulo 1999. 53 Vgl. Prutsch, Creating Good Neighbors?, 165–173; vgl. Richard Schwarz: Die Geschichte des Hauses Siemens in Brasilien. Porto Alegre. Siemens Archiv Akte, Box 8095–2 (Siemens Brasilien bis 1952) ; vgl. Kurt Prüfer, Telegramm, Rio de Janeiro, 9. 3. 1941. Ha-Pol.Clodius. Akten Brasilien, 1. 3. 1941–30. 6. 1941. R 105856, Bd. 5. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes. 54 Rudolf A. Metall, ATransformażo do Seguro Social, in: Revista do Trabalho, Agosto 1944, 7. Metall bezog sich auf die Reichsarbeitsblätter Nr. 15 (25. 5. 1941), Nr. 1 (13. 5. 1942) und Nr. 14 (1942).

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VI.

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Beschäftigungspolitik im Krieg

Der Schwenk Brasiliens auf die pro-alliierte Seite, der Krieg und die britische Blockade setzten gerade deutschen Unternehmen zu, weil sie in Brasilien präsenter waren als italienische und japanische. Deutsche Unternehmen mussten Arbeitskräfte entlassen und die Produktion drosseln. Hingegen investierten die USA, nunmehr der wichtigste ausländische Partner Brasiliens, massiv in die brasilianische Industrie. Die Eisenerzmine Companhia Vale do Rio Doce, Volta Redonda (das bis dahin größte Stahlwerk Lateinamerikas), Eisenbahnen und Docks wurden mit Hilfe günstiger US-Kredite der US Export-Import-Bank erweitert bzw. erbaut. Die US-Firma Airport Development Projects errichtete elf Flugplätze und Kasernen für US-Soldaten entlang der Atlantikküste und kurbelte für ein paar Jahre auch in strukturschwachen Regionen die Wirtschaft an. Recife, Fortaleza, Salvador da Bahia und Bel8m wurden plötzlich zu Zentren der „Amerikanisierung“. Bevölkert von Tausenden von US-Soldaten, die auf ihre Transatlantik-Flüge in die italienischen Kriegsgebiete warteten, profitierten die Bau-, Unterhaltungs- und Nahrungsmittelbranche dieser Städte zwar vom Boom, den der Krieg bewirkte. Die durch die US-Gehälter angekurbelten Nahrungsmittelpreise machten wiederum der lokalen Bevölkerung zu schaffen.55 Die Rolle Brasiliens als bedeutender alliierter Nahrungslieferant förderte den Neo-Extraktivismus. Obwohl die 15.000 Bauern, die man aus dem dürregeplagten Nordosten Brasiliens in die östliche Amazonas-Region transferiert hatte, nun als „Soldaten an der Kautschukfront“ zu Helden des Krieges hochstilisiert wurden, verbesserten die kargen Löhne ihr Los nur wenig. Von den Privilegien der urbanen Industriearbeiterklasse waren sie ausgeklammert. Dazu kam die kriegsbedingte Knappheit von Metallen, Brennstoffen und Grundnahrungsmitteln. Rationierungen, selbst von Kaffee und Zucker, begleiteten die Brasilianerinnen und Brasilianer ab Mitte 1943 ebenso wie Verdunkelungsübungen („blecautes“ genannt), obwohl der Expansionsdrang des Dritten Reiches zu jener Zeit bereits empfindlich gestört war. Mit systematischer Angstmache, deutsche Flieger könnten noch nach Brasilien übersetzen und dort Städte bombardieren, demonstrierte Diktator Getffllio Vargas nationale Stärke und Geschlossenheit, da die Vorspiegelung von Demokratie an der home front immer stärker von der gebildeten, amerikanophilen Mittelschicht kritisiert wurde.56 55 Im März 1942 unterzeichneten beide Staaten ein bilaterales Handelsabkommen. 1940 hatte Brasilien aus den USA Produkte im Wert von 111 Millionen Dollar importiert, 1945 bereits 219 Millionen. Seine Exporte steigerte Brasilien von 105 Millionen Dollar im Jahr 1940 auf 311 Millionen im Jahr 1944; vgl. Roberto Gambini, O Duplo Jogo de Getffllio Vargas: influÞncia americana e alem¼ no Estado Novo, S¼o Paulo 1977, 94f. 56 Vgl. Roney Cytrynowicz, Guerra sem Guerra. A mobilizażo e o cotidiano em S¼o Paulo durante a Segunda Guerra Mundial, S¼o Paulo 2000.

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Das Arbeitsministerium unterstützte nicht nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, sondern auch die Industriellen in ihrer „Produktionsschlacht“ für ein neues, demokratisches Europa. In wöchentlichen Radiosendungen feuerte der Arbeitsminister Marcondes Filho die Arbeitgeber und -nehmer zu Höchstleistungen an, weil das Wohl Brasiliens und der Welt von ihrem Durchhaltewillen abhinge. Das Neue Brasilien brächte „mehr Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit und Frieden“, erklärte er.57 Ein Beispiel dafür sollte die „JustiÅa do Trabalho“, das Arbeitsgericht, sein. Neueste Forschungen zeigen, welche Rolle die „JustiÅa do Trabalho“ im Rahmen der politischen Disziplinierung spielte. Wörtlich übersetzt bedeutete der Begriff „Arbeitsgerechtigkeit“. Im engeren Sinn hieß er auch Arbeitsgericht. 1934 in der Verfassung verankert, begannen die Arbeitsgerichte erst am 1. Mai 1941 zu arbeiten. Ihre Vorgängerorganisation waren die sogenannten „Gemischten Schiedsgerichte“ (Comissles Mistas de Conciliażo). Der Arbeitsgerichtshof funktionierte auf einer nationalen Ebene, auf einer mittleren, wo kollektive Konflikte verhandelt wurden und auf einer lokalen Ebene, wo es um individuelle Rechtsfragen ging. Arbeitsgerichte gab es in acht Großregionen Brasiliens. Präsidenten und Vizepräsidenten wurden von Vargas ernannt. Die Richter (bachareis) mussten auf Sozialrecht spezialisiert sein. Jedes Arbeitsgericht hatte einen Verteidiger der Arbeitnehmer (vogal) und einen der Arbeitgeber (suplente). Die Institution hatte eine normative Funktion, weil sie den Richtern eine Möglichkeit gab, in Situationen juridischer Widersprüchlichkeit Recht zu sprechen. In der Mehrheit der Fälle gab das Gericht bei individuellen und bei kollektiven Arbeitskonflikten den staatlichen Akteuren und Arbeitgebern Recht. 1942 zum Beispiel entschied das Arbeitsgericht des Staates S¼o Paulo in 55,25 Prozent der Fälle zugunsten der Industrie, 26,49 Prozent wurden vom Gericht abgewiesen, 13,24 wurden zugunsten der Arbeiter entschieden, davon 5,2 Prozent durch einen Vergleich.58 Im wenig industrialisierten Staat Bahia wiederum war es für Arbeitgeber eigentümlich, Konflikte auf staatlicher Ebene zu regeln. Auch ließ sich das Gericht in seinen Urteilen von Informationen über staatskonformes versus staatsfeindliches Verhalten der Arbeiterinnen und Arbeiter leiten. In Bahia landeten 17 Textilarbeiter vor Gericht, weil sie einen illegalen Streik angezettelt und Arbeiter anderer Textilbetriebe hineingezogen hätten. Sie verloren den Prozess und wurden gekündigt.59 57 Wolfe, Working Women, Working Men, 96. 58 Ebd., 89f.; vgl. Castro Gomes/Teixeira da Silva, A JustiÅa do Trabalho e sua histjria. 59 Die Angeklagten bestritten, gewusst zu haben, dass der Streik illegal war und sagten, sie hätten nicht aktiv teilgenommen. Sie erklärten, mit dem Patron über höhere Löhne geredet zu haben, dann mit der staatlich gegründeten Gewerkschaft, die aber nichts tauge. Das Unternehmen habe Vorwürfe zurückgewiesen. Sie wandten sich wieder an das Unternehmen,

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Ein Hauptgrund für Arbeitskonflikte waren ab dem Kriegseintritt Brasiliens gerade die kriegsbedingt exorbitanten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Mieten, denen die Löhne nicht folgten. Auch die Anzahl der Arbeitsunfälle war hoch. Der Metallarbeiter Conrado de Papa gab an, dass all jene, die sich beim Arbeitsministerium über durchgearbeitete Sonntage mit dem Hinweis auf die Arbeitsgesetze beschwerten, für ein paar Tage in Gefängnissen interniert wurden.60 Aber auch Fälle von sexuellen Übergriffen landeten bei Gericht, wurden aber meist zugunsten der Arbeitgeber entschieden und hatten Lohnsenkungen der Klägerinnen zur Folge. Dabei wandten sich Arbeiter, die keiner Gewerkschaft beitreten wollten, oftmals in rührseligen Briefen direkt an ihren obersten Patron Getffllio Vargas, der die Briefe an die Behörden weitergab. Die Arbeitsgerichte idealisierten die Beziehung zwischen Arbeitgebern und -nehmern und waren ein deutliches Beispiel für den Verlust von Autonomie. Am 1. Mai 1943 wurden alle Sozial- und Arbeitsgesetze – auch das schon mehrfach genannte Zwei-Drittel-Gesetz – in einem Arbeitsgesetzbuch, den sogenannten „Konsolidierten Arbeitsgesetzen“ („Consolidażo das Leis do Trabalho, CLT“), zusammengefasst. In 922 Artikeln regelten sie die Normen der individuellen und kollektiven Arbeitsverhältnisse, bündelten noch einmal Urlaubs- und Kündigungsrechte sowie Rentenansprüche. Das Gesetz Nr. 62 der „Konsolidierten Arbeitsgesetze“ erklärte beispielsweise, dass Arbeitgeber das Recht hätten, „renitente Arbeiter“ zu bestrafen, für dreißig Tage zu entlassen oder überhaupt zu entlassen.61 Wiederum waren Landarbeiter und jene in extraktivistischen Bereichen (wie Kautschuk) ausgeschlossen; aber auch für Beamte galten die Bestimmungen des CLT nicht, denn ihr Status wurde erst nach dem Krieg geregelt. Die Gesetze waren Zugeständnisse an die ehemals politisch selbstbewusste, städtische Arbeiterschaft, deren Funktion als Säule des Regimes sich im Prestigeprojekt des Estado Novo, dem Stahlwerk Volta Redonda, manifestierte.62 1946 dank großzügiger finanzieller Hilfe durch die USA in Betrieb genommen, war die Arbeiterstadt Volta Redonda das Aushängeschild für Arbeiterkultur und sozialen Frieden in Brasilien, da es Industrialisierung, Arbeiterrechte und -kontrolle eng miteinander verknüpfte. Eine weitere Gruppe von Beschäftigten wurde in Kriegszeiten ausgeklammert, wenn sie nummerisch auch gering war. Die seit Mitte 1941 betriebene Politik der Ausgrenzung feindlicher Ausländer erreichte mit der Kriegserklärung Brasiliens das die Polizei einschaltete. Insgesamt streikten 3.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Vgl. Castro Gomes/Teixeira da Silva, A JustiÅa do Trabalho e sua histjria 142f. 60 Wolfe, Working Women, Working Men 101. 61 Castro Gomes/Teixeira da Silva, A JustiÅa do Trabalho e a sua histjria 124. 62 Etwa drei Millionen brasilianische Arbeiter und Arbeiterinnen waren 1945 in das Versicherungs- und Pensionssystem integriert. Vgl. D’Araujo, Estado, classe trabalhadora e pol&ticas sociais, 235.

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an das Dritte Reich und Italien am 22. August 1942, dem die Versenkung brasilianischer Handelsschiffe durch deutsche U-Boote vorangegangen war, ihren Höhepunkt.63 Führungskräfte deutscher, italienischer und japanischer Unternehmen wurden entlassen und durch Inländer ersetzt, Bankkonten wurden eingefroren und Besitz wurde beschlagnahmt. Deutsche, Italiener und Japaner durften auch nicht mehr Gewerkschaftsmitglieder sein. Unter dem Druck der USA internierte Brasilien etwa 6.000 deutsche, 900 italienische und 4.000 japanische enemy aliens in Gefängnissen, Präfekturen und ehemaligen Landgütern, die man zu Lagern umfunktioniert hatte. Allerdings waren dies keine Arbeitslager, wie sie der Nationalsozialismus einrichtete und können mit jenen auch nicht verglichen werden, obwohl sie bis heute „campos de concentrażo“ heißen. Die Behandlung der Gefangenen variierte und hing stark vom Gutdünken der Sicherheitskräfte ab.64

VII.

Resümee

Die Ära Vargas prägte Brasiliens Geschichte weit über die 1930er Jahre hinaus. Auch viele sozialpolitische Regelungen der Regierung Getffllio Vargas blieben noch jahrzehntelang aufrecht. Allerdings schuf sie nicht die vorgebliche Gleichheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Landarbeiter blieben ausgeklammert, Schwarze, indigene, mulattische Arbeiter und Angestellte verdienten weitaus weniger und arbeiteten oft in prekären Anstellungsverhältnissen im Agrar- und Dienstleistungssektor, was vor allem mit der ungebrochenen Tradition des brasilianischen Rassismus und verabsäumter Landreformen zu tun hatte. Auch die Vorstellung des gleichen Lohns für gleiche Arbeit wurde in der Realität stets gebrochen. Während Frauen den Mindestlohn verdienten, kamen Metallarbeiter auf drei Mindestlöhne im Monat. 63 1944 sandte Brasilien 25.000 Soldaten der ForÅa Expedition#ria Brasileira als Teil einer USEinheit nach Italien. 64 Im amazonischen Tom8-AÅffl etwa, wo Japaner und Deutsche gemeinsam interniert waren, mussten die Lagerinsassen für ihre eigene Verpflegung Arbeitsdienste verrichten, obwohl dies illegal und gegen die Genfer Richtlinien für Kriegsgefangene war. Das von der Bundesregierung vorgesehene Geld für Verpflegung hatten sich die lokalen Militärs in die eigenen Taschen gesteckt. Vgl. Prutsch, Rodrigues-Moura, Eine Kulturgeschichte Brasiliens, 160–162; vgl. Priscila Ferreira Perazzo, Prisioneiros da Guerra: os sfflditos do eixo dos campos de concentrażo (1942–1945), S¼o Paulo 2009. Im Vergleich dazu sorgte die schwedische Textilfirma Lundgren für ihre deutsche Belegschaft, die im November 1942 in der nordbrasilianischen Textilfabrik in Ch¼ de Estev¼o (AraÅoiaba) festgenommen wurde und im Gefängnis von Recife interniert werden sollte. Die Firma intervenierte bei den Behörden und bot den Deutschen Landstücke, die sie besaß, zur Bebauung an. Somit blieb den Angestellten das Lagerleben erspart; vgl. http://www.unicap.br/coloquiodehistoria/wp-con tent/uploads/2013/11/5Col-p.705-716.pdf [letzter Zugriff: 28. 6. 2016].

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Vargas’ Aufstieg zur Macht war eng mit der Weltwirtschaftskrise und der Enttäuschung der positivistischen Militärs über eine liberale, aber korrupte Politik urbaner Eliten verbunden. Vargas tastete alte Privilegien nicht an, gleichzeitig holte er mit den urbanen Industriearbeitern eine bislang benachteiligte Gruppe in die Nation, indem er sie zwar sozial absicherte, aber auch disziplinierte und zu loyalen Trägern seiner paternalistischen Entwicklungsdiktatur machte. Um den Arbeitsmarkt in den ersten schwierigen Jahren nach der Weltwirtschaftskrise zu regeln, erließ die Regierung Vargas noch 1930 das Zwei-Drittel-Gesetz, das heimischen Arbeitern vorwiegend im städtischen Raum Priorität vor ausländischen einräumte. Vier Jahre später drosselte ein neues, restriktives Einwanderungsgesetz, das auf Quoten basierte, die transatlantischen Migrationsströme beträchtlich. In ihrem eklektizistischen „Kannibalismus“ nahm die Regierung Vargas bei europäischen rechten Diktaturen, aber auch bei den USA Anleihen. Die Arbeiterund Sozialpolitik war auch ein Kompromiss zwischen den positivistischen, antiklerikalen Arbeitsrechtlern und den Anhängern des Mussolini’schen Korporatismus zum einen und den Vertretern des Politischen Katholizismus zum anderen. Während die Bevölkerung durch hierarchische, zum Teil korporative Strukturen, durch Politik und Polizei diszipliniert wurde, war die Regierung Vargas flexibel, wenn es darum ging, bestimmte Gruppen ein- und auszuschließen. Waren es Anfang der 1930er Jahre europäische Arbeitslose, die (mit Ausnahme jüdischer Intellektueller) zugunsten der heimischen Bevölkerung abgewiesen wurden, so waren es in den späten 1930er Jahren Angehörige der deutschen, italienischen und japanischen Minderheit, der die Regierung zunächst die Assimilationsfähigkeit absprach und sie dann zu Staatsverrätern erklärte. Brasiliens Entscheidung, die Alliierten Mächte zu unterstützen und schließlich an ihrer Seite in den Zweiten Weltkrieg einzutreten, bewirkte Entlassungen und zum Teil sogar Internierungen von deutschen, italienischen und japanischen Führungskräften sowie von Achsenangehörigen, von denen einige Mitglieder faschistischer bzw. japanischer Organisationen gewesen waren. Während die Stationierung von US-amerikanischen Truppen entlang der brasilianischen Atlantikküsten die Wirtschaft ankurbelte, und während Industrien von der Kriegswirtschaft profitierten, bedrohten Inflation und Mangelwirtschaft die materielle Absicherung der Arbeiterschaft. Dazu kam die Diskrepanz zwischen der pro-alliierten Rhetorik und der Realpolitik einer rechten Diktatur, die Wahlen verweigerte, obwohl sie ihre Bevölkerung diskursiv stets in die große Gemeinschaft der brasilianischen Nation integrierte. Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität führte vor dem Hintergrund der Geopolitik auch zum Sturz des „Vaters der Arbeiter“ Getffllio Vargas im Oktober 1945.

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David Chiavacci, Prof. Dr. phil., ist Professor für sozialwissenschaftliche Japanologie und Studienprogrammdirektor am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich sowie Direktor des Universitären Forschungsschwerpunktes (UFSP) Asien und Europa der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Soziologie, Wirtschaftssoziologie und Wissenssoziologie des gegenwärtigen Japans. Seine neusten wissenschaftlichen Publikationen umfassen u. a. Social Inequality in Post-growth Japan: Transformation during Economic and Demographic Stagnation (London: Routledge, 2017, Hrsg. mit Carola Hommerich), Social Movements and Political Activism in Contemporary Japan: Reemerging from Invisibility (London: Routledge, 2017, Hrsg. mit Julia Obinger) sowie „Japanese Political Economy Revisited: Diverse Corporate Change, Institutional Transformation, and Abenomics“ (Sondernummer, 2017, Hrsg. mit S8bastien Lechevalier), Japan Forum, Vol. 29, Nr. 3. Mathias Krempl, Mag.iur. Mag.phil., Dr.iur., Universitätsassistent am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte und Projektassistent im Verein zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte, beide Universität Wien. Ebendort Lehrtätigkeit zur österreichischen Verfassungsgeschichte; 2017 Forschungsstipendiat am Center for Austrian Studies, Hebräische Universität Jerusalem. Mehrere Veröffentlichungen und Vorträge im Bereich der Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung. Martin Münzel, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin; seit 2008 außerdem Redakteur der Fachzeitschrift „Archiv und Wirtschaft“. Studium der Geschichtswissenschaft und der Sozialwissenschaften, Aufenthalt am Institut für Europäische Geschichte in Mainz, 2004 Promotion an der Universität Bielefeld. Verschiedene Veröffentlichungen zur Unternehmer-

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und Emigrationsgeschichte sowie jüngst zum Spitzenpersonal der zentralen deutschen Arbeitsbehörden 1945–1960. Verena Pawlowsky, Dr.in, Historikerin; Lehraufträge, Forschungen und Publikationen zur Geschichte der Fürsorge und der Illegitimität, zur Wissenschaftsgeschichte, zum Austrofaschismus, zu Fragen des Vermögensentzugs während des Nationalsozialismus und der Restitution nach 1945; aktuelles Forschungsprojekt: Inbesitznahmen. Das Parlamentsgebäude in den Diktaturen zwischen 1933 und 1945; Veröffentlichungen: Die Wunden des Staates. Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938 (2015, gem. mit Harald Wendelin); Die Akademie der bildenden Künste Wien im Nationalsozialismus. Lehrende, Studierende und Verwaltungspersonal (2015); Vereine im Nationalsozialismus. Vermögensentzug durch den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände und Aspekte der Restitution in Österreich nach 1945 (2004, gem. mit Edith Leisch-Prost u. Christian Klösch); Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784–1910 (2001); siehe auch: www.for schungsbuero.at. Ursula Prutsch, Prof.in Dr.in, lehrt seit 2007 am Amerika-Institut der LudwigMaximilians-Universität München US-amerikanische und Lateinamerikanische Geschichte. Sie hat ihr Doktorat 1993 an der Karl-Franzens-Universität Graz verliehen bekommen und sich 2006 an an der Universität Wien habilitiert. Für ihre Habilitationsschrift erhielt sie den Maria-Schaumayer-Preis. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Inter-Amerikanische Geschichte, Geschichte Brasiliens und Argentiniens und Migration und Flucht aus Zentraleuropa nach Lateinamerika. Sie ist u. a. Mitglied der Bayerischen Amerika-Akademie und Vorstandsmitglied des Österreichischen Lateinamerika-Instituts. Ilse Reiter-Zatloukal, Dr.in iur., ao. Univ. Prof.in am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Rechtsund Verfassungsgeschichte im „Austrofaschismus“ und Nationalsozialismus; Geschichte der juristischen Berufsstände (v. a. Anwälte, Richter) und Justizpraxis des 19. und 20. Jahrhunderts; Geschichte des Migrationsrechts (v. a. Ausweisung und Emigration); Geschichte des europäischen Staatsbürgerschaftsrechts (v. a. Praxis des Staatsangehörigkeitsentzugs im 20. Jahrhundert); Geschlechtergeschichte; aktuelle Forschungsprojekte: „Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1933–1945. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung“; Richter-Maßregelungen in Österreich 1934–1938; Preise: Preis des Forum Anwaltsgeschichte e.V. 2009; Teaching Award der Universität Wien 2013; Agpro Forschungspreis 2014; Publikationen siehe: http://homepage.univie.ac.at/ilse.reiter-zatloukal/ Publikationsverzeichnis%20Reiter.pdf.

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Ulrike Schulz, Dr.in phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Forschungsgruppenleiterin in der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Reichsarbeitsministeriums. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Neuere und Neueste Geschichte sowie Germanistische Linguistik studiert. Nach dem darauf folgenden Promotionsstudium an der Bielefeld Graduate School of History and Society wurde sie im Jahr 2011 an der Universität Bielefeld, Fakultät fu¨ r Geschichtswissenschaften, erfolgreich promoviert. Nach einem Forschungsaufenthalt als Visiting Assistant Researcher an der Yale University, New Haven, CT, USA im Jahr 2011 arbeitete und lehrte sie zwischen 2012 und 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich „Geschichte moderner Gesellschaften“ der Universität Bielefeld. Silvia Spattini is an ADAPT Senior research fellow and an expert on labour law at the Centre for International and Comparative Studies DEAL of the Marco Biagi Department of Economics, University of Modena and Reggio Emilia. She is member of the direction for the ADAPT Labour Studies e-Book Series (ADAPT University Press) and the ADAPT Book Series (ADAPT University Press), member of the editorial board for the review Diritto delle Relazioni Industriali (GiuffrH Ed.) and member of the Scientific Board for the review E-Journal of International and Comparative Labour Studies. Her research focuses on: labour market regulation and governance, public and private employment services, job matching, active labour market policies, social security systems and unemployment insurance systems, short time work arrangements, minimum wage, temporary agency work, higher apprenticeships. She has been member of research teams for a number of projects funded by the European Commission and coordinator and member of the research teams for projects and comparative studies, commissioned by Italian private or public organizations. Emmerich T#los, Univ. Prof. für Politikwissenschaft der Universität Wien. Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und an der Donauuniversität Krems. Seit 2009 formell im Ruhestand. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Sozialstaat Österreich, Wohlfahrtsstaatsvergleich, Sozialpartnerschaft, politische Systeme Österreichs im 20. Jhdt., Austrofaschismus. Jüngste Buchpublikation: Das austrofaschistische Österreich 1933–1938, Wien 2017 (in Zusammenarbeit mit Florian Wenninger). Neben anderen Auszeichnungen: Bruno Kreisky Preis für das Lebenswerk (2013), Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse (2014), Wilhelm Hartel Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für Forschungen im Bereich des Sozialstaates und Austrofaschismus (2015).

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Johannes Thaler, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 2009–2012 Doktorand im Initiativkolleg „Europäische historische Diktatur- und Transformationsforschung“. 2011–2012 Sprecher der Doktoranden. Dissertation 2016: „Faschismus, katholische Kirche und kleinstaatliche Diktaturen. Ein Vergleich von Litauen und Österreich in der Zwischenkriegszeit“. Seit 2014 Forschungsauftrag zur Geschichte der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung 1917 bis 1957 (gemeinsam mit Mathias Krempl). Seit 2016 Forschungsauftrag zur Geschichte der Geologischen Bundesanstalt (GBA) und der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in der NS-Zeit. Forschungsschwerpunkte: Faschismustheorie, Behördengeschichte, Dollfuß/Schuschnigg-Regime, litauische Geschichte, österreichischer Legitimismus. Publikationen zur österreichischen Arbeitsmarktverwaltung und zur legitimistischen Bewegung in Österreich. Irina Vana, Mag.a rer. soc. oec., Dr.in phil., Lektorin am Institut für Soziologie Wien, seit 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für soziale Innovation (Bereich Arbeit- und Chancengleichheit), 2008–2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts Production of Work (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Universität Wien), 2014 Dissertation: „Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung“ Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Arbeit und Nicht-Arbeit, Etablierung sozialstaatlicher Strukturen in Österreich, Armuts-und Sozialberichterstattung. Mehrere Veröffentlichungen und Vorträge zur Geschichte der Arbeitsmarktverwaltung und Arbeitslosigkeit. Harald Wendelin, Historiker, Mitarbeiter des Technischen Museums Wien, arbeitet zu Vermögensentzug im Nationalsozialismus und zur Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert.