Documenta Mnemonica. Band III Zentrale Gedächtnislehren des Spätmittelalters: Eine Auswahl von Traktaten mit Übersetzung und Kommentar 9783110575231, 9783110564518

The volume presents key late medieval tractates on the art of memory. It is a continuation of the series Documenta Mnemo

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German Pages 451 [452] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Vorwort
Matthaeus de Verona: De arte memorandi
Anonymus: Ars memorandi (Inc: Artis nobilissime memorandi)
Anonymus: De arte memorativa (Inc.: Nunc igitur)
Anonymus: De memoria artificiali secundum Parisienses (Inc.: Attendentes nonnulli)
Jacobus Ragona Vicentinus: Artificialis memorie regule
Jacobus Publicius: Ars memoriae
Bibliographie - Quellen
Verzeichnis der zitierten Forschungsliteratur
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Documenta Mnemonica. Band III Zentrale Gedächtnislehren des Spätmittelalters: Eine Auswahl von Traktaten mit Übersetzung und Kommentar
 9783110575231, 9783110564518

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Documenta Mnemonica Bd. 3

Frühe Neuzeit Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 217 Documenta Mnemonica Text- und Bildzeugnisse zu Gedächtnislehren und Gedächtniskünsten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber

Band III

Zentrale Gedächtnislehren des Spätmittelalters

Eine Auswahl von Traktaten mit Übersetzung und Kommentar Herausgegeben von Sabine Seelbach und Angelika Kemper unter Mitarbeit von Christoph Walther

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

ISBN 978-3-11-056451-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057523-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057361-9 Library of Congress Control Number: 2018953242 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Danksagung  VII Vorwort  IX Matthaeus de Verona: De arte memorandi Zur Edition  1 Text und Übersetzung (A.K., S.S.)  4 Anonymus: Ars memorandi (Inc: Artis nobilissime memorandi) Zur Edition  109 Text und Übersetzung (C.W., S.S.)  110 Anonymus: De arte memorativa (Inc.: Nunc igitur) Zur Edition  145 Text und Übersetzung (C.W., A.K., S.S.)  146 Anonymus: De memoria artificiali secundum Parisienses (Inc.: Attendentes nonnulli) Zur Edition  187 Text und Übersetzung (A.K., S.S.)  190 Jacobus Ragona Vicentinus: Artificialis memorie regule Zur Edition  259 Text und Übersetzung (A.K., S.S.)  262 Jacobus Publicius: Ars memoriae Zur Edition  333 Text und Übersetzung (A.K.)  336 Bibliographie Quellen  397 Forschungsliteratur  401 Register  407

Danksagung Das vorliegende Buch hatte eine wechselvolle Geschichte. Als Projekt zur editorischen Erschließung und gebrauchsgeschichtlichen Interpretation schulbildender Gedächtnistraktate des 15. Jahrhunderts und Teil der Reihe Documenta mnemonica wurde es im Jahr 2010 von der DFG bewilligt. Die Mittel durften dann jedoch nicht an den neuen österreichischen Wirkungsort der Antragstellerin transferiert werden. Es blieb bei einer dankenswerterweise gewährten Sachbeihilfe, mit welcher zumindest die Textzeugenheuristik und die Überprüfung der Leithandschriftenfrage für die geplante Edition realisiert werden konnte. Nachdem der FWF das Projekt nicht weitergefördert hat, mussten die erforderlichen Mittel alternativ eingeworben werden. Großer Dank gebührt in diesem Zusammenhang der Dr. Manfred Gehring Stiftung Klagenfurt, dem Forschungsrat der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt und der Kärntner Sparkassenstiftung. Durch die Förderung dieser Institutionen war es immerhin möglich, von den ursprünglich anvisierten zwölf zentralen Texten zumindest die sechs wichtigsten zu edieren, zu übersetzen und zu kommentieren. Die DFG hat schließlich die im ursprünglichen Projektrahmen zugesagte Publikationshilfe gewährt. Ich danke Jörg Jochen Berns, der über viele Jahre meine Arbeit hilfreich begleitet hat und nicht selten mit Ermunterung und Zuspruch zur Stelle war. Den Herausgebern der Reihe „Frühe Neuzeit“, voran Jan-Dirk Müller, ist für konstruktive Kritik und die Aufnahme des Buches in die Reihe zu danken. Mit besonderem Dank seien hier Cornelie Becker-Lamers und Hans Jürgen Scheuer bedacht, deren sorgfältige Transkriptionsarbeit im Rahmen des damaligen Münsterschen SFB 231 nun bereits dem zweiten Buch zugutekommt. Ohne diese Vorleistung wäre namentlich die Basis für die Fehlerheuristik viel zu schmal gewesen. Stella Diedrich, Stefan Diezmann und Lena Ebert vom De Gruyter-Verlag danke ich für die unkomplizierte und stets zuvorkommende Kooperation sowie für wertvolle Tipps für die Manuskripteinrichtung und die praktische Abwicklung des Publikationsprojekts. Von der kritischen Durchsicht durch Ulrich Seelbach hat das Buch in hohem Maße profitiert. Münster, im September 2017

Sabine Seelbach

Vorwort Der Begriff des Gedächtnisses ist seit den frühen 1980er Jahren zu einem Leitbegriff der interdisziplinären und transnationalen Kulturwissenschaften avanciert.1 Das Feld der Gedächtnistheorien kann seither als etabliertes kulturwissenschaftliches Forschungsparadigma gelten.2 Trotz der anhaltenden Konjunktur der Gedächtnisthematik, die sich neben ihrer zeitgeschichtlichen Relevanz vor allem ihrem Theoriepotential verdankt, blieb ein wichtiger Teil historischer Bearbeitung der Gedächtnisthematik zunächst relativ unterbelichtet. Dies betrifft zuvorderst die große Masse an relevanten Texten der Vormoderne, die explizit Auskunft über die historischen Vorstellungen zu Begriff und Funktionsweise des Gedächtnisses geben, aber durch ihre überwiegend handschriftliche Überlieferung der Aufmerksamkeit entzogen waren: die Traktate zur Gedächtniskunst (Ars memorativa).3 Die Ars memorativa ist als ein relativ geschlossenes Regelsystem zur Unterstützung des Redners bei der Vorbereitung des öffentlichen Vortrags überliefert.

1 Die kulturtheoretische Perspektive wird paradigmatisch vertreten durch die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, die sich insbesondere dem Medium Schrift als ‚sichtbar gemachtes Gedächtnis‘ und seinen Leistungspotenzen hinsichtlich der Konstitution einer neuen, nicht mehr auf Ritus und Nachahmung schriftloser Kulturen, sondern auf der durch Schrift ermöglichten permanenten auslegenden Konfrontation mit der Überlieferung beruhenden kulturellen Kontinuität widmeten. Vgl. hierzu stellvertretend die grundlegenden Arbeiten von Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992 und den um wenige Jahre früheren programmatischen Aufsatz von Aleida und Jan Assmann: Schrift, Tradition und Kultur. In: Wolfgang Raible (Hg.): Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘. Tübingen 1988 (ScriptOralia 6), S. 25–49, ferner auch Siegfried J. Schmidt (Hg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt/M. 1991 und Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hgg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M. 1991. 2 Vgl. etwa die Entwicklung im Bereich der kulturwissenschaftlichen Handbücher (z.  B. Markus Fauser: Kulturwissenschaft. 5. durchges. Aufl. Darmstadt 2011 [Einführungen Germanistik]; Nicolas Pethes: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Zur Einführung. Hamburg. 2. überarb. Aufl. 2016). Vgl. u.  a. Jörg Jochen Berns, Wolfgang Neuber (Hgg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit Band 15); Jörg Jochen Berns, Wolfgang Neuber (Hgg.): Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Wien, Köln, Weimar 2000 (Frühneuzeit-Studien N.F. Bd. 5); Eva Dewes, Sandra Duhem (Hgg.): Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext.Berlin 2008 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 1) und jüngst von Gesine Mierke, Christoph Fasbender (Hgg.): Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne. Würzburg 2013. 3 Zu den Vorleistungen der Forschung im Hinblick auf die Erschließung dieses Korpus vgl. unten, S. XV  f. https://doi.org/10.1515/9783110575231-001

X 

 Vorwort

Die für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit zentrale Quelle ist die Rhetorica ad Herennium, eine zunächst Cicero, in späterer Zeit aber Cornificius zugeschriebene Rhetorik aus dem ersten christlichen Jahrhundert, die die Gedächtniskunst akribisch beschreibt. Ihre Basis sind mentale Gedächtnisörter von zumeist architektonischem Zuschnitt (Häuser, mentale Stadtpläne o.  ä.), die möglichst einen realen Bezug haben und dem Lernenden hinreichend bekannt sein sollten. In diese mentalen Örter werden dann in spezieller Ordnung Bilder platziert, die in eigentlicher oder übertragener Weise mit den Gegenständen bzw. Inhalten assoziierbar sein müssen, die dem Gedächtnis eingeprägt werden sollen. Die Örter bilden dabei eine feste Struktur (Wachstafelvergleich), in die die Bilder eingetragen werden können (Vergleich mit dem Schreibvorgang). Beim virtuellen Gang durch den Gedächtnisort wird dessen feste Ordnung zur Voraussetzung dafür, die platzierten Bilder in der richtigen Reihenfolge wieder auffinden und hinsichtlich des ihnen eingeschriebenen Wissens decodieren zu können. Die Bilder, deren Bezug zum Merkinhalt ein gegenständlicher (memoria rerum) oder auch ein sprachlich-arbiträrer (memoria verborum) sein kann, sollen besonders merkwürdig bzw. auffällig und so miteinander verknüpft sein, dass daraus eine Narratio generiert werden kann, die ihre Reihenfolge zusätzlich befestigt. Abnormität der Bilder gilt als weiterer Stimulus des Gedächtnisses. Die Ars memorativa kann daher im Bereich der Rhetorik der inventio und dispositio zugeordnet werden und bildet in diesem Sinne eine bereits vorhandene Reihe von Ideen in verschlüsselter Form ab. Die Gedächtniskunst wurde also begriffen als eine letztlich an das Individuum gebundene Technik zur Schaffung einer mentalen Infrastruktur mit Speicherfunktion. Doch galt das Gedächtnis schon seit der Antike als mehr denn nur ein Speicher, die Erinnerung als mehr denn nur der Vorgang des Wiederaufrufens von Gespeichertem. Neben der Reproduktionsfunktion beinhaltete es immer auch die Möglichkeit kreativer Neuordnung und Sinnstiftung. Zudem zieht der technische Aspekt durchaus keine überzeitliche Konstanz der tradierten mnemotechnischen Methoden nach sich. Diese zeigen sich vielmehr als in vielfältiger Weise historisch konkretisiert und für die Gegebenheiten des kulturellen Gedächtnisses und seiner jeweils aktuellen Diskurse durchlässig. Nachdem die antike Mnemotechnik seit der Spätantike in wenig elaborierter Form in rhetorischen und lehrhaften Zusammenhängen weitertradiert worden war,4 und auch das Mittelalter, weströmischer Tradition folgend, den Platz der Ars memorativa im mehr oder weniger festen Werkzusammenhang der Rheto-

4 Sabine Heimann-Seelbach: Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit Bd. 58), S. 374–377.

Vorwort 

 XI

rik gesehen hatte, erlebt sie seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts einen in ihrer Geschichte beispiellosen Aufschwung. So erlangt sie zum ersten Mal seit ihrer hellenistischen Entwicklungsphase wieder eine fachliche Eigenständigkeit, bringt eine in diesem Umfang bis dato nicht dagewesene Traktatliteratur hervor und zeichnet sich durch Weiterentwicklungen und vielfältige praktische Adaptierungen der Lehre aus. Dabei erweist sich, dass sich die Traktate des 15. Jahrhunderts nicht eingleisig aus dem Rückgriff auf die klassischen Rhetoriken (Cicero, Quintilian, Auctor ad Herennium) beschreiben lassen.5 Hinzuweisen wäre hier auf die bereits früher in der Forschung erwähnten Autoritätsberufungen auf Demokrit,6 für die es im Rahmen der entsprechenden Kanonbildung weströmischer Provenienz keine belegbaren Vorläufer gibt, und bestimmte Elemente des Regelwerks, namentlich die Imaginationsmethoden im Bereich der memoria verborum, die in den römischen Quellen bestenfalls in kryptischer Form bewahrt werden und die Annahme stützen, dass es sich bei der neu aufkommenden Traktatliteratur um einen Import aus einem anderen Kulturkreis handelt. Dass hierfür der griechisch-byzantinische Raum zuallererst in Frage kommt, wird nicht nur durch die personellen Beziehungen der Verfasser der frühen Traktate (z.  B. Ludovico da Pirano, Leonardus Justinianus)7 zu dieser Kultur, sondern auch durch den vergleichbaren Textbestand nahegelegt, den diese Traktate mit den überkommenen Fragmenten sophistischer Provenienz (Dissoi logoi) und rhetorischen Werken griechischer Gelehrter (Georg von Trapezunt) aufweisen. Wenn bislang auch kein letzter Beweis dafür geliefert werden konnte, so kann doch die Hypothese, dass die Mnemotechnik griechischer Provenienz durch die Vermittlung greco-romanischer Gelehrter nach Italien kam, hohe Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. Es wäre hiermit auch eine Erklärung dafür gegeben, dass diese Literatur seit dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts quasi voraussetzungslos im Raum steht.8 Dieses Phänomen reagiert auf eine ebenfalls zu Beginn des 15. Jahrhunderts immer drängendere Nachfrage. Angesiedelt zwischen verschiedenen Wissensfeldern bzw. Disziplinen und gesellschaftlichen Subsystemen wurde die Ars memorativa in dieser Zeit mit naturwissenschaftlichen, philosophischen, rhetorischen oder religiösen Interessen von verschiedenen Seiten aufgegriffen. An der Wende

5 Für das Folgende vgl. ebd., S. 506–507. 6 Vgl. Frances A. Yates: Lodovico da Pirano’s Memory Treatise. In: Cultural Aspects of the Italian Renaissance. Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller. Ed. by Cecil H. Clough. New York 1976, S. 111–122. 7 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 18–41. 8 Zur ausführlichen Argumentation eines zweiten, griechisch-byzantinischen Rezeptionswegs der Ars memorativa vgl. ebd., S. 417–443.

XII 

 Vorwort

vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit waren erhebliche Wissensmengen aufgekommen, die Veränderungen der zeitgenössischen Wissenslandschaft nach sich zogen und inhaltliche wie institutionelle Neujustierungen verlangten. Neue Universitäten wurden im deutschsprachigen Raum gegründet, die Studentenzahlen stiegen, reformorientierte Klöster ordneten ihre Bibliotheken neu und erfuhren Impulse, ihre Skriptorien aufzuwerten und ihren Nachwuchs an Universitäten oder Zentren der Ordensstudien zu entsenden. Dies geschah vor dem Hintergrund der Erneuerung der Studien, die durch die humanistische Bewegung initiiert wurde und das etablierte Wissenssystem herausforderte. Die beteiligten Personenkreise – Studenten, Wissenschaftler, Prediger, Juristen etc. – können als die Interessenten der Ars memorativa beschrieben werden, da sie in ihren alltäglichen Tätigkeiten eine Technik benötigten, die ansteigenden Wissensmengen zu bewältigen und diese nach Belieben zu selektieren, abzuspeichern und zu rekonfigurieren. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die wachsende Nachfrage an systematisierenden und komprimierenden Lernhilfen. Ein erneuertes Interesse an der Rhetorik, das zu den humanistischen Errungenschaften zählte, tat ein Übriges zur Wertschätzung der Mnemotechnik. Die teils in vielen Textzeugen verbreiteten mnemotechnischen Traktate stehen damit an der Schnittstelle zwischen der mittelalterlichen und der humanistischen Wissenschaftskultur und geben Einblicke in deren Kontinuitäten und Transformationen. Eine zunächst humanistische Qualifikation der benannten griechischen Sekundärrezeption der Ars memorativa ergibt sich nicht allein durch ihre personelle Trägerschaft.9 Auch lässt sie sich nicht auf das generelle Interesse an der Pflege der griechischen Sprache und Literatur reduzieren. Das Rezeptionsinteresse ist weniger archivalischer Natur, sondern besitzt vielmehr einen produktiven Aspekt, der in den Texten selbst begründet ist. So findet sich in ihrer ursprünglichen und durch die frühesten italienischen Traktate (Petrus de Urbe veteri, Ludovico da Pirano, Leonardus Justinianus)10 bewahrten Form ein Artes-Konzept, welches, frei von der Distinktionskultur mittelalterlicher Wissenschaftstheorie und heilsgeschichtlicher Einbindung, einen vorurteilsfreien Blick auf die zivilisatorischen Leistungen und innerweltlichen Wirkungsbedingungen einer jeden Kunst eröffnet. Einen wichtigen Anhaltspunkt gibt gleichfalls der – gegenüber den römischen Rhetoriken – hohe Stellenwert der memoria verborum, die sich auf

9 Vgl. demnächst Angelika Kemper: The composition of manuscript miscellanies within religios communities. In: Late Medieval Manuscript Miscellanies. Ed. by Lucie Dolezalova u.  a. Turnhout (im Druck). 10 Zu diesen Texten vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 18–24 und 38–41.

Vorwort 

 XIII

die präzise Reproduzierbarkeit der Sprachgestalt elaborierter Texte abzielt. Hatte die Rhetorica ad Herennium sich auf die Imagination der hauptsächlichen nominalen Elemente des Sachverhalts als Anhaltspunkte der Rekonstruktion von Sinn konzentriert, so wird hier mit dem syntagmatischen Bereich gezielt die sprachliche Struktur der Aussage in den Blick genommen. Im Rahmen der sophistischen Argumentationskunst (Gorgias, Isokrates), die philosophisch-spekulative Prinzipien der Wahrheitsfindung als irrelevant für die Belange der gelebten Praxis abgewiesen und ihre Evidenzprinzipien in den Mitteln der Kommunikation, genauer in der persuasiv ausgerichteten und bis in die Symmetrie der syntagmatischen und rhythmisch-phonetischen Qualitäten hineinreichenden sprachlichen Ausformung der Rede gesucht hatte,11 besaß eine solche Mnemonik der Wortgestalt eine zentrale Funktion. In dem Bildungsideal, das den Weg zur Vervollkommnung des Menschen im Wesentlichen in der Aneignung und Nutzung kommunikativer Fähigkeiten sah und die Prinzipien menschlichen Handelns nicht aus einem außerhalb des Menschen verankerten Normensystem, sondern aus den durch tradierte Erfahrung gegebenen Plausibilitätsgründen bezog, sind deutliche Berührungsbeziehungen zu den Bemühungen um eine neue theoretische Begründung von Ethik gegeben, die sich seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bei italienischen Humanisten (Petrarca, Salutati) abzeichneten.12 Dieses Konzept schlägt in den mnemotechnischen Traktaten seit Beginn des 15.  Jahrhunderts durch, indem die memoria als Ordnungsgeber der Worte aufgefasst wird. Im Unterschied zu den frühen italienischen Traktaten umfasst dies bei späteren Autoren humanistischer Provenienz, z.  B. bei Jacobus Publicius, nicht allein die modi recte dicendi als grammatisch korrekten Sprachgebrauch. Rhetorische Musterstücke – von den Sophisten (Gorgias) bereits tópoi genannt –, die als Beispiele vorbildlicher sprachlicher Umsetzung eines Sachverhalts in Fülle einbezogen werden, fügen der grammatischen Ordnung die höhere Ordnung des Stils hinzu. In der Umbildung der rhetorischen Mustersammlung zum mentalen Örtersystem, das sowohl der mnemonischen imaginatio als auch der produktiven inventio dienlich ist, tendiert Publicius’ Traktat zur loci-communes-Sammlung. Beide Tätigkeiten, die Speicherung aktueller memorabilia mit Hilfe der rhetorischen loci wie auch deren Nutzung als thesaurus inventorum, erweisen sich somit als erfahrungsgeleitet. Sie beziehen ihre Prinzipien nicht aus abstrahierbaren Regeln, sondern

11 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 451–455; dort weitere Literatur. 12 Vgl. u.  a. die immer noch nicht eingeholten Untersuchungen von Eckhart Kessler (Das Problem des frühen Humanismus. Seine philosophische Bedeutung bei Coluccio Salutati. München 1968; Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München 1978).

XIV 

 Vorwort

aus der Anschauung. Dass die Wahl des Anschauungsmaterials auf Autoren der klassischen Latinität fiel, hat von sprachlicher Seite ihre Begründung in der Konzentration auf den usus, auf vorbildlichen Sprachgebrauch in Texten, die in einer lebendigen Kommunikationssituation ihre Wirkung entfalteten. Ihren theoretischen Hintergrund hat diese Wahl in den Bestrebungen einer philosophischen Begründung der scientiae litterarum, wie sie sich namentlich bei Petrarca und Salutati manifestierte: in einer Auffassung von den litterae als experientialer Zugang zum menschlichen Handlungswissen, dessen Normen somit induktiv aus vergangener gelebter Praxis entwickelt werden sollten. Vor diesem Hintergrund erweist sich die memoria verborum in den artes memorativae von Ludovico da Pirano bis zu Jacobus Publicius keinesfalls als lebloses Regelwerk. Nicht zuletzt die Tatsache, dass humanistische Auctores- und Exempla-Sammlungen wie Bartholomeos da San Concordio Ammaestramenti degli antichi oder Matteos de’ Corsini Rosaio della vita im 15. Jahrhundert eine Überlieferungsgemeinschaft mit mnemonischen Traktaten eingehen,13 kann als Indiz dafür angesehen werden, dass sie – als die auf die Qualität des Wortes konzentrierte, technische Seite des Erinnerns – in den Dienst einer innerweltlich und historisch orientierten, prudentialen Erinnerungskultur trat. Mnemotechnik besteht hier im Anlegen thematisch geordneter loci-communes-Sammlungen auf der literarischen Basis klassischer Latinität als sprachlich vergegenständlichter kommunikativer Erfahrung und mithin als empirisch gewonnenes historisches Gedächtnis. Nachdem der beschriebene Typ Ars memorativa vor allem durch bestimmte frühe italienische Traktate gegeben ist und sich in den Texten humanistischer Autoren (u.  a. Petrus Ravennas, Jacobus Publicius und Christian Umhauser) fortsetzt, wird ebenfalls sehr früh, seit den 1420er Jahren, eine weitere mnemotechnische Linie überlieferungsgeschichtlich greifbar. Die Untersuchung dieser Linie ergab, dass italienische Traktate den Ausgangspunkt auch dieser Textgruppe bilden. Neben dem bereits editorisch erschlossenen Anonymus Memoria fecunda (Bologna 1425)14 wäre vor allem der Traktat De arte memorandi des Dominikaners Matthaeus de Verona (Padua 1420) als ein Derivat der beschriebenen humanistischen Rezeptionslinie hervorzuheben. Denkvoraussetzung dieser zweiten Linie ist die Annahme, dass das Gedächtnis zunächst einmal als eine sensitive Potenz aufzufassen sei, deren Inhalte dann aber in der Apperzeption durch die intellektiven Seelenkräfte zu einer begrifflichen Form zu steigern seien, in welcher sie der

13 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 403–416, dort weitere Literatur. 14 Vgl. Roger A. Pack: An Ars Memorativa from the Late Middle Ages. In: Archives d’ histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 54 (Paris 1980), S. 221–275; Heimann-Seelbach 2000, S. 28–34.

Vorwort 

 XV

logisch-kategorialen Ordnung des Intellektual-Gedächtnisses als loci-System der Aussageweise von Wahrheit kompatibel wären. Nicht nur im Bereich der theoretischen Prämissen, sondern auch methodisch bildet die Ars memorativa dieses Typs den beschriebenen Erkenntnisprozess ab. Sei es die Nutzung der Prädikabilien als Struktur des Gedächtnisraums, dessen Gliederungsprinzipien somit denen der kategorialen Erschließung der Welt nachgebildet werden, sei es der Rückgriff auf die Aristotelische Systematisierung von Ähnlichkeitsrelationen (teils unter Nutzung von Beispielen aus Porphyrios) für die Imaginationslehre – in all dem wird ein neuer gebrauchsfunktionaler Typ manifest, der mit der Mnemonik auch die technische Seite des Erinnerns auf die Teilhabe an jenem die sinnliche Erfahrungswelt übersteigenden mundus intellectualis verpflichtet und in ihr – bei aller Verankerung in den Artes ‒ auch ein epistemisches Leistungsvermögen philosophischer Art aktualisiert wissen will.15 Diese Gemengelage aus Bestrebungen zur Etablierung der studia humanitatis und der eher retardierenden Tendenz zur Wiederbelebung des Aristotelismus, welche offenbar als durchaus kombinierbar und einander ergänzend aufgefasst wurden, konnte dann im Verlauf des 15. Jahrhunderts in ein ganzes Spektrum verschiedener methodischer Symbiosen für unterschiedliche Gebrauchszusammenhänge ausgefaltet werden.

Das Textkorpus Erste Schritte zur Erschließung des Korpus an Texten zur Ars memorativa wurden in den für die nachfolgende Forschung grundlegenden Arbeiten von Aretin, Volkmann und Hajdu unternommen.16 Auf dieser Stufe basierte lange Zeit die geisteswissenschaftliche Gedächtnisforschung.17 Die systematische Erschließung dieser vormodernen Traktatliteratur wurde seit dem Ende der 1990er Jahre mit Editionen, Übersetzungen und der Erstellung umfangreicher Datensammlungen zu den Inhalten, den Autoren, den Überlieferungsträgern (Handschriften, Frühdrucke)

15 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 489–504; dort weitere Literatur. 16 Christopher Freiherr von Aretin: Systematische Anleitung zur Theorie und Praxis der Mnemonik nebst den Grundlinien zur Geschichte und Kritik dieser Wissenschaft. Sulzbach 1810; Ludwig Volkmann: Ars memorativa. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien.  n. F. 3 (1929), S. 111–200; Helga Hajdu: Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Leipzig 1936; 17 Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. (Dt. Übers. der engl. Originalausgabe: The Art of Memory. London 1966). 2.  Aufl. Weinheim 1991. Paolo Rossi: Clavis universalis. Mailand 1960; Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990.

XVI 

 Vorwort

und ihren Gebrauchszusammenhängen vorangetrieben.18 Nicht zuletzt wegen der noch unzureichenden Dokumentation wichtiger Handschriftenbestände blieb der Blick dabei aber weitgehend auf westeuropäische Bibliotheken konzentriert. Das Desiderat der Erforschung osteuropäischer Handschriftenbestände erkennend, gründete sich im Jahr 2006 eine trilaterale Forschergruppe der Visegrád-Länder, die jüngst in komprimierter Form die Ergebnisse ihrer im Zeitraum von zehn Jahren durchgeführten heuristischen, textgeschichtlichen, prosopographischen und editorischen Arbeiten zur Ars memorativa im östlichen Mitteleuropa des Spätmittelalters vorgelegt hat.19 Die Auswahl der im vorliegenden Band versammelten Texte baut auf einem lateinischen Quellenkorpus von rund 100 Texten in ca. 400 Handschriften des 15.  Jahrhunderts auf. Für die ursprünglich geplante Edition, Übersetzung und Kommentierung der wichtigsten zwölf Traktate, die sich als schulbildend bzw. als paradigmatische Rezeptionszeugen schulbildender Texte herausgestellt hatten, konnten die erforderlichen Rahmenbedingungen letztlich nicht hergestellt werden.20 Eine weitere Selektion wurde zugunsten von Texten vorgenommen, die bis auf sporadische Erwähnungen in der Forschung bislang nicht behandelt wurden, gleichwohl aber breit rezipiert wurden und von entscheidendem Einfluss auf spätere prominente Texte vor allem humanistischer Provenienz gewesen

18 Die Reihe Documenta mnemonica, in die sich der vorliegende Band einordnet, hat hier schon Wesentliches geleistet. Als Projekt zur Edition, Übersetzung, Kommentierung und bibliographischen Erfassung des Quellenschrifttums zur Mnemotechnik soll es – nach seinem wünschenswerten Abschluss – den gesamten Zeitraum von der Antike bis zum Beginn der Moderne übergreifen und dabei nicht allein selbständige Zeugnisse, sondern auch Abhandlungen aus größeren Werkzusammenhängen (Rhetorik, Moralphilosophie, Enzyklopädie, Reallexika) einschließen. Vgl. die bereits erschienenen Bände zu den Gedächtnislehren in Antike und Frühmittelalter (Berns/Neuber 2003) und zu Enzyklopädie- und Lexikon-Artikeln der Frühen Neuzeit (Berns/ Neuber 1998). Vgl. außerdem Heimann-Seelbach 2000. 19 Lucie Dolezalová, Farkas Gabor Kiss, Rafal Wójcik: The art of memory in Late Medieval Central Europe (Czech Lands, Hungary, Poland). Paris-Budapest: L’Harmattan 2016. Es konnte gezeigt werden, dass sich im Lichte der Ars memorativa und ihren praktischen Umgebungen auch die Wissensräume des östlichen Mitteleuropa durchaus als anschlussfähig erweisen, so dass sie an einem relativ homogenen gesamteuropäischen Diskurs in je eigener Weise teilhaben. Die Überlieferung wird jedoch dominiert von der Rezeption prominenter westeuropäischer Traktate. Selbständige Autorschaften bleiben die absolute Ausnahme, aber auch dort sind keine nennenswerten Weiterentwicklungen der Lehre zu konstatieren. Vgl. Sabine Seelbach: Rez. zum angegebenen Band. In: Mittellateinisches Jahrbuch Heft 52.3 (2017), S. 475–479. Vgl. dazu auch frühere Publikationen, z.  B. Rafał Wójcik: Opusculum de arte memorativa Jana Szklarka. Poznań 2006, Rafał Wójcik (Ed.): Culture of memory in East Central Europe in the Late Middle Ages and the Early Modern Period. Biblioteca Uniwersytecka Poznań 2008. 20 Vgl. Danksagung, S. VII.

Vorwort 

 XVII

sind. Dagegen wurden zunächst diejenigen Texte ausgeschieden, die bereits in gewissem Maße verlässlich ediert worden waren.21 Eine Ausnahme stellt der Traktat des Jacobus Ragona (1434) dar, der zum Zeitpunkt der Mittelkürzung bereits neu bearbeitet vorlag. Dem Traktat des Jacobus Publicius (vor 1460) wurde zwar in der Forschung erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet, jedoch bis heute liegt er in keiner modernen Edition vor. Der wissenschaftsgeschichtlich ebenfalls interessante Anonymus Gloriosus deus (2.V.15.Jh.)22 musste hinter dem älteren und elaborierteren Traktat des Matthaeus de Verona zurückstehen. Insgesamt bildet auch das reduzierte Text-Korpus das methodische und gebrauchsgeschichtliche Spektrum der Ars memorativa im 15.  Jahrhundert ab. Es handelt sich dabei um Gebrauchstypen mit 1. elaborierter semiotischer Orientierung (Matthaeus de Verona; 1420), 2. logisch-kategorialem Zuschnitt (Anon. Artis nobilissime memorandi, vor 1451), 3. meditativem Kontext (Anon. Nunc igitur, 1.V.15.Jh.), 4. Fokus auf scholastischer Gelehrsamkeit (Anon. De memoria artificiali secundum Parisienses, vor 1445), 5. höfisch-laienweltlichem Gepräge (Jacobus Ragona; 1434) und schließlich 6. rhetorisch-poetischer Ausformung (Jacobus Publicius; vor 1460). Diese Gebrauchstypen sollen im Folgenden zusammen mit ihren Repräsentanten vorgestellt werden.

1 Matthaeus de Verona: De arte memorandi (1420 Padua) Incipit: Conspiciens ex una parte scolares Der Autor ist im Jahr 1415 als Prior des Dominikanerkonvents zu Verona belegt. Das Graduiertenverzeichnis der Universität Padua nennt ihn für den 31. Januar 1419 unter den Bakkalaren. In den Jahren 1421–1422 hielt er an der theologischen Fakultät der Universität Padua Vorlesungen über Petrus Lombardus. 1422 wird er dort zum Magister Theologiae graduiert.23 Seine Ars memorativa verfasste er

21 Edd. Rossi und Zappacosta zu Petrus de Urbe Veteri (1418); Ed. Rossi zu Baldovinus Sabaudiensis (vor 1462); Ed. Ziliotto zu Lodovico Strassoldo da Pirano (1422–1424); Ed. Pack zu Anonymus Memoria fecunda (1425). Vgl. zu Inhalt und Überlieferung dieser Texte Heimann-Seelbach 2000, S. 18–23, 28–34, 78–81; Ed. Heimann-Seelbach 2000, S. 182–209 zu Goswin de Ryt (vor 1445). 22 Zu diesem Text vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 74–77. 23 “Prior conv. Veronensis (1415). Tamquam baccalareus biblicus nomen suum facultati theol. Univ. Patavinae dedit (31 I 1419); ibidem Sententias legit (1421–2) et mag. in theol. factus est” (1422). (Kaeppeli: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi III, S. 127). Weitere Literatur zur Person: Giovanni Brotto e Gasparo Zonta: La facoltà teologica dell’università di Padova. Parte I. (Secoli XIV e XV) Padova 1922, S. 146; Mario Emilio Cosenza: Dictionary of the Italian Humanists, Bd. 3 (1962), S. 2238; Acta graduum academicorum gymnasii Patavanii ab anno 1406 ad annum

XVIII 

 Vorwort

1420 in Padua und überarbeitete diese noch einmal im Jahr 1423.24 Der Text, der sich explizit an scolares wendet, beginnt mit einer Systematik der Ars, die sich terminologisch an die aristotelische Logik anlehnt: So unterteile sie sich zunächst in substantielle und akzidentielle Bestandteile, die substantiellen seien die Örter und Bilder. Die Örter werden in komplexe und einfache unterschieden, wobei sich beide noch einmal in natürliche (generell: z.  B. Tal, Berg; partikulär z.  B. Baum, Löwe etc.) und künstliche (generell: z.  B. Stadt, Haus; partikulär z.  B. Tür, Kamin etc.) unterteilen. Diese räumlich gedachte Infrastruktur wird durch ein 100-ÖrterSchema feindisponiert. Je fünf Gegenstände werden dabei den 20 Sub-Einheiten (Zimmern) in gleichbleibender räumlicher Platzierung zugeordnet. Die Fünfergruppen erhalten durch ihre sachlichen Bezüge zu einem konkreten lebensweltlichen Kontext (Schreibstube, Küche, Ritterausrüstung, Festmahl, Bäcker etc.) einen semantischen Zusammenhalt. Die anschließenden Ausführungen über die Beschaffenheit der Örter im Einzelnen folgen weitgehend der Rhetorica ad Herennium (Größe, Abstand, Fünfzahl, Beleuchtung, Leere). Die Lozierung einer Wissensdisziplin beispielsweise könne durch Unterbringung ihrer Teildisziplinen in je einem imaginären Haus bewerkstelligt werden (Grammatik: Orthographie, Prosodie, Diasynthetik, Etymologie etc.). Die Bilderlehre setzt am Begriff similitudo (Ähnlichkeit) an.25 Diese sei in sich differenzierungsbedürftig, zumindest in Ebenbildlichkeit sowohl im Wort als auch im Sinn und partielle Gleichheit (Lautähnlichkeiten bei Wortkörpern) oder gar völlige Ungleichheit. Als Beispiel für letztere erscheint der Äthiopier mit weißen Zähnen für die Farbe Weiß, das in adaptierter Form aus Porphyrios’ Einleitungsschrift zu den Aristotelischen Kategorien entnommen ist.26 Die Methoden der Bildfindung seien gleichzusetzen mit verschiedenen Formen der Festlegung der semantischen Verhältnisse von Zeichen und Bezeichnetem, wobei metaphorische und metonymische Benennungsmotivationen vorherrschen. Das Sachgedächtnis sei z.  B. über die einer Sache zugeschriebenen Qualitäten, über

1450. Ed. Gaspare Zonta e Giovanni Brotto. Bd. I, Padua 21970, Nr. 504. Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 34–38. Zur Rezeption des Traktats bei dem tschechischen Autor Matthaeus Beran vgl. Lucie Dolezalova: Artes memoriae and the memory culture in fifteenth-century Bohemia and Moravia. In: Dolezalová u.  a. 2016, S. 27–64. 24 “Explicit ars memorandi completa de 1423 die 28 augusti per fr. Matheum de Verona, que potest dici correptorium et supplementum prime complete de 1420, die secundo octubris” (Neapel, Bibl. naz., V.C.20, 310v; vgl. Kaeppeli: Scriptores, S. 127). 25 Vgl. die Diskussion des Ähnlichkeitsbegriffs in Rahmen der Relativitätstheorie bei Aristoteles: Kategorien 6a37–6b27. 26 Porphyrios, Isagoge 6b6–6b9.

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körpersprachliche Zeichen, über das Schriftbild des zu merkenden Sachbegriffs oder über die Imaginierung bekannter Personen, die das Betreffende aussprechen oder in Handlungen traktieren, in Gang zu setzen. Es orientiert sich über weite Strecken an den Aristotelischen Prädikabilien. Das Wortgedächtnis funktioniere über verschiedene Operationen mit den Buchstaben und Silben des betreffenden Merkbegriffs. Hier kommen die Änderungskategorien der Rhetorik ins Spiel (Transposition, Addition, Subtraktion, Mutation). Eine Reihe von Regeln wird auch für das Imaginieren des Alphabets gegeben. So kann das Aussehen von Buchstaben über Bilder formähnlicher Gegenstände, ihr Lautwert über Begriffe, die mit ihnen beginnen, ihre Position im Alphabet über eine Numerierung erlernt werden. Für Fremdwörter, beispielsweise die Termini einer Wissensdisziplin, wird das Erlernen über Dinge, deren Bezeichnungen transpositorische Ähnlichkeitsbeziehungen zu den Suchbegriffen aufweisen, besonders empfohlen (z.  B. Grammatik: Nominativ – nabula, Genitiv – genu; auf diese Weise werden auch die Monatsnamen imaginiert: janua parva – Januar etc.). Diente die Abhandlung bis hierher den allgemeinen Prinzipien der Schaffung der Infrastruktur des Gedächtnisraums und eines semasiologischen Regelwerks der Bildfindung, so bringt der abschließende Teil für das entworfene Regelwerk die Anwendungsfälle. Neu treten die Empfehlungen für weitere Örter-Strukturen hinzu: Würfel-, Karten-, Schach- und Brettspiele. Daneben erscheinen Anwendungen im Bereich des Rechnungs- und Kreditwesens, des Memorierens von Texten und Textteilen und der Naturkunde. Für den Textbereich wird die traditionelle Regel des Unterteilens in partes an den Anfang gestellt. Diese sei jedoch vor allem für Anfänger geeignet, Erfahrenere kämen mit Stichwörtern aus. Für die Unterteilungen seien die bereits vorhandenen Gliederungen des betreffenden Buches zu nutzen, weitere Untergliederungen seien nach der Ordnung der Sache vorzunehmen (z.  B. Analytica priora und A. posteriora, quaestiones). Die partes können über die Anfangsbuchstaben ihrer Schlüsselwörter eingeprägt, aus den Anfangsbuchstaben künstliche Merkwörter geformt werden. Man sollte sie aber zusätzlich murmelnd lesen. Verse erhalten wie die partes eines Texts jeweils einen Ort. Die Örter seien dann nach ihrer numerischen Ordnung oder nach ihrem Sinn zu lernen. Syllogismen werden nach ihrer Dreiteilung, Wörter über erste Silben und Historien über Merkwörter eingeprägt. Die ersten Silben dieser Merkwörter sollen dann zu Kunstwörtern zweiter Ordnung zusammengefügt werden. Als Hilfsmittel beim Memorieren von Texten wird die Anlage von drei Notizzetteln empfohlen, von denen einer die Örter, der zweite die Bilder und der dritte die Kunstwörter enthalten solle. Der Bereich der Naturkunde sei nach den Elementen in vier verschiedene Merkräume zu gliedern, die auch unterschiedliche Farben haben sollten. Die zugehörigen Dinge seien darin ihren Qualitäten entsprechend zu ordnen und in gleichem Abstand und einer festzulegenden Leserichtung in diesen Räumen zu verorten.

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Im Vergleich zu allen anderen frühen Traktaten italienischer Provenienz erscheint die Zeichentheorie hier am ausführlichsten entwickelt und kategorial ausdifferenziert. Die memoria rerum folgt der Systematik der Aristotelischen Prädikamente und Prädikabilien. Die Prädikabilien geben parallel zu den zehn Kategorien ein Paradigma zur Bestimmung von Seinsmodalitäten und haben die Verortung der Dinge in der Hierarchie der Aristotelischen Substanzenlehre zum Ziel. Wenn Matthaeus also seiner Örterlehre das Ordnungsbild der Prädikabilien aufprägt, so ruft er deren Leistungsvermögen mit auf den Plan, nämlich sacherschließender Zugang zur Welt zu sein. Im Bereich der memoria verborum folgen die Imaginierung der Buchstaben nach den Prinzipien der Gestalt (res), des Klangs (verbum) und der Position im Alphabet (numerus), die verschiedenen Methoden der Buchstaben- und Silbenmetathese bzw. -mutation als Weg zum Einprägen von Fremdwortschatz einer anderen Tradition. Sie waren als Kodierungsmethoden bereits in der Antike bekannt, wurden u.  a. durch frühmittelalterliche Autoren wie Virgilius Maro Grammaticus tradiert27 und erfreuten sich im 15. Jahrhundert besonders bei den humanistischen Autoren großer Beliebtheit. In den Bereich der Kryptographie gehören auch die Kunstwörter und deren Notationsformen. Der Hauptbereich der Überlieferung dieser Methoden liegt aber in der Rhetorik (Änderungskategorien).28 Ferner erscheint zuerst bei Matthaeus das in der Folge mehrfach rezipierte und variierte Modell der in Fünfergruppen organisierten 100 Begriffe als Feinstruktur des Örter-Systems. Im Unterschied zu anderen Varianten dieses Modells bleibt der Blick bei Matthaeus jedoch nicht primär auf die verarbeiteten Realitätspartikel der lebensweltlichen Kontexte beschränkt. Er weist sie vielmehr in systematischer Weise ontologisch gleichgeordneten Subjekten zu und nennt diese folglich auch ‚Substanzen’. Wie bei der Örterlehre, so bleibt auch bei der Bildfindung (Imaginierung der Sache über ihre akzidentiellen Eigenschaften) die Klassifikation die vorherrschende Tendenz und somit das Interesse an den Seinszusammenhängen der bezeichneten Dinge.29

27  Virgilius Maro Grammaticus: De scinderatione fonorum. In: Virgilii Maronis Grammatici opera. Ed. Johannes Huemer. Leipzig 1886, Epitomae, XIII, S. 76–82. 28 Vgl. Joachim Knape: Art. Änderungskategorien. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 549–566. 29 Zum Gesamtzusammenhang der Ars memorativa des Matthaeus mit dem Aristotelischen Organon und ihrer Orientierung an der ‚grammatica speculativa’ vgl. ausführlicher Sabine Seelbach: Wissenschaftssystematische Implikationen in Ars-memorativa-Traktaten des 15. Jahrhunderts. In: Jörg Jochen Berns/ Wolfgang Neuber (Hgg.): Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Wien 2000 (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), S. 187–197, hier S. 190–194.

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Bei aller Gelehrsamkeit frappiert jedoch der immense Realiengehalt. In der 100-Örter-Liste werden einzelne Berufsgruppen mit einer Präzision der üblichen Fachsprache (Bezeichnungen der Werkzeuge etc.) vorgestellt, die entsprechendes Erfahrungswissen voraussetzt, welches aber auch in gebildeten Kreisen nicht unüblich war. Ferner finden sich in der Verwendung von Vokabular griechischen Ursprungs (ciroteca ‚Handschuhe’; ydria ‚Wasserkrug’; Xerolophos, ein Ort in Byzanz) Indizien zumindest eines Kontakts zum Ursprungsgebiet der angenommenen Sekundärrezeption der Ars memorativa. Hinsichtlich der bevorzugt verhandelten Merkgegenstände fällt die starke Orientierung auf Bereiche der Philosophie und Sprachtheorie auf. Auch hier steht Aristoteles an der Spitze (Analytiken, Physik, Metaphysik), gefolgt von Wissensgebieten aus dem Bereich der – teilweise spekulativ behandelten – Artes (Grammatik, Rhetorik), in geringerem Maße Autoren und Werken der Patristik, der frühen klösterlichen und der scholastischen Theologie (Beda Venerabilis, Thomas von Aquin) und Glaubensunterweisung (Bibel, Katholicon, Autoritäten). Die beschriebene klassifikatorische Sachgliederung wird von einem anderen Zweig der memoria-Überlieferung aufgenommen und nach Aristotelischem Modell weiter ausgeformt. Damit wird die bereits bei Matthaeus starke Präsenz des Aristotelismus systematisch ausgeweitet, so dass man die betreffenden Texte als „logisch-kategoriale Gruppe“30 innerhalb der mnemotechnischen Traktatliteratur bezeichnen kann. Diese liefern eine  – nicht mehr in irgendeinen Praxisbereich übersetzte – Tabulatur von Kategorien als Örter-System. Für die Edition fiel die Wahl auf den frühestbelegten Traktat, der gleichzeitig die elaborierteste Kategorientabulatur enthält: 2 Anonymus: Ars memorandi (Ü: um 1451–53)31 Incipit: Artis nobilissime memoranda […] regule decem. Der Text setzt ein mit – sehr voraussetzungsreich formulierten – zehn allgemeinen Regeln zur Örterlehre: 1. Kreisförmige, nicht lineare Anordnung der Örter,32 2. Hervorhebung des fünften Ortes, 3. Angemessenheit der Bilder in ihrer Größe,

30 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 97–115. 31 Lit.: Aretin, S. 132–137; Hajdu, S. 91–92; Morris N. Young: Bibliography of Memory. Philadelphia, New York 1961, S. 412; Heimann-Seelbach 2000, S. 97–99; Heimann-Seelbach 2000a, S. 191. 32 Wie aus der Gesamtüberlieferung rekonstruiert werden konnte, handelt es sich hier um die Anweisung, die Örter-Quinarien so zu konzipieren, dass sie ausgehend von einem zentral gesetzten (übergeordneten) Begriff im Uhrzeigersinn zu lesen sind.

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4. Vermeidung von Wiederholungen, 5. ausreichende Distanz der Örter, 6. konstante Form der zu memorierenden Materie, 7. semantische, lexikalische oder phonetische Verwandtschaft der Bilder mit den zu memorierenden Wörtern (jeweils strukturiert durch Gleichheit, Ähnlichkeit, Kontrarietät), 8. klar unterschiedene Verortung ähnlicher Dinge, 9. Lozierung von Abstrakta (Wörter auf -cio, -tas oder -bilis) jeweils am fünften Ort, 10. Bei Mangel an realen Räumen (etwa bei mangelnder Bewegungsfreiheit des Memorierenden) wird die Schaffung eines imaginären Raumes empfohlen (z.  B. weite, ebene Fläche), der in einzelne Bild-Parzellen gegliedert ist. Die Beispieltafel, die einen solchen imaginären Ort darstellen soll, gibt eine geordnete Reihe von zwölf Abstrakta, denen jeweils vier Qualitäten zugeordnet werden. Diese werden wiederum als antithetische Begriffspaare angeordnet (z.  B. anima: calidum, frigidum, siccum, humidum; altitudo: magnum, parvum, superius, inferius). In einem zweiten Schritt werden die Qualitäten/Teilbegriffe mit sinnlich wahrnehmbaren Trägern der jeweiligen Qualitäten bebildert (fixum: Salzsäule; mobile: Wetterhahn). Zusätzliches Ordnungsprinzip ist pro Gruppe eine Kombination von vier Buchstaben, die mit den Anfangsbuchstaben der enthaltenen Unterbegriffe identisch ist und somit eine weitere Merkhilfe in Gestalt der BuchstabenAbbreviatur liefert. Wenn es darum geht, der entworfenen Kategorientafel dann auch einen sinnlich erfahrenen oder wahrnehmbaren Rahmen zu geben, kehrt der Text schließlich zu traditionellen räumlich-architektonischen Modellen zurück und bietet analog zur Zahl der zuvor versammelten Kategorien jeweils einen Erinnerungsort. Diese Örter entstammen nur zum geringsten Teil der Bibel (z.  B. erster Ort: Haus der Hochzeit zu Kanaa; 53. Ort: Krippe zu Betlehem), teils aus der Exempelliteratur (62. Ort: Haus des Nero vs. Haus des Seneca; 42. Ort: Häuser von Theben), teils auch aus einer fingierten Alltagswelt (44. Ort: Haus der Maler und Färber) oder auch aus identifizierbaren realen Bereichen (37. Ort: Collegium Hispanorum von Bologna und Collegium Caroli von Prag; 31. Ort: Fürstentum von Terra di Lavoro) etc. Den Textzeugen in Melk 177 und Melk 1805 ist danach der auch andernorts oft rezipierte Abschnitt De hiis que conservant memoriam33 inseriert. Der Text endet mit der Bemerkung der Rhetorica ad Herennium, dass wie jegliche Kunst auch diese ohne ständige Übung und Mühe wertlos sei, mit einem Schreibtafelgleichnis und mit der Versicherung universeller Anwendbarkeit der Ars memorativa. Der logisch-kategoriale Zugriff zur Welt als Memorierstoff prägte bereits nachhaltig den Traktat des Matthaeus de Verona. Im Unterschied zu diesem Typus

33 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 98 und 100.

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offenbart der vorliegende Text seine theoretischen Grundlagen nicht, formt aber das kategoriale Örter-System weiter aus. Regenten der Fünfergruppen sind z.  B. die Elemente, die Temperamente, die Seele, der Tod und das Gute, die als Gattungen fungieren. Den Gattungen werden jeweils Gegensatzpaare zugeordnet, die als Qualitäten unter sie fallen und als Strukturierungselemente dienen können, wie bewegt – unbewegt, beseelt – unbeseelt, vegetativ – sensitiv, feucht – trocken, kalt  – warm etc. Unschwer sind aus diesen Beispielen Unterscheidungen der res naturales zu erkennen, wie sie Aristoteles in seiner Physik im Anschluss an die Vorsokratiker darlegt. Diese hatten die Gegensätze als Denkfiguren verwendet, um den Anfangsgründen des Seienden und seiner Daseinsweise, der Bewegung, näherzukommen.34 Da es sich bei diesem Traktat um eine reine Örterlehre handelt, bleibt offen, ob das dafür verwendete Wissenssystem nur als vorgegebene formale Ordnung dienen oder – wie bei Matthaeus gesehen – auch die Denkformen für die Gegenstände des Memorierens selbst liefern sollte. Bemerkenswert bleibt aber, dass es sich hier erneut um einen Gedächtnisraum handelt, dessen Ordnungsprinzipien denen der kategorialen Erschließung des Seienden nachgebildet wurden. Diese werden also bereits vorausgesetzt und als Strukturhilfe für die eigentlichen Merkgegenstände genutzt. Der vor allem durch die philosophischen Implikationen ausgeprägte akademische Kontext des Traktats wird durch die eingebundenen Realien teils weiter gefestigt. Teils wird dieser hochseriöse Kontext aber auch durch ironische Implikationen unterwandert. Erwähnungen wie die des spanischen Kollegs in Bologna unter der Rubrik „hochwissenschaftlich“ (scientificum) im Unterschied zu den Collegien der Dalmatiner (schiavonum: Slovenen, Kroaten), der Ungarn und der Sarmaten (Polen, Russen), die der Rubrik „dumpf, ungebildet, grob“ (grossum) zugeordnet werden, bringen neben Konturen einer konkreten Wissenschaftslandschaft (Bologna?) mit der universitären Trennung der Nationen auch Züge von Wissenschaftssatire zutage. Die Gesamtheit der Indizien legt nahe, dass der Anonymus Artis nobilissime memorandi eine weitere Brücke für den Weg der Ars memorativa über die Alpen darstellt. Sein Ursprung an einer der italienischen Universitäten mit mnemonischem Schwerpunkt (Padua, Bologna),35 wahrscheinlich in Bologna, kann mit Fug und Recht angenommen werden. Interessanterweise wird der Traktat auch in einer Reihe von Fragmenten überliefert, denen mit den entsprechenden Textpassagen auch die beschriebene Doppelbödigkeit fehlt. Der Wiener Cod. Vind.

34 Vgl. Aristoteles: Physik, vor allem 188a–189a. 35 Vgl. die textgenealogische Skizze der frühen italienischen Traktate bei Heimann-Seelbach 2000, S. 45.

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4121 überliefert gar nur die kategorialen Fünfer-Schemata und löst damit die in alternativen Kontexten nutzbaren Teile heraus. Den Melker Vollhandschriften ist zudem anzumerken, dass ein großer Teil der klassisch-lateinischen Bildungsimplikationen nicht verstanden wurde. Nicht zuletzt anhand der Mitüberlieferung ist dagegen eine spätere Vereinnahmung des Traktats für Kontexte der Meditation und Glaubensunterweisung ablesbar: Der Anonymus Artis nobilissime memorandi wird von der ersten überlieferten Handschrift an (Clm 14260, 1451–1453) zusammen mit dem im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts zuerst nachweisbaren Anonymus Nunc igitur bzw. Fragmenten von diesem aufgezeichnet. Gelegentlich werden beide Texte auch miteinander verschränkt (Melk 177, 1479), so dass Hajdu den Traktat als eine Art gelehrte Einleitung zum Anonymus Nunc igitur auffasste.36 In der Tat ist der Text dem Traktat Nunc igitur in späterer Zeit vorgeschaltet worden, während die Handschriften aus der ersten Hälfte des 15.  Jahrhunderts diesen separat überliefern.37 Außerdem gehören sie auch ihrer Abstammung nach verschiedenen Örtern zu. Wahrscheinlich ist es eher so gewesen, dass beide Traktate auf relativ früher Stufe einmal zusammen aufgezeichnet und dann später auch immer zusammen abgeschrieben worden sind. Da diese Überlieferungsgemeinschaft eine wichtige Anschlussstelle für die Aufnahme der Ars memorativa in den Bereich von Meditation und Glaubensstudien darstellt, sei der schwerpunktmäßig geistliche Traktat direkt angeschlossen: 3 Anonymus: De arte memorandi (1.V.15.Jh.)38 Incipit: Nunc igitur, ut ait Tulius, due sunt memorie Der Traktat umfasst einen Prolog über das Wesen des Gedächtnisses, die Darstellung der Voraussetzungen der Ars memorativa, die Regeln zum Memorieren von Texten, von Einzelwörtern, von Redeteilen, von strukturiertem Glaubenswissen, von Redewendungen und ein Schlusswort über die Bedeutung des Prinzips der Ordnung. In einzigartiger Weise wird in diesem Text versucht, neben rhetorischen vor allem biblische und patristische Begründungszusammenhänge für die Memoria-Regeln zu finden. Am Beginn steht die Unterscheidung von natürlichem und künstlichem Gedächtnis nach der Rhetorica ad Herennium. Jenes erscheint zudem  – nach

36 Hajdu, S. 92, Anm. 22. 37  Vgl. Basel A X 9: 1.H.15.Jh.; München Clm 7721: 1.V.15.Jh.; München Clm 18888: 1441–42; München Clm 11927: 1441–42. 38 Lit.: Aretin, S. 132–137; Hajdu, S. 91–92; Young, S. 412; Heimann-Seelbach 2000, S. 99–102.

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Seneca d.Ä. (Controversiae) – als zerbrechlichste der Seelenkräfte, dieses als kompensierende Stütze zur Bewahrung der vor allem im Alter schwindenden natürlichen Merkfähigkeit. Es folgen das Wachtafelgleichnis und die Bestimmungen der Rhetorica ad Herennium zur Einrichtung der Örter (Fünfzahl, Frequentiertheit, Unterschiedenheit, Beleuchtung, Größe, Abstand). Voraussetzungen zur erfolgreichen Übung der Ars memorativa sind Muße, Sanftmut und Nüchternheit, für die Schreibtafel des Gedächtnisses Leere, Ebenheit und Helligkeit. Vor zuviel Schlaf, Beischlaf, Wein und fettem Essen wird gewarnt. Ein auch anderweitig mehrfach überlieferter Abschnitt De hiis que conservant memoriam39 ist diesem Abschnitt inseriert. Er wird durch eine Reihe biblischer und anderer Autoritäten untersetzt (Spr  20,1, 21,17; Jes  28; Jac 1, Hos  4; Prov 20). Der praktische Teil beginnt mit einem Abschnitt über die Imaginierung von großen Texten. Zum Memorieren etwa von Legenden werden deren Abschnitte bzw. einzelne Aussagen in symbolische Bilder gefasst und inszeniert (z.  B. Lilienkranz für Jungfräulichkeit, Purpurmantel für Martyrium), die vor allem dem konventionalisierten Bildbereich der geistlichen Exegese entnommen sind. Für wörtlich zu memorierende Sätze geht der Text nach der memoria verborum vor, wie sie in der Rhetorica ad Herennium mit dem Atridenvers-Beispiel demonstriert wird: Gegenstände, deren Bezeichnungen sich durch Klangähnlichkeit mit den Merkwörtern verbinden oder tatsächlich in einer metonymischen Bedeutungsbeziehung mit diesen stehen, werden zu einer Szene zusammen­ geführt. Es werden Bibelzitate präsentiert, die die Nähe der Jungfräulichkeit zum Göttlichen feststellen und die, hört man eine Rede zum Lob der Jungfräulichkeit, direkt auf die Teile der Rede zu applizieren sind. Das Gedächtnisbild der Jungfrau wird entworfen mit zehn Attributen, die jeweils allegorisch für eine Eigenschaft der Jungfrau stehen (schneeiges Gewand für die Reinheit etc.). Die zehn Attribute sind in Verbindung mit den vorher genannten Bibelzitaten zu lozieren. Die zwölf verschiedenen Arten der Gnade (genera graciarum) sollen um das Bild Johannes’ des Täufers herum loziert werden. Ausgangspunkt sind auch hier Zitate aus der Hl. Schrift. Die Gnadenerweisungen erhalten Gedächtnisbilder (imagines graciarum) in Gestalt eines zwölfteiligen Blütenkranzes (Krokus, Primel, Lavendel, Gladiole, Krebsblume, Lilie, Pfingstrose, Safran, Rose, Weinrebe, Phlox, Veilchen), der sich um das Haupt eines Eremiten (Sinnbild für Johannes) schlingt. Allegorisch werden Wachstumsbedingungen und Aussehen der Blumen auf die verschiedenen Arten der Gnadenerfahrung wie Sündenvergebung, Bewah-

39  Vgl. oben, S. XXII.

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rung vor dem Bösen etc. hin gedeutet. Ebenso wird die Heilserwartung für den Auserwählten mit der Krone aus den zwölf Blumen allegorisch formuliert. Zum Memorieren der octo beatitudines werden die Wände eines Königssaales (Christi Kirche) vorgestellt, deren acht Säulenzwischenräume verschiedene Heilige beherbergen und sich farblich unterscheiden. Unter Rückgriff auf den festen Bildbestand allegorischen Schrifttums sowie auf die Bibel werden die verschiedenen Farben in mehrfacher Weise ausgelegt. Der Rhetorica ad Herennium wird der Abschnitt über die Wahl außergewöhnlicher, unalltäglicher und daher besser einprägsamer Bilder entnommen und durch eine Reihe von Beispielen illustriert. Die drei wichtigsten Prinzipien des Memorierens, numeratio, ordinatio et brevitatio, werden mit verschiedenen Autoritäten untersetzt (Ambrosius; Boethius: De arithmetica). Ein numerisches Ordnungsprinzip könne das einer  – in der Abfolge ihrer Merkpunkte bekannten – Reise, etwa einer Pilgerreise nach Santiago de Compostella sein. Auf Hugo von St. Viktor wird die Regel der häufigen Wiederholung für das Einprägen des Memorierten zurückgeführt, auf Augustinus die Prinzipien vacatio, mansuetudo und sobrietas als Voraussetzungen für ein gutes Gedächtnis. Die diese Prinzipien zusammenfassenden Verse Si cupis esse memor bilden den Abschluss. Der Text liefert keinen eigenen Beitrag zur Theorie der Mnemotechnik und steht akademisch-gelehrten Kontexten für sich genommen eher fern. Schon die Einleitung mit wörtlichen Passagen aus der Rhetorica ad Herennium wirkt unorganisch hinzugefügt und wird bei der Abhandlung der eigentlichen Merkstoffe nicht mehr aufgenommen. Zu diesem Phänomen des Unorganischen passt dann auch die spätere Vorschaltung des bereits beschriebenen Anonymus Artis nobilissime memorandi, der das Theoriedefizit  – wenngleich aus alternativen Bildungshorizonten heraus – kompensiert. Diese Tendenz zur wissenschaftlichen Untersetzung der eigenen Studien zum Glaubenswissen steht möglicherweise im Zusammenhang mit der Wiederaufrichtung der monastischen Studien im Zuge der Melker Reform,40 die als einer der Impulse zur Vernetzung verschiedener Bildungslandschaften des 15. Jahrhunderts zu einem diskursiv durchmischten, polyphonen Ganzen gelten kann.

40 Vgl. S. XI  f., XXVIII.

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4 Anonymus De memoria artificiali secundum Parisienses (vor 1445)41 Incipit: Attendentes nonnulli philosophie professores Seit den 1440er Jahren wird eine ganze Reihe von Traktaten überliefert, die inhaltlich wie konzeptionell weitgehende Übereinstimmungen zeigen und letztlich von älteren italienischen Traktaten abhängig sind. Sie führen in Sonderheit diejenige eigenständige Linie des italienischen Korpus weiter, die der Anonymus Memoria fecunda (Bologna 1425)42 mit seiner Neuausrichtung auf die Aristotelische Gedächtnispsychologie bzw. die Augustinische Trinitätslehre (und weitere mittelalterliche Autoritäten) begründet hatte, zeichnen sich ihr gegenüber aber durch ihr selektives Vorgehen hinsichtlich der Aufnahme überlieferter Anwendungsgebiete aus: sie konzentrieren sich auf Bereiche scholastischer Bildung. Aus dem Bereich dieser Textgruppe wurde für die Zwecke der Edition der in dieser Hinsicht schulbildende und am breitesten überlieferte Traktat (36 Hss.) ausgewählt, der obendrein durch die Übernahme weiter Teile des Prologtexts des Anon. Memoria fecunda eine direkte Brücke zu den frühen Traktaten italienischer Provenienz darstellt. Obwohl der Titel des Traktats eine Pariser Herkunft annehmen lässt, ist der Text weit überwiegend in Klosterbibliotheken des südlichen deutschsprachigen Raums überliefert. Überlieferungszeugen, die auf die Umgebung der Pariser Universität hinweisen könnten, wurden jedoch bislang nicht gefunden.43

41 Literatur: Aretin, S. 137–143; Hajdu, S. 90  f.; Jean-Barthélemy Hauréau: Initia operum scriptorum Latinorum medii potissimum aevi ex codicibus manuscriptis et libris impressis. 8 Vol. Turnholti 1973–1974, Appendix Bd. 1 (1974), Sp. 54b; Lynn Thorndike, Pearl Kibre: A catalogue of incipits of medieval scientific writings in Latin. London 1963, Sp. 160, 1128; Young, S. 398; Heimann-Seelbach 2000, S. 46–50; Sabine Seelbach: Wissensorganisation contra Gebrauchsfunktion? Zum Erkenntniswert von Überlieferungsgeschichte am Beispiel der Memoria-Handschriften der Staatsbibliothek Olmütz. In: Rafał Wójcik (Ed.): Culture of memory in East Central Europe in the Late Middle Ages and the Early Modern Period. Biblioteca Uniwersytecka Poznań 2008, S. 11–26; Angelika Kemper: The Treatises Attendentes nonnulli in Ebersberg. Hypotheses on Ars memorativa in scientific and scholastic contexts. In: Sabine Seelbach, Rafał Wójcik (Hgg.): Ars memorativa in Central Europe. Daphnis 41 (2012; recte 2014), S. 383–398; Lucie Dolezalová: Artes memoriae and the memory culture in fifteenth-century Bohemia and Moravia. In: Dolezalová u.  a. 2016, S. 27–64, hier S. 28–29. Zur ausführlichen Inhaltsangabe vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 47–49. 42 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 28–34 (dort weitere Literatur); Seelbach 2008. 43 Versuche, den Traktat einem Autor zuzuweisen (Aretin 1810, 162–165) bzw. anhand der Mit­ überlieferung einen Pariser Entstehungskontext um die Figur des Ende des 14. Jahrhunderts als Kanzler der Universität amtierenden Johannes Gerson zu konstruieren (Kemper 2014, 389  f.), bleiben weiter zu verfolgen, ebenso die These von der möglichen Distribution dieser Gedächtniskunst im Rahmen des Konzils von Basel. Am meisten vermag noch der Eintrag der Wiener

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Der Text existiert in zwei Redaktionen, die sich zum einen in Reihenfolge und Umfang der Textabschnitte, aber auch in der tendenziellen Schwerpunktsetzung unterscheiden. Von beiden Redaktionen existieren zahlreiche Kurzfassungen, in denen die Quelle gemäß den aktuellen Bedürfnissen exzerpiert und adaptiert wurde. Die erste, elaboriertere Redaktion stellt die Ars memorativa – zuzüglich zu den Basiskontexten gelehrter Bildung – auch explizit in den Kontext der Meditation. Neben verschiedenen Bibelzitaten wären in diesem Zusammenhang die Bezüge auf Bernhard von Clairvaux (De consideratione libri quinque) und Ps-Bernhard von Clairvaux (Tractatus de interiori domo seu de conscientia aedificanda) zu nennen.44 Vor allem diese Bezüge sind es, die den Traktat in einen genealogischen Zusammenhang mit zentralen Vertretern der frühen italienischen Traktatliteratur zur Ars memorativa stellen. Namentlich der erwähnte Anonymus Memoria fecunda, mit dem De memoria artificiali secundum Parisienses den Prolog teilt, stand hier Pate. Die hohe Wertschätzung der meditatio steht offenbar in keinem unlösbaren Widerspruch zu scholastischer Gelehrsamkeit, wie unter anderem die Bezüge zu den logischen Schriften des Aristoteles und zu Thomas von Aquin nahelegen, die in beiden Redaktionen des Traktats präsent sind. Gleiches gilt für den in beiden Redaktionen gleichermaßen explizit anvisierten universitären Gebrauchskontext der Ars memorativa, der alle Fakultäten (Recht, Medizin, Theologie und Artes) einschließe. Der meditative Aspekt der ersten Redaktion vermag jedoch auch einen Hinweis auf die kontinuierliche Präsenz der monastischen lectio zu geben. Die erkennbare Ausrichtung dieser Redaktion an spirituellen und religiösen Interessen bei gleichzeitiger Ausklammerung weiterer praktischer Anwendungsgebiete lässt auf eine stärkere Fokussierung auf die Erfordernisse der monastischen Bildung schließen.45 Die zweite Redaktion dagegen zeigt ein weiteres Interesse an Anwendungsformen, die

Handschrift Cod. Vind. 4096, 249r zu überzeugen, nach welchem einer der zur „Pariser Gruppe“ gehörigen Texte, der Anonymus Sciendum quod, 1443 „in palatio deputationis parisiensis apud fratres augustinenses“ im Rahmen des Konzils von Basel vorgetragen wurde. (Heimann-Seelbach 2000, S. 86). Weitere, vor allem prosopographische Daten zu möglichen Zusammenhängen der Ars memorativa mit dem Konzilsgeschehen trägt Susanne Rischpler zusammen (Spätmittelalterliche Mnemotechnik im Kontext von Konzil und Melker Reform. In: Mierke 2013, S. 10–41. 44 Vgl. dazu den Similienapparat zum Text. 45 Zu möglichen Ursachen dieser Bearbeitungstendenz in der Ausbreitung der Melker Reform vgl. Kemper 2014, S. 387–393. In diesen Zusammenhang wäre auch die zurückhaltende Positionierung dieser Redaktion zur aristotelisch-averroistischen Gedächtnispsychologie zu stellen, die in der zweiten Redaktion in elaborierter Form vorliegt.

Vorwort 

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auch juristische und politische Kontexte einschließen und insgesamt die Tendenz zur Anschlussfähigkeit an akademische Studien sichtbar werden lässt. Der übrige Teil der vermittelten Lehre folgt dagegen mit teils wörtlichen Anklängen der explizit aristotelischen Linie der frühen italienischen Traktate, wie sie im Traktat des Matthaeus de Verona gegeben ist. Gelehrte Professoren der Philosophie – so die Einleitung ‒ hätten das anspruchsvolle Werk der Ars memorativa geschaffen. Acht Kapitel handeln über die Wahl der Örter, die Bilder für Substanzen, Akzidenzien, Themen, Beweisführungen, Ansprachen, Gebete und unbekannte Wörter.46 Spuren anderer Gebrauchskontexte (Karten-, Würfel- und Schachspiel; lebensweltliche 100-Örter-Liste; Implikationen einer realen urbanen Kultur; rhetorische Änderungskategorien). Der Traktat De memoria artificiali secundum Parisienses, der demnach kompilativ aus der Zusammenführung dieser beiden Linien entstand, kann als ein Musterbeispiel für die differenzierte Zurüstung der Ars memorativa für verschiedenste Zwecke universitärer Gelehrsamkeit scholastischer Provenienz gelten. Seine breite und disparate Überlieferung vollständig zu interpretieren, bedürfte es einer eigenen Monographie. 5 Jacobus Ragona Vicentinus: Artificialis memoriae regulae (Vicenza 1434)47 Incipit: Iussu tuo princeps illustrissime artificialis memoriae regulas Wie bereits bemerkt, reagiert die Ars memorativa auf die Bedürfnisse des zu Beginn des 15.  Jahrhunderts erreichten quantitativ und qualitativ neuen Entwicklungsstadiums von Schriftlichkeit. Wie prominente Beispiele (z.  B. Hans Hartlieb)48 zeigen, wird dieser Zusammenhang nicht allein in Kreisen akademischer und/oder monastischer Bildung manifest. Auch der Hof wird – namentlich unter Einfluss humanistischer Gelehrter – zu einem Wissensraum eigener Art.49 Den frühesten Beleg für eine solche die Ars memorativa einschließende Entwicklung stellt der Traktat des Jacobus Ragona Vicentinus dar. Über die Lebensumstände des Autors ist bislang nichts bekannt, als dass er aus einer der vornehmsten Familien von Vicenza stammte, seine Werke in den 20er/30er Jahren des 15. Jahrhunderts verfasste und möglicherweise eine admi-

46 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 47–48. 47 Rom, Cod. Vat. lat. 6896, 55r: ‚Ex Vicentia quarto Kal. Novembris 1434’. 48 Zur Gedächtniskunst von Hans Hartlieb vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 90–93. 49 Vgl. dazu ähnliche Untersuchungen zum Heidelberger Hof im 15. Jahrhundert: Jan Dirk Müller (Hg.): Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftlichungsprozeß am Beispiel Heidelberg im 15. Jahrhundert. München 1994. (Münstersche Mittelalter-Schriften 67).

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 Vorwort

nistrative Funktion am Hof der Markgrafen von Mantua bekleidete.50 Seine Ars memorativa widmete er Gianfrancesco  I. Gonzaga (1395–1444; reg. 1433–1444), welcher in den frühen 1420er Jahren eine nicht unbedeutende humanistische Schule an seinem Hof gründete. Unter den hier versammelten Persönlichkeiten ragt Vittorino da Feltre hervor, der als Erzieher der Kinder Gianfrancescos wirkte und auch anderen Kindern nicht nur adliger Herkunft eine polytechnische Ausbildung angedeihen ließ,51 welche auch die Ars memorativa einschloss.52 Nach einem Widmungsschreiben folgt eine allgemeine Darlegung der Örter- und Bilderlehre, die sich zwar auf Aristoteles und Thomas von Aquin beruft, jedoch im Wesentlichen die Rahmenbedingungen der Rhetorica ad Herennium (Ordnungsgedanke, Wachstafelgleichnis, Beschaffenheit der Örter und Bilder) zum Ausgangspunkt nimmt. In einem längeren dritten Teil schließen sich Methoden der Bildfindung mit vielen Beispielen an. Der Gedächtnisraum ist ähnlich strukturiert wie bei Matthaeus de Verona, als eine Kombination von räumlich-architektonischem Grundmodell (Haus mit 20 Zimmern; Zimmer mit weiteren Möglichkeiten der multiplen Unterteilung) und der 100-Örter-Liste, welche hier jedoch lediglich der Ordnung der aufsteigenden Zahlenreihe folgt. Diese 100 Örter dienen sowohl als Valenzstellen zum Andocken von Merkstoffen als auch als Stellvertreter der betreffenden Zahl, die sie im Rahmen der Hundertzahl einnehmen. Damit ist eine sowohl räumlich als auch numerisch geordnete Infrastruktur geschaffen, aufnahmebereit für die Merkstoffe. Der Aufbau dieser Infrastruktur wird ungewöhnlich breit geschildert und bis in die Einzelschritte hinein mit Beispielen aus der zuvor zur Gänze gebotenen 100 Örter-Liste untersetzt.

50 Vgl. die Zusammenfassung bei Angelika Kemper: The Art of Memory as cultural transfer. An Italian treatise of the 15th century and its adoption. http://sas-space.sas.ac.uk/6183/ (2015), S. 1–18, hier S. 5 Anm. 21 und 22. 51 Siehe Susanne Rischpler: Ars memoriae illuminata. Buchschmuck im Dienst der spätmittelalterlichen Gedächtniskunst, in: Christine Beier (Hg.): Geschichte der Buchkultur 5/1: Gotik. Graz 2016, S. 297–319, hier S. 306, mit Verweis auf I. Lazzarini: Ludovico III Gonzaga, marchese di Mantova, in der online-Ausgabe des Dizionario Biografico degli Italiani unter http://www.treccani.it/ enciclopedia/ludovico-iii-gonzaga-marchese-di-mantova_(Dizionario-Biografico)/. 52 Literatur: Angiolgabriello di S.Maria (Pietro Calvi): Biblioteca e storia di scrittori cosi della citta come del territorio di Vicenza. Vicenza 1772, II, S. 51–53; Michael P. Sheridan: Jacopo Ragona and his Rules for Artificial Memory. In: Manuscripta 4 (1960), S. 131–147 (m. e. engl. Übers.); Yates, S. 104; Prospero T. Stella: Tecniche della memoria nel secolo XV: Le Regulae di Giacomo Ragona di Vicenza. In: Orientamenti pedagogici 43/1 (1996), S. 71–101; Heimann-Seelbach 2000, S. 25–28; Sabine Seelbach: Introducing Art of Memory into Vernacular: the case of Bibliothèque Ste Geneviève ms. 3368. In: Seelbach/Wójcik 2012, S. 357–381, passim; Kemper 2015, S. 1–18.

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Sollen mehrere Bilder zugleich am gleichen Ort niedergelegt werden, so bedient man sich polyvalenter Zwischenordnungen (z.  B. Ordnung des Tisches: umfasst 3–4 weitere Lozierungsstellen; Ordnung der Erde: vertikale Abstufung der lozierten Dinge etc.). Es folgen methodische Beispiele für einzelne konkrete Imaginierungsprobleme, die aus der Reihe der Anwendungen bei Matthaeus gezielt ausgewählt, jedoch im Unterschied zu diesem eher wissenschaftsfern dargeboten werden: Unbekannte Begriffe werden z.  B. über ähnlich klingende bekannte Wörter erinnert oder in Silben bzw. einzelne Buchstaben zerlegt. Pro Silbe/Buchstabe wird ein Bild gefunden. Die geschaffenen Bilder werden schließlich zu einem synthetisiert; b) Buchstaben merke man sich über formähnliche Bilder bzw. geometrische Figuren (z.  B. Pfeil und Bogen für E), Namen über bekannte Personen dieses Namens. Besonders ausführlich und mit langen Beispielreihen wendet sich der Autor der Imaginierung des Kartenspiels zu. Für das Merken von Zahlen, dem ebenfalls ein umfangreicher Abschnitt gewidmet wird, gibt hingegen nicht ihr Aussehen oder ihre Reihenfolge, sondern die anfangs geschaffene Ordnung der Örter den ersten Anhaltspunkt. War bei der Schaffung der 100 Örter zu deren sicherer Unterscheidung je ein charakteristisches Merkzeichen gesetzt worden, so wird nun umgekehrt jede beliebige Zahl aus den entsprechenden Merkzeichen kombiniert. Ortsnamen, soziale Ränge und Berufsbezeichnungen werden durch Merkgegenstände imaginiert, die in metonymischer Beziehung (pars pro toto, Wirkung für Ursache, Instrument für Tätigkeit etc.) zum Bezeichneten stehen. Die vorab einzeln behandelten Kategorien der Imagination (Namen, Sachen, Zahlen etc.) werden schließlich zu konkreten praktischen Zwecken zusammengeführt: im Zentrum stehen dabei höfische Kontexte (Truppenschau, Überbringung von Botschaften, öffentliche Rede, Kartenspiel). Die Belange der Rechnungsführung, die als Beispielbereich einen breiten Raum einnehmen, sind auf Grund der seit dem Hochmittelalter üblichen Verschriftlichungsgewohnheiten in diesem pragmatischen Bereich wohl eher als ein Übungsmaterial anzusehen, um sich komplexe Sachverhalte zu merken. Imaginiert werden in mehreren Beispielen Name des Schuldners, Summe bzw. Art und Quantität der Schuld, Termin der Schuldaufnahme; bei Botschaften: handelnde Person, Handlung, Ursache, Ort und Zeit. Am Schluss der Lehre wird auf die Notwendigkeit häufigen Übens hingewiesen. Jacobus Ragona gehört bereits der zweiten Generation von Autoren der Mnemotechnik des 15. Jahrhunderts an. Er übernimmt die von den früheren Traktaten norditalienischer Herkunft53 ausgearbeiteten mnemotechnischen Systeme und trägt seinerseits als schulbildender Autor zur weiteren Verbreitung derselben

53 Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 17–45.

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bei.54 Zu nennen wäre in erster Linie die charakteristische 100-Örter-Liste, ferner auch teils wörtliche Übereinstimmungen wie bei den Regeln für zusammengesetzte Namen, unbekannte Wörter, Städtenamen, Wochentage (mit alchimistischem Vokabular) und Monatszeichen. Jacobus folgt dabei der maßgeblich durch Matthaeus de Verona ausgearbeiteten akademisch-humanistischen Linie, nicht derjenigen des geistlichen Derivats nach dem Muster des Anonymus Memoria fecunda.55 Der Anschluss an Matthaeus wird jedoch mit charakteristischen Bearbeitungstendenzen der abbreviatio und dilatatio gewonnen. Das wichtigste Kennzeichen seiner Bearbeitung der vorgefundenen Lehre besteht aber in der Vermeidung aller Elemente, die für den Gebrauch der Ars in wissenschaftlichen Kontexten erforderlich sind, wie etwa die Behandlung abstrakter Begriffe, die Nutzung der Aristotelischen Kategorien, der Terminologie der ‚septem artes’ oder auch solcher Implikationen, die die Ars memorativa in einen geistlichen Kontext stellen könnte. Philosophische, rhetorische oder andere theoretische Aspekte der Mnemotechnik, die bei Matthaeus de Verona, breit exponiert worden waren, erscheinen stark verkürzt bzw. werden vollständig getilgt. Damit korrespondiert auch die Tilgung jeglicher Ordnungsprinzipien lateinischer Gelehrsamkeit aus der 100-Örter-Liste. Demgegenüber werden Anwendungsbereiche deutlich verstärkt, die mit innerweltlichen Kommunikations- und Handlungssituationen (Diplomatie, Nachrichten, Botschaften, Truppenschau etc.), urbanen Geschäften und sozialen Gruppen und ihren Hierarchien oder höfisch-repräsentativen Beschäftigungen zusammenhängen. Er gibt damit, bis hinein in den Sprachgebrauch eines volkssprachlich durchsetzten Latein, ein Bild nützlicher Anwendungsfelder der Mnemotechnik für die Bedürfnisse einer gehobenen, tendenziell höfischen Laienkultur.56

54 Vgl. dazu Seelbach 2012, passim. 55 Vgl. Anm. 42. 56 Vgl. ebd., S. 364–366 und Kemper 2015, S. 9–15.

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6 Jacobus Publicius: Ars Memorie (vor 1460) Incipit: Haud ab re fore arbitror57 Innerhalb der mnemotechnischen Traktatliteratur des 15. Jahrhunderts nimmt der Traktat des Jacobus Publicius in Inhalt und Anlage eine Sonderrolle ein.58 Nicht nur wegen der gesamteuropäisch breiten Überlieferung, sondern auch und vor allem wegen seiner schulbildenden Wirkung gehört er unbedingt in diese Auswahl.59 Der spanische ‚Wanderhumanist’ und Verfasser rhetorischer Werke wirkte zunächst in Valencia und Salamanca, hielt Vorlesungen zur Rhetorik und Ars memorativa 1458 in Tolosa,60 1464 in Leuven, 1466/67 in Erfurt, 1467 in Leipzig, 1468 in Wien und Köln, 1469 in Krakau, 1470/71 in Basel. 1473/74 ist ein Aufenthalt in Reims belegt. Wie der kodikologische Befund ausweist, hat Jacobus Publicius an deutschen Universitäten in erster Linie die studia humanitatis vertreten. Er las u.  a. Terenz, Cicero, Sallust, Hieronymus und Petrarca.61

57 Zu Publicius vgl. Aretin, S. 130–132, 167–169; Volkmann, S. 145  f.; Hajdu, 109–110; Yates 1966, S. 105, 110–112; Ludwig Bertalot: Initia humanistica latina. Initienverzeichnis lateinischer Prosa und Poesie aus der Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts. Bd. II/1: Prosa A-M. Bearb. von Ursula JaitnerHahner. Tübingen 1990, 8512; Thorndike/Kibre, Sp. 596, 1158; Mario Emilio Cosenza: Dictionary of the Italian Humanists, Bd. 4, S. 2967; Ludwig Bertalot: Studien zum italienischen und deutschen Humanismus. Hg. von P.O. Kristeller. Bd. 1. Rom 1975 (Storia e letteratura 129), S. 231  f., 242; Agostino Sottili: Giacomo Publicio, ‚Hispanus‘, e la diffusione dell’ Umanesimo in Germania. Barcelona 1985; Paul Oskar Kristeller: Iter Italicum. 6 Bde. London 1963–1996, Bd. III, Sp. 154a; Heimann-Seelbach 2000, S. 116–132; Heimann-Seelbach 2000a, S. 195–197; Heimann-Seelbach 2003, S. 28–29; Mary Carruthers, Jan Ziolkowski (Hgg.): The Medieval Craft of Memory: An Anthology of Texts and Pictures. Philadelphia 2004., S. 226–231 (m. engl. Übersetzung des Traktats von Henry Bayerle, S. 231–254); Rafał Wójcik: The art of memory in Poland in the Late Middel Ages (1400–1530). In: Dolezalová u.  a. 2016, S. 65–107, hier S. 69–73; zu möglichen Ungarn-Aufenthalten von Publicius vgl. Farkas Gabor Kiss: The art of memory in Hungary at the turn of the fifteenth and sixteenth centuries. In: Dolezalová u.  a. 2016, S. 109–164, hier S. 130–133. 58 Vgl. Zusammenfassung des Textes unten, S. XXXIV-XXXVII. 59 Zu nennen wäre hier nicht allein die Rezeption von Publicius bei späteren Autoren humanistischer Provenienz (Conrad Celtis, Petrus Ravennas, Jan Szklarek u.  a.; vgl. Wόjcik 2016, S. 69–76), sondern vor allem sein nachhaltiger Vorbildstatus auch für die Enzyklopädik des 16. Jahrhunderts (z.  B. Johannes Host von Romberch, vgl. Carruthers/Ziolkowski 2004, S. 227). 60 Der Codex Brno, UB, Cod. A 100, 105r berichtet von einer rhetorischen Disputation zwischen Johannes Serrae und Jacobus Publicius aus dem Jahre 1458 in Tolosa. Vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 116. 61 Vgl. ebd.

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Seine Ars memorativa erschien zunächst als Anhang zu seiner Brieflehre,62 wurde zuerst 1475 in Toulouse separat gedruckt und später in seine Oratoriae artis epitomata aufgenommen (Venedig: Erhard Ratdolt 1482). In Frankreich zirkulierte der Text als Teil der Ars memoriae des Baldovinus Sabaudiensis.63 Die Bewertung der Ars memorativa des Jacobus Publicius in der Forschung ist alles andere als einhellig. Aretin bescheinigt ihr einen dunklen Stil, der den Inhalt ohne die Kenntnis der Quellen unverständlich bleiben lässt.64 Volkmann beschränkt sich auf eine Kurzbeschreibung mit Beigabe der ihm bekannten, zumeist aus Aretin übernommenen Überlieferungsdaten.65 Bei Hajdu findet sich die Aussage, der Autor schließe „sich eng an die klassischen Quellen an“66. Konträr dazu spricht Yates dem Traktat jeglichen renaissancehaften Charakter ab, verweist auf die Einleitung des Texts, die den „mystischen Boncompagno-Typ des 13. Jahrhunderts“ repräsentiere, und erklärt Publicius insgesamt zu einem mittelalterlichen Autor in der Nachfolge des Albertus Magnus.67 Bei diesem Traktat empfiehlt sich eine besonders einlässliche Beschreibung des Inhalts, die nähere Aufschlüsse zu geben vermag.68 Der Autor meidet in auffälliger Weise scholastische Autoritäten. Selbst Aristoteles wird – trotz nachweislicher Benutzung seiner Schriften – nur einmal und als ‚der Stagirit’ genannt. Dafür wird im Abschnitt über die Medizin eine Reihe medizinischer Autoritäten, vor allem Hippokrates- und/oder Galen-Kommentatoren wie Archigenes (1.Jh.), Sabinus Itacensis (1.Jh.), Constantinus Africanus (um 1020–1087) und Arnaldus de Villanova (um 1240–1311), ferner Astronomen wie Aristarchus (3.Jh.  v. Chr.), Aristoteles-Kommentatoren wie Andronicus von Rhodos (1.Jh.  v. Chr.) und Alexander Aphrodisiensis Peripatheticus (um 200) sowie Philosophen wie Zenon (490–430 v. Chr.), Demokrit (460–371 v. Chr.) und Platon erwähnt.

62 Wojcik 2016, S. 70. 63 Zu Baldovinus/Girardus de Cruce vgl. Heimann-Seelbach 2000, S. 78–81. 64 Vgl. Aretin, S. 167–169. 65 Vgl. Volkmann, S. 145–147. 66 Hajdu, S. 110. 67 Vgl. Yates, S. 105. Weder der Bezug auf Boncompagno noch derjenige auf Albertus Magnus ließen sich aber im Text erhärten. 68 Hier kann auf die für den Zweck dieser Edition nur geringfügig überarbeiteten Ausführungen von Heimann-Seelbach 2000, S. 117–121 zurückgegriffen werden, da spätere Beschreibungen (vgl. Wojcik 2016) diese aufgenommen haben bzw. in der Hauptsache eher summarisch vorgehen (vgl. Carruthers/Ziolkowski 2004).

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Der Text gliedert sich in einen Prolog und vier Teile unterschiedlicher Länge und Elaboriertheit. Der accessusartigen Einleitung folgen der umfangreichste Teil über die Örterlehre, der allerdings mit medizinischen Merkregeln abgeschlossen wird, ein reich illustrierter Abschnitt über das Alphabet, die Bilderlehre und schließlich ein sich nicht logisch von letzterer unterscheidender Teil über Epitetha und die Imaginierung von Textteilen. Prolog: Eingebettet in ein Lob der Wissenschaften und Künste und der in ihnen Gebildeten wird die memoria mehrfach systemhaft eingeordnet, als eine der drei Seelenkräfte neben intellectus und voluntas, die wegen ihrer natürlichen Gebrechlichkeit der artifiziellen Unterstützung bedürften. Ferner erscheint sie als Mutter und Schutzherrin der Wissenschaften und Künste. Durch den Bezug auf Sabinus Calvinus, Themistocles und Zenon findet sie exemplarische Bestätigung, durch den Platon-Bezug wird sie ethisch verortet und schließlich durch die Wiederholung der Simonides-Geschichte in ihrem Ursprung erklärt. Die Eigenschaften der memoria seien auf verschiedene Weise herausgestellt worden, was zu unterschiedlichen Begriffen geführt habe. Die einen hätten die Trias intellectus – fantasia – memoria favorisiert und damit dem Aspekt der memoria als einer eigenständigen Erkenntnisform Rechnung getragen. Darüber hinaus gäbe es die begriffliche Unterscheidung in memoria als habitus und reminiscentia als actus. Beides im Begriff memoria zusammenfassend, will der Autor nicht etwa die früheren Autoritäten missachten, sondern sich in die Nachfolge der schwerer wiegenden lateinischen Autoritäten (der Antike, nicht der Scholastik!) stellen. Danach unterscheide sich das Gedächtnis in das natürliche und das künstliche (Rhet. ad Her. III, xvi 28). Das natürliche Gedächtnis, welches durch Krankheit und Alter anfällig sei, könne durch die Medizin und viel Übung, wozu das künstliche Gedächtnis dient, unterstützt werden. Die Aussage, dass das natürliche Gedächtnis in der frühen Jugend und im hohen Alter besonders anfällig sei, wird hier schon nicht mehr auf Aristoteles, sondern auf Constantinus Africanus zurückgeführt. 1. Die Regeln der ars beginnen mit dem Ordnungsgebot als Voraussetzung aller Künste. Damit sei die Ordnung der Dinge anvisiert, die allerdings in der unterschiedlichsten Ordnung der Wörter dargeboten werden könne. Aus diesem Fundus an Formulierungen gebe es allerdings solche, die vortrefflicher als andere und daher zu bevorzugen seien. Als Beispiel hierfür werden Similia-Sammlungen angeführt wie etwa Berichte über die Gründung Roms (Valerius Maximus: Mem. 1 Opr. 1.1., Sallust: Cat. 5.1.1. und Vergil: Ecl. 1.19) und Naturbeschreibungen (Vergil: Aen. 6.724–726, 728). In diesen Beispielen kehren – bei aller Ausdrucksvielfalt – bestimmte Topoi wieder, deren stilistische Gestalt konstant bleibt (z.  B. Merismos: dies et nox, ortus et occasus, caelum et terra, Oxymoron: fixum mobili, finita infinitis etc.). Die Ordnung der Dinge betreffe dreierlei, die Textprogression,

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 Vorwort

die Folge der Redeteile und die Ordnung der Örter. Die Ordnung der Örter umfasse den Sitz der Inhalte und die Ordnung der Bilder. Es folgen die Regeln über die Beschaffenheit der Örter, die sich zum Teil an den Vorgaben der Rhetorica ad Herennium orientieren, aber sowohl begrifflich genauer als auch von den beigegebenen Erläuterungen her ausführlicher dargestellt werden: praeceptio (recta ratio agendi), qualitas (lux, distantia, imaginum capacia, frequencia), inventio (natura, ingenio vel his composita), dissimilitudo, impressio, corroboratio, notatio (numerum et rerum), exercitatio. Bei der notatio numerorum beispielsweise wird neben der traditionellen Beachtung der Fünfzahl und dem bekannten Hinweis auf die Eignung von Händen zu deren Auszeichnung noch die Möglichkeit von geometrischen Figuren mit der entsprechenden Anzahl von Valenzen beigefügt. Bei der exercitatio wird angewiesen, zunächst zweimal kursorisch zu lesen, sodann sich durch Gliederung eine Ordnung zu stiften und schließlich jeden dieser Teile auf einen Begriff bzw. Satz zu bringen. Der gesamte Prozess könne durch halblautes Lesen unterstützt werden. Eine aus einer medizinischen Autoritätenreihe (s.  o.) gewonnene Liste medizinischer Lehren über Schlaf, Temperatur und Ernährung beschließt den Abschnitt. 2. Der zweite Abschnitt besteht überwiegend aus Abbildungen verschiedener Buchstabenkombinationen mit verschieden geformten, drehbaren Zirkeln in der Mitte. Die spärlichen Erläuterungen dazu weisen diese Gebilde als künstliche Örter aus, die jeweils einen Buchstaben des Alphabets als Hauptbezeichnung und je zwei oder drei zusätzliche Gruppen von in einer bestimmten Weise angeordneten Buchstaben als Kennzeichen besitzen. Auf einer Fläche angeordnet, entsteht eine Tabulatur aus Zeichenkombinationen. Der Ausdeutung dieser Kunstörter dienen die beweglichen Zirkel, deren Einzelteile wiederum Buchstaben (liquida) tragen. Diese werden mit den fest verankerten Buchstaben kombiniert und bilden so neue Figuren/Bedeutungen.69 Publicius selbst weist darauf hin, dass die Alphabete verschiedener Nationen auch verschiedene Imaginationsmöglichkeiten böten, und hebt das griechische Alphabet besonders hervor. Bestand aber sowohl für das griechische als auch für das hebräische Alphabet die Möglichkeit der arithmetischen Chiffrierung, so musste für das lateinische Alphabet, das ja

69 Barbara Kuhn hat in den Buchstabenkombinationen eine Lautlehre des Lateinischen erkennen wollen (Gedächtniskunst im Unterricht. [Studien Deutsch 13] München 1993, S. 53–59). Ich sehe hierfür jedoch keinerlei Anzeichen. Weitere ausführlichere Beschreibungen von Illustrationen und vermeintlichen Anwendungsweisen (vgl. Carruthers/Ziolkowski 2004, S. 229  f.) sind einer Lüftung der enthaltenen Geheimnisse nicht näher gekommen. Die Verbindung aus elaborierten Illustrationen und Vorrichtungen mit einem Konvolut kryptischer Anweisungen lässt eher vermuten, dass eine vollständige Transparenz der hier zugrundeliegenden Methoden gar nicht hergestellt werden sollte bzw. wegen allgemeiner Geläufigkeit hergestellt zu werden brauchte.

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lediglich sieben Zahlenäquivalente besitzt, ein adäquater Code erst entwickelt werden. Welche Verwendungsweise Publicius hierfür anstrebte, lässt zumindest der Text offen. Das Modell, das sich vordergründig an den Gesetzen der Buchstabenkompatibilität im Lateinischen orientiert, wird einfach zur Verfügung gestellt. Die Knappheit der Erläuterungen im Verbund mit dem breiten Raum, den die Abbildungen dieses Teils einnehmen, machen wahrscheinlich, dass die Mündlichkeit der Vorlesungssituation hier die in der Schriftform bestehenden kommunikativen Leerstellen zu füllen hatte. 3. Die Bilderlehre beginnt mit den Bestimmungen der Rhetorica ad Herennium über die imagines agentes. Die Methoden der Bildfindung gliedern sich in die Herstellung vollständiger bzw. partieller Abbilder der Sache. Erstere wird illustriert durch klassische descriptio-Beispiele (Terenz: Heauton Timorumenos 1061  f.). Für die Versinnlichung abstrakter Dinge werden die Beispiele der Beschreibung des Hungers bei Ovid (Met. 8.799  ff.) und Vergil (Aen. 4.181  ff.) und die Beschreibung des Neides bei Ovid (Met. 2.769  ff.) zitiert. Die partiellen Abbilder der Sache seien zu unterscheiden in solche, die sich zwingend aus der Sache selbst ergeben, und arbiträre Zuschreibungen von Zeichen zum Bezeichneten. In die erste Kategorie gehören Metonymien, z.  B. Wirkung für Ursache (Monat Juni – Vergil: Georg. 1.342; Monat Juli – Ovid: Met. 2.28), typische Erscheinungen für bestimmte Länder und Städte (Vergil: Georg. 1.54–59) bzw. als Herkunftssignal bei der Imaginierung von Autoren (England  – Bogen, Spanien  – Wurfmaschine, Balearen  – Schleuder), typische äußere Attribute für deren Inhaber (Maure – schwarz, König – Krone, Petrus  – Schlüssel), Etymologie (Philippus  – amator equorum), Onomatopöie (grus gruit), Antonymie (Alter  – Jugend) oder Körpersprache (Zustimmung  – gesenktes Haupt). In diese Kategorie fallen auch symbolische Darstellungen wie die der Wochentage durch die alchemistischen Planeten- und Metallzeichen, abstrakter Dinge und Qualitäten (Gerechtigkeit – Schwert, Herkuleskeule – Kraft und Tapferkeit) oder auch der Evangelisten (Marcus – Löwe etc.). In die Gruppe der arbiträren Bilder gehören sämtliche Operationen mit dem Wortkörper, aber auch Regeln zur Handhabung von Texten, z.  B. deren Komprimierung durch Metrifizierung. 4. Der sehr knappe letzte Abschnitt, der erneut mit der Epitetha-Problematik von Personen und Sachen einsetzt, ist in seinem zweiten Teil dem Textgedächtnis gewidmet. Er gibt aber nach dem allgemeinen Hinweis, nach welchem unter einem Satz nicht das landläufig Bekannte, sondern eine komprimierte Aussage aus einem Wissensgebiet zu verstehen sei, nur ein praktisches Beispiel der Syllogismenlozierung. Diese habe sich auf den Mittelsatz zu konzentrieren, da er logisch das Ganze enthalte. Die abschließenden Wendungen offenbaren den Traktat als Vorlesung.

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Im Vergleich mit dem Gesamtkorpus der Traktate erweist sich Publicius’ Text als eigenständig, sowohl im Wortlaut als auch hinsichtlich der Komposition. Vor allem der alternative Quellenbezug verschafft ihm innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Ars memorativa der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein Alleinstellungsmerkmal. Wo er Elemente aus gängigen Argumentationen und Beispielgruppen früherer Memoria-Traktate übernimmt, inkorporiert er sie seiner Konzeption, stellt sie als allgemeines Wissensgut dar und verzichtet auf Autoritätenbelege. Der Traktat hat wissenschaftssystematisch seinen Sitz vornehmlich in der Rhetorik. Für Jacobus Publicius steht diese Disziplin im Dienste einer Ansammlung von Topoi zur Produktion von Texten in vorbildlichem, am klassischen Latein geschulten Stil. Auch dort, wo er auf das ererbte Bildreservoir zurückgreift (de accidente et proprio, de opposito, de instrumentis, de insigniis, de effectu rerum etc.), bleibt der funktionale Zusammenhang ciceronianisch, was durch die Fülle der klassisch-literarischen Musterbeispiele untermauert wird. Gleichwohl scheint das Konvolut an Bildungselementen, die der spanische Wanderhumanist schon in der Frühzeit seines Wirkens in sich aufgenommen hat, zumindest teilweise einen alternativen Traditionsweg mit anderen – eventuell arabischen − Vermittlungsstufen gegangen zu sein. Mit der vorliegenden Edition ist, so hoffen wir, die Möglichkeit eröffnet, diese speziellen Bildungswege einlässlicher zu erforschen.

Editionsprinzipien Der beschriebenen bildungs- und mediengeschichtlichen Ausgangssituation mit ihren Akzelerations- und Akkumulationsprozessen ist es geschuldet, dass auch das Medium Schrift Anschluss an die Erfordernisse zunehmender Wissensgeneration und -verbreitung finden musste. Das Aufkommen kursiver, also ‚schneller’ Schrifttypen mit verstärkter Nutzung des verfügbaren lateinischen Kürzelsystems ist in diesen Zusammenhang zu stellen. Die gleichen Erscheinungen brachten es aber auch mit sich, dass es in der Überlieferung gerade von akademischen Gebrauchstexten zu einer Vielzahl von Lücken, Missverständnissen und den daraus resultierenden, nicht immer sinnvollen Reparaturversuchen der Schreiber kam, die eine Freilegung einer ursprungsnahen Textgestalt heute zu einer überaus anspruchsvollen Aufgabe werden lassen. Eine vollständige historischkritische Dokumentation der Überlieferung war mit Blick auf die verfügbaren Ressourcen nicht möglich. Sie war aber auch unter dem Aspekt einer durchaus leistbaren Präsentation eines repräsentativen Querschnitts relevanter Textvarianten nicht erforderlich. Hinsichtlich der konkreten Überlieferungslage weichen die Texte stark voneinander ab. Nicht immer bot der älteste (bzw. überhaupt ein einzelner) Über-

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lieferungszeuge auch einen zuverlässigen Text. Nicht zuletzt deswegen konnte ein klassisches Leithandschriftenprinzip nicht umgesetzt werden. Vielmehr war es notwendig, bei der Textherstellung in jeweils adäquater Weise auf die Parallelüberlieferung zurückzugreifen. Über Auswahl und konkrete Vorgehensweise wird in den jeder Edition vorgeschalteten editorischen Hinweisen Rechenschaft abgelegt. Der edierte Text wurde mit einer Interpunktion versehen und bezüglich der Großschreibung von Eigennamen und Satzanfängen modernisiert. Ansonsten blieben zeitgenössische Graphien erhalten, so etwa die unregelmäßige c/t- und v/u Schreibung. Kürzungen wurden stillschweigend aufgelöst. Die abweichenden Lesarten der Parallelhandschriften sind im kritischen Apparat vermerkt, ebenso wie umgekehrt Lesarten, die aus der Parallelüberlieferung in den Text aufgenommen wurden, entsprechend gekennzeichnet werden. Die sparsam eingesetzten Konjekturen sind in spitze Klammern eingeschlossen. Ein Similienapparat informiert über Quellenzitate bzw. deren freiere Übernahmen im Text; bei wörtlicher oder nahezu wörtlicher Wiedergabe wurden sie durch Kursive kenntlich gemacht. Sacherläuterungen und Informationen zu lateinischen Begriffen und einzelnen Übersetzungsentscheidungen wurden ergänzt. Die Übersetzung strebt danach, die lateinische Vorlage in ihren syntaktischen und stilistischen Eigenheiten abzubilden oder doch zumindest erkennbar zu halten. Zur leichteren Lesbarkeit des deutschen Übersetzungstexts wurden lediglich vereinzelt die Tempusstufen angepasst, pleonastische Formulierungen aufgelöst und semantisch schwache Partikeln reduziert. Ferner werden die zahlreichen Ellipsen der lateinischen Texte in der deutschen Übersetzung aufgelöst und die syntaktischen Ergänzungen in eckige Klammern gesetzt. Um die Sinnbezüge – vor allem im Bereich des mnemotechnischen Arbeitens mit dem Wortmaterial ‒zu sichern, wurden an den entsprechenden Stellen der deutschen Übersetzung die lateinischen Ausgangsbegriffe noch einmal wiederholt. Sie erscheinen in runde Klammern eingeschlossen. Notwendige Erläuterungen zu Personen, Sachen und (grammatikalischen, morphologischen) Besonderheiten der Textgestalt sowie übersetzungstechnische Anmerkungen sind in die Fußnoten zur Übersetzung eingegangen. Um kenntlich zu machen, wer für die einzelnen Arbeitsanteile verantwortlich zeichnet, sind im Inhaltsverzeichnis bei jedem Text die Kürzel der jeweiligen Bearbeiter vermerkt. Sabine Seelbach

Matthaeus de Verona: De arte memorandi (Padua 1420) (Incipit: Conspiciens ex una parte scolares) Editorische Hinweise Hss.: Bamberg, SB, Cod. Q V. 38 (theol. 234), 174r–186r; Mailand, Bibl. naz. Braid., A D IX 14, 92r–100v; München, BSB, Clm 14260, 77ra–85rb;1Neapel, Bibl. naz., V.C. 20, 303r–310v; Oxford, Bodl. Lib., Saville 18, 105r–113r; Parma, Bibl. Pal., Cod. Pal. 746, 1r–7v; Rom, Bibl. ap., Cod. Vat. lat. 6293, 199v–213v; St. Paul im Lavanttal, Stiftsb., Cod. 137/4, 133r–140r; Venedig, Bibl. naz. marc., Cod. lat. XIV 292 (4636), 195r–209r. Der vorliegende Editionstext basiert auf der Handschrift Clm 14260 (Sigle M) der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die Kollationierung mit Handschriften aus Bamberg, Venedig, Rom, Parma und St. Paul im Lavanttal ließ aufgrund geringster Textvarianz eine exemplarische Dokumentation der Varianten sinnvoll erscheinen. Die Wahl fiel dabei auf die Handschrift St. Paul im Lavanttal, Stiftsbib. Cod. 137/4 (Sigle L), welche nach dem paläographischen Befund, der Einrichtung, Glossierung, Mitüberlieferung und internen Provenienz- und Datierungshinweisen als italienischen Ursprungs nachgewiesen, ja sogar dem Umkreis der Universität Padua zugeordnet werden konnte und auf die Zeit von 1435–1440 zu datieren ist.2 Nach Textumfang und Reihenfolge der behandelten Kapitel zeigt sie große Übereinstimmungen mit der Münchner Handschrift, weist aber gegenüber dieser etliche sinnrelevante Auslassungen auf. An mehreren Stellen hat die Korrekturhand von L den Text nach der in M präsentierten Form gebessert. Wo L aber den besseren Text hatte, wurden von M abweichende Lesarten übernommen und entsprechend im Apparat vermerkt. Alle weiteren relevanten Abweichungen und Zusätze der St. Pauler Handschrift werden ebenfalls im kritischen Apparat zugänglich gemacht. Die deutsche Übersetzung bleibt der lateinischen Vorlage nahe, ohne eine wortgetreue Wiedergabe zu bezwecken. Die elliptische Formulierungsweise des Originals bedingte immer wieder syntaktische Verknappungen, die das inhaltliche Verständnis behindern können und daher zur Verbesserung der Lesbarkeit

1 http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00046896/image_159 2 Vgl. dazu demnächst Angelika Kemper: The composition of manuscript miscellanies within religious communities: Between reform-minded piety and humanist rhetoric. In: Late Medieval Miscellanies.Turnhout: Brepols, im Druck. https://doi.org/10.1515/9783110575231-002

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi (Padua 1420)

stellenweise aufgelöst wurden. Die Struktur des lateinischen Textes sollte jedoch im Ganzen in der Übersetzung erkennbar bleiben. Die skurrilen Vorstellungen und Merkinhalte dagegen, die in Matthaeusʼ Traktat eingegangen sind und der Exemplifizierung memorialer Vorgänge dienen, sind nach Möglichkeit in allgemeinverständliche Übersetzungen transformiert worden. Lateinische Fachtermini aus der antiken und mittelalterlichen Philosophie wurden in der Übersetzung generell bewahrt, das italienisch-lateinische Mischvokabular der Örter-Liste dagegen einheitlich ins Deutsche übersetzt. Die in die Handschrift eingestreuten, schematischen Illustrationen wurden an den entsprechenden Stellen in den lateinischen Text eingerückt. Siglen München, BSB, Clm 14260 St. Paul im Lavanttal, Stiftsb., Cod. 137/4

M L

Matthaeus de Verona: De arte memorandi Incipit prohemium super arte memorandi fratris Mathei de Verona Conspiciens ex vna parte scolares quam plures a sciencia, quam omnes homines natura scire desiderant, amoueri  – tum propter memorie delicate labilitatem, tum propter ignoranciam colocandi in memoria, que memorie sunt digna, et collocata reti- 5 nendi –, et ex alia parte huiusmodi defectus nedum a me, sed etiam alijs volentibus proficere cupiens separare, Ego frater  Matheus de Verona, ordinis predicatorum baccalariorum minimus, ex dei laudem beateque virginis Marie et sancti beati Dominici patris mei scolariumque profectum ex mee armariolo ignorancie hausi hoc 10 Compendium, quod insignitur de arte memorandi. In quo precipue de tribus tractatur scilicet de locis ymaginibus et memorabilibus, et quamquam multi multa opuscula hanc circa materiam condiderint, istud tamen videtur lucidius atque expedicius. Si autem aliquid reperiatur hic minus benedictum, peto veniam a lectore pariterque 15 correccionem. Amen.

Diffinicio artis memorandi capitulum primum Memoria artificialis est sciencia anime recolendi memorata et memorata retinendi ex locis et ymaginibus decenter preparatis ad hominis profectum et laudem dei subtiliter adinventa. 20

Diffinicio loci cum divisionibus suis capitulum secundum in artem memorandi Partes huius artis sunt due scilicet accidenciales et essenciales siue substanciales. Substanciales sunt due scilicet locus et ymago. 2 scolares] om.  L 3 natura] natura  M 5 digna] digne  L 7 alijs] ab alijs  L 8 minimus] minus  M 8 ex dei laudem] ad dei laudem  L 9 Marie] om.  L 9 sancti] om.  L 12 memorabilibus] memoralibus  L 15–16 peto… Amen] peto parcere pariter et correpcionem amen ut vid.  L 17 Diffinicio… primum] om.  L 20 laudem dei] laudem  M 20 adinventa] adinuenta natura namque habilem facit ars facilem vsus uero potentem add.  L 21–22 Diffinicio… artem memorandi] om. L 21 divisionibus] diffi- cancell. M 23 artis] artis substanciales L 23–24 accidenciales… scilicet] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses Proömium über die Kunst des Gedächtnisses des Bruders Matthaeus von Verona Da ich einerseits gewahr werde, dass viele Gelehrte vom Wissen abgebracht werden, welches alle Menschen von Natur aus wünschen – bald wegen der Labilität eines schwachen Gedächtnisses, bald wegen der Unkenntnis, im Gedächtnis erinnerungswürdige Dinge zu verorten und das Verortete zu bewahren –, und da es mich andererseits verlangt, derartige Mängel nicht nur von mir, sondern auch von anderen Lernwilligen fernzuhalten, habe ich, Bruder Matthaeus von Verona, der Geringste der Graduierten (baccalarii) der Dominikaner, zum Lobe Gottes und der seligen Jungfrau Maria sowie meines Vaters, des heiligen und seligen Dominikus, und zum Nutzen der Schüler aus dem kleinen Vorrat meiner Unwissenheit dieses Kompendium gewonnen, das betitelt ist mit ‚Über die Kunst des Gedächtnisses‘. In diesem werden vor allem drei Dinge behandelt, nämlich die Örter, die Bilder und das Erinnerungswürdige. Obwohl viele Autoren viele Werke über diesen Gegenstand verfasst haben, scheint diese meine Schrift doch deutlicher und eingängiger zu sein. Falls hier aber etwas zu finden sein mag, das weniger gut ausgedrückt1 ist, bitte ich den Leser um Verzeihung und zugleich um seine Korrektur. Amen. Erstes Kapitel: Definition der Kunst des Gedächtnisses Das künstliche Gedächtnis ist eine Fertigkeit des Geistes, sich an Gedächtnisinhalte zu erinnern und sie zu bewahren durch geziemend bereitete Örter und Bilder, welche Fertigkeit zum Nutzen des Menschen und zum Lobe Gottes subtil ersonnen wurde. Zweites Kapitel zur Kunst des Gedächtnisses: Definition des Ortes mit seinen Einteilungen Es gibt zwei Teile dieser Kunst, nämlich einen akzidentiellen und einen essentiellen oder substantiellen. Substantielle Teile gibt es zwei, nämlich Ort und Bild.

1 benedictum: hier wörtlich wiedergegeben.

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Aristoteles, Physik, 212a20–21

 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

Et primo videndum est de loco scilicet absolute et respective. Et primo absolute locus secundum philosophum est vltima superficies corporis continentis inmobilis. Et hoc est duplex scilicet generalis et particularis siue singularis. Et vterque istorum adhuc est duplex scilicet naturalis artificialis. Exemplum de naturali generali ut 5 vallis, mons, campania et sic de alijs. Artificialis generalis est ut ciuitas, vicus, palacium, domus. Naturalis particularis est ut arbor, leo, bos, capra. Particularis artificialis ut [h]ostium, caminus, fenestra.

Sequitur condicio prima, quarum septem sunt [77rb] Unus locus singularis non debet esse maior nouem cubitis nec minor tribus, quia sicut fantasia nimium dilatatur in magnis sic nimium confunditur in paruis. Et eadem racione, quod dictum est in magnitudine, de disstancia intelligatur. Quorum numerus et ordo locorum debet esse talis, quod accipiantur centum uel mille uel decem milia uel quot fuerint necessaria ad res locandas, hoc ordine videlicet, quod accipiantur de quinque in quinque – secundum numerum sensuum, qui omnes deseruiunt huic arti et maxime visus  – usque ad viginti quinque et de viginti quinque usque ad centum et sic quousque fuerit op

ortunum. Verbi gracia habeas vnam domum, palacium, monasterium uel conuentum, in quo sint viginti loca generalia ut vna uel due uel tres camere, vna coquina, vnum cenaculum, vna rasoria et ceteris de alijs usque ad viginti. Et si ibi non essent tot loca generalia fabricata, debes ea fingere. Verbi gracia si esset ibi vnum pratum, debes ymaginari ipsum esse vndique clausum asseribus uel muro. Et sic intelligas de alijs locis determinatis. Deinde ymaginare ipsum pratum esse distinctum perquadrum asseribus uel alia materia, si comodius fuerit.

3 Et hoc] Et hic  L 4 adhuc] om.  L 5 naturali generali] naturali  M 8 bos] om.  L 8 caminus] camera  L 10 Sequitur… septem sunt] et sic de alijs  L 11 Unus] Omnis  L 14 intelligatur] intelligitur  L 14 Quorum] om.  L 15 quod] om.  L 21 monasterium] om.  L 22 ut] et  L 23 vna rasoria] vnum capitulum  L 24 fabricata] fabrica  M 25 pratum] pratum magnum  L 26 ipsum] ipsum pratum  L 27 determinatis] indeterminatis L 27 ymaginare] ymaginari debes L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Zunächst ist der Ort zu betrachten, nämlich in absoluter und relativer Weise. Zuerst in absoluter Hinsicht ist der Ort, dem Philosophen [i.  e. Aristoteles] folgend, die äußerste Oberfläche eines umfassenden und unbeweglichen Körpers. Dies ist zweifach, nämlich generell und partikulär bzw. singulär. Beides von diesen ist noch einmal zweifach, nämlich natürlich und artifiziell. Ein Beispiel für einen natürlichen generellen Ort ist ein Tal, ein Berg, ein Stück flaches Land und so weiter. Ein artifizieller genereller Ort ist zum Beispiel eine Stadt, ein Dorf, ein Palast, ein Haus. Ein natürlicher partikulärer Ort ist zum Beispiel ein Baum, ein Löwe, ein Rind, eine Ziege. Ein partikulärer artifizieller Ort ist zum Beispiel eine Tür, ein Kamin, ein Fenster. Es folgt die erste Bedingung, deren es sieben gibt [77rb] Ein singulärer Ort darf nicht größer sein als neun Ellen und nicht kleiner als drei, da die Vorstellungskraft bei großen Örtern zu sehr ausgedehnt und bei kleinen zu sehr verwirrt wird. Nach diesem Prinzip soll man, was für die Größe gilt, auch für den Abstand bedenken. Die Zahl und Ordnung der Örter muss so beschaffen sein, dass hundert aufgenommen werden oder tausend oder zehntausend oder wie viele notwendig seien, um die Dinge zu lozieren, und zwar in einer solchen Ordnung, dass sie von fünf zu fünf aufgenommen werden – gemäß der Anzahl der Sinne, die alle dieser Kunst dienen und besonders der Gesichtssinn – bis fünfundzwanzig und von fünfundzwanzig bis hundert und auf diese Weise weiter, soweit es dienlich sei. Du könntest zum Beispiel ein Haus haben, einen Palast, ein Kloster oder einen Kapitelsaal,2 wo zwanzig generelle Örter seien, wie ein oder zwei oder drei Zimmer, eine Küche, ein Speisesaal, eine Rasierstube3 und so weiter bis zu zwanzig. Wenn dort nicht so viele generelle Örter vorhanden wären, musst du sie bilden. Wenn da zum Beispiel eine Wiese wäre, musst du dir vorstellen, dass sie von allen Seiten durch einen Holzzaun4 oder eine  Mauer eingeschlossen ist. So sollst du auch andere begrenzte Örter verstehen. Dann stelle dir vor, dass die Wiese selbst in Quadrate abgeteilt ist durch Latten oder ein anderes Material, wenn es dir passender erscheint.

2 conuentus: hier aufgefasst als Angabe einer Räumlichkeit. 3 rasoria: abgeleitet von rasorium, ‚Rasiermesser, Schabmesser‘ (?; nicht belegt). 4 asseres: eigtl. ‚Latten‘ oder ‚Stangen‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

Deinde ymaginare in quolibet loco siue quadro loca singularia ut quinque tabule uel vna banca, vnum pulpitum, vnus caminus, vna capsa, vna arbor sicut ostendunt signa uel note posite in singulo quadro sequentis figure. Et sic habebitis viginti locis generalibus in vna domo et in singulo eorum, et singularia resultabunt centum, 5 in quibus omnibus debent seruari condiciones de locis superius posite et omnes, que inferius narrabuntur. Et hoc totum exigitur, ne memoria confundatur. Et secundum hunc assimulantur hec loca artis et predicabilibus. Generalia quidem generibus, differenciis et speciebus. Particularia autem siue singularia proprio accidenti. Nam genera sunt sicut vnus vicus uel vna strata, in qua sunt multe domus. Species vero domus. Ipse differencie autem sunt officine in domo ut sala, camera, cenaculum. Propria autem sunt loca singularia in officina ut fenestra, caminus, discus et cetera. Sed accidencia sunt locelli facti circa discos, caminos uel fenestras ex opposi cione ymaginum et cetera. Secundum hunc modum in decem domibus habebis mille loca [77va] seriatim posita et ordinata. Quinta condicio est, quod locus sit mediocriter clarus, quia fantasia in nimia luce reuerberatur et obfuscatur in parua. Sexta est, ut sit mediocriter vsitatus saltem memoranti, quia in nimia frequentacione et replecione loci fantasia impeditur et in solitario non delectatur. Septima condicio est quinti loci et cuiuslibet notacio. Et de quinto in quintum usque ad viginti quinque et sic usque ad centum. Verbi gracia in primo quinto ponas aliquid suspensum, quod signat tibi quinque, uel naturaliter ut manus uel ad placitum ut capellus.

1 ut quinque tabule] uel vna tabula L 3 note posite] no** posite M 3 singulo] simili L 4 habebitis] inde habebitis ut vid. L 4 viginti] quindecim M 6 omnibus] om. L 6 superius posite et] et superiores M 7 narrabuntur] notabuntur  L 9–17 Et secundum… ymaginum et cetera] om.  L 18 seriatim] seruatim M 19 Quinta] Alia L 20 in parua] in pa* M 20 Sexta] Alia L 20 ut] ut locus L 23 Septima] Alia L 23 notacio] dub., notati L 26 signat] significet L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Danach stelle dir vor, dass an jedem beliebigen Ort oder in jedem beliebigen Quadrat singuläre Örter sind wie fünf Tische oder eine Bank, ein Predigtstuhl, ein Kamin, ein Schrein, ein Baum, so wie es die Merkmale oder die Zeichen, die in jedes singuläre Quadrat niedergelegt sind, der folgenden Abbildung zeigen. So werdet ihr durch die generellen Örter eine Zahl von zwanzig in einem Haus haben und in jedem einzelnen der Örter. Zusammen werden sie hundert ergeben, wobei jeweils die Bedingungen der Örter gewahrt sein müssen, sowohl alle oben genannten als auch alle, die unten aufgeführt werden. Dies alles ist erforderlich, damit das Gedächtnis nicht in Verwirrung gerät. Demgemäß werden diese künstlichen Örter auch den Prädikabilien5 ähnlich gemacht, [und zwar] die generalia nach genus, differentia und species, die particularia aber oder die singularia nach proprium und accidens. Denn genera sind wie ein Dorf oder eine Straße, in der viele Häuser sind. Doch species sind wie Häuser. Differentiae aber sind Räume im Haus wie eine Halle, ein Zimmer, ein Speisesaal. Propria aber sind einzelne Örter in einem Raum wie ein Fenster, ein Kamin, ein Tisch und so weiter. Doch accidentia sind kleine Örter, die in der Nähe der Tische, Kamine oder Fenster gebildet werden durch das Einsetzen von Bildern und so weiter. Auf diese Art und Weise wirst Du in zehn Häusern tausend Örter haben, [77va] die nach der Reihe angelegt und geordnet sind. Die fünfte Bedingung ist, dass der Ort mäßig hell sei, da die Vorstellungskraft in zu hellem Licht zurückgeworfen und in zu schwachem Licht verdunkelt wird. Die sechste Bedingung ist, dass der Ort mäßig frequentiert sei, wenigstens für den sich Erinnernden, weil die Vorstellungskraft durch zu große Belebtheit und Anfüllung des Ortes behindert wird und sich andererseits an der Einsamkeit nicht erfreut. Die siebte Bedingung ist die Bezeichnung des fünften Ortes, auch aller weiteren fünften Örter. Schreite fort vom fünften Ort zum fünften Ort, bis zu fünfundzwanzig und so bis hundert. Beispielsweise könntest du in die erste Fünfergruppe etwas Erhöhtes setzen, das dir die Fünf bezeichnet, entweder auf natürliche Weise, wie eine Hand, oder nach Belieben, wie eine Kapuze.

5 Prädikabilien nach den aristotelischen ‚Kategorien‘ sind: genus, species, differentia, proprium, accidens. Die möglichen universalen Aussagebegriffe der Prädikabilien – im Rahmen seiner Lehrtätigkeit in der Akademie entwickelt Aristoteles eine Theorie der verschiedenen möglichen allgemeinen Prädikate – sind Gattung, Art, Definition, Eigentümlichkeit und Zufälliges, die (mit einer Ausnahme) vom Begriff des Wesens unterschieden werden können. Vgl. Ernst Kapp: Die Kategorienlehre in der aristotelischen Topik. Berlin 1968 (Habilitationsschrift 1920); Ernst Vollrath: Studien zur Kategorienlehre des Aristoteles. Ratingen 1969.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

Et ut hoc comodius facias, sint iste note cuiuslibet quinti: In primo quinto suspende ibi supra sutulares albos, in secundo virides, in tercio rubeos, in quarto celestinos, in quinto nigros, in sexto caligas albas, in septimo virides, in octavo rubeas, in nono celestinas, in decimo nigras. In undecimo indumentum album, in 5 duodecimo viride, in tercio decimo rubeum, in quarto decimo celestinum, in quinto decimo nigrum, in sexto decimo manus cerea, in septimo decimo lignea, in duodevicesimo ferrea. In vndevicesimo argentea, in vicesimo aurea. Et hoc totum fit, ut loca bene distinguantur de quinque in quinque et quotus in ordine sit locus bene 10 sciatur et ne fantasia in locorum multiplicacione confundatur. Et hec eadem signa debes ponere in alijs quintis aliorum centum locorum et sic deinceps. Et hoc dico, quia minus fatigaretur in adinveniendo alia, ista sufficiunt.

Iste autem sunt note cuiuslibet loci singulariter infra posite; 15 ponende sed discum uel aliquod aliud ibi positum. Quarum quelibet debet esse bene visibilis, ymaginabilis et manuductilis, quia talis nota siue res deseruit ad multa. Primo ad notandum locum, vbi ponitur, ut si ibi ponatur carta vocabitur carta, si caulis et sic de alijs. Secundo deseruit ad presentandum quemlibet numerum sci- 20 licet figurarum et modorum in argumentis, numerorum, pecunia-

1 note] note et  L 2 suspende] suspense  L; suspendende corr. in marg.  L 2 supra] a add. sup. lin.  L 2 sutulares] sotulares  L 2 albos] aridos M 3 nigros] nigras M 4 caligas albas] caligas M 5 indumentum] vestimentum L 7 manus cerea] manum ceream L 8 lignea] ligneam L 8 ferrea] ferream  L 9 argentea] argenteam  L 9 aurea] auream  L 10 de quinque in quinque] de quinto in quintum L 10 locus] locus ut in ordine add. L 13 quia minus fatigaretur in adinveniendo] quod minus fatigentur inveniendo L 14 sufficiunt] sufficiant  L 15 sunt] om.  L 15 singulariter] singularis  L 16 sed discum] sicut supra discum  L 17 manuductilis] bene manuductilis  L 18 nota siue] om. L 19 vocabitur] notabitur L 19 caulis] caulis caulis L 20 presentandum] representandum L 21 numerorum] numerum L

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Damit du das bequemer erledigen kannst, sollen dies die Zeichen für alle Fünfergruppen sein: In die erste Fünfergruppe hänge dort6 oben weiße leichte Schuhe7 auf, in die zweite grüne, in die dritte rote, in die vierte blaue, in die fünfte schwarze, in die sechste weiße Stiefel, in die siebte grüne, in die achte rote, in die neunte blaue, in die zehnte schwarze. In die elfte Fünfergruppe ein weißes Gewand, in die zwölfte ein grünes, in die dreizehnte ein rotes, in die vierzehnte ein blaues, in die fünfzehnte ein schwarzes, in die sechzehnte eine Hand aus Wachs, in die siebzehnte aus Holz, in die achtzehnte aus Eisen. In die neunzehnte aus Silber, in die zwanzigste aus Gold. Dies alles geschieht, damit die Örter jeweils zu fünfen gut unterschieden werden und damit man sicher weiß, der wievielte Ort in der Reihenfolge gerade vorliegt, und damit nicht die Vorstellungskraft durch die Vervielfältigung der Örter verwirrt wird. Dieselben Zeichen musst du in jede Fünfergruppe der anderen hundert Örter setzen und so weiter fort. Das sage ich, damit man bei der Suche nach anderen Zeichen weniger ermüdet, denn diese Zeichen reichen aus.

Dies hingegen sind die Zeichen eines jeden Ortes, einzeln unten gesetzt; doch sie sind einzurichten wie ein Tisch oder etwas anderes, das dort platziert wurde. Von diesen Zeichen muss jedes gut sichtbar, vorstellbar und handhabbar8 sein, weil ein solches Zeichen oder ein solches Ding zu vielem dient. Zunächst, um den Ort zu bezeichnen, wo es gesetzt ist, wie wenn zum Beispiel ein Blatt Papier dort platziert ist, wird er ‚Papier‘ genannt werden, oder ‚Kohlstengel‘ und so weiter. Zweitens dient das Zeichen dazu, jede beliebige Zahl zu vergegenwärtigen, nämlich der

6 ibi: pleonastischer Gebrauch. 7 sutulares (auch subtalares oder subtellares): ‚leichter Schuh, Sandalen‘. 8 manuductilis: ‚verschiebbar, leitbar‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

rum in debitis, ponderum in mercancijs et ad multa alia, ut patebit [77vb] in practica artis huius. Nota eciam, quod nulla istarum rerum debet esse aliqua de illis, que ponuntur in quintis locorum, et sic intellige alibi, vbi res accomodatur ad signandum uel menses uel dies uel horas, hoc patebit infra. Et hoc fit, ne memoria erret acci- 5 piendo vnum pro alio. Nota insuper, quod iste res siue note ponuntur ad placitum secundum quod occurrunt. Tamen ingeniosius est eas accipere secundum quod se aliqua consecuntur de quinque in quinque secundum ordinem locorum et numerum sensuum. Verbi gracia ut primo 10 ponetur carta, secundo riga, tercio pixis vermicaria, quarto vitriolum attramentarium, quinto faxis calamorum et sic de quinque in quinque usque ad centum, et non ultra, quia ista sufficiunt. Tamen possis invenire centum vocabula peregrina et eorum nomina inponere alijs centum locis ponendo eorum ymagines in locis et sic, 15 quousque volueris, posses et multis alijs modis operari circa notas locorum. Ne igitur nimis labores in repeendo, talia sint ille centum res siue note, que dant nomina locis et quarum quelibet signat numerum loci, in quo ponitur, et si res forent parue, possunt poni 20 in magna quantitate:

In primo loco in secundo loco in tercio loco in quarto loco in quinto loco in sexto loco in septimo loco

carta linea vernix atramentum penne ab igne carbo

que conueniunt scribere

2 eciam] om.  L 3 in quintis locorum] in quinto loco  L 4 accomodatur] accomodetur  L 4 signandum] significandum  L 5 erret] reret  M 10 ut primo ponetur] primo ponatur L 11 vermicaria] vernicea L 11 vitriolum attramentarium] atramentum L 14 possis] posses L 18 repeendo] repelendo M; inueniendo L 19 signat] significat L 23 linea] om. M 24 vernix] om. M 25 atramentum] om. M 26 penne] om. M 27 ab igne] abige L 28 carbo] om. M 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Figuren und Anordnungen in Redezusammenhängen, der Geldmengen bei Schulden, der Gewichte beim Handeln,9 und zu vielem anderen, wie dir bei der Ausübung dieser Kunst einleuchten wird [77vb]. Merke auch, dass keines dieser Dinge eines von jenen sein darf, die in die je fünften Örter gesetzt werden, ebenso stelle dir andernorts vor, wenn das Ding verwendet wird, um entweder Monate, Tage oder Stunden zu bezeichnen; dies wird unten deutlich werden. Dies geschieht, damit das Gedächtnis nicht irrt, indem es eins für das andere nimmt. Merke darüber hinaus, dass diese Dinge oder Zeichen nach Belieben gesetzt werden, entsprechend dem, was dir begegnet. Doch geschickter ist es, sie demgemäß auszuwählen, dass sie in irgendeiner Folge stehen von fünf zu fünf, entsprechend der Ordnung der Örter und Zahl der Sinne. Zum Beispiel10 wird an die erste Stelle ein Blatt Papier gesetzt, an die zweite eine Zeile, an die dritte eine Büchse für rote Farbe,11 an die vierte ein gläsernes Tintenfass,12 an die fünfte ein Bündel13 mit Schreibfedern und so von fünf zu fünf bis zu hundert, und nicht weiter, weil dies ausreicht. Doch könntest du hundert ausländische Benennungen finden und deren Namen anderen hundert Örtern beilegen, indem du deren Bilder an den Örtern platzierst, und so könntest du, soweit du es wolltest, auch auf viele andere Weisen vorgehen, was die Zeichen für die Örter betrifft. Damit du dich also nicht allzu sehr mit dem Erfinden mühst, sollen jene hundert Dinge oder Zeichen, die den Örtern Namen geben, wie folgt beschaffen sein; jedes von ihnen bezeichnet die Zahl des Ortes, an den es gesetzt ist, und wenn die Dinge klein wären, können sie in großer Anzahl platziert werden:

Am ersten Ort am zweiten Ort am dritten Ort am vierten Ort am fünften Ort am sechsten Ort am siebten Ort

ist ein Blatt Papier Zeile rote Farbe14 (?) Tinte15 Federn vom Feuer Kohle

9 mercancia: ‚Handel, Geschäft‘. 10 ut: pleonastischer Gebrauch. 11 vermicaria (vermiculus): ‚rote Farbe‘. 12 vitriolum attramentarium: ‚gläsern‘. 13 faxis (fascis): ‚Bündel’. 14 vernix: mlat. fernix, fornis, ‚Lack, Firnis‘. 15 atramentum: ‚Schusterschwärze, Tinte‘.

was zum Schreiben passt

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

in octavo loco pallea per se calefactat moleta in nono loco in decimo loco castane in vndecimo loco cultellus 12 panis 13 scutella pro rustico edenti 14 alleum 15 caseus 16 puella 17 verna 18 lardones pro leccatore 19 incisoria 20 poma rancea 21 panicelli 22 bacile 23 cos ad acuendum pro barbario 24 rasorium 25 forfex [78ra] 26 speculum 27 pectines 28 capilli pro ornatu mulieris 29 capucium 30 corda de paternoster 31 folles 32 scopa 33 incus pro mare schalko 34 ferrum equi 35 pes bouis

1 pallea] om. M; paleta L 1 calefactat] calefacientibus L 2 moleta] om. M; moleta  L 3 castane om.  M; castane  L 6 edenti] edendi  L 7 alleum] oleum  L 9 puella] apuli  L 11 leccatore] lectacione  L 13 poma rancea] lit.  M; pomerancia  L 14 panicelli] lit.  M 15 bacile] lit.  M; bacilli  L 16 Cos] lit. M 16 barbario] barbitonsore L 18 forfex] forpex M 21 pro ornatu mulieris] pro muliere se ornante L 26 mare schalko] marscalco L 28 pes bouis] pes equi M 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Straßenmantel wärmt durch sich selbst am achten Ort 16 am neunten Ort Wollust am zehnten Ort Maronen am elften Ort ein kleines Messer Brot 13 kleine Schüssel für die Mahlzeit des Bauern 14 Knoblauch 15 Käse 16 Mädchen 17 Alverner [Wein]17 18 Speckseiten18 für den Schlemmer 19 Schneidebretter 20 Pomeranze 21 kleine Tücher19 22 (Barbier-)Becken 23 Wetzstein zum Schärfen für den Barbier 24 Rasiermesser 25 Schere [78ra] 26 Spiegel 27 Kämme 28 Hüte20 für den Schmuck einer Frau 21 29 Kragen 30 Rosenkranzschnur 31 Blasebälge 32 [Kohle-]Schaufel22 33 Amboss für den Hufschmied23 34 Hufeisen 35 Kuhfuß24

16 moleta: Verschreibung für moletia, lat. mollitia, ital. mollizia, mollizie, ‚Wollust‘. 17 verna: ital. verna, alvernia, Wein aus der Toscana; oder Fehlschreibung für (carne) ferina, ‚Fleisch vom Wild‘. 18 lardones, pl.: ital. lardone, ‚Speckseite’. 19 ital. pannicèllo: ‚Lappen’; Diminutiv von ital. panno, ‚Tuch’; pannicolo, ‚Lappen’. 20 ital. cappello: ‚(Damen-)Hut’; vgl. ital. capello, ‚Haar’. 21 ital. capuccio: ‚Kragen, Überwurf’ (für Damen). 22 mlat. scopa: ‚Schaufel‘. 23 mlat. marescalcus, ital. manescalco: ‚Hufschmied‘. 24 pes bovis: ‚Rindsfuß‘; hier ‚Kuhfuß, Brechstange‘; Eisenstange mit gespaltenem Oberteil (zum Entfernen der Hufnägel); vgl. ital. piede di porco.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

36 calcaria 37 ocree 38 spata pro equitanti 39 cyrothece 40 capellus de palea 41 anelli ferrei magni 42 clauis 43 sera pro hostio 44 vectes 45 clauus 46 caules 47 concha 48 lebes pro coquendis 49 cathena 50 ligna 51 asseres 52 ascia 53 dolabra pro lignario 54 serra 55 terebella 56 mortarium 57 pilum 58 bilantes pro apothecario 59 scatule 60 fulicelli 61 lana

3 equitanti] equitante  L 5 palea] paleo  M 6 anelli] auelli  M 7 clauis] claui  M 13 pro coquendis] pro caulibus coquendis  L 18 dolabra] dolobra  L 19 serra] tribella  L 20 terebella] serra  L 23 bilantes] bilances L 24 scatule] statera L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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36 Sporen 37 Beinschienen 38 Degen25 für den Reiter 39 Handschuhe26 40 Seidenhut27 41 große eiserne Ringe28 42 Schlüssel 43 Querbalken für die Tür 44 Türriegel 45 Schlossnagel29 46 Kohl 47 Spülbecken30 48 Kessel für die Köche 31 49 Kette 50 Holz 51 Latten 52 Axt32 53 Haue33 für den Zimmermann 54 Säge 55 Bohrer34 56 Mörser 57 Stößel 58 Waage für den Apotheker 59 Dosen35 60 Säckchen36 61 Wolle

25 mlat. spata: ‚Schwert, Degen‘; ital. spada, ‚Degen‘. 26 nlat. chirotheca: ‚Handschuh‘. 27 paleus, palleus: ‚aus Seide‘; lat. pallium, ital. palio, ‚Fahne, Standarte‘; vgl. den Palio zu Siena. Eventuell auch ital. cappello di paglia, ‚Strohhut‘. 28 lat. anello: ‚Ring‘; avelli (M): vgl. ital. avello, venet. avèl (lat. labellum): ‚kleine Wanne, Becken‘. 29 clavus: ital. chiavo, ‚Nagel‘; hier ‚Schließbolzen, Schlossnagel‘. 30 concha: ‚Muschel‘; ‚Schale, Becken, Wanne, Waschbecken‘; ital. conca, ‚Spülnapf‘. 31 An der Kette konnten die Töpfe höher oder niedriger über die offene Feuerstelle gehängt werden. 32 ascia: ‚Zimmeraxt‘. 33 dolabra: ‚Haue‘ mit langem Stil, ‚Picke‘. 34 terebellum: ‚Bohrer‘. 35 ital. scatola: ‚Schachtel, Dose‘ (vgl. dt. Schatulle); lat. statera (L), ebenfalls eine ‚Waage‘. 36 folliculus: ‚kleiner lederner Sack‘; ital. follicello, ‚Säckchen‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

62 scartacie 63 pectines ferrei pro lanario 64 falde 65 66 funes 67 tela 68 tascha pro merzario 69 bursa 70 vagine 71 vestis lacerata 72 cauda bouina 73 barba de ipsa pro †mastonaco† 74 mascara 75 cornua [78rb] 76 rethe 77 pisces 78 cista pro piscatore 79 plumbium 80 carnerium 81 fusti 82 sella 83 strafilia pro equo 84 cussinellum 85 habena

3 falde] manipuli lanei  L 4 ] piselli  M; molinellus  L 7 tascha] tasca  L 7 merzario] marsario  L 9 vagine] vagina  L 12 mastonaco] hab.  M; mascara L 13 mascara] mastrora M 18 plumbium] carbon L 19 carnerium] merum L 20 fusti] legend. fusci M, L 22 strafilia] staphilia L 24 habena] valisium L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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62 Wollkratzen37 63 eiserne Kämme für den Wollschläger 64 Wollbündel38 65 Spindeln39 66 Seile 67 Leinwand 68 Sack40 für den Kleinhändler41 69 Geldtasche 70 Hüllen 71 zerrissenes Gewand 72 Ochsenschwanz 73 Bart aus demselben42 für den Maskenhändler43 74 Maske 75 Hörner [78rb] 76 Netz 77 Fische 78 Kiste für den Fischer 79 Blei 80 Fleischhaken44 81 Rute45 82 Sattel 83 Steigbügel46 für das Pferd 84 Polster47 85 Zügel

37 scartacie: vgl. ital. scardasso, Holzwerkzeug mit rauher Auflage, das zum Kardieren oder Kämmen (scardassare) der Wolle verwendet wird (dt. ‚Krempel‘). 38 ital. falda di lana: ‚gekämmtes Wollbündel‘, das versponnen werden kann; manipuli lanei (L): ‚Wollbündel, -büschel, Wollflocken‘. 39 fusello: fuso, ‚Spindel, Haspel‘; molinellus (L): ital. mulinello, ‚Haspel, Winde‘ für Wollgarn; piselli (M): ital. pisello, peso, lat. pisum, ‚Erbse‘; vgl. lat. pensum, pisum, ital. peso, ‚bestimmte Masse an zugewogener Wolle‘. 40 tasca oder taschia: ‚Beutel, Sack, (Hosen-)Tasche‘. 41 ital. merciaio: ‚umherziehender Krämer, Händler‘. 42 de ipsa, i.  e. cauda bovina. 43 mastonaco (mascara): vgl. ital. mascheraio, ‚Hersteller und Verkäufer von Masken‘. 44 carnerium: ‚Fleischhaken, Gaff‘; carnerium, ‚Geldbeutel‘ bzw. ‚Beinhaus‘ hier nicht gemeint. 45 fustis: ‚Stab, Rute‘, hier Reitgerte. 46 strafilia: vgl. stafa und staphium, auch strafium, ‚Steigbügel‘. 47 cussinellum: ital. cussinelo, primacciuolo, piumacciuolo, lat. pulvinar, hier ‚Polster’ (Satteldecke).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

86 vua 87 poma 88 zizula pro penestico 89 angurie 90 melones 91 sciope 92 circuli 93 doue pro †marstallario† 94 fundus 95 calgola 96 brache 97 cristere 98 vrinale pro infirmo 99 zuccarum 100 manus Christi

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Nota, quod tu debes scire ita bene menti loca quoad substanciam, numerum, ordinem et nomina rerum in eis positarum, quod non sit tibi maior difficultas in eis procedere ordine retrogrado quam antegrado. Ymmo debent ita bene sciri, quod nullus sit labor incipere a quocumque volueris. Item ordinem, quem seruasti fingendo 20

3 zizula] zinzula L 3 penestico] venditrice L 4 angurie] augurie M 5 melones] cucurbite L 6 sciope] stroppe M 8 doue] doge L 8 marstallario] maselario L 9 fundus] fondus L 10 calgola] caiola L 11 brache] vrinale L 12 cristere] clistere  L 13 vrinale] zangula  L 13 infirmo] inferno  M 14 zuccarum] ructarum M; cirogonia cum aqua. L 15 manus christi] panis zuccari L 17 rerum in eis positarum] in eis posita L 19 antegrado] anteirendo ut vid. L 19 Ymmo] yma M 20 fingendo] fingendi M 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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86 Weintraube 87 Baumfrüchte 88 Brustbeere48 für den Höker49 89 Packwagen50 90 Melonen 91 Flachs51 92 Reifen52 93 Dauben53 für den †Hufschmied†54 94 (Fass-)Boden55 95 Nagel56 96 Kohlenglut57 97 Klistier58 98 Urinal59 für den Kranken 60 99 Zucker 100 Hand Christi61 Merke, dass du die Örter im Geiste62 derartig gut kennen musst hinsichtlich Qualität, Zahl, Ordnung und Namen der in sie gesetzten Dinge, dass es für dich keine größere Schwierigkeit darstellt, sich in ihrer Ordnung zurück- als voranzubewegen. Ja sie müssen vielmehr so gut beherrscht werden, dass es keine Mühe bereitet, an jedem beliebigen Punkt zu beginnen. Ebenso musst du die Ordnung

48 zizula: eine Steinfrucht, die Jujube (vgl. ital. zizola, giuggiola). 49 penesticus: ‚Unterverkäufer, Standhändler‘. 50 anguria: angaria, ‚Packwagen‘; hier wohl nicht angurius, m. ‚Wassermelone‘. 51 sciope: vgl. ital. stoppa, ‚Werg‘ (wird zum Abdichten des Zapflochs benötigt). 52 circulum: ital. cerco, cerchio, ‚Reif’. 53 lat., ital. doga; mlat. dova; pl. dogae, dove, doghe, ‚Fassdauben’. 54 mlat. mariscallare: ‚Pferde beschlagen‘; vgl. ital. mariscalco, manescalco, ‚Hufschmied‘; maselario (L): ital. masselare, ‚Eisen vorarbeiten, walzen‘; mazzelare, ‚mit dem Schlaghammer bearbeiten‘. Gewöhnliche Bezeichnungen für den Böttcher, Fassbinder sind im Lat./Mlat. cerclarius, buttarius, cuparius, im Ital. cerchiatore, bottaio, barilaio. 55 ital. fondi, pl.: ‚Boden‘ u. ‚Deckel‘ der Fässer. 56 calgola: vgl. calgiola, vielleicht ein Nagel (aus Holz oder Eisen); caiola (L): vgl. mlat. ca(g) iolum, ‚kleines Haus‘. 57 ital. brace: ‚Kohlenglut‘; vgl. lat. braca, pl. bracae; ital. brache, ‚Hosen‘. 58 cristere: regionale Variante für clistere. 59 lat. urinale, ital. orinale, mediz. ‚Uringlas‘; auch ‚Nachttopf‘; zangula (L): Verschreibung für sanicula, ‚Sanickel‘ (eines der besten Wundkräuter)? 60 cirogonia (L): ungeklärt. 61 panis zuccari (L): ‚Zuckerbrot‘. 62 menti: vulg. Abl. Sing.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

loca, siue fixeris ascendo siue descendendo siue anteriorando siue posteriorando siue dextrando siue sinistrando. Servare debes in adiscendo et locando, ne titubes propter ordinis varietatem. Primus ergo locus semper debet esse primus et secundus secundus et sic de alijs. Etsi primus sit sinister, primus cuiuslibet quinti debet eciam 5 esse sinister et sic de alijs.

Rhetorica ad Herennium, III, XVII, 30

De respectione ad ymagines Nota, quod loca debent esse inmobilia et ymagines mobiles. Sunt enim loca sicut cera et ymagines sicut litterarum figure. Sicut enim cera manet et littere delentur ex ea, et sic loca debent esse firma, ymagines rerum possunt ammoveri et alie denuo poni. Item non debent esse plura locata in vno loco quam in alio et per consequens nec plures ymagines, [78va] ne ex inordinacione memoria paciatur defectum. Si ergo locaueris tantum vnum in primo loco, loca vnum in secundo loco et sic deinceps. Si duo loca duo, si tria tria, si quattuor quattuor, si quinque quinque, ne locandorum materia te cogeret ad minus uel ad maius in vltimo loco. Sed non transeas numerum quinarium in locando in eodem loco. Si ergo locaueris tantum vnum per locum, omnis fere locus erit tibi bonus secundum exigenciam locandi, tamen scilicet vna fenestra, vnus angulus, vna scala et sic de alijs. Et si vis locare plura, tunc debet esse in vnoquoque loco vnus discus uel tabula longitudinis septem cubitorum et latitudinis trium uel circa cum bancis. Et si vis locare duo per locum, potes ponere vnum in vno capite disci. Alterum est in alio versus secundum locum et sic usque in finem. Si vis locare tria, potes ponere primum locandum in principio disci, secundum in medio et tercium in fine versus sequentem locum. Si vis locare quat­

3 titubes] titues ut vid. M 3 propter] per L 4 secundus secundus] secundus debet esse secundus et tercius tercius L 5 debet] om. L 6 esse] om. L 7 De respectione ad ymagines] om. L 9 Sicut enim] et velud L 11 ymagines] ymagines uero L 11 denuo] de nouo L 13 paciatur] legend. patiatur 14 loca vnum in secundo loco] eciam in secundo loco L 15–16 Si duo… quinque quinque] Si uero duo locaueris in primo loco loca et in secundo duo et sic intellige de alijs similibus multiplicando ut vid. L 16 locandorum] om. L 16 materia] memoria L 17–18 Sed non… in eodem loco] om. L 18 ergo] uero L 20 tamen] tantum L 21 Et si] Sed L 23 bancis] banchis L 24 est] om. L 24 in alio] in add. sup. lin. M 25 versus] vsque L 26 principio] primo L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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kennen, die du für die Bildung der Örter beobachtet hast, sei es, dass du sie aufoder absteigend festgelegt hast, nach vorne oder hinten gehend, nach rechts oder links fortschreitend. Achtgeben musst du im Lernen und Lozieren, dass du nicht unsicher bist durch eine wechselnde Ordnung. Der erste Ort also muss immer der erste sein, der zweite Ort der zweite und so weiter. Wenn der erste Ort links ist, muss auch der erste jeder beliebigen Fünfergruppe links sein und so weiter. Über die Beachtung der Bilder Merke, dass die Örter unbeweglich und die Bilder beweglich sein sollen. Es sind nämlich die Örter wie Wachs und die Bilder wie die Gestalt von Buchstaben. So wie nämlich das Wachs bleibt und die Buchstaben aus ihm getilgt werden, so müssen auch die Örter dauerhaft bleiben, während die Bilder der Dinge entfernt und andere wieder gesetzt werden können. Ebenso darf nicht mehr in einem Ort loziert sein als in einem anderen und folgerichtig auch nicht mehr Bilder, [78va] damit das Gedächtnis nicht durch Unordnung Schaden nimmt. Wenn du also an den ersten Ort nur eins loziert hast, dann setzte je eins an den zweiten Ort und so weiter. Wenn zwei, dann loziere je zwei, wenn drei, loziere je drei, wenn vier, loziere je vier, wenn fünf, loziere je fünf, damit der Stoff dessen, was zu lozieren ist, dich im letzten Ort nicht zu weniger oder mehr zwingt. Aber du sollst beim Lozieren am selben Ort nicht die Fünfzahl überschreiten. Wenn du also nur eins loziert hast pro Ort, wird für dich fast jeder Ort gut sein, gemäß den Bedürfnissen des Lozierens, nämlich ein Fenster, eine Zimmerecke, eine Treppe und so weiter. Wenn du mehr lozieren willst, dann muss an jedem einzelnen Ort ein Tisch oder eine Tafel sein, an Länge sieben Ellen und an Breite drei oder ringsum mit Bänken. Wenn du pro Ort zwei lozieren willst, kannst du eins an das Kopfende des Tisches setzen. Das andere ist am anderen Ende, zu dem zweiten Ort hin, und so weiter bis zum Ende. Wenn du drei lozieren willst, kannst du das erste, das zu lozieren ist, an den Anfang des Tisches setzen, das zweite in die Mitte und das

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

uor, potes ponere primum in principio, secundum ad medium in pte longiori a te, tercium in alia parte versus te et quartum in fine. Si autem locare vis quinque, pone primum in primo angulo tabule, secundum in secundo versus te, tercium in medio, quartum in tercio angulo et quintum in quarto versus te. Isti enim ordines 5 sunt seruandi, ut fantasia solida maneat ordine fixo manente. Et hec omnia patent in sequentibus figuris.

Posset eciam quis locare per ascensum uel per descensum ponendo ymagines et eciam loca secundum sub et supra, sed tunc loca sic ordinata non debent extendere numerum ternarium, ne memoria- 10 tur nimium in ascensu uel descensu. Et possunt formari sicut patet in sequentibus figuris. [78vb]

De comparacione locorum ad locum Considerandum, quod loca debent esse numerata usque ad viginti quinque per ymagines in locis positas. Et in vicesimo quinto loco 15 debet esse aliquid, per quod recorderis primum locum aliorum viginti quinque seorsum a primis positorum. Verbi gracia si ultima ymago primi loci est ‚dataʻ et prima secundi loci est ‚sanguisʻ, tunc numerabitur primus locus cum secundo, si ymaginemur illam datam esse cruentatam. Si in tercio loco sint rane, in quarto 20

1 potes ponere] pone  L 2 a te] om.  L 2 versus] vsque  L 4 versus] usque L 5 quarto] quinto M 5 versus] vsque L 6 manente] om. L 8 eciam] autem L 10 debent] deberent L 10 extendere] excedere L 10–11 ne memoriatur… descensu] ne memoria nimium turbetur in descensu uel ascensu L 13 De comparacione… locum] om. L 14 Considerandum] NOta L 14 numerata] numerata adinuicem  L 15 loco] om.  L 16 per quod] om.  L 18 data… loci est] om. L 20 sint] add. sup. lin. M 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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dritte ans Ende zum folgenden Ort hin. Wenn du vier lozieren willst, kannst du das erste an den Anfang setzen, das zweite in die Mitte auf der gegenüberliegenden Seite von dir, das dritte auf der anderen Seite zu dir hin und das vierte an das Ende. Wenn du aber fünf lozieren willst, setze das erste in die erste Ecke der Tafel, das zweite in die zweite dir gegenüber, das dritte in die Mitte, das vierte in die dritte Ecke und das fünfte in die vierte dir gegenüber. Diese Ordnungen müssen denn bewahrt werden, damit die Vorstellungskraft dauerhaft bleibt durch eine feste, bleibende Ordnung. Dies alles wird illustriert in den folgenden Abbildungen.

Es könnte auch jemand die Bilder lozieren, indem er sie aufsteigend oder absteigend setzt und auch die Örter vertikal ausrichtet, aber dann dürfen die so angeordneten Örter nicht die Dreizahl überschreiten, damit nicht zu viel aufsteigend oder absteigend memoriert wird. Die Örter können gebildet werden, wie es in den folgenden Abbildungen illustriert ist ist. [78vb]

Über die Bereitung63 der Örter bezüglich ihrer selbst Es ist zu beachten, dass die Örter bis zu fünfundzwanzig nummeriert werden müssen, indem Bilder in die Örter gesetzt werden. Am fünfundzwanzigsten Ort muss irgendetwas sein, durch das du dich an den ersten Ort der nächsten fünfundzwanzig erinnertest, die abgesondert von den ersten gesetzt sind. Wenn zum Beispiel das letzte Bild des ersten Ortes ‚Steuer‘64 ist, und das erste Bild des zweiten Ortes ist ‚Blut‘, dann wird der erste Ort mit dem zweiten verbunden werden, wenn wir uns vorstellten, dass jene Steuer blutbefleckt sei. Wenn

63 comparacio: eigtl. ‚Beschaffung, Anschaffung, Bereitung‘. 64 data hier als f. sg.: ‚Abgabe, Zahlung, Steuer‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

columbe, in quinto vvlpes, tunc notetur secundus cum tercio, si ymaginemur, quod ille sanguis sit in vna fiola cum vna rana intus cantante. Tercius vnietur quarto, si rane cogitentur esse in concha, vbi bibat columbus. Sed quartus iungetur quinto, si cogites columbos esse in cista clausa, quam vvlpis querit intrare, et sic intellige 5 de alijs per ordinem. Talis neruacio fit, ne memoria vacillet, dum currit de loco in locum et de ymagine in ymaginem memorando locata.

De comparacione locorum ad memorabilia Alia eciam loca sunt paranda pro gramatica addiscenda, alia 10 sunt pro originalibus sanctorum et sic de alijs. Non enim debet misceri vna materia recolendorum cum alia, sic enim memoria vacillaret in tali mixtura et debitus ordo decideret. Si ergo discere vis gramaticam, debes accipere vnam domum uel duas uel tres uel quattuor, in quarum qualibet habebis ad minus centum loca 15 parata ut dictum est supra, ita quod prima domus sit pro orthographia, secunda pro prosodya, tercia pro ethimoloya, quarta pro dyasinthetica. Et iste domus intitulabuntur ‚grammaticaʻ et vnaqueque per se vocabitur nomine illius rei, que locatur in ea. Et sic intellige de alijs. 20 Iste sequentes figure signant usque ad decem.

1 columbe] columbi L 1 notetur] om. L 2 quod] om. L 2 fiola] fiala L 2 vna rana] rana  L 3 vnietur] iungetur  L 3 esse] om.  L 4 bibat] bat  M 5 quam] quam quam  L 5 vvlpis] vvlpes  L 6 neruacio] fort. anagramma significans numeracio, si signo abbr. sup. lin. bis utuntur M et L 6 fit, ne] fio ne M 7 de] om.  L 9 De comparacione… memorabilia] om.  L 10 Alia eciam loca] Nota quod alia loca  L 12 materia] memoria  L 12 cum alia] cum alijs uel altera  L 13 in tali] et in tali  L 15 uel quattuor] om.  L 16–18 prima domus… dyasinthetica] vna domus erit pro orthographia, secunda pro diasinthetica, tercia pro ethymologia, quarta pro prosodia L 19 per se] om. L 19 vocabitur] vocabunt M 21 Iste sequentes… decem] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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im dritten Ort Frösche wären, im vierten Tauben, im fünften ein Fuchs, dann könnte der zweite Ort zusammen mit dem dritten angeführt werden, wenn wir uns vorstellten, dass jenes Blut in einer kleinen Schale wäre mitsamt einem darin quakenden Frosch. Der dritte Ort wird mit dem vierten verbunden werden, wenn die Frösche in einer Muschelschale gedacht würden, wo eine Taube tränke. Der vierte aber wird mit dem fünften verbunden werden, wenn du dir vorstelltest, dass Tauben in einer verschlossenen Kiste seien, in die ein Fuchs einzudringen sucht, und so begreife die anderen der Reihe nach. Eine solche Zählung wird eingerichtet, damit das Gedächtnis nicht wankt, während es von Ort zu Ort eilt und von Bild zu Bild, um das Lozierte zu erinnern. Über die Bereitung der Örter für das Erinnerungswürdige Andere Örter sind auch vorzubereiten für das Erlernen der Grammatik und für die Werke der Heiligen und so weiter. Denn es darf nicht ein Erinnerungsstoff mit dem anderen vermischt werden, so würde denn das Gedächtnis in einer solchen Mischung wanken, und die erforderliche Ordnung scheiterte. Wenn du also die Grammatik lernen willst, musst du ein Haus nehmen oder zwei oder drei oder vier und in jedem von diesen wirst du mindestens hundert Örter haben. Bereite dies, wie es oben beschrieben wurde, so dass das erste Haus für die Orthographie stünde, das zweite für die Prosodie, das dritte für die Etymologie, das vierte für die Diasynthetik.65 Diese Häuser werden ‚Grammatik‘ betitelt werden und ein jedes wird für sich benannt werden mit dem Namen jenes Inhalts, der in das Haus gesetzt wird. So denke dir auch die anderen Fälle. Die folgenden Abbildungen bezeichnen eine Reihe bis zu zehn.

65 diasynthetica: ein Teilgebiet hoch- und spätscholastischer Grammatiken, das einen Schwerpunkt der Lehre bei Vertretern der spekulativen Grammatik darstellte. Diese wurde um 1270–1320 an der Universität Paris, auch in Bologna und Erfurt gelehrt und stand in enger Beziehung zur zeitgenössischen Metaphysik und Logik. Die Diasynthetik befasst sich mit dem Sprachaufbau und der Vereinigung sprachlicher Elemente.

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Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, 35, 1

Aristoteles, Peri hermeneias, 16a2–9

 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

Diffinicio ymaginis Secundum sanctum Thomam ymago est similitudo rei secundum speciem expressa de illa. Dicitur autem ‚similitudoʻ loce generalis, quia omnis ymago est similitudo, et non e converso. Dicitur ‚expressa de illaʻ, quia ouum, quamuis sit simile alteri ouo, non 5 tamen est eius ymago, nisi esset ligneum uel alterius materie. Dicitur autem ‚secundum speciemʻ, quia quamquam pediculus nascatur ex homine et sit similis secundum genus, non tamen est ymago, quia non est similis ei secundum speciem. Sed nota, quod in hac arte non capitur ita stricte [79ra] ymago, sed accipitur pro 10 qualibet similitudine representatiua. De ymagine perfecta Duplex est ymago scilicet perfecta et inperfecta. Perfecta est illa, que est in toto similis, sicut filius dei est ymago perfectissima patris et Petrus est ymago perfecta sui patris. Nota eciam, quod esse in 15 toto simile potest intelligi tripliciter. Primo voce et re sicut, si pro Petro poneretur idem Petrus uel alius, tunc positus ad locum ymaginarie esset ymago Petri recolendi. Secundo modo voce tantum, ut si ponatur rana in loco pro recordacione solius vocis, et hoc modo in hac arte dicitur ymago esse ‚in toto similis ut plurimumʻ. Tercio 20 modo re et non voce, ut si filius Petri, qui esset similimus patri, poneretur ad locum pro recordacione patris, qui tamen filius vocaretur Martinus.

1 Diffinicio ymaginis] om.  L 2 sanctum] om.  L 3 illa] alia  L 3 loce] loco  L 5 expressa] autem expressa  L 5 quia] quia licet  L 5 quamuis] om.  L 7 autem] eciam  L 7 quamquam] quamuis  L 12 De ymagine perfecta] om.  L 16 simile] similis  L 16 potest intelligi] potest esse  L 16 si] om. L 17 poneretur] ponetur L 17 Petrus] Petrus in loco L 17 positus] Petrus positus L 18 esset] est L 19 rana in loco] rana solum L 19 pro recordacione] recordacione M 20 dicitur] debet L 20 in toto] om. L 21 similimus] similis L 22 pro recordacione] ad recordacionem L 22 patris] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Definition des Bildes Dem Heiligen Thomas folgend ist ein Bild die Ähnlichkeit eines Dings, die durch sich selbst66 gemäß der Art ausgedrückt wird.  Man sagt aber ‚Ähnlichkeit‘ für einen generellen Ort,67 weil jedes Bild eine Ähnlichkeit ist, aber nicht umgekehrt. ‚Durch sich selbst ausgedrückt‘ heißt es, weil ein Ei, obgleich es einem zweiten Ei ähnlich ist, doch nicht dessen Abbild ist, wenn es nicht aus Holz oder aus einem anderen Stoff wäre. Es heißt dagegen ‚gemäß der Art‘, weil eine Laus, mag sie auch vom Menschen herrühren68 und ihm gemäß der Gattung ähnlich sein, doch nicht sein Abbild ist, da sie ihm nicht gemäß der Art ähnlich ist. Aber merke, dass in dieser Kunst der Bildbegriff nicht so eng gefasst wird, [79ra] sondern er wird bei einer jeden beliebigen repräsentativen Ähnlichkeit zugelassen. Über das vollkommene Bild Das Bild ist zweifach, nämlich vollkommen und unvollkommen. Vollkommen ist jenes Bild, das im Ganzen ähnlich ist, wie zum Beispiel der Sohn Gottes das vollkommenste Bild des Vaters ist und Petrus das vollkommene Bild seines Vaters. Merke auch, dass die im Ganzen vorhandene Ähnlichkeit auf dreifache Weise verstanden werden kann. Erstens nach dem sprachlichen Ausdruck und dem Inhalt, wie wenn für Petrus derselbe Petrus oder ein anderer eingesetzt würde, der dann gesetzt an den Ort sinnbildlich das Bild Petrusʼ wäre, dessen man sich erinnern soll. Zweitens lediglich nach dem sprachlichen Ausdruck, wie wenn ein Frosch in den Ort gesetzt würde zur Erinnerung allein an den sprachlichen Ausdruck, und auf diese Weise sagt man in dieser Kunst, das Bild sei ‚im Ganzen weitgehend ähnlich‘. Drittens nach dem Inhalt und nicht nach dem sprachlichen Ausdruck, wie wenn der Sohn des Petrus, der dem Vater sehr ähnlich wäre, an den Ort gesetzt würde zur Erinnerung an den Vater, obgleich der Sohn Martin hieße.

66 de illa: hier instrumental verstanden. 67 loce: Gen. von loca. 68 nach mal. Auffassung ein Insekt, das durch Urzeugung aus unbelebtem Material, aus Schweiß oder Körperporen entsteht.

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Porphyrius, Isagoge, 6b

 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De ymagine inperfecta Imago inperfecta est illa, que est partim similis et partim dissimilis uel in toto dissimilis, quantum ad denominacionem. Tamen est ibi aliqua similitudo, a qua res non est apta denominari talis. Exemplum, ut si ponatur in loco tuo ethyops, qui habet dentes albos 5 pro recordacione ‚albiʻ. Nota eciam, quod in ymagine partim simili et partim dissimili attenditur ali quando solummodo similitudo in vna, aliquando in pluribus. Vnde aliquando est similitudo in prima silaba, aliquando in secunda, aliquando in tercia et sic de alijs. Quandoque in duabus, interdum in tribus, aliquando littera 10 tantum, ut patet in istis exemplis: ‚romaʻ et ‚ramusʻ ‚caputʻ et ‚capoʻ ‚columbusʻ et ‚lumbusʻ ‚ceraʻ et ‚cerealisʻ ‚honorabilisʻ et ‚honoraʻ, et sic est eciam ex parte rei.[79rb] De quadruplici modo formandi ymagines Possunt autem ymagines formari quattuor modis. Primo per trans- 15 sumpcionem, ut si ponatur pro deo homo tenens ymaginem mundi in manu, pro mansuetudine agnus, pro fortitudine leo et pro luxuria porcus. Et sic vna res potest sum[m]i pro multis ymaginibus in diuersis locis secundum diuersas proprietates eius. Alio modo potest formari ymago per gestus, vt si ponatur portans barilotum 20 ad latus uel bibens cum eo pro Ioseph, mulier lactans filium pro beata virgine et homo retro inclinans caput ad pedes pro matta et homo masticans vitra pro fatuo. Alio modo potest formari per scripturam, ut si scribens ponatur pro notario, si eciam scriptura facta litteris magnis in carta, lapide, ligno uel metallo, ponatur pro eo, a 25 quo uel eius nomine facta est. Quarto modo potest formari ymago

1 De ymagine inperfecta] om.  L 5 ponatur] ponas  L 10 Quandoque] Quinque  M 10–11 interdum… tantum] aliquando in tribus aliquando in littera tantum L 11 ut patet] ut libet M 12 honora] honorat L 14 De quadruplici… ymagines] om.  L 15 Possunt… modis] Nota quod ymagines possunt formari quattuor modis 20 per] secundum  L 20 portans] om.  L 21 lactans] p. corr.  L 22 matta] matat  M 23 vitra] vitrum  L 24 notario] narracio ut vid. L 26 est] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über das unvollkommene Bild Das unvollkommene Bild ist jenes, welches teils ähnlich und teils unähnlich ist oder im Ganzen unähnlich, soweit es seine Benennung betrifft. Gleichwohl liegt dort irgendeine Ähnlichkeit vor, nach der jedoch ein solcher Inhalt nicht passend benannt werden kann. Ein Beispiel, wie wenn an deinen Ort ein Äthiopier gesetzt würde, der weiße Zähne hat zur Erinnerung an ‚weiß‘.  Merke auch, dass bei einem Bild, das teils ähnlich und teils unähnlich ist, einmal nur achtgegeben wird auf die Ähnlichkeit in einer Hinsicht, einmal in verschiedener Hinsicht. So liegt einmal die Ähnlichkeit in der ersten Silbe, einmal in der zweiten, einmal in der dritten und so weiter. Dann und wann in zwei, manchmal in drei, einmal nur in einem Buchstaben, wie es in diesen Beispielen zu sehen ist: roma und ramus, caput und capo, columbus und lumbus, cera und cerealis, honorabilis und honora, und so ist es auch hinsichtlich des Inhalts. [79rb] Über die vierfache Weise der Bildgestaltung Die Bilder aber können auf vier Weisen gestaltet werden. Zuerst mittels Übertragung,69 wie wenn für Gott ein Mensch gesetzt würde, der ein Abbild der Welt in der Hand hielte, für Sanftmut ein Lamm, für Stärke ein Löwe und für Ausschweifung ein Schwein. So kann ein Ding für viele Bilder in verschiedenen Örtern verwendet werden, gemäß ihrer verschiedenen Eigenschaften. Auf andere Weise kann ein Bild gestaltet werden mittels Handlungen, wie wenn eine Person für Joseph gesetzt würde, die ein verziertes Gewand70 am Körper trägt oder mit ihm angekleidet trinkt, weiter eine ihren Sohn stillende Frau für die Selige Jungfrau, ein Mensch, der seinen Kopf nach hinten zu den Füßen beugt,71 für eine Närrin72 und ein Mensch, der Glas kaut, für einen Narren. Auf wieder andere Weise kann ein Bild gestaltet werden mittels einer Schrift, wie wenn ein Schreibender gesetzt würde für den Gerichtsschreiber, und wenn die Schrift dann auch noch aus großen Buchstaben bestünde und man sie auf Papier, Stein, Holz oder Metall setzte, für den, von dem oder in dessen Namen das Schriftstück angefertigt wurde. Auf eine

69 transsumpcio: Übersetzung des griech. μετάληψις: ‚Veränderung, Vertauschung, Übertragung‘. 70 barilottus: ‚verziertes Gewand‘. 71 Pose ist unklar. Kunststück eines Gauklers? 72 mattus, adj. ‚trunken, verrückt‘; ital. matto, adj. ‚verrückt, wahnsinnig‘; matto, subst.‚Narr‘; matta, ‚Närrin‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

per loquelam, vt si ponatur pro ‚oziaʻ vnus assuetus dicere ‚oziʻ, pro ‚hodieʻ ‚iaʻ, quod est sic verbum teutonicum. Et pro ‚furcaʻ vnus, qui sepius dicat ‚vade ad furcamʻ , per accentumque per ‚thamosʻ ‚hamosʻ et sic de alijs. Ad hoc autem prodest scire et notare omne linguagium, quia potest ponere vnum dicentem vnam rem pro illa 5 re in loco tuo quando vis memorari.

De modo faciendi ymagines per addicionem Nota, quod ymagines parum similes ex parte diccionis possunt fieri magis et aliquando in toto similes quattuor modis. Primo per addicionem, ut Allexander et Abraham sunt dicciones similes in prima silaba. Sed tunc Allexander efficietur ymago uel similitudo magis similis huic diccioni Abraham, si ponatur in capite rei significate per Allexander bracha, sic enim habebis ‚Allexander bracha‘ modo per subtraccionem de Allexander  – a prima diccione  – remouet [remouet] ‚aʻ et per subtraccionem de ‚caʻ – a secunda diccione – manet ‚braʻ, ex quibus ‚aʻ et ‚braʻ conponitur Abraham in accione. Quomodo autem fiat talis subtraccio, patebit in suo loco. Item ‚copaʻ et ‚iacopusʻ sic se habent, quod prima sillaba prime diccionis est similis secunde silabe secunde diccionis. Sed effi cietur prima diccio magis similis secunde, si rei significate per secundam ponatur copa plena vino ad os. Sic enim totum erit ‚iacopusʻ, ‚copaʻ modo per subtraccionem de ‚copusʻ  – a prima diccione – et de ‚aʻ – a secunda –, [79va] per composicionem restancius fiet ‚iacopʻ, quo memorari volebas. Item ‚cereʻ et ‚cerealeʻ conueniunt in primis silabis, sed prima efficietur in toto similis

1 ozia] osia  M 1 assuetus] assuetus est  L 1–2 pro hodie [pro] ia] pro Iohanne Io  L 2 verbum teutonicum] sic vnus theuthonicus  M 3 qui sepius dicat] sepius est dicere  L 3–4 per accentumque… hamos] om.  L 5 linguagium] liguagium  L 5 potest] om.  L 6 tuo] om.  L 7 De modo… addicionem] om.  L 9 magis] om.  L 9 in toto] in totum  L 11 Sed] dub.; sed tunc  L - 11 efficietur] efficitur  L 12 similis] simili  M 12 ponatur] ponat  L 13 Allexander] Alexandrum  L 13 enim] om.  L 13 habebis] dub. 15 remouet] remanet L 15 de ca] om. L 16 conponitur] conponi L 22 diccione] om. L 23 restancius] prestancius 24 cereale] cerale M 25 prima] primo M 

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vierte Weise kann das Bild mittels einer Äußerung gestaltet werden, wie wenn eine Person gesetzt würde, die gewöhnlich ‚ozi‘ sagt für ‚Muße‘ (ozia) und ‚ia‘ für ‚heute‘ (hodie), was somit ein deutsches Wort ist. Statt ‚Galgen‘73 eine Person, die recht häufig sagt: ‚Scher dich zum Galgen‘, mittels Aussprache von ‚thamos‘ zu ‚hamos‘ und so weiter. Zu diesem Zweck aber nützt es, jede Sprache zu verstehen und aufzuzeichnen, weil man eine Person an deinen Ort setzen kann, die einen anderen Begriff für jene Sache sagt, wenn du dich erinnern willst. Über die Bildgestaltung mittels der additio74 Merke, dass Bilder, die nicht sehr ähnlich sind, hinsichtlich des Ausdrucks ähnlicher und bisweilen gänzlich ähnlich werden können, und zwar auf vier Weisen. Zuerst durch die additio, wie Alexander und Abraham in ihrer ersten Silbe ähnliche Wörter sind. Aber dann wird Alexander als Bild oder Ähnlichkeit erzeugt, die diesem Wort Abraham ähnlicher ist, wenn an den Anfang der durch Alexander bezeichneten Sache eine Hose (bracha) gesetzt wird, so nämlich wirst du Alexander bracha haben allein mittels subtractio,75 indem man von Alexander – vom ersten Wort – das ‚a‘ entfernt und mittels subtractio von ‚ca‘ – vom zweiten Wort – ein ‚bra‘ bleibt, aus denen (‚a‘ und ‚bra‘) ein ‚Abraham‘ in Bewegung kombiniert wird. Wie aber eine solche subtractio geschieht, wird an gegebener Stelle gezeigt werden. Desgleichen verhalten sich copa und iacopus so, dass die erste Silbe des ersten Wortes ähnlich ist der zweiten Silbe des zweiten Wortes. Aber das erste Wort wird dem zweiten ähnlicher gemacht werden, wenn für den bezeichneten Inhalt mittels des zweiten Wortes ein Becher (copa)76 gesetzt würde, der bis zum Rand voll Wein ist. So wird denn das Ganze iacopus werden, copa allein mittels subtractio von copus – vom ersten Wort – und von ‚a‘ – vom zweiten Wort –, [79va] und mittels Zusammensetzung wird iacop besser verankert sein, an den du dich erinnern wolltest. Ebenso stimmen cere und cereale überein in den ersten Silben,

73 furca: zweizackige Gabel, in der Antike darüber hinaus Bezeichnung für ein gabelförmiges Joch oder ein Gabelkreuz, das zur Bestrafung von Sklaven diente, sowie für eine Art Galgen; hier in der Bedeutung ‚Galgen‘. 74 Bei Matthaeus als Äquivalent verwendet für die Änderungskategorie der adiectio. Änderungskategorien sind Operationen, nach denen sich die Unterschiede elokutionärer Phänomene einteilen lassen; nach Quintilian (Institutio oratoria I,5,6 und IX,3,27–57) bestehen sie hinsichtlich grammatischer Änderungen aus vier Kategorien (adiectio [Hinzufügung], detractio [Auslassung], immutatio [Vertauschung], transmutatio [Umstellung]), hinsichtlich rhetorischer Änderungen aus drei Kategorien (adiectio [Hinzufügung], detractio [Auslassung] und similitudo [Verbindung von Gleichklingendem bzw. Entgegengesetztem]). 75 subtractio: bei Matthaeus als Äquivalent verwendet für die Änderungskategorie der detractio. 76 copa, cuppa: ‚Wanne, Becher, Pokal‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

secunde, si rei significate per ‚ceraʻ uel ‚cereʻ, posite in loco tuo, addantur due ale, tunc enim habebitur ‚cerealeʻ. Et sic intellige de alijs per addicionem fiendis.

De modo faciendi ymagines per subtraccionem secundum placitum Subtraccio fit dupliciter ad placitum et secundum rem. Subtraccio ad placitum est, quando quis vult ab aliquo aliquid intelligi subtractum, quod tamen non remouetur ab eo. Secundum rem, ut cum volo, quod Allexander cum bracha in capite representet mihi solum Abraham, et sic intelligantur subtrahi omnia alia. Sic eciam Iacopus bibens cum copa designat ‚iacopʻ et sic de alijs. Et quod dico de subtraccione ad placitum, intellige de addicione. Et sic per addicionem et subtraccionem ad placitum ‚zuchaʻ potest significare ‚zugnaʻ, ‚lucernaʻ, ‚aneʻ ‚anoscoʻ et sic de alijs, et ut incidenter loquar. Aliquando ymago est materia ad placitum representans absque subtraccione et addicione, ut cum ponitur tuba pro bello, lapis pro termino, cultellus cruentatus pro homicida uel martirio. Aliquando est materia naturalis, ut quando ponitur causa pro effectu uel effectus proprius pro causa, ut quando ponitur fumus palee pro igne uel ignis pro fumo. Et cum ponitur spata uel equilibritas pro iusticia et cetera.

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De formacione ymaginum per subtraccionem secundum rem Subtraccio secundum rem est, quando a re posita in loco uel ymagine per fantasiam remouemus aliquid; per eius remocionem hoc idem intelligimus remoueri a diccione uel racione, quam 25 volumus memorari, ut, si subtrahatur principium rei, intelligatur

1 posite] posito  M 2 tunc] sic  L 2 cereale] cerale  M 2 de alijs] de alijs ymaginibus  L 4–5 De modo… placitum] om.  L 6 Subtraccio fit] Nota quod subtraccio fit  L 7 est] om.  L 8 Secundum rem] secundum  M 9 cum volo] quando volo L 9 cum bracha] cum Abraham L 10 eciam] om. L 11 designat] significat  L 14 zugna] zugne  L 14 lucerna] lucerna luye ut vid.  L 17 homicida] homicidio L 18 quando] cum L - 19 effectu] effectu suo L 19 quando] tali L 20 Et cum ponitur] bis L 20 equilibritas] equilibra L 21 iusticia et cetera] iusto et sic de alijs L 22 De formacione… rem] om. L 23 Subtraccio] Nota quod subtraccio L - 23 est] fit L 25 intelligimus] dub.; intelligius ut vid. L 

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aber die erste wird im Ganzen der zweiten ähnlich gemacht werden, wenn der bezeichnete Inhalt mittels cera oder cere, an deinen Ort gesetzt, zwei Flügel (ale) beigefügt werden, dann nämlich wird man cereale haben. So erfasse auch die anderen Fälle, die mittels additio erfolgen sollen. Über die Weise, Bilder zu entwerfen mittels subtractio nach Belieben Eine subtractio geschieht zweifach, nach Belieben und gemäß der Sache. Die subtractio nach Belieben ist, wenn sich jemand einen Teil von etwas [i.  e. einer Sache] wegdenkt, ohne dass es [tatsächlich] von diesem entfernt würde. Gemäß der Sache, wie [z.  B.] wenn ich will, dass Alexander mit einer Hose (bracha) auf dem Kopf mir nur Abraham vergegenwärtigte, und dadurch verstanden werden soll, dass [dem Begriff ‚Alexander‘] alles andere entzogen ist. So bezeichnet auch Jakob, der mit dem Becher (copa) trinkt, iacop und so weiter. Und das, was ich über die subtractio nach Belieben sage, gilt auch für die additio. So kann mittels additio und subtractio nach Belieben zucha ein zugna bezeichnen, lucerna, ane anosco und so weiter, um es nebenbei zu erwähnen. Einmal ist ein Bild ein Stoff, der etwas nach Belieben vergegenwärtigt ohne subtractio und additio, wie wenn eine Trompete für den Krieg gesetzt wird, ein Stein für die Grenze, ein blutiger Dolch für den  Mörder oder das  Martyrium. Einmal ist der Stoff natürlich, wie wenn die Ursache für die Wirkung gesetzt wird oder die gewöhnliche Wirkung für die Ursache, wie wenn rauchendes Stroh für Feuer gesetzt wird oder Feuer für Rauch. Auch wenn für die Gerechtigkeit ein Schwert gesetzt wird oder das Gleichgewicht einer Waage und so weiter. Über die Gestaltung von Bildern mittels subtractio gemäß der Sache Die subtractio gemäß der Sache ist, wenn wir von der in den Ort gesetzten Sache oder dem Bild durch unser Vorstellungsvermögen etwas entfernen; durch dessen Entfernung begreifen wir, dass dasselbe vom sprachlichen Ausdruck oder der Rede genommen wird, die wir memorieren wollen, damit, wenn der Anfang der

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

subtrahi principium diccionis, si medium medium, si finis finis. Et hoc subtractum potest esse naturale uel artificiale. Sed si sit res, a qua non possit proprie subtrahi, tunc subtraccio erit per apposicionem. Et si res est fluxibilis, ponetur in vase, et si minuta, ponatur in magna quantitate in sacco uel aliter. Et tunc, si circumponatur principium vasis, in quo res ponitur uel vestiatur uel frangatur, intelligam remoueri a diccione significante rem illam principium, et sic intellige de medio et fine. Et ut regula magis elucescat, pono exempla. Primo in hys, a quibus [79vb] potest fieri subtraccio. Verbi gracia si de hoc nomine ‚canisʻ vis habere solummodo ‚canʻ, cogita significatam esse scoriatam totam anteriore usque ad medium pro is… significabit is] Si habere vis is uel nis tantum cogita canem esse storiatum anterius vsque ad medium pro ‚isʻ, et parum minus excoriatus significabit ‚isʻ. Et si ymagineris tunc talem canem com[m]edere mel in scutella uel vase, per talem addicionem significabit ‚isʻ mel. Et si ad placitum intelligas ‚aʻ inter ‚mʻ et ‚elʻ, representabit ‚Ysmahelʻ, quod est nomen hebreum. Si de hoc nomine ‚Anthonius‘ vis habere ‚An‘, cogita ipsum Anthonium esse totum nudum preter caput. Si vis habere ‚Antho‘, cogita ipsum esse totum nudum ab vmbilico usque ad finem. Si vis habere ‚Anthoniʻ, pensa ipsum indutum tibijs et pedibus nudis, et ymagineris talem cum hasta in manu erit ‚Anthoniastaʻ, et si ad placitum mutetur ‚aʻ in ‚erʻ in fine, erit ‚Anthoniasterʻ. Isto modo Allexander nudus cum anteriori medietate brache in capite representat ‚Abraʻ et in accione ‚Abramʻ, et Iacobus nudus preter caput bibens cum copa inferius uel superius modicum fracta significet ‚Iacopʻ et sic de alijs.

2 Sed] om.  L 3 per apposicionem] apposicionem  M 4 fluxibilis] fluibilis M 4 si] si res L 4 ponatur] ponetur L 7 intelligam] intelligatur L 7 rem illam principium] illam rem primum  L 9 Primo] om.  L 10 solummodo] om. L 11 significatam] rem significatam L 11 anteriore… medium] posterius quasi mediam L 13–14 pro is… significabit is] Si habere vis is uel nis tantum cogita canem esse storiatum anterius vsque ad medium pro nis et parum minus scoriatum significabis is add. 16 is mel] ysmel L 17 el] l L 19 totum] om. L 20 nudum] nudum preter caput L 21 ipsum] ipsum esse L 21 et ymagineris] Et si ymagineris L 22 Anthoniasta] Anthonista L 23 er] r L 24 brache] et bracha L 26 modicum] modice L 26 significet] significat L 

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Sache entfernt würde, zu verstehen ist, dass der Anfang des Ausdrucks fehlt, ebenso der mittlere Teil und das Ende. Dieses Weggenommene kann natürlich oder künstlich sein. Aber wenn eine Sache vorläge, von der nichts ihr Eigentümliches entfernt werden kann, dann wird die subtractio mittels eines Zusatzes geschehen. Wenn die Sache flüssig ist, wird sie in ein Gefäß gesetzt werden, und wenn sie sehr klein ist, dann soll sie in großer Anzahl in einen Sack gesetzt werden oder auf andere Weise. Dann, wenn der Anfang des Gefäßes, in das die Sache gesetzt ist, umstellt oder umhüllt oder gebrochen würde, werde ich verstehen, dass der Anfang entfernt wird von dem Ausdruck, der jene Sache bezeichnet, und ebenso begreife die Mitte und das Ende. Damit die Regel klarer wird, gebe ich Beispiele. Zuerst für die Fälle, bei denen [79vb] eine subtractio geschehen kann. Wenn du zum Beispiel von diesem Wort canis nur allein ‚can‘ haben willst, denke dir, dass damit eine Hündin bezeichnet wurde, die von vorne bis zur Mitte ganz gehäutet ist, für ‚nis‘, und etwas weniger abgehäutet wird ‚is‘ anzeigen. Wenn du dir dann vorstelltest, dass diese so beschaffene Hündin Honig aus einer Schale oder einem Gefäß frisst, dann wird ‚is‘ mittels einer solchen Hinzufügung den Honig bezeichnen. Wenn du nach Belieben ‚a‘ zwischen ‚m‘ und ‚el‘ setztest, wird es ‚Ysmael‘ bedeuten, was ein hebräischer Name ist. Wenn du von diesem Namen ‚Anthonius‘ nur ‚An‘ haben willst, denke dir, dass Antonius selbst ganz nackt wäre mit Ausnahme des Kopfes. Wenn du ‚Antho‘ haben willst, denke dir, dass er selbst ganz nackt wäre vom Nabel bis zu den Füßen.77 Wenn du ‚Anthoni‘ haben willst, denke ihn dir bekleidet, mit bloßen Schienbeinen und Füßen, und wenn du dir ihn so beschaffen vorstelltest mit einem Speer in der Hand, wird es Anthoniasta lauten, und wenn das auslautende ‚a‘ willkürlich in ‚er‘ verwandelt würde, dann Anthoniaster. Auf diese Weise vergegenwärtigt ein nackter Alexander, mit der vorderen Hälfte der Hose auf dem Kopf, ‚Abra‘ und in Bewegung ‚Abram‘, und ein bis zum Kopf nackter Jakob, der mit einem Becher trinkt, welcher ein wenig oben und unten gebrochen ist, soll ‚Iacop‘ bezeichnen und so weiter.

77 in finem: eigtl. ‚bis zum Ende‘, hier dem Sinn nach wiedergegeben.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De formacione ymaginum per subtraccionem secundum apposicionem Si vis habere de hoc nomine ‚aquaʻ uel ‚vinumʻ, quorum res sunt fluxibiles, ultimam silabam per apposicionem, imple violam aqua uel vino. Et ymaginaris ipsam coopertam panno usque ad medium 5 a parte superiori, et si vis, primam cooperias inferius. Hoc idem intellige de rebus minutis ut sunt musca, formica, piper et sic de reliquis secundum numerum silabarum nominum suorum. De formacione ymaginum per transposicionem Sciendum, quod transposicio est triplex: quedam est litterarum tantum, quedam silabarum, quedam litterarum et silabarum simul. Et quelibet istarum est duplex, quedam est vnius littere uel silabe, quedam plurium. Sed que est plurium est vitanda, nisi materia cogeret uel paruitas ingenij a opposicione. Exemplum primi in vna littera, ut ‚parum‘: si ponatur ‚p‘, vbi est ‚a‘, et e qua fiat ‚aprum‘. Exemplum in pluribus ut ‚acham‘: si ponatur ‚c‘, vbi est primum ‚aʻ, et ‚zʻ, vbi est secundum, fiet ‚cazaʻ. Et sic ‚aprumʻ, quod est porcus, per transposicionem prime littere ad secundam ad placitum poterit esse ymago de ‚parum‘, in ‚casa‘ per transposicionem duarum litterarum de ‚archam‘. Exemplum de silaba vna, ut ‚pastu‘: si ponatur ‚stu‘, vbi stat ‚pa‘, et e qua fiat ‚stupa‘ et sic [80ra] ex ‚casaʻ fieret ‚sacaʻ. Exemplum in pluribus, ut ‚caspelumʻ: si ponatur ‚speʻ, vbi est ‚caʻ, et ‚caʻ, vbi est ‚lumʻ, et ‚lumʻ, vbi est ‚speʻ, fiet ‚speluncaʻ. Exemplum de bina littera et vna silaba, ut ‚romaʻ: si ponatur ‚mʻ, vbi est ‚aʻ, et ‚rʻ, vbi est ‚oʻ, et prima silaba, vbi est secunda, fieret ‚amorʻ. In pluribus, ut ‚escalumʻ: si ponatur ‚eʻ, vbi

1 De formacione… apposicionem] om.  L 3 fluxibiles] fluibiles  M 4 violam] fialam  L 5 ymaginaris] ymagineris  L 5 panno] cum panno  L 8 reliquis] alijs  L 9 De formacione… transposicionem] om.  L 10 Sciendum] Nota  L 14 paruitas] paupertas  L 14 a opposicione] ad oppositum  L 15 littera] silaba  L 15 fiat] fiet  L 17 z] h  L 17 caza] caha  L 19 in casa] et caha  L 20 archam] achas  L 20 silaba vna] vna  M - 20 ut pastu: si] ut pastu ut si L 21 stat] est L 21 fiat] fiet L 22 fieret] fiet L 26 fieret] fiet L 

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Über die Gestaltung von Bildern mittels subtractio gemäß einem Zusatz Wenn du von diesen Wörtern ‚Wasser‘ oder ‚Wein‘, deren Gegenstände flüssig sind, die letzte Silbe haben willst mittels eines Zusatzes, dann fülle ein Gefäß mit Wasser oder Wein. Du stellst dir vor, dass dieses Gefäß mit einem Tuch bedeckt ist von oben bis zur Mitte, und wenn du willst, bedecke den ersten Teil weiter unten. Dasselbe beachte bei sehr kleinen Dingen, wie es eine Fliege, eine Ameise, Pfefferkörner sind, wie auch in den übrigen Fällen, gemäß der Silbenzahl ihrer Wörter. Über die Gestaltung von Bildern mittels Versetzung Man muss wissen, dass die Versetzung dreifach ist: Es gibt eine Versetzung gewissermaßen nur der Buchstaben, eine der Silben, eine der Buchstaben und Silben zugleich. Jede von diesen ist wieder doppelt, gewissermaßen eine Versetzung von einem Buchstaben oder einer Silbe, oder eine Versetzung von mehreren. Aber die Versetzung, die mehrere betrifft, ist zu meiden, wenn es der Stoff nicht erfordert oder eine geringe Begabung dem entgegenstünde. Ein Beispiel des ersten, für einen Buchstaben, zum Beispiel ‚parum‘: Wenn ‚p‘ gesetzt würde, wo ‚a‘ ist, würde daraus ‚aprum‘. Ein Beispiel für mehrere Buchstaben, zum Beispiel ‚acham‘: Wenn ‚c‘ gesetzt würde, wo das erste ‚a‘ ist, und ‚z‘, wo das zweite ist, wird caza herauskommen. So wird aprum, was ein Schwein ist, durch Versetzung des ersten Buchstabens an die Stelle des zweiten nach Belieben ein Bild sein können von parum, bei casa mittels Versetzung zweier Buchstaben aus archa. Ein Beispiel von einer Silbe, zum Beispiel pastu: Wenn ‚stu‘ gesetzt würde, wo ‚pa‘ steht, würde aus diesem stupa und so [80ra] würde aus casa ein saca. Ein Beispiel für mehrere Silben, zum Beispiel caspelum: Wenn ‚spe‘ gesetzt würde, wo ‚ca‘ ist, und ‚ca‘, wo ‚lum‘ ist, und ‚lum‘, wo ‚spe‘ ist, wird daraus spelunca werden. Ein Beispiel für je zwei Buchstaben und eine Silbe, wie roma: Wenn ‚m‘ gesetzt würde, wo ‚a‘ ist, und ‚r‘ wo ‚o‘ ist, und die erste Silbe, wo die zweite ist, würde daraus amor werden. Ein

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est ‚scʻ, fieret ‚sceʻ, et si preposteretur ‚aʻ, fieret ‚laʻ, et ‚vmʻ fieret ‚muʻ et sic ex hys fieret ‚scelamusʻ. Et si ponatur vltima silaba ante primam – tantum omnes erunt transposite – et fieret ‚mustelaʻ, que est quiddam animale. Sed quando fiunt ymagines rerum per hunc modum, si fit aliquid ex parte rei, per quod significatur talis trans­ 5 posicio – quod est valde deficile in multis – erit transposicio secundum rem, quando vero non fit aliquid ex parte rei notans transposicionem, sed solum volumus ad placitum – quod res significata per diccionem – transposicio sit ymago illius, a qua transponitur. Tunc erit transposicio secundum placitum, ut cum volumus, quod 10 ‚casaʻ signat ‚achamʻ et ‚aperʻ ‚parumʻ. Et ergo duplex transposicio scilicet secundum rem et secundum placitum ex premissis.

De formacione ymaginum per mutacionem Nota, quod mutacio est peruersio littere in litteram uel silabe in silabam in eadem diccione. Et hoc est tripliciter, quia quedam 15 est vnius littere tantum, ut ‚romaʻ ‚ramaʻ ‚canoʻ ‚canaʻ, quedam est plurium, ut ‚homoʻ ‚humusʻ et ‚vroʻ ‚araʻ; secunda est vnius silabe, ut ‚istaʻ ‚astaʻ, uel plurium, ut ‚isteʻ ‚asteʻ; tercia est litterarum et silabarum, ut ‚vnus‘ ‚anas‘, et sic res significata per diccionem mutatam potest esse ymago diccionis, a qua mutatur, ut 20 ‚ramaʻ de ‚romaʻ, ‚canaʻ de ‚canoʻ et sic de alijs. Et hoc dupliciter aut secundum rem aut secundum placitum ut supra.

1 sc, fieret] sc fiet L 1 preposteretur] ponatur L 1 a fieret] a fiet L 1 vm fieret mu] um fiet vm  L 2 hys fieret] hys fiet  L 2 scelamus] stelaum  L 2 ponatur] preponatur  L 3 tantum] tunc  L 3 fieret] fiet  L 3 que] quid  L 5 fit] sit  L 5–7 per quod… parte rei] iter.  M 6 deficile] legend. difficile; difficile L 9 transposicio] transpositam L 9 a qua] a quo L 11 casa] caha L 11 signat] significet  L 11 acham] Achaz  L 11 Et ergo] Est ergo  L 12 scilicet] om.  L 12 ex premissis] ut patet ex premissis  L 13 De formacione… mutacionem] om.  L 14 peruersio] conuersio  L 15 tripliciter] triplex  L 17 homo humus] hamo humus  L 17 et] ut  L 18 ista] vsta  L 18 uel plurium, ut] om. L 18 iste aste] vsti iste ut vid. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Beispiel für mehrere, zum Beispiel escalum: Wenn ‚e‘ gesetzt würde, wo ‚sc‘ ist, würde ‚sce‘ daraus, und wenn ‚a‘ umgekehrt würde, entstünde daraus ‚la‘, und ‚um‘ würde ‚mu‘, und so würde aus diesen scelamus. Wenn die letzte Silbe vor die erste gesetzt würde – vorausgesetzt, dass alle vertauscht sein werden –, würde es mustela ergeben, was ein Tier ist.78 Aber wenn Bilder der Dinge so entstehen, dass es hinsichtlich der Sache [selbst] erfolgt [wie der Name schon sagt] – was sehr schwierig ist in vielerlei Hinsicht –, wird es sich [demnach] um eine Versetzung gemäß der Sache handeln. Wenn aber die Versetzung nicht hinsichtlich der Sache erfolgt, sondern allein nach Belieben – weil die Sache durch das Wort bezeichnet wurde –, wird die Versetzung ein Bild jenes [Wortes] sein, von dem aus übertragen wird. Dann wird eine Versetzung nach Belieben vorliegen, wenn wir wollen, dass casa acham bezeichnet und aper parum. Folglich ist die Versetzung doppelt, nämlich gemäß der Sache und nach Belieben, wie aus dem Vorausgeschickten deutlich wird. Über die Gestaltung von Bildern mittels Vertauschung Merke, dass eine Vertauschung eine Verkehrung eines Buchstabens in einen anderen ist oder einer Silbe in eine andere, und zwar im selben Ausdruck. Dies ist auf dreifache Weise möglich, weil es eine Verkehrung nur eines Buchstabens gibt, wie roma rama‚ cano cana, und eine mehrerer, wie homo humus und uro ara; die zweite ist die einer Silbe, wie ista asta oder mehrerer wie iste aste; die dritte ist die von Buchstaben und Silben wie unus anas, und so kann die mittels des veränderten Ausdrucks bezeichnete Sache ein Bild des Ausdrucks sein, von dem ausgehend etwas verändert wird, wie rama aus roma und cana aus cano und so weiter. Dies ist auf zweifache Weise möglich, entweder gemäß der Sache oder nach Belieben, wie oben beschrieben.

78 mustela: ‚Wiesel‘.

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Rhetorica ad Herennium, III, XXII, 36

 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De ymaginibus in comparacione ad recordantem Sciendum primo, quod ymagines debent esse res visibiles, aut in toto aut in parte, et bene tangibiles et palpabiles et magne. Memoria enim in paruis non formatur, sed confunditur. Et si res sit parua, cuius nomine vis reminisci, pone illam in magna quantitate, ut si vis memorari ‚formicaʻ, imple vnam magnam violam formicis uel pone vnum magnum panem, qui vocatur ‚micaʻ, foratum et sic habebis ‚formica‘. Si vis recordari de cycada, imple vnam fiolam cycadis nimis cantantibus uel pone vnum, qui det cazi iuxta volgare alicui, [80rb] et tunc per preposteracionem memoreis de cycada. Nota eciam, quod ymagines debent esse viue uel aliquid iuxta eas positum, oportet enim, quod faciant aliquid nouum uel ridiculum, ut perfeccius memorie inprimantur. Magis enim memoramur miris et nouis quam consuetis. Si autem non viuerent nec sentirent, nullum tale agere possit. Debes ergo in quolibet loco pro qualibet ymagine ponere vnum hominem, quem cognoscas, uel aliquod animal ut equum, asinum, capram uel aliquid aliud, et bene si vis memorari aliquo insensibili uel paruo, pone illud super hominem uel animal uel aput ea. Verbi gracia si vis recordari fenestra vitria, pone ad locum hominem vnum tibi notum facientem fenestras uel frangentem cum lapide. Si vis memorari de speciebus, pone vnam fiolam ipsis plenam in manu hominis tibi noti odorantis eas et ex hoc sternutantis. Et sic generantur noua et mira, et ymagines melius inprimuntur, et secundum hoc primus potest notari fenestra vitrea et secundus species. Et si vis memoriam habere de vno coruo, potest

1 De ymaginibus… recordantem] om.  L 2 Sciendum primo] Nota 3 et bene] ut bene  L 4 formatur] firmatur  L 5 cuius] arcus  M 6 memorari] memorare L 6 formica] formicam 6 violam] fialam L 7 foratum] foratrum 8 formica] formicam  L 8 de cycada] cicada  L 8 fiolam] fialam  L 9 nimis] viuis  L 9 iuxta] iusto  M 10 memoreis] memorecis  M; memorabis L 10 de cycada] cicada L 12 faciant] faciunt L 13 inprimantur] inprimatur L 13 miris] dub.; vivis L 15 possit] possunt L 17 bene] om. L 18 aliquo] de aliquo L 19 recordari] recordare M 21 de speciebus] speciebus L 21 fiolam] fialam L 24 notari] vocari L 25 memoriam habere de vno coruo] memorari de coruo L 25 potest] potes L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über die Gestaltung der Bilder hinsichtlich des Erinnernden Zuerst ist es wissenswert, dass die Bilder sichtbare Dinge sein müssen, entweder im Ganzen oder zum Teil, und gut berührbar und betastbar, und groß. Das Gedächtnis wird nämlich bei kleinen Dingen nicht geordnet, sondern verwirrt. Wenn die Sache klein wäre, an deren Namen du dich erinnern willst, setze sie in großer Anzahl, wie wenn du ‚Ameise‘ (formica) memorieren willst, fülle ein großes Gefäß mit Ameisen oder setze ein großes Brot, ‚mica‘79 genannt, das durchbohrt ist (foratum), und so wirst du ‚Ameise‘ haben. Wenn du dich an eine Zikade erinnern willst, fülle ein Gefäß mit Zikaden, die laut zirpen, oder setze einen, der – nach dem volkssprachlichen Ausdruck – irgendeinem Schwänze (cazi)80 gibt, [80rb] und dann könntest du dich mittels Umkehrung an die Zikade erinnern. Merke auch, dass die Bilder bzw. etwas, das neben sie gesetzt wurde, lebendig sein müssen, denn es ist nötig, dass sie etwas Neues oder Lächerliches hervorbringen, damit sie sich dem Gedächtnis vollkommener einprägen. Denn besser erinnern wir uns an Erstaunliches und Ungewohntes als an Vertrautes. Wenn sie aber nicht lebten noch fühlten, könnte kein so Beschaffenes handeln. Du musst also in jedem Ort und für jedes Bild einen Menschen setzen, den du kennst, oder irgendein Tier, wie ein Pferd, einen Esel, eine Ziege oder etwas anderes, und wenn du dich gut an etwas Unbelebtes81 oder Kleines erinnern willst, setze jenes über den Menschen oder das Tier oder bei ihnen. Wenn du dich zum Beispiel an ein gläsernes Fenster erinnern willst, setze an den Ort einen dir bekannten Menschen, der Fenster herstellt oder mit einem Stein einwirft. Wenn du dich an Gewürze erinnern willst, setze ein mit Gewürzen gefülltes Gefäß in die Hand eines dir bekannten Menschen, der sie riecht und daraufhin wieder und wieder niest. So wird Neues und Erstaunliches geschaffen, und die Bilder prägen sich besser ein, und demgemäß kann zuerst82 das gläserne Fenster gekennzeichnet werden und zweitens die Gewürze. Wenn du einen Raben in Erinnerung behalten willst, kann

79 mica: ‚Brot‘; eigtl. ‚kleines Brot, Brötchen‘. 80 cazzo, it. ‚Schwanz‘; Pl. vertauscht: zi-ca(da). 81 insensibili: eigtl. ‚empfindungslos, gefühllos‘. 82 primus hier offenbar statt Adv. primum (‚zuerst‘), analog folgt secundus; eine Bestätigung dieser adverbialen Verwendung liefert der Autor selbst später auf f. 80rb (primus quod sit ante).

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Vergil, Aeneis I,1

 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

ymaginari ipsum super vnum canem rustro percucientem eius aurem et sic de alijs. Nota eciam, quod multum prodest practicanti hanc artem, cum invenit diccionem uel oracionis particulam, cuius ymaginem ignorat videre per se uel cum alio, si scit eam formare secundum regulas suprapositas; et inventum et formatam debet in libello ad hoc parato notare. Qui libellus intituletur ‚de ymaginibusʻ, sic enim efficitur promptus ad omnia locanda et retinenda. Et si notauerit in libro, non laborabit iterum in inveniendo. Verbi gracia si ignoras ymaginem huius nominis ‚eternusʻ, per regulam de mutacione conuerte ‚eʻ in ‚vʻ et fiet ‚vterʻ, quod est saccus de coreo. Et tunc cogita ipsum esse plenum nucibus et ex hoc effectu notetur ‚vternusʻ, et sic ‚vternusʻ ad placitum significabit ‚eternusʻ. Potes eciam ponere nuces in igne claro ardentes, qui vocatur ‚etherʻ, et sic vocabitur ‚eternusʻ. Pone modo in libello ymaginum ymaginem sic inventam – hoc modo ‚vternusʻ id est ‚eternusʻ – et sic non fugiet a memoria. Si nescis ymaginem huius oracionis uel versus ‚Arma virumque cano troicam primus ab orisʻ, pone pro ‚arma et virumʻ ‚armatum virumʻ, pro ‚canoʻ ‚canaʻ, pro ‚troyeʻ ‚trahereʻ, pro ‚primusʻ – quod sit ante – ‚aliumʻ, pro ‚ab orisʻ ‚ab arisʻ et sic tunc compone ymaginem: sic inter duos armatos [80va] vir canam trahit primus ab oris, et sic vir armatus canam trahens primus ab aris uel altaribus est ymago predicti versus scilicet ‚arma virumqueʻ et cetera, quem pones in libro ymaginum et sic de alijs.

1 vnum] om.  L 2 prodest practicanti] pro practicante  L; pro add. sup. lin.  L 3 invenit] inuenerit  L 4 ignorat] ignoratis  M 4 scit] sit  M 4 eam] eas  L 5 inventum et formatam] inuenta et formata  L 6 intituletur] intitulatur  L 7 promptus] peritus  L 7 retinenda] tenenda  L 8 notauerit] nouerit L 8 libro] libello L 8 in inveniendo] inueniendo L 9 nominis] om. L 10 e] t  L 10 quod] quid  L 11 coreo] corio  L 11 tunc] om.  L 11 plenum nucibus] plenum de nucibus L 12 notetur] vocatur L 12 sic vternus] dub. L 13 claro] clare L 13 vocatur] vocantur L 14 sic] sicut L 17 troicam] troye qui L 18 armatum virum] om. L 18 cana] canam L 18 pro primus] promus M 19 et sic] om. L 20 armatos] armatus M 21 oris] aris L 22 uel altaribus] uel ab altaribus L 22 et cetera] om. L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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man ihn sich über einem Hund vorstellen, dessen Ohr er mit seinem Schnabel verwundet, und so weiter. Merke auch, dass es dem Ausübenden dieser Kunst viel nützt ‒ falls er ein Wort oder einen Redeteil erfindet, dessen Bild er weder für sich noch [in Kombination] mit anderem zu sehen vermag ‒ dass er es zu bilden weiß gemäß den Regeln, die oben aufgestellt wurden. Einmal erfunden und gebildet, muss er es in einem Notizbuch, das zu diesem Zweck bereit ist, aufzeichnen. Dieses Notizbuch soll betitelt sein ‚Über die Bilder‘, so nämlich wird es bequem zur Hand sein, um alles zu lozieren und zu bewahren. Wenn er es im Buch aufgezeichnet haben wird, so wird er sich nicht von neuem mit der Erfindung mühen. Wenn du zum Beispiel kein Bild für den Ausdruck eternus weißt, dann ändere mittels der Regel von der Vertauschung ‚e‘ in ‚u‘, und es wird uter herauskommen, was ein Sack aus Leder ist. Dann denke dir, dass dieser Sack (uter) voll Nüsse (Sing.: nux) ist, und durch diese  Maßnahme83 soll ‚uternus‘ zu erkennen sein, und so wird ‚uternus‘ nach Belieben eternus bezeichnen. Du kannst auch glühend heiße Nüsse in ein leuchtendes Feuer setzen, das ether genannt wird, und so wird es eternus heißen. Setze das so gefundene Bild gleich in das Notizbuch, das die Bilder enthält – auf diese Weise: ‚uternus‘ das ist eternus –, und so wird es dem Gedächtnis nicht entfallen. Wenn du kein Bild für diese Worte oder Verse Arma virumque cano troicam primus ab oris weißt, dann setze für arma et virum einen armatum virum, für cano cana, für troye trahere, für primus – was ‚vorher‘ wäre – alium, für ab oris ab aris und auf solche Weise setze dann das Bild so zusammen: So zieht ein Mann zwischen zwei Bewaffneten [80va] als erster einen Weinkrug (canam) von den Küsten (ab oris), und also ein bewaffneter Mann, der einen Weinkrug als erster von den Altären oder Opfertischen (ab aris) zieht: das ist das Bild des eben genannten Verses, nämlich arma virumque etc., den du in das Buch der Bilder setzen wirst und so weiter.

83 effectus: eigtl. ‚Ausführung, Durchführung‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De ymaginibus mensium et dierum Sciendum est, quod volenti recordari de debitis, mercanijs, argumentis, et temporibus rerum gestarum nec[c]esse est scire menti ymagines quarundam rerum scilicet mensium, ebdomodarum et illarum centum, de quibus dictum est in tractatu de locis. Et ideo non sunt hic iterum dicenda. Ymagines mensium possunt formari multipliciter secundum regulas datas superius scilicet ab effectu uel festo currente in tali mense, ut quod marcius vocaretur ‚piscisʻ propter quadragesimam uel ‚cappa nigraʻ propter festum sancti Thome de Aquino et sic de alijs. Sed ad presens formantur ymagines eorum similes in principio diccionis. Et sic ponantur iuxta volgare, quia hoc est facilius et memorabilius: Ianua parua pro Ianuario Fabe pro Februario Marcidi pici pro Marcio Ampulle pro Aprili Malleus ligneus pro Maio Iuniperus pro Iunio Ieladina pro Julio Auca pro Augusto Sericum pro Septembri Oculus ligneus pro Octobri Nauis pro Nouembri Denarius pro Decembri

1 De ymaginibus… dierum] om.  L 2 Sciendum est] Nota eciam  L 2 de] om.  L 7 multipliciter] multiplex  L 8 vocaretur] vocetur  L 9 cappa] capa L 12 quia] et L 12 memorabilius] Zentura pro zenaro add. L 14 Ianuario] fen. pro Febraro add. L 15 Februario] Maroni pro Marcio add. L 16 pici] om.  L 16 Marcio] marcida pira uel merces pro  Marcio add.  L 17 Ampulle pro Aprili] Ampule uel apertum portum pro Aprile  L 18 Malleus ligneus pro Maio] Mio uel maleus uel maxilla pro mayo L 19 Iuniperus pro Iunio] Iuniperus zucha pro Iugne L 20 Ieladina] lucerna uel gieladina L 21 Auca] Auellare uel Aucha L 22 Sericum pro Septembri] Seda uel Sericum pro Septembre L 23 ligneus] om. L 24 Nauis] Naue uel nauis L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über die Bilder der Monate und Tage Man muss wissen, dass es für den, der sich an Schulden, Geschäfte, Inhalte und Termine von Ereignissen erinnern will, notwendig ist, im Geist84 die Bilder von gewissen Dingen zu kennen, nämlich von  Monaten, Wochen und das Hundert derer, die im Traktat über die Örter behandelt wurden. Deswegen sind sie hier nicht abermals zu erörtern. Die Bilder für die Monate können auf vielfältige Weise gebildet werden, den Regeln folgend, die oben gegeben wurden, nämlich nach der Wirkung oder dem regulären Festtag in einem solchen Monat, zum Beispiel dass der März ‚Fisch‘ genannt würde wegen der Fastenzeit oder ‚schwarzer Mantel‘85 wegen des Festtags des Heiligen Thomas von Aquin und so weiter. Aber einstweilen werden Bilder gestaltet, die ihnen (den Monatsnamen) im Anlaut ähneln. Auf solche Weise sollen sie gesetzt werden, und zwar in der Volkssprache, weil dies leichter und einprägsamer ist: Kleine Tür (ianua) für den Januar Bohnen (fabe) für den Februar Träge Spechte (marcidi) für den März Kleine Flaschen (ampulle) für den April Hölzerner Hammer (malleus) für den Mai Wachholderstrauch (iuniperus) für den Juni Gelatine86 für den Juli Gans (auca) für den August Seidener Stoff (sericum) für den September Hölzernes Auge (oculus) für den Oktober Schiff (nauis) für den November Denar für den Dezember

84 menti: vulg. Abl. Sing. 85 cappa nigra: Teil der Ordenstracht der Dominikaner, die einen schwarzen Radmantel (cappa) tragen. 86 ieladina: ital. gieladina, ‚Brühe, Gelatine‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

Iste sunt ymagines dierum ebdomade: Dominica sint due manice de panno Dies lune sit luna lignea Dies martis sit marcellus Dies mercurij sint meruli Dies jouis sit iuparellum Dies veneris sit vanus siue vallum Dies sabati sit sapo

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De ymaginibus litterarum Utile est eciam scire uel habere ymagines litterarum, quia poterit 10 ad multa iuuare memorantem, ut patebit in practica huius artis, et maxime ad discendum versus et nomina secundum alphabetum ordinata. Sint ergo iste ymagines litterarum eciam: [80vb] A sit agwilla B biretum 15 C caliga D dentes E edera F fusus uel foreta G galerus H horologium I Ilia id est salsucia kalo id est galea militis L lima M mel N nola

1 dierum] om. L 1 ebdomade] ebdomode M 3 Dies] L legitur die, item in initiis versuum sequentium 3 lignea] lignea argentea  L 4 marcellus]  Martellus L 6 jouis] lit. M, add. sup. lin. 6 iuparellum] sit †inperparellum† M sint iuparelli L 7 vanus siue vallum] nauis siue uallus L 9 De ymaginibus litterarum] om.  L 10 Utile] Bonum  L 10 uel habere] om.  L 13 Sint] Sunt  L 13 eciam] om.  L 14 sit] om.  L 14 agwilla] acus  L 15 biretum] bucale uel balestrum  L 16 caliga] caliga uel caput 19 foreta] faretra ut vid.  L 20 galerus] galerium L 22 Ilia id est salsucia] ila id est salacia M 23 kalo] kale L 24 lima] lima uel lancea L 25 mel] mitra L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Dies sind die Bilder für die Tage der Woche: Sonntag (dominica) sollen zwei Handschuhe (due manice) aus Tuch sein Montag (dies lune) soll ein hölzerner Mond (luna) sein Dienstag (dies martis) soll ein Hammer (marcellus) sein Mittwoch (dies mercurij) sollen Amseln87 sein Donnerstag (dies jouis) soll ein Talar88 sein Freitag (dies veneris) soll ,leer‘ (vanus) sein oder ,Wall‘ (vallum) Samstag (dies sabati) soll eine Seife (sapo) sein Über die Bilder für Buchstaben Es ist auch nützlich, Bilder für Buchstaben zu wissen und zur Verfügung zu haben, denn dies wird den Erinnernden bei vielem unterstützen können, wie es dir bei der Ausübung dieser Kunst einleuchten wird, und am meisten beim Lernen eines Verses und bei Namen, die nach dem Alphabet geordnet sind. Es mögen also dies die Bilder für die Buchstaben sein: [80vb] A soll Adler sein B Barett C Caliga (Stiefel) D Dentes (Zähne) E Efeu F Fusus (Spindel) oder Foreta89 (Bohrer) G Galerus (Perücke) H Horologium (Uhr) I Ilia (Gedärme), das sind Würste Kalo,90 das ist ein Militärhelm L Lima (Feile) M Mel (Honig) N Nola (Schelle)

87 eigtl. merula, f.; als Maskulinum Nbf. 88 juparellum: ‚Talar‘, ‚Umhang‘. 89 foretum, n. Pl. foreta; faretra (L): ‚Köcher‘. 90 recte wohl gr. κόρῠϛ, ‚Helm‘; vgl. calo, ‚Diener des Soldaten‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

O ouum P plumbum Q quarta que est vas ad mensurandum triticum R rapa S Sulphur T torta uel torquens cera V vrtica X xerolophus id est ceruus siccus scilicet lapidus uel ligneous Y ydria uel ydea id est forma sutularis Z zynciber uel zona

Boethius, Consolatio philosophiae, I, carm 1

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Debes eciam valde bene scire quotta sit vnaqueque littera secundum alphabetum, vt quod ‚eʻ est quinta littera et ‚kʻ decima, ‚pʻ quinta decima, ‚vʻ vicesima et sic de alijs. Exemplum de versibus addiscendis: si vis memorari Carmina que quondam studio florente peregi flebilis hew mestus cogor in ire modos, et ponas in manu 15 dextera lapidem et in manu sinistra hastam plenam fusis. Scias adminus, quod primus versus incipit a ‚cʻ et alius ab ‚fʻ, per quod faciliter poteris memorari ambobus versibus. Exemplum de vocabulis memorandis: si habebis loca parata pro vocabulis incipientibus ab ‚aʻ, et ponas arcum ad primum locum; significabit quod 20 ille locus et sequentes sunt pro vocabulis incipientibus ab ‚aʻ. Et si erunt decem vocabula, in quibus post ‚aʻ ‚c’ ponatur, et ponas vnum, qui habeat vnam capidem plenam castaneis; significabitur quod vocabula incipiencia ab ‚aʻ ‚cʻ sunt decem, nam per arcum positum ad primum locum significatur, quod omnia nomina inci- 25

3 est] et M 6 torquens cera] torques L 8 xerolophus… ligneus] xpūs L 8 lapidus uel ligneus] add. in marg. M 9 uel ydea id est forma sutularis] om. L 12 e est quinta littera] c est tercia littera secundum alphabetum L 16 lapidem] capidem  L 16 manu] om.  L 16 Scias] scies  L 17 alius] secundus  L 18 faciliter] facilime 18 ambobus] de ambobus  L 19 habebis] habes  L 22 si] sic  L 22 ponatur] ponatur decem  L 23 habeat] habebat  L 23 significabitur] significabit  L 24 incipiencia ab] incipiencia ab a et c  L 24 a c] add. in marg. M 25 nomina incipiunt] vocabula incipiencia L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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O Ova (Ei) P Plumbum (Blei) Q Quarta, das ist ein Gefäß zum Abmessen von Weizen R Rüben S Schwefel T Torte91 oder ausgeschleudertes Wachs V Urtica (Brennnessel) X Xerolophus,92 das ist ein trockener Hirsch,93 nämlich aus Stein oder Holz Y Ydria94 (Wasserkrug) oder Ydea, das sind Schuhleisten95 Z Zinziber (Ingwer) oder Zona (Gürtel) Du musst auch sehr gut wissen, der wievielte Buchstabe ein jeder einzelne in der Folge des Alphabets ist, wie zum Beispiel, dass ‚e‘ der fünfte Buchstabe ist und ‚k‘ der zehnte, ‚p‘ der fünfzehnte, ‚v‘ der zwanzigste und so weiter. Ein Beispiel für die Aneignung von Versen: Wenn du dich erinnern willst an Carmina que quondam studio florente peregi flebilis hew mestus cogor inire modos,96 sollst du einerseits in die rechte Hand einen Stein legen, andererseits in die linke eine Stange, die voll Spindeln ist. Du sollst wenigstens wissen, dass der erste Vers mit ‚c‘ beginnt, und der zweite Vers mit ‚f‘, wodurch du dich leicht an beide Verse erinnern können wirst. Ein Beispiel für Vokabeln, die in Erinnerung zu rufen sind: Du sollst, wenn du Örter vorbereitet hast für Vokabeln, die mit ‚a‘ beginnen, einerseits einen Bogen (arcum) an den ersten Ort setzen; er wird bezeichnen, dass jener Ort und die folgenden für die mit ‚a‘ beginnenden Vokabeln da sind. Du sollst andererseits, wenn es zehn Vokabeln sein werden, in denen nach ‚a‘ ein ‚c‘ platziert ist, einen Menschen setzen, der einen Kelch voller Kastanien [i.  e. die Zahl 10] hat; es wird bezeichnet werden, dass zehn mit ‚a‘ und ‚c‘ beginnende Vokabeln vorliegen, denn durch den Bogen, der beim ersten Ort gesetzt wurde, wird angezeigt, dass

91 torta: ‚Kuchen, Brot‘; auch ‚Wachskuchen‘ (Wachsblock). 92 übersetzt ‚der trockene Hügel (Nacken)‘, ein Ort in Byzanz (Ξηρόλοφος). 93 gr. λόφος (lóphos), ‚Hals, Nacken‘; lat. cervix, hier verwechselt mit cervus, gr. κεραός. 94 hydria: gr. ὑδρια: ‚Wasserkrug‘; Getreidemaß, seltener Flüssigkeitsmaß. 95 forma: hier als Modell für den Schuster aufzufassen, also ‚Schuhleisten‘; sutularis (subtalaris): ‚leichter Schuh, Hausschuh‘. 96 Übersetzung des elegischen Distichons: ‚Der ich einst Gedichte in vollem Eifer sang, / ach wehmütig muss ich nun klagende Melodien beginnen.‘ Der Beginn des Zitats erscheint bei Matthaeus leicht abgewandelt (sonst: ‚Carmina qui […]‘).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

piunt ab ‚aʻ, per capidem, quod sequitur ‚cʻ postea ‚aʻ, et per castaneas, quod sunt decem. De ymaginibus casuum Nota, quod volentibus casum et numerum diccionum, quas memorie tradunt, conuenit habere ymagines casuum. Et primo in numero 5 singulari sit ergo ymago nominatiui singularis nabula, genitiui genu ferre, datiui dentata, accusatiui acus magne argentee in vna corda, vocatiui vorace, ablatiui abacus. Ymagines pluralium casuum sint ille: nominatiui ale, genitiui binarium, datiui candelabrum, accusatiui digitale, vocatiui ebur, ablatiui fascia. 10

De ymaginibus in comparacione ad locum Ymagines debent esse diuerse in diuersis locis. Quando enim omnia sunt similia, memoria non distinguit [81ra] et sic confunditur. Et eciam similitudo faceret, ne ymaggines comode possent plures representare. Debet ergo recolens ponere ymagines facientes 15 diuersas secundum diuersitatem locatorum, ut si velit memorari grammatica, habeat primum locum, qui est carta, pre oculis et ponat ibi vnum grammaticum sibi notum verberantem discipulum acriter aput vnam portam, que sit ibi secundum ymaginacionem. Si velit recordari partes grammatice, suspendat ad secundum locum, 20 qui est linea, duas portas ad vnum funem debilem, qua cito fracto porte cadant super aliquem hominem decliuum et curuum, ita quod sit coactus clamare: hew me deus! Si velit recolere partes declinabiles, ponat ad tercium locum, qui est vernix, vnum

1 sequitur] sequatur  L 1 postea] post  L 3 De ymaginibus casuum] om. L 4 volentibus casum] volentibus scire casus L 7 genu] sonagli uel glandes uel genu ferreum  L 7 ferre] ferrea  M 7 dentata] dentes uel dentata 8 in vna corda] om.  L 8 varoce] varota  M; vorate  L 8 pluralium] pluralis M 9 ille] iste L 9 ale] ale uel alee L 9 binarium] breuiarium L 11 De ymaginibus… locum] om.  L 12 Ymagines] Nota quod ymagines  L 13 distinguit] distingui M 14–15 comode… ponere ymagines] om. L 16 diuersas] diuersa  L 16 diuersitatem] diuersitate  M 18 ibi] om. 19 ymaginacionem] ymaginem L 21 linea] ligneus L, a add. sup. lin. L 21 vnum] vnam L 21 qua cito fracto] que cito fracta L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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alle Wörter mit ‚a‘ beginnen, und durch den Kelch (capidem), dass ‚c‘, danach ‚a‘ folgt, und durch die Kastanien, dass es zehn sind. Über die Bilder für grammatische Fälle Merke, dass es passend ist, Bilder für die Kasus zu haben, wenn man den Kasus und Numerus von erinnerten Ausdrücken präsent haben möchte. Zunächst sollen im Singular also als Bild für den Nominativ Singular ein Psalter97 dienen, für den Genitiv ein eisernes Knie (genu), für den Dativ etwas mit Zähnen Versehenes (dentata), für den Akkusativ große silberne Nadeln (acus) in einem Seil, für den Vokativ ein Fresser,98 für den Ablativ ein Abakus. Bilder für die Kasus im Plural sollen jene sein: für den Nominativ Flügel, für den Genitiv ein Paar, für den Dativ ein Leuchter, für den Akkusativ ein Fingerhandschuh, für den Vokativ Elfenbein, für den Ablativ Binden. Über die Gestaltung der Bilder hinsichtlich des Ortes Die Bilder in den verschiedenen Örtern müssen verschieden sein. Wenn nämlich alle ähnlich sind, unterscheidet das Gedächtnis nicht [81ra] und wird so verwirrt. Die Ähnlichkeit bewirkte auch, dass die Bilder nicht angemessen mehrere Dinge vorstellen können. Es muss also der Erinnernde handelnde Bilder setzen und zwar verschiedene gemäß der Verschiedenheit des Lozierten. Wenn er sich zum Beispiel an die Grammatik erinnern wollte, dann habe er einen ersten Ort vor Augen, der ein Blatt Papier ist, und er setze dort einen ihm bekannten Grammatiker, der einen Schüler heftig schlägt, in die Nähe eines Tores, das dort nach seiner Vorstellung sei. Wenn er sich an die Teile der Grammatik erinnern wollte, hänge er an den zweiten Ort – eine Linie – zwei Tore an ein schwaches Seil, und insofern die Tore nach dem Reißen des Seils auf irgendeinen bergabwärts gehenden (decliuum) und gebeugten Menschen stürzen, ist dieser gezwungen zu schreien: Ach weh, Gott! Wenn er die deklinierbaren Teile (declinabiles) überschauen wollte,

97 hebr. nablum, gr. νάβλας, lat. nablia, nabla, nablum: ‚Laute‘, ‚Psalter‘ (Saiteninstrument), ‚Harfe‘; vgl. lat. nabulum, Schiffslohn. 98 vorace: ital. ‚Fresser’ (lat. vorax); varote (M): vgl. mlat. waroccum, ital. garrota, ‚Garotte’, ‚Spannkeil’; oder venez. varotaro, varoter (vaiaio): ‚Kürschner‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

hominem gibbosum declinantem se ad colligendum lapides, ut percuciat vnum Indium uel vnum de india, qui molestat eum. Si velit reminisci partes indeclinabiles, ponat ad quartum locum, qui est atramentum, vnum hominem indicum declinantem se, ut porrigat crucem osculandi alicui, et ex hoc habet indeclinabiles. Sic quat- 5 tuor numerantur loca, diuersificantur ymagines et loca, que erant eciam diuersificata ex nominibus rerum in eis positarum, a quibus intitulantur. Nota eciam, quod, ymagines quamuis possent tante quantus est locus, tamen melius est, ut sint minores parum uel multum secundum exigenciam rei memorande, et omnes condiciones locorum conueniunt in ymaginibus. Nota, quod ymagines debent esse ligate ad inuicem, ne memoria erret in memorando, quia quedam ligacio potest esse dupliciter: uel ponendo aliquid de ymagine sequenti ad precedentem uel accipiendo aliquid de ymagine precedente ad sequentem. Exemplum est in capitulo superiori et in capitulo de comparacione locorum ad inuicem. Primus deseruit, quando recitamus ordine antegrado, secundus quando ordine retrogrado, et ideo primus modus ligandi melior est et quasi sufficiens ad vtrumque. Nota, quod ymago est duplex scilicet rerum et vocabulorum. Ymago rei est illa, que est facta, ut principaliter habeamus de re significata memoriam non considerata diccione uel oracione. Vti principaliter et talis ymago attenditur maxime in oracione, in qua magis querimus memoriam sumere uel finem quam verbi ad verbum. In simplici enim diccione vix uel vmquam habemus memoriam de re, quando habeamus de diccione, nisi illa res haberet plura vocabula significancia ipsum, quia tunc per ymaginem rei possemus errare accipiendo super idem vocabulum. Verbi gracia: Ensis, spata, framea, mucro, gladius eandem rem significant, modo si ponerem ad locum vnum cum tali re in manu, non haberem propter hoc

2 Indium uel vnum de india] judeum uel ethiopem L 2 velit] uult L 4 indicum] nudum  L 5 crucem osculandi] cruce osculandum  L 5 habet] habebis  L 5 Sic quattuor] sicut  L 9 possent] possint esse  L 12 conueniunt in ymaginibus] conueniant ymaginibus L 12–/9 Nota, quod ymagines debent… et sic est finis] om. M 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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setze er an den dritten Ort, der Firnis ist, einen buckligen Menschen, der sich zum Sammeln von Steinen neigt (declinantem se), damit er einen Inder oder einen aus Indien, der ihn belästigt, treffe. Wenn er sich an die nicht-deklinierbaren Teile erinnern wollte, setze er an den vierten Ort, der Tinte ist, einen indischen Menschen, der sich neigt (indicum se declinantem), damit er irgendeinem ein Kreuz zum Küssen darreiche, und daraus hat man die nicht-deklinierbaren Teile (indeclinabiles). So werden vier Örter aufgezählt, die Bilder verschieden gemacht und die Örter, die auch unterschieden waren durch die Namen der in ihnen niedergelegten Dinge, werden nach ihnen benannt. Merke auch, dass es, obgleich die Bilder so groß wie der Ort sein können, doch besser ist, dass sie etwas oder viel kleiner sind, gemäß der Erfordernis der zu erinnernden Sache, und dass alle Bedingungen der Örter den Bildern entsprechen.  Merke, dass die Bilder miteinander verbunden sein müssen, damit das Gedächtnis nicht beim Erinnern irrt, weil jede Verbindung doppelt sein kann: Entweder indem man etwas vom folgenden Bild zum vorhergehenden setzt, oder indem man etwas vom vorhergehenden Bild zum folgenden nimmt. Ein Beispiel für die gegenseitige Verbindung steht im vorhergehenden Kapitel und im Kapitel über die Bildung der Örter. Die erste Verbindungsart leistet Dienste, wenn wir in vorwärtsschreitender Reihenfolge vortragen, die zweite, wenn wir in rückwärtsschreitender Reihenfolge vortragen, und daher ist die erste Art der Verbindung besser und gleichsam zu beidem ausreichend. Merke, dass es zwei Arten von Bildern gibt, nämlich Bilder der Sachen und der Wörter. Das Bild einer Sache ist geschaffen, damit wir hauptsächlich die Erinnerung an die bezeichnete Sache haben, ohne das Wort und die Sprache in Erwägung zu ziehen. Zum Beispiel wird ein so beschaffenes Bild in erster Linie gerade in einem Vortrag beachtet, in dem wir eher die Quintessenz ins Gedächtnis aufzunehmen suchen als den genauen Wortlaut. Bei einem einfachen Wort (simplex) nämlich haben wir kaum oder niemals die Erinnerung an die Sache, da wir eine Erinnerung an das Wort haben, wofern jene Sache nicht mehrere gleichbedeutende Bezeichnungen hätte, weil wir dann durch das Bild der Sache irren könnten, indem man dafür ein und dieselbe Vokabel nimmt. Zum Beispiel: Schwert, Säbel,  Langschwert, Dolch, Kurzschwert bezeichnen dieselbe Sache. Wenn ich jetzt eben eine Person an den Ort setzte mit einer solchen Sache in

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

certam recordacionem sub quo [modo] vocabulo posuissem talem rem in loco. Ymago vocabuli est illa, que est formata de vocabulo in toto similis uel in parte, ut vocabuli memoria habeatur.  Multa exempla ad propositum sunt posita in superioribus capitulis, et ideo hic exemplum non datur. Si tamen vis habere memoriam voca- 5 bulorum, forma ymagines de vocabulis uel impone rem aliquem ad significandum tale vocabulum, ut quod in ‚sanctosʻ significet ‚Isaacʻ. Si de re memoriam vis habere, forma ymaginem iuxta rei sentenciam. Et sic est finis. Explicit tractatus de ymaginibus et locis. 10

Sciencia memorandi prima sui diuisione diuiditur in duas species scilicet in scienciam memorandi simplicia et recolendi complexa. Item simplex est duplex scilicet simplex notum et simplex ignotum. Notum ut ‚homoʻ, ‚asinusʻ. Ignotum ut ‚ghehern‘ ‚maren‘ ‚athanatosʻ et ‚bufʻ. Voco enim notum illud, cuius significatum noscitur 15 a memorante. Et ignotum voco vocem, cuius significatum non cognoscitur ab eodem aut quia non habet  – ut ‚buff‘  – aut quia, si habet, nescimus ut ‚apor gentiumʻ. Complexum quamuis possit diuidi per oracionem perfectam et inperfectam. Et perfecta oracio per indicatiuam inperfectiuam et cetera. Tamen quia tales diuisio- 20 nes non faciunt multum ad propositum huius artis, ideo diuidatur ad presens sic, quia complexorum quoddam est pertinens ad seculare negocium, quoddam spec[81rb] tat ad scientificum. Si seculare negocium est, tunc aut erit de rebus fiendis aut factis. Primo modo vocetur ambaxiata. Secundo modo hystoria aut de rebus venali- 25

7 quod] vel quem L 9 Explicit tractatus de ymaginibus et locis] om. L 11 Sciencia] Nota quod sciencia L 14 asinus] equus L, et huiusmodi add. L 14 ghehern maren] dub. M, giezeroy meleus L 14 athanatos] athina­thos M 15 et buf] et cetera L 15 Voco] Voca M 15 illud] id L 15 significatum] vocabulum L 16 voco] dico  L 18 nescimus] nescius  L 18 apor gentium] apogeisim  L 19 perfecta oracio] et perfectam 20 inperfectiuam] Imperatiuam  L 21 faciunt] sunt  L 21 diuidatur] diuiditur  L 22 sic] om.  L 22 complexorum] complexum  L 22 quoddam] quiddam  L 23 quoddam] Quedam  M 24 Primo modo] modo om. L 25 vocetur] vocatur L 25 Secundo modo] modo om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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der Hand, könnte ich deswegen keine sichere Erinnerung haben, unter welcher Bezeichnung ich eine solche Sache in den Ort gesetzt hätte. Das Bild für das Wort ist jenes, welches aus dem Wort gestaltet wurde. Es ist im Ganzen ähnlich oder zum Teil, damit man sich an das Wort erinnern kann. Viele Beispiele zum Thema wurden in den vorhergehenden Kapiteln genannt, und daher wird hier kein weiteres Beispiel gegeben. Doch wenn du die Erinnerung an Wörter bewahren willst, gestalte Bilder aus den Wörtern oder ziehe irgendeine Sache heran, um ein solches Wort zu bezeichnen, damit etwas in sanctos dann ‚Isaac‘ bezeichnete. Wenn du die Erinnerung an die Sache haben willst, gestalte ein Bild gemäß der Bedeutung der Sache. Ende. Ende des Traktats über die Bilder und Örter. Die Wissenschaft des Erinnerns wird durch ihre erste Einteilung in zwei Arten unterschieden, nämlich in die Fertigkeit, Einfaches zu erinnern, und die, Zusammengesetztes wieder ins Gedächtnis zu rufen. Ebenso ist das Einfache zweigeteilt, nämlich ein bekanntes Einfaches und ein unbekanntes Einfaches. Bekannt, wie ‚Mensch‘, ‚Esel‘. Unbekannt wie ‚ghehern‘, ‚maren‘, ‚athanatos‘99 und ‚buf‘. Ich nenne nämlich jenes bekannt, dessen Bedeutung dem Erinnernden bekannt ist. Unbekannt nenne ich das Wort, dessen Bedeutung von demselben nicht gekannt wird oder weil er sie nicht parat hat – wie ‚buff‘ – oder weil, wenn er sie parat hat, wir sie nicht kennen wie ‚apor100 gentium‘. Das beliebig Zusammengesetzte kann unterteilt werden in eine vollkommene und unvollkommene Rede. Die vollkommene Rede in eine oratio indicativa und inperfectiva und so weiter. Doch weil solche Einteilungen nicht viel bewirken zum Vorhaben dieser Kunst, soll für jetzt so eingeteilt werden, dass ein gewisser Teil der zusammengesetzten Gedächtnisinhalte für die weltliche Beschäftigung von Bedeutung ist, ein anderer Teil [81rb] sich auf die wissenschaftliche Beschäftigung richtet. Wenn ein weltliches Geschäft vorliegt, dann wird es entweder zu erledigende Dinge betreffen oder erledigte. Auf die erste Art und Weise soll eine Botschaft benannt werden. Auf die

99 athanatos: gr. ἀθάνατος, ‚unsterblich, ewig‘. 100 apor: alte Nebenform für apud.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

bus et ponderabilibus, et hec vocentur pondera uel mercancie, aut erit de pecuneis persoluendis; et hec vocentur debita. Pondera distinguuntur per pondera, libras, vncias et minutula. Pecunie per ducatos, libras, solidos et denarios. Si vero est negocium scientificum, tunc aut est ordinatum ad publicandum populo aut ad per- 5 feccionem proprij intellectus. Si primo modo, tunc dupliciter aut volgariter, et sic vocetur predicacio uel arenga, aut litteraliter, et sic sermo litteralis. Si vero ordinetur ad perfeccionem intellectus, tunc aut hoc erit in poesi – et sic erunt metra uel versus – aut est loyca uel rethorica – et sic erunt argumenta –, autem in sciencijs 10 realibus uel alijs eciam, et tunc aut erit textus aut res uel gradus qualitatum primarum aut scripta aut questiones aut originalia siue dicta notabilia sanctorum uel philosophorum. Et in istis bonum est habere ymagines doctorum et librorum, quorum quedam ponuntur hic gracia exempli. Nec est curandum, si diuisio non est ita scienti- 15 fice data, cum ista faciat ad propositum huius artis.

1 uel] et L 5 ad] ab M 7 vocetur] vocatur L 7–8 et sic] et sic erit L 9 hoc] om. L 9 est loyca] in loica L 10 autem] aut L 11 eciam] om. L 14 quedam ponuntur hic] quedam hic infra exemplificabo  L 15 curandum] dub. 16 faciat] faciant L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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zweite eine Geschichte oder [Sachverhalte] von käuflichen oder wägbaren Dingen, und diese sollen Gewichte oder Waren genannt werden, oder es wird zu leistende Geldzahlungen betreffen; und diese sollen Schulden genannt werden. Gewichte werden unterschieden nach Pfund, Libra,101 Unzen und Minutula.102 Gelder nach Dukaten, Lira,103 Solidi und Denare. Wenn es aber eine wissenschaftliche Beschäftigung ist, dann ist es entweder angelegt zur öffentlichen Bekanntmachung oder zur Vervollkommnung des eigenen Verstandes. Wenn auf erste Weise, dann zweifach, entweder auf mündliche Art, so soll es Predigt oder Rede genannt werden, oder auf schriftliche Art, und so soll es eine gelehrte Abhandlung genannt werden. Wenn es aber angelegt sein soll zur Vervollkommnung des Verstandes, dann wird es entweder in der Dichtung sein – und so werden Versmaße und Verse vorliegen – oder in der Logik oder Rhetorik – und so werden Beweise vorliegen –, aber auch in den Ding-Wissenschaften oder anderen, und dann werden ein Text oder ein Inhalt vorliegen, oder die Grade der ersten Qualitäten104 oder Schriften oder Quaestiones105 oder Zitate oder denkwürdige Autoritäten106 der Heiligen oder Philosophen. Es ist gut, bei diesen die Bilder der Gelehrten und der Bücher zu haben, von denen hier einige als Beispiel angeführt werden. Man soll sich nicht darum kümmern, wenn die gegebene Einteilung nicht so wissenschaftlich gehalten ist, weil sie zum Vorhaben dieser Kunst beiträgt.

101 libra: ebenfalls Bezeichnung für ‚Pfund‘ (1 röm. Pfund: 327,45 g); Gewichtseinheit für Gold oder Silber. 102 minutulum: (kleinste) Gewichtseinheit. 103 libras: übersetzt als  Lira, eine in Italien seit der Karolingerzeit übliche Bezeichnung für Pfund (libra). 104 qualitates primae: Eigenschaften, die verschiedenen Gegenständen, die zur selben Gattung gehören, wesentlich und notwendig zukommen; vgl. Aristoteles: Kategorien (Kap.  8, 8b25  ff.) und Metaphysik (Kap. 5, 1020b2  ff.). 105 questiones: bezeichnet eine scholastische  Lehrform und zugleich eine literarische Gattung. Element des scholastischen Unterrichts, als  Lehrdialog oder als dialektische Befragung eines Wissenstoffes; in der Theologie urspr. der Auslegung der Hl. Schrift dienend, welche zu einer Fülle von Quaestiones führt, die teils in Schriftkommentaren und Sentenzenwerken, teils als Quaestionensummen überliefert sind (vgl. die Unterteilung in Quaestiones und Articuli der Summa Theologiae). 106 dicta notabilia: gemeint sind ‚Autoritäten‘ (bedeutende, schriftlich aufgezeichnete Aussprüche).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De ymaginibus quorundam doctorum et librorum recolendis Fit ymago sancti Thome de Aquino vnus frater eiusdem ordinis habens vnum themonem nauis paruam ad collum uel alibi. Nam themo dicit ‚Thomasʻ. Sit ymago sancti Jeronimi vnus gerens ad collum vnum marsupium plenum nummis. Sit ymago sancti Augu- 5 stini vnus habens auream torquem ad collum. Sit ymago sancti Ambrosij vnus habens vnam cordam dependentem de arabia ad collum. Sit ymago sancti Johannis Crisostomi vnus habens vnum capucium de grisio cum stamine circumcirca. Sit ymago sancti Basilij vnus cum basia uel pratello de stagno ad collum. Sit ymago 10 sancti Bernhardi vnus cum bireto albo in capite et cum pendulo de neruo. Sit ymago Bede vnus cum bado ad collum in vna phyala. Sit ymago Origenis vnus cum [81va] vno organo paruo ad collum. Sit ymago genesis genu ferreum, sit ymago numeri sacculus plenus nummis ad numerandum, ymago deutronomij vter plenus nummis, 15 Yosue ‚yesiaʻ, id est ecclesia parua sculpta in lapide, Esdree ostree, proverbiorum pratum viride sculptum in paruo ligno, ymago ecclesiastis vna hasta oculis pictis plena, que dicit tibi ‚oculi hasteʻ, et si ad medium uel finem illius ligetur vna cos apta ad acuendum, tunc

1 De ymaginibus… recolendis] om. L - 2 Fit] Sit L 3 paruam] paruum L 4–6 ad collum… Augustini] om.  L 6 vnus habens] gerens uel habens  L 6 auream] aureum  L 7 dependentem] depi***  M 7 arabia] ambro  L 9 grisio] griso L 10 Basilij] Blasij L 10 pratello] capello L 12 bado] blado L 13 Origenis] Orienis M 13 paruo] om. L 15 nummis] Munis add. in marg. M 15 ad numerandum] Ad memorandum L 15 ymago] om. L 15 deutronomij] deuteronomium  L 15 vter] ut  M 16 yesia id est] om.  L 16 ostree] osce  M 17 in paruo ligno] in lapide paruo  L 17 ymago] om.  L 18 dicit] dicet  L 19 illius] om. L 19 vna] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über die zu erinnernden Bilder einiger Gelehrter und Bücher Das Bild des Heiligen Thomas von Aquin107 wird erstellt, indem ein Bruder desselben Ordens ein kleines Steuerruder eines Schiffes hält, am Hals oder anderswo. Denn das Steuerruder (themo) besagt ‚Thomas‘. Es soll das Bild des Heiligen Hieronymus108 eine Person sein, die am Hals einen Geldbeutel voller Münzen (nummis) trägt. Das Bild des Heiligen [Aurelius] Augustinus109 soll eine Person sein, die eine goldene (auream) Halskette am Hals trägt. Es soll das Bild des Heiligen Ambrosius110 eine Person sein, die eine Seil aus Arabien herabhängend am Hals trägt. Das Bild des Heiligen Johannes Chrysostomus111 soll eine Person sein, die eine Kapuze aus Pelz112 hat, mit einem Faden ringsum. Es soll das Bild des Heiligen Basilius113 eine Person sein mit einer Schale (basia) oder einer kleinen Fläche von Zinn114 am Hals. Es soll das Bild des Heiligen Bernhard115 eine Person mit einem weißen Barett auf dem Kopf sein und mit einem Schwertgehänge aus Leder. Es soll das Bild Bedas116 eine Person sein mit einem Hohlmaß117 (bado) am Hals in einer kleinen Schale. Es soll das Bild Origenes’118 eine Person sein mit [81va] einer kleinen Orgel am Hals. Es soll das Bild für Genesis ein eisernes Knie (genu) sein, es soll das Bild für Numeri ein Säckchen voller  Münzen zum Zählen sein, das Bild für Deuteronomium ein lederner Schlauch voller Münzen, das Bild für Josua ‚yesia‘, das ist eine kleine, in Stein gemeißelte Kirche, für Esra Austern (ostree), für das Buch der Sprüche eine grüne Fläche, die in ein kleines Holz geschnitten ist, das Bild für Ecclesiastes119 eine Stange (hasta), die voll ist von gemalten Augen (occulis), die für dich oculi haste besagt, und wenn bis zur Mitte oder ihrem Ende

107 Thomas von Aquin (um 1225–1274), 1323 heiliggesprochen, 1567 in den Rang des Kirchenlehrers erhoben. 108 Hieronymus (um 347–419/420): Kirchenlehrer, Übersetzer der Vulgata. 109 Aurelius Augustinus (354–430): Philosoph und Kirchenlehrer. 110 Ambrosius (um 339–397): Kirchenlehrer, Vermittler des Hymnengesangs in die westliche Kirche; bis auf Gregor den Großen zählt Matthaeus damit die großen Theologen des Altertums auf, die als lateinische Kirchenväter gelten. 111 Johannes Chrysostomus (344/354–407): Kirchenlehrer des Ostens (zusammen mit Athanasius, Basilius dem Großen, Gregor von Nazianz). 112 griseum, grisium: ‚Grauwerk‘, Pelz vom Eichhörnchen (grau und weiß gemustert). 113 Basilius der Große (um 330–379): Kirchenlehrer des Ostens. 114 stagnum: lat. stannum, ‚Zinn‘; vgl. Nr. 79 (plumbum) in der 100-Örter-Liste (f. 77vb–78rb). 115 Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153). 116 Beda (gen. Venerabilis, 672/673–735): angelsächsischer Theologe und Geschichtsschreiber. 117 badus: batus (hebr. bath): ursprünglich Flüssigkeitsmaß (entspricht nach Isid. Etym. 16,26,12 fünfzig sextarii); Bezeichnung sowohl für die Maßeinheit als auch für das verwendete Gefäß. 118 Origenes (185–um 254): Kirchenschriftsteller und Theologe. 119 Das Buch Prediger bzw. Kohelet, eines der Weisheitsbücher des Alten Testaments.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

erit ymago de ecclesiastico, nam dicis ‚oculi hasta cosʻ. Et sic faciliter per regulas de ymaginibus poteris reperire omnes ymagines librorum autenticorum doctorum et philosophorum allegacione dignorum, que, si habebis mente, multum proderunt in memorando originalia et auctoritates. Et si addiscas ymagines librorum 5 per ordinem, scias quot libri sunt in biblia, quot in loyca, quot in naturali philosophia, ordinem eorum et sic de alijs.

De memorabilibus in quibus diuiditur hec ars Hec ergo sunt memorabilia, per que diuiditur hec sciencia uel ars, scilicet simplex ignotum simplex notum, et hoc erit diccio uel 10 casus diccionis uel tempus aut modus verbi uel quantitas cuiuslibet silabe. Sub diccione simplici non continentur ludus taxillorum, cartellarum, scacorum, tabularum, loca itinerum et monstra stipendiariorum et sic de alijs, de istis sufficit. Complexum ut ambasiata, ystoria, pondera, debita, predicacio, sermo litteralis, scilicet 15 versus siue metra, argumentum, textus de gradibus rerum naturalium, quo ad qualitates primas scriptum, et hec: uel exposicio uel postilla uel commentum uel glosa, questiones ut in partibus sancti Thome de Aquino et in libris sentenciarum, eiusdem originalia uel auctoritates. De quibus omnibus est practicandum per ordinem, 20 qualiter vnum quodque est tradendum memorie per hanc artem, que recte dici potest thesaurus uel repositum cunctorum memora-

1 ecclesiastico] ecclesiasticus  M 1 dicis] dicet  L 1 oculi] oculis  L 1 hasta] asta  M 2 ymagines] om.  L 3 librorum] libros  L 4 mente] menti  L 5 addiscas] adicies L 6 scias] scies L 6 quot libri] quod libri L 6 quot in naturali philosophia] et huius in  L 8 De memorabilibus… ars] om.  L 11 tempus aut] tempus uel  L 11 quantitas] qualitas  L 11 cuiuslibet] cuius cuilibet ut vid. L 12 Sub diccione] Nota sub diccione add. L 12 non] om. L 13 cartellarum] dub.; cartarum L 13 tabularum] tabellarum L 14 alijs] alijs sed L 15 scilicet] om.  L 16 argumentum] argumenta  L 19 uel] et 20 est] om.  L 21 est tradendum memorie] tradendum sit memorie 22 repositum] repositorium ut vid. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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ein zum Schärfen geeigneter Wetzstein (cos) angebunden sein sollte, dann wird es das Bild für den Ecclesiasticus120 sein, denn du sagst oculi hasta cos. Du wirst auf diese Weise mittels der Regeln zu den Bildern leicht alle Bilder für die authentischen Bücher, die Gelehrten und Philosophen finden, die des Vorbringens würdig sind, welches, wenn du sie dir einprägen wirst, viel nützen wird beim Erinnern an Zitate und Autoritäten. Wenn du die Bilder für die Bücher der Reihe nach dazulernen möchtest, sollst du wissen, wie viele Bücher in der Bibel sind, wie viele in der Logik, wie viele in der Naturphilosophie, ihre Reihenfolge und so weiter. Über die erinnerungswürdigen Inhalte, in welche diese Kunst unterteilt wird Dies sind also die erinnerungswürdigen Inhalte, durch welche diese Wissenschaft oder Kunst unterteilt wird, nämlich das unbekannte Einfache und das bekannte Einfache, und dies wird ein Wort oder der Kasus eines Wortes sein oder das Tempus oder der Modus eines Verbs oder die Quantität einer jeden Silbe. Unter eine einfache Wortwendung nicht zu subsumieren sind das Spiel mit Würfeln,121 Karten,122 Schach,123 Brettspiele, Ortsangaben bei Reiserouten und die Truppenschau von Söldnern und so weiter, was hierzu genügt. Das Komplexe ist zum Beispiel eine Botschaft, eine Erzählung, Gewichte, Schulden, eine Predigt, eine gelehrte Abhandlung, freilich auch Verse oder Versmaße, ein Beweis, ein Text über die Seinsstufen der natürlichen Dinge,124 in dem etwas zu den ersten Qualitäten125 geschrieben steht, und dies: entweder eine Auslegung, eine Randbemerkung oder ein Kommentar oder eine Glosse, Quaestiones wie in den Texten des Heiligen Thomas von Aquin und in den Sentenzenbüchern, ihren Zitaten und Aussprüchen. Über diese muss man alle der Reihe nach handeln, wie ein jedes der Erinnerung anzuvertrauen ist mittels dieser Kunst, die zurecht Thesaurus oder Repositorium alles Erinnerungswürdigen genannt werden kann, angelegt

120 Das Buch Jesus Sirach, eines der Weisheitsbücher des Alten Testaments. 121 Würfelspiele, bei denen auch Tetraeder und Schafsknöchel zum Einsatz kamen, wurden im Mittelalter mit 2 bis 4 Würfeln gespielt; zahlreiche Spielvarianten belegt Johannes von Salisbury (12. Jh.). 122 Das Kartenspiel ist, aus dem Orient stammend, in Europa seit dem 14. Jh. belegt. 123 Ursprünglich aus Indien stammend (7. Jh.), gelangt das Schachspiel durch persische und arabische Vermittlung nach Europa und ist hier seit dem 11. Jh. allgemein verbreitet; seit dieser Zeit in der Literatur auch zur allegorischen Darstellung der mittelalterlichen Gesellschaft herangezogen. 124 Anspielung auf Thesen der mittelalterlichen Naturphilosophie; die Annahme einer hierarchischen Ordnung deutet auf den Einfluss neuplatonischer Lehren, die dem Mittelalter vor allem durch Augustinus und Ps. Dionysius Areopagita übermittelt wurden. 125 Vgl. Anm.104 (qualitates primae).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

bilium breuissime et ordinatissime, et ideo incomparabilis est. Et tunc erit finis. De modis memorandi quoad simplicia ignota Dum vis memorari simplicia ignota uel nichil significancia, tunc sic est agendum: primo habeas pre oculis loca tua preparata, in quorum quolibet poteris locare vnam uel duo uel tria vel quattuor uel quinque, nisi loca essent fabricata secundum sub et supra. Tunc enim descen [81vb] dendo non possunt poni comode, nisi tria in superiori, duo in medio et vnum in inferiori, et ascendendo similiter. Hoc facto aut occurrit ymago diccionis ignote aut non. Si occurrit ymago conueniens uel in toto uel in parte, pone primam ad primum locum seruatis condicionibus superioribus de ymaginibus et locis. Si vero non occurrit ymago, tunc forma ymaginem de diccione memoranda secundum regulas ymaginum. Verbi gracia si vis memorari istis quinque ignotis: ‚creas sarchos archos micros mucrosʻ, pone in primo loco vnum, quem cognoscas, proicientem cretam cum cote in faciem illius, qui est in secundo loco. In secundo loco pone vnum sartorem tibi notum trahentem cotem cum arcu in caput existentis in tercio loco. In tercio loco pone vnum cum arcu sagitantem vnam crucem illi, qui est in quarto loco. In quarto loco pone vnum, qui mingat super crucem sibi proiectam despectiue. In hoc pone vnum, qui mucat nasum super crucem reuerenter. Sic enim nectuntur ymagines et loca, et ex talibus gestibus miris primus vocabitur ‚creasʻ, secundus ‚sarchosʻ et sic de alijs. Si autem vis ponere plura istorum uel omnia ista in eodem loco, faciat sicut dictum est capitulo de locis ritu ymaginum.

1 ideo] in o  M 1 incomparabilis] comparabilis  L 3 De modis… ignota] om.  L 4 Dum] Si  L 4 nichil significancia] significatiua  L 6 quolibet] quilibet  M 6 vnam] vnum  L 8 possunt] possent  L 8 nisi] om.  L 9 vnum] om. L 11 occurrit] accurrit L 13 tunc forma ymaginem] ymaginem M 18 tibi notum] om. L 18 cum arcu] et archum L 20 sagitantem] sagitate M 21 sibi] siue M 21 proiectam] proiectam et L 22 In hoc] In quinto L 22 reuerenter] meum L 25 plura istorum] istorum M 25 faciat] fac L 26 ritu] dub 

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in größter Knappheit und Ordnung, und deshalb unvergleichlich ist. Ende des Abschnitts. Über die Arten des Erinnerns hinsichtlich des unbekannten Einfachen Wenn du dich an das unbekannte Einfache erinnern willst oder an etwas, das nichts bedeutet, dann muss man so vorgehen: Zuerst sollst du deine vorbereiteten Örter vor Augen haben, und in jedem von diesen wirst du eins oder zwei oder drei oder vier oder fünf lozieren können, es sei denn die Örter wären gemäß einer von oben nach unten gestaffelten Anordnung gebildet. Dann können sie nämlich nicht anders im [81va] Absteigen passend gesetzt werden, als drei im oberen Teil, zwei in der Mitte und eins im unteren Teil, und ähnlich im Aufsteigen. Nachdem dies geschehen ist, tritt dir entweder das Bild eines unbekannten Ausdrucks vor Augen oder nicht. Wenn dir ein Bild, das zum Teil oder im Ganzen angemessen ist, vor Augen tritt, setze das erste an den ersten Ort, indem du die oben angegebenen Bedingungen über die Bilder und Örter wahrst. Wenn dir aber kein Bild in den Sinn kommt, dann gestalte – gemäß den Regeln über die Bilder – ein Bild zu dem Ausdruck, der erinnert werden soll. Wenn du dich zum Beispiel an diese fünf unbekannten Ausdrücke erinnern willst: ‚creas sarchos archos nucros mucros‘, setze in den ersten Ort eine Person, die du kennst und die Kreide (cretam) mit einem Wetzstein in das Gesicht dessen wirft, der im zweiten Ort ist. In den zweiten Ort setze einen dir bekannten Schneider (sartorem), der einen Wetzstein über den Kopf dessen zieht, der im dritten Ort ist. In den dritten Ort setze eine Person mit einem Bogen (arcu), die ein Kreuz (crucem) mit Pfeilen durchbohrt, jenem zu, der im vierten Ort ist. In den vierten Ort setze eine Person, die mit Verachtung auf ein Kreuz uriniert, welches vor ihr liegt. In diesen [fünften Ort] setze einen, der sich ehrfürchtig über dem Kreuz die Nase schneuzt (mucat). So denn werden die Bilder und Örter verknüpft, und aus solchen sonderbaren Gesten wird der erste benannt werden creas, der zweite sarchos und so weiter. Wenn du aber mehreres von diesen oder alles dies in denselben Ort setzen willst, soll man es so machen, wie es behandelt wurde im Kapitel über die Örter bezüglich der Bilder.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

Potes eciam locare ista quinque per modum complexi fingendo vocabulum quinque silabarum de primis silabis et ex vocabulo ystoriam ponendo ymaginem hystorie ad primum locum. Et si potes quinque tales ymagines ad vnum locum, habebis viginti quinque vocabula. Et si sub quolibet tali vocabulo continentur alia quattuor necessario se consequencia aut ordine alphabeti aut alio, habebis in vno loco centum viginti quinque vocabula. Sed hoc quamuis sit pulchrum, tamen est difficile, quia sic non potes habere ymagines vocabulorum contentorum sub silabis vocabuli ficti, nisi quoad primas silabas. Si tamen scires habere ymagines integras uel sufficientes part[u]um ingenium, tunc ut dictum est posses in vno loco memorari centum viginti quinque vocabula et ordinate recitare. Et si ex vocabulis fictis fingeres alia et ex alijs alia, possis ponere totum katholicon in toto vocabulo et vnum magnum [82ra] volumen in vna auelana. Sicut enim virtualiter tota metaphysica continetur in ente et tota loyca in argumentacione, sic omnia vocabula continerentur in vltimo ficto. Et quod dico de catholicon, intellige eciam de alijs libris. Sic autem forma vocabulum de quinque supradictis scilicet ‚cre sa ar mi muʻ. Ystoria huius vocabuli sic hac ymagine, quod ‚cresaʻ sit proprium nomen stipendarij. Et tunc hec erit hystoria facta ex vocabulo: Cresa armiger mucat nasum, et hanc sic formatam ponas ad primum locum. Et sic ordinate procede in alijs. Si autem velles locare secundum sub et supra, ordina ymagines in locis secundum ordinem, quo ponuntur littere in locellis suppositis, talia enim debes fingere, quando taliter intendis locare.

2 vocabulum] vocabula  L 2 primis] quinque ut vid.  L 3 hystorie] historia  M 4 potes] pones  L 8 est] om.  L 8 sic] om.  L 12 vocabula] om.  L 13 possis] posses  L 14 toto] vno 16 tota] toto  M 17 continerentur] continentur  L 18 forma] formatur  L 19 scilicet] om.  L 19 cre… mu] vesa armi muc L 19 sic hac ymagine] sit hec ymaginaris L 20 stipendarij] alicuius stipendiarij L 21 mucat] mucat sibi 22 formatam] formatum M 25 fingere] fingere loca L 

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Du kannst aber auch diese fünf lozieren nach dem Modus des Zusammengesetzten, indem du ein Wort von fünf Silben erfindest aus den ersten Silben, und aus dem Wort eine Geschichte bildest und das Bild der Geschichte an den ersten Ort setzt. Wenn du fünf solche Bilder an einen Ort setzen kannst, wirst du fünfundzwanzig Wörter haben. Wenn unter jedem beliebigen, so beschaffenen Wort weitere vier enthalten sind, die sich notwendigerweise folgen entweder nach der alphabetischen Ordnung oder nach einer anderen, wirst du in einem Ort hundertfünfundzwanzig Wörter haben. Aber obwohl dies schön ist, bleibt es doch schwierig, weil du auf diese Weise nicht die Bilder der Wörter haben kannst, die in den Silben des erfundenen Wortes enthalten sind, außer hinsichtlich der ersten Silben. Doch wenn du verstündest, ganze Bilder zu haben oder solche, die die Erfindung der Teile ergänzen, dann könntest du wie gesagt in einem Ort hundertfünfundzwanzig Wörter memorieren und geordnet aufsagen. Wenn du aus den erfundenen Wörtern andere bildetest, und aus den anderen wieder andere, könntest du das ganze Katholicon126 in ein ganzes Wort setzen und ein großes [82ra] Buch in eine Haselnuss. Wie denn der Möglichkeit nach die ganze Metaphysik im Seienden127 enthalten ist und die ganze Logik in der Beweisführung, so wären alle Wörter im letzten, erfundenen enthalten. Was ich über das Katholicon sage, gilt auch für die anderen Bücher. So aber bilde das Wort aus den fünf oben genannten, nämlich ‚cre sa ar mi mu‘. Die Geschichte dieses Wortes lässt sich so durch dieses Bild fassen, dass ‚cresa‘ der Eigennamen eines Söldners sei. Dann wird die aus dem Wort geschaffene Geschichte folgende sein: der Knappe Cresa schneuzt sich die Nase, und du sollst diese so gestaltete Geschichte an den ersten Ort setzen. So gehe auch bei den anderen geordnet weiter. Wenn du aber gemäß einer von oben nach unten gestaffelten Anordnung lozieren wolltest, reihe die Bilder in die Örter nach der Ordnung, mit der die Buchstaben in die unten befindlichen Kästchen gesetzt werden, denn so Beschaffenes musst du dir vorstellen, wenn du auf solche Weise zu lozieren beabsichtigst.

126 Katholicon: 1286 abgeschlossenes Lexikon des Johannes Balbi von Genua († um 1298). 127 ens (substant. Partizip Präsens zu esse): das Seiende; vereinzelt bereits bei Boethius für das griech. τὸ ὄν gebildet und besonders in der scholastischen Philosophie diskutiert, etwa bezüglich der Unterscheidung von Sein und Wesen (vgl. Thomas von Aquin: De ente et essentia). Gemäß der scholastischen Unterscheidung ist das Sein das, wodurch etwas ist (id, quo est), das Seiende das, was ist (id, quod est).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De simplicibus notis recolendis Sciendum, quod eodem modo et ordine locantur simplicia nota et sicut ignota, nisi quod in notis potes formare uel invenire ymagines rerum significatarum, quod fieri non potest in hys, que sunt ignota. 5 De ludo taxillorum Si vis memorari de taxillis, hoc potest esse tripliciter. Primo quoad connotacionem proieccionis uel proieccionis et punctorum cuius­ libet silabe uel omnium silabarum. Primo modo pro prima proieccione vide primum, pro secunda secundum et sic usque ad 10 centum. Si vlterius vis procedere, reuertere ad primum locum et pone ibi duo, ut notetur quod bis fuisti ibi et cetera. Secundo modo pro prima proieccione vide primum locum et pone ibi ymaginem cum numero punctorum taxilli et sic usque in finem. Tercio modo si primo proiecit quattuor, pone ibi ymaginem pro quattuor scilicet 15 in primo loco, si secundo proiecit quinque, pone in secundo loco ymaginem pro novem. Si tercio sex, pone in tercio ymaginem de quindecim et sic ordinate procede. De ludo cartellarum 20 Qui vvlt memorari de cartellis, cuius figure fuere prima, secunda, tercia et sic deinceps: primo oportet te habere ymagines. Sit ergo ibi ymago regis baculi baculus cum corona, miles baculus cum equo, subditi baculus cum soletis, vnius baculi baculus cum ymagine vnius, duorum baculorum cum ymagine duorum baculorum [cum 25

1 De simplicibus… recolendis] om.  L 2 Sciendum… ordine] Nota quod eo modo et ordine  L 3 potes formare uel invenire] potes uel invenire  M 4 significatarum] significatorum  M 6 De ludo taxillorum] om.  L 8 connotacionem] connotaciones  L 8 uel proieccionis et] om.  L 9 uel omnium silabarum] om. L 9 Primo modo pro prima proieccione] primo propria proieccione L 12 ut] et L 13 ibi] om. L 15 primo] lit. M 15 pone] lit. M 15 ibi] om. L 16 si secundo… de quindecim] si in secundo loco proiecit pone in secundo loco ymaginem de quindecim L 17 pro novem] dub. 20 De ludo cartellarum] om. L 21 Qui vult memorari de cartellis] Si optas reminisci cartulis uel cartellis 21 cartellis] cartellis si L 21 fuere prima] fuerint propria L 22 ymagines] ymagines cartellarum  L 22 ibi] om.  L 23 regis baculi] regis de bastoni  L 23 miles] narbus  L 24 soletis] subijs  L 25 Baculorum] baculorum baculus L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über das bekannte Einfache, das erinnert werden soll Man muss wissen, dass auf dieselbe Weise und nach derselben Ordnung bekanntes gleichwie unbekanntes Einfaches loziert wird, außer dass du bei Bekanntem Bilder gestalten und finden kannst für bezeichnete Dinge, was bei Unbekanntem nicht geschehen kann. Über das Spiel mit Würfeln Wenn du dich an Würfel erinnern willst, kann dies auf dreifache Weise sein. Zuerst hinsichtlich der Mitaufzeichnung des Wurfes oder des Wurfes und der Punkte für jede beliebige Silbe oder alle Silben. Auf die erste Weise siehe für den ersten Wurf das erste, für den zweiten Wurf das zweite und so weiter bis hundert. Wenn du weiter fortschreiten willst, kehre zum ersten Ort zurück und setze dort eine Zwei, damit bezeichnet ist, dass du zweimal dort gewesen bist und so weiter. Auf die zweite Weise siehe für den ersten Wurf den ersten Ort und setze dort ein Bild mit der Zahl der Punkte des Würfels und so weiter bis zum Ende. Auf die dritte Weise, wenn der Spieler zuerst eine Vier geworfen hat, setze dort ein Bild für vier, nämlich im ersten Ort, wenn er eine Fünf beim zweiten Wurf gewürfelt hat, setze in den zweiten Ort ein Bild für neun. Wenn er beim dritten Wurf eine Sechs gewürfelt hat, setze in den dritten Ort ein Bild für fünfzehn und schreite so geordnet fort. Über das Spiel mit Karten Wer sich an Karten erinnern will, von welcher Farbe die erste, zweite, dritte Karte und so weiter der Reihe nach waren: Zuerst ist es notwendig, dass du Bilder hast. Es soll also dort das Bild des Königs vom Stab ein Stab mit einer Krone sein, ein Soldat soll ein Stab sein mit einem Pferd, das Bild eines Untergebenen ein Stab mit Schuhen, die Eins des Stabes durch einen Stab mit dem Bild einer Eins, die

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

ymagine duorum baculus] et sic ultra. Ymago regis de spata spata cum corona [82rb] rex, ut prius, ymago regis denarij vnus saccculus denariorum cum corona rex, ymago regis de cupa corona et cetera ut supra. Si autem prima carta est de rex cupe, pone in primo loco regem bibentem cum cupa, si secundus est vnus denarius, 5 pone in secundo loco vnum numerantem denarios super cartam, que signat vnum et sic de alijs.

De ludo schachorum Qui vvlt memorari de schachis, hoc potest esse quadrupliciter. Primo secundum quem schachum ludens proiecerit vtrum pedonem 10 uel militem et cetera. Secundo quem et quociens. Tercio in quo uel quoto quadro. Quarto quoad albos et nigros uel vnius coloris, tantum si qui alij modi mihi non videntur memorabiles. Primo ergo nota ymagines. Ymago rochi sit rota, militis miles uel equus, arfili filum, regis rex uel corona aurea, regine uel regina uel corona 15 argentea, pedone pedes lignei, et pro albis ista sint alba, pro nigris nigra. Si ergo vis memorari primo modo, sic operare: si primo proicit pedonem, pone in primo loco ymaginem pedone. Si in secundo idem, pone in secondo. Si tercio militem, pone in tercio milites et

1 Baculus] baculorum  L 1 et sic ultra] et sic de alijs  L 1–2 spata cum] sit spata cum L 2–4 rex, ut prius,… et cetera ut supra] et cetera sicut prius Ymago regis cupe sit cupa cum corona et cetera ut prius  L 4 de rex] regis  L 5 secundus] secunda  L 5 est] et  M 5 vnus denarius] vnius denarij  L 6 vnum] numerum  M 6 super cartam] sunt cartas  M 7 signat vnum] signant primum M 8 De ludo schachorum] om. L 9 Qui vvlt memorari de schachis] Si vis memorari de scacis 10 secundum quem] scilicet quantum fort. L 10 pedonem] pedonam L 11 uel] et L 13 modi] sunt L 13 Primo ergo nota ymagines] om. L 14 rota] roca uel rota L 14 arfili filum] ausili silum ut vid. L 15 pedes lignei] pes ligneus  L 17 nigra] siue eiusdem coloris cuius sunt ipsi scaci add.  L 17 proicit] proiecit  L 18 pedonem] pedonam  L 19 milites et regem] militem et sic ultra L - 

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Zwei des Stabes durch ein Bild einer Zwei und so weiter. Das Bild eines Königs vom Schwert soll ein Schwert mit einer Krone [82rb] als König sein, wie vorher, das Bild eines Königs vom Denar ein Säckchen voller Denare mit einer Krone als König, das Bild eines Königs vom Becher eine Krone und so weiter wie oben.128 Wenn aber die erste Karte von der Art ‚König vom Becher‘ ist, setze in den ersten Ort einen König, der aus einem Becher trinkt, wenn der zweite die Eins vom Denar ist, setze in den zweiten Ort eine Person, die Denare über einem Blatt zählt, welches eins bezeichnet und so weiter. Über das Schachspiel Wer sich an eine Schachpartie erinnern will, kann das auf vierfache Weise tun. Zuerst danach wie der Schachspieler entweder den Fußsoldaten oder den Springer129 hinauswarf und so weiter. Zweitens, welchen und wie oft. Drittens in welchem oder wievielten Feld. Viertens hinsichtlich der Weißen und Schwarzen oder einer einzigen Farbe, aber nur, wenn die anderen Arten mir nicht erinnerungsförderlich scheinen. Zuerst also kennzeichne die Bilder. Das Bild eines Turms130 sei ein Rad (rota), das Bild eines Springers sei ein Soldat oder ein Pferd, das Bild eines Läufers131 ein Faden (filum), das Bild eines Königs ein König oder eine goldene Krone, das Bild einer Königin entweder eine Königin oder eine silberne Krone, für einen Fußsoldaten Füße aus Holz, und für weiße Steine sollen diese weiß sein, für schwarze schwarz. Wenn du dich folglich erinnern willst auf die erste Weise, gehe so vor: Wenn der Spieler zuerst einen Fußsoldaten hinauswirft, setze in den ersten Ort das Bild eines Fußsoldaten.132 Wenn beim zweiten Mal dasselbe, setze in den zweiten Ort dasselbe. Wenn beim dritten Mal

128 Die Attribute dienen der Kennzeichnung verschiedener Spielfarben, beschrieben wird eine italienisch-spanische Blattversion; zu den genannten vier Symbolen vgl. die sog. Trionfikarten, die im 15. Jh. im Umfeld der Herzöge von Mailand und Ferrara aufkommen und als Vorform der Tarotkarten gelten, sowie die sog. Trappolierkarten, ein nach dem Kartenspiel Trappola benanntes und im Italien des 16. Jhs. belegtes Blatt (überliefert durch: Girolamo Cardano: De ludo Aleae, 1526). 129 miles: Springer im Schachspiel. 130 rochus (auch roccus): Turm im Schachspiel. 131 arfilus (auch arphilus): Läufer im Schachspiel. 132 pedone: hier offenbar verwendet als Genitiv zu pedona.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

regem. Sed melius fit, si ponantur numeri proieccionum ad pedonem, rotum et cetera. Si tercio modo, necessario te scire primo – sicut Aue maria – numerum et ordinem quadrorum in schacherio, sicut quod primum quadrum est, vbi ponitur rothus, in manu sinistra secundum, vbi stat miles ex eadem parte et sic usque 5 in finem prime linee. Deinde reincipiendo usque per totum. Confecto hoc vide in quoto quadro proicit primum schachum et pone ymaginem schachi in primo loco cum numero illius quadri et sic pone secundum in secundo et cetera. Si quarto modo vis memorari tam de nigris quam de albis, loca tam nigros quam albos secundum 10 ordinem proieccionis. Si de albis tantum albos. Si de nigris tantum nigros.

De ludo tabellarum Si vis recordari de tabellis, hoc potest esse solum dupliciter et hoc tam de nigris quam de albis: videlicet quantum ad numerum posi- 15 cionis uel locorum uel quo ad utrumque. Nam cum non differunt in figura, non potest sciri quociens posueris hanc uel illam, nisi taliter distinguentur, quod possent bene cognosci et distingui vna ab altera. [82va] Tunc enim, habendo ymagines vniuscuiusque, posset vnaqueque per se locari et sciri quociens et in quo loco tracta 20 fuisset. Si vis ergo scire quot tabellas sumpsit prima vice, pone in primo loco tabellas cum ymagine illius numeri. Secunda vice pone in secundo et sic ultra. Si scire cupis in qua casa siue quoto loco,

1–2 Sed melius fit… rotum et cetera] Si secundo modo potes per primum modum computando loca ubi posuisti pedonas et milites et regem et cetera  L 2 necessario] necesse est  L 4 rothus] rochus  L 6 Confecto] facto  L 7 quadro] quaro M 7 proicit primum] bis L 10 tam] lit. M 11 Si de albis] si albos L 11 Si de nigris tantum nigros] si nigros nigros add. in marg.  L 13 De ludo tabellarum] om.  L 14 Si vis recordari de tabellis] Si cupis recolere tabellas  L 14 dupliciter] tripliciter  L 15 posicionis] posicionis solum  L 16 locorum] locorum per se  L 16 utrumque] utrumque simile  L 16 Nam cum] Nam si  L 17 uel] l M 20 per] pre M 20 locari] locare M 21 fuisset] hoc eciam intellige de Scacis add.  L 21 scire] sciec  M 21 sumpsit] sumpsit et posuit L 22 cum ymagine] et ymagines L 22 Secunda vice] si secunda vice L 23 secundo] secundo loco L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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einen Springer, setze in den dritten Ort einen Springer und einen König. Aber besser geschieht es, wenn Zahlen für die Züge gesetzt seien bei Fußsoldat, Turm133 und so weiter. Wenn auf die dritte Weise, musst du notwendigerweise zuerst – so wie ein Ave Maria – die Zahl und Ordnung der Felder auf dem Spielbrett wissen, sowie welches das erste Feld ist, wo der Turm gesetzt wird, dann zur linken Hand das zweite Feld, wo der Springer steht von derselben Seite aus und so weiter bis zum Ende der ersten Linie. Dann, indem du von neuem beginnst, bis du das ganze Spielfeld durch hast. Nachdem du dies ausgeführt hast, siehe, im wievielten Feld der Spieler die erste Schachfigur hinauswirft, und setze ein Bild der Figur in den ersten Ort mit der Nummer jenes Felds, und so setze die zweite Figur in den zweiten Ort und so weiter. Wenn du dich auf die vierte Weise erinnern willst, sowohl an die schwarzen als auch an die weißen Steine, loziere sowohl die schwarzen wie die weißen gemäß der Reihenfolge des Zugs. Wenn du dich nur an die weißen Steine erinnern willst, dann nur weiße. Wenn an die schwarzen, dann nur schwarze. Über das Spiel mit Brettspielen Wenn du dich an Brettspiele erinnern willst, kann dies allein auf zweifache Weise geschehen, und zwar sowohl bei den schwarzen wie den weißen Steinen: Nämlich hinsichtlich der Zahl der Position oder [hinsichtlich] der Örter [an sich], oder hinsichtlich beider. Denn wenn die Steine sich nicht unterscheiden nach der Figur, kann man nicht wissen, wie oft du diese oder jene Figur gesetzt hast, wenn sie nicht auf solche Weise unterschieden werden, dass sie gut zu erkennen und jeweils zu unterscheiden sind. [82va] Dann nämlich, indem Bilder für eine jede Figur vorhanden sind, könnte jede für sich loziert werden und man könnte wissen, wie oft und an welchen Ort sie gezogen wäre. Wenn du also wissen willst, wie viele Täfelchen der Spieler beim ersten  Mal nahm, setze in den ersten Ort Täfelchen mit dem Bild jener Zahl. Beim zweiten Mal setze sie in den zweiten Ort und so weiter. Wenn du zu wissen wünschst, in welchem Haus oder am wievielten

133 rotus: hier verstanden als roccus, Turm im Schachspiel.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

pone numerum tabellarum in manu dextra, numerum punctorum in taxillis in manu sinistra et numerum casarum in locellis. Sequitur de itinere Si afficis recolere tibi ad que et quot loca applicueris in itinere, interroga quomodo vocentur et pone ymaginem primi ad primum 5 locum, secundum ad secundum et sic de alijs. De monstra stipendariorum Si autem cupis scire per ordinem qui et quot sunt homines siue stipendarij, qui fecerunt mostrum, ausculta, quando vocatur primus, quomodo vocatur et pone ymaginem eius ad primum 10 locum et sic operare usque in finem. De casibus et numeris diccionum recolendis Nota, quod tibi – volenti memorari in quo casu et numero sit vnaqueque diccio declinabilis per casus  – inter alias regulas, que possent dari, hoc melior et conueniencior esse videtur, videlicet 15 quod in quolibet loco diccionis locande sit vnus homo tibi notus, et tunc facta ymagine diccionis recolende sicut eum. Si vis memorari, quod talis diccio casus nominatiui et numeri singularis, pone cum ymagine diccionis nabula, que signant nominatiuum [nominatiuum] singularem, utraque in capitulo de ymaginibus casuum. 20 Verbi gracia si vis memorari de cane in nominatiuo singulari, pone vnum ad locum tuum, qui habet vnum canem in collo uel ad brachium cum fune ligatum cum nabulis. Si vis recolere in ablatiuo plurali, pone fasciam ad collum eius uel alibi et cetera.

1–2 pone… in locellis] pone tabellas cum numero case. Si quot tabellas et in quoto loco pone numerum tabellarum in manu dextra et numerum casarum in locellis. Et sic eciam numerum punctorum taxillorum scire vis pone ipsum in manu sinistra L; in manu sinistra add. in marg. L 3 Sequitur de itinere] om. L 6 secundum] secundi 7 De monstra stipendariorum] om. L 7–11 Si autem… in finem] hunc modum locacionis siue locandi serua in locando per ordinem nomina stipendiariorum quando fit monstra ausculta quando vocatur primus quomodo vocatur et pone ymaginem eius ad primum locum et sic de alijs L 12 De casibus… recolendis] om.  L 15 hoc] hec  L 16 locande] locandum  M 17 recolende] om.  L 47 sicut] super  L 20 utraque] ut patet  L 20 in capitulo] om. L 21 pone] poni M 22 habet] habeat L 22 in collo] ad collum 22–24 ad brachium… collum eius] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Ort, setze die Zahl der Täfelchen in die rechte Hand, die Zahl der Punkte bei den Würfeln in die linke Hand und die Zahl der Häuser in die Kästchen. Es folgt der Abschnitt über Wege Wenn du dir ins Gedächtnis zu rufen verlangst, an welchen und wie vielen Örtern du auf einem Weg eingekehrt bist, dann frage, wie sie genannt werden, und setze ein Bild des ersten an den ersten Ort, das zweite an den zweiten und so weiter. Über die Truppenschau von Söldnern Wenn du aber zu wissen wünschst, welche und wie viele Menschen oder Söldner es der Reihe nach sind, die zur Truppenschau134 angetreten sind, höre aufmerksam zu, wenn der Erste mit seinem Namen genannt wird, und setze sein Bild an den ersten Ort. Fahre so weiter fort bis zum Ende. Über die zu erinnernden Kasus und Numeri von Wörtern Merke – wenn du dich erinnern willst, in welchem Kasus und Numerus ein jedes Wort sei, das nach seinen Kasus deklinierbar ist –, dass unter anderen Regeln, die angegeben werden könnten, dies für dich besser und passender zu sein scheint, nämlich dass in jedem Ort für das zu lozierende Wort ein dir bekannter Mensch sein soll, und dann evoziere135 ihn gleichsam durch das Bild des zu erinnernden Wortes. Wenn du dich erinnern willst, dass ein solches Wort im Nominativ und im Singular steht, setze mit dem Bild des Wortes Laute, die den Nominativ und den Singular bezeichnet, beide beschrieben im Kapitel über die Bilder der Kasus. Wenn du dich zum Beispiel an einen Hund im Nominativ Singular erinnern willst, setze eine Person an deinen Ort, die einen Hund auf den Schultern oder am Arm hat und durch ein Seil mit einer Laute verbunden ist. Wenn du dich an den Ablativ Plural erinnern willst, lege eine Binde an den Hals dessen, oder anderswo, und so weiter.

134 monstrum (auch monstra, f.): Truppenschau, Parade. 135 facta: übersetzt als Imperativ.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De modo, tempore, numero et persona verbi Si vis recordari de vnoquoque verbo quoad modum, tempus, numerum et personam, iste est optimus modus. Primo fac, quod prima figura abaci secundum se sumpta significet modum verbi, tempora significata tempus eius. Secundo inpone in loco uel locello fustum lucernarij uel columpnam uel stipitem arborem cum tribus cauillis uel baculis transeuntibus per cubitum vnum, secundum sub et supra. Et prima [82vb] cauilla, ascendendo a manu tua sinistra, significet primam personam singularis numeri, secunda secundam, tercia terciam, et prima ex alia parte significet primam personam pluralis numeri, secunda secundam et tercia terciam. Si ergo vis scire ‚decurrimusʻ, quod est modi indicatiui presentis temporis persone prime et numeri singularis; et sic de alijs verbis, modis, temporibus, personis et numeris. Ecce practica: Pone primo ad locum, vbi est columpna cum tribus cauillis ut dictum est, ymaginem de hoc verbo ‚curroʻ videlicet vnum currum. Deinde pone in prima cauilla pluralis numeri cultellos, qui signant duo, in quo numero sint due figure abaci, et prima, que est I, signat quod ‚currimusʻ, cuius ymago est posita ad locum, est indicatiui modi, et secunda, que est eciam I, signat quod est presentis temporis. Et quia cultelli sunt positi in prima cauilla pluralis numeri, signat quod est prime persone pluralis numeri. Hinc vade ad secundam colump­ nam, et ibi posito curru pro ymagine ‚decurroʻ, pone in prima cauilla singularis numeri alia, que signant quattuordecim, vbi sunt due figure, quarum prima signat quod ‚cucurreramʻ est indicatiui siue primi modi, secunda quod est preteriti plusquamperfecti siue quarti temporis, et quia alia sunt posita in prima cauilla singularis numeri, signat quod est prime persone et numeri singularis et sic intellige de reliquis. 1 De modo… verbi] om.  L 4 abaci] abati  L 5 tempora significata] om. L 5 tempus] temporis ut vid. M; secunda tempus L - 6 fustum lucernarij] fustem lucernatum L 6 arborem] arborum L 7 per cubitum] vnum a leua ad dextram distantibus vna ab altera circa cubitum add. L 10 significet] significabit L 11 secunda secundam et tercia terciam] et modi indicatiui L 11–13 Si ergo… singularis] Deinde ****ortam quod primi modi quod temporis prime parte numeri singularis L 17 qui signant] qui significent 18 sint] sunt L 18 abaci] abati L 18 signat] significat L 19 ad locum] om. L 20 signat] om. L 21 cultelli] cutelli  L 21 signat] significat  L 23 curru] cucurri  L 23 pro ymagine] per ymaginem  L 24 alia] aliam  L 25 cucurreram] currebam  L 26 quod] que L 27 quia] om. L 28 et numeri] om. L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über Modus, Tempus, Numerus und Person des Verbs Wenn du dich an jedes Verb erinnern willst hinsichtlich  Modus, Tempus, Numerus und Person, ist dies die beste Art und Weise. Zuerst bewirke, dass die erste Figur eines Abakus, entsprechend ausgewählt, den  Modus des Verbs bezeichnet und die angezeigten Zeiten dessen Tempus. Zweitens, lege in den Ort oder das Kästchen das Holz einer Lampe oder eine Säule oder einen Stock vom Baum mit drei Zapfen oder Stäben, die im Abstand einer Elle [in den Stock] hinübergehen, gemäß einer von oben nach unten gestaffelten Anordnung. Der erste [82vb] Zapfen soll, aufsteigend zu deiner linken Hand, die erste Person Singular anzeigen, der zweite Zapfen die zweite, der dritte die dritte, und der erste Zapfen auf der anderen Seite soll die erste Person Plural anzeigen, der zweite die zweite und der dritte die dritte. Wenn du also decurrimus wissen willst, das ist Indikativ Präsens und erste Person Singular (sic!); so auch bei anderen Wörtern und Modi, Tempora, Personen und Numeri. Beachte die Vorgehensweise: Setze zuerst an den Ort, wo die Säule mit den drei Zapfen ist, wie es gesagt wurde, ein Bild von diesem Wort curro, nämlich einen Wagen (currum). Dann setze in den ersten Zapfen, für Plural, kleine Messer, die eine Zwei bezeichnen. In dieser Zahl sollen zwei Figuren des Abakus sein, und die erste, die I ist, bezeichnet, dass currimus, dessen Bild an den Ort gesetzt wurde, Indikativ ist, und die zweite, die auch I ist, bezeichnet, dass es Präsens ist. Weil kleine Messer in den ersten Zapfen gesetzt wurden für Plural, bezeichnet dies, dass es die erste Person Plural ist. Von da gehe zur zweiten Säule und, nachdem dort der Wagen gesetzt wurde für das Bild von decurro, setze in den ersten Zapfen für Singular Knoblauch, der eine Vierzehn136 bezeichnet, wodurch zwei Figuren da sind, deren erste anzeigt, dass cucurreram Indikativ ist oder vom ersten Modus, die zweite, dass es das Vergangenheitstempus Plusquamperfekt ist oder vom vierten Tempus, und weil Knoblauch gesetzt wurde im ersten Zapfen für Singular, bezeichnet dies, dass es die erste Person Singular ist, und so verstehe auch die restlichen Fälle.

136 Vgl. die 100-Örter-Liste (f. 77vb–78rb).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De quantitatibus silabarum memorandis Considerandum, quod tibi volenti recolere quanta est vnaqueque silaba diccionis per hanc artem sic debes agere: pone lucernarium ad quemlibet locum tuum et in fusto lucernarij fac quinque fora minima, transeuncia a leua in dexteram, et tria anteriori parte et a summo usque deorsum, distancia vnum ab altero circa vnum cubitum. Et tunc, si diccio est monassilaba, pone in inferiori foramine ad leuam vnam cauillam vno cubito longam non transeuntem ad dexteram, et si silaba est longa, relinque cauillam vacuam. Si vero est breuis, appende ibi bolam, que signat silabam breuem. Si est diccio dissilaba, fac, ut cauilla sit bicubica leua dexteraque diffundens per vnum cubitum. Et tunc, si ambe silabe sunt producte, maneat cauilla vtraque vacua ut ‚scribensʻ. Si ambe sunt breuis, in vtraque ponatur ‚ollaʻ. Si autem prima silaba est longa et secunda breuis, leua maneat vacua et in dextera sit ‚olaʻ. Si vero eiusmodo fiet, et sic intellige de alijs. Ita quod leua primi foraminis signat primam silabarum, [83ra] secundi terciam, tercii quintam et quarti septimam, quinti vero nonam. Et dextera primi foraminis signat secundam silabam, secundi quartam, tercij sextam, quarti octauam, quinti decimam. Et foramen inferius a parte anteriori signat vndecimam silabam, medium duodecimam et supremum terciam decimam. Nec cauille in fusco posite debent excedere numerum silabarum in diccione positarum. Verbi gracia si vis recordari, quod ‚Zachariasʻ habet omnes longas, pone ad locum vnum tibi notum, qui vocetur hoc nomine, uel vnum habentem vnum panem de zucharo in capite, qui ex hoc vocetur sic. Et in duobus primis foraminibus lucernarij ibi positi pone duas cauillas vacuas transeuntes a leua in dexteram; que stabunt pro quattuor. Si

1 De quantitatibus… memorandis] om. L 2 Considerandum] Nota L 4 fusto] fuste  L 5 anteriori] in anteriori  L 8 cubito] cubitum  L 10 bolam] ollam L 11 Si est] Si uero est L 11 dissilaba] bissilaba L 11 bicubica] bicubita L 13 vtraque] vtrumque L 14 breuis] breues 14 olla] bla M 16 eiusmodo fiet] eiusmodo eiusmodo fiet  L 16 intellige] intelligo  L 17 silabarum] silabam  L 17–18 secundi… nonam] secundi terciam et tercij terciam et secundi terciam et tercij quintam quartam et tercij sextam et quarti quartam et quinti decimam et quarti quintam et tercij nonam L 17 tercii quintam] quarti quartam M 22 fusco] fuste L 27 positi] positis L 

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Über zu memorierende Silbenquantitäten Erwägen musst du, wenn du dir die Länge einer jeden Silbe eines Ausdrucks ins Gedächtnis rufen willst, dass du mittels dieser Kunst so vorgehen sollst: Setze eine Lampe an einen beliebigen deiner Örter, und am Holz der Lampe mache fünf sehr kleine Öffnungen,137 die von der linken zur rechten Seite hinübergehen, und drei auf der vorderen Seite und von oben bis unten, die eine von der anderen etwa eine Elle entfernt. Und dann, wenn der Ausdruck einsilbig ist, setze in die untere Öffnung auf der linken Seite einen Zapfen mit der Länge einer Elle, der nicht auf die rechte Seite hindurchgeht, und wenn die Silbe lang ist, lasse den Zapfen leer zurück. Wenn sie aber kurz ist, hänge dort eine Schüssel138 auf, die eine kurze Silbe bezeichnet. Wenn der Ausdruck zweisilbig ist, mache, dass der Zapfen die Länge von zwei Ellen habe und sich auf der linken und rechten Seite über eine Elle ausbreite. Und dann, wenn beide Silben gedehnt sind, sollen beide Zapfen leer bleiben, wie scribens. Wenn beide kurz sind, soll in beide olla gesetzt werden. Wenn aber die erste Silbe lang ist und die zweite kurz, soll der linke Zapfen leer bleiben und im rechten sei ‚ola‘. Genauso wie es aber hier gemacht wird, so verstehe auch die anderen Fälle. So, dass der linke Zapfen der ersten Öffnung die erste der Silben bezeichnet, [83ra] der zweiten Öffnung die dritte, der dritten die fünfte, und der vierten die siebte, der fünften aber die neunte. Der rechte Zapfen der ersten Öffnung bezeichnet die zweite Silbe, der zweiten die vierte, der dritten die sechste, der vierten die achte, der fünften die zehnte. Die untere Öffnung auf der vorderen Seite bezeichnet die elfte Silbe, die mittlere Öffnung bezeichnet die zwölfte, und die oberste die dreizehnte. Die im Holz139 angelegten Zapfen dürfen nicht die Zahl der Silben überschreiten, die im Ausdruck gesetzt sind. Wenn du dich zum Beispiel erinnern willst, dass Zacharias nur lange Silben hat, setze an den Ort eine dir bekannte Person, die mit diesem Namen gerufen wird, oder eine Person, die ein Zuckerbrot (zucharo) auf dem Kopf hätte und die von daher so gerufen wird. In die beiden ersten Öffnungen der Lampe, die dort aufgestellt wurde, setze zwei leere Zapfen, die von der linken auf die rechte Seite durchge-

137 fora: hier als Synonym zu foramen verstanden. 138 bola: mlat. bolla ‚Schale, Schüssel‘. 139 fusco: hier aufgefasst als Ablativ von fustum, ‚Holz‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

vis memorari in ‚amabamusʻ, quod prima et ultima sint correpta et medie producte, ponendum vnum tibi notum ad locum, qui habeat hamos et bramas ex hoc vocetur ‚amabamusʻ. Et in duobus primis foraminibus lucernarij ibi positi pone duas cauillas transeuntes a leua ad dexteram et in leua primo pone ‚olamʻ et in dextera secundo 5 ‚ollamʻ et sic de alijs.

De ambasiatis memorandis et cetera Si vis habere memoriam alicuius ambasiate, habe locum tuum expeditum pre oculis et ibi pone, cui ambasiata est fienda et ex parte cuius debet fieri, et inter eos pone materiam ambasiate, sic enim faciliter tenebitur menti. Verbi gracia si frater Montus diceret tibi euni Paduam: ‚Dicatis fratri Stephano, quod mittat mihi semina capiciorum, et mandabo semina caulium de Zeneto.ʻ Pone in loco fratrem predictum porrigentem capucios fratri Monto et fratrem Montum porrigentem vnum faxem ligatum de caulibus fratri Stephano, et sic conuenienter venduntur caules de Zeneto. Et sic habebis totam ambasiatam et sic intellige de alijs, ita tamen quod prima sit in primo loco, secunda in secundo et sic per ordinem. Si vero ambasiata est nimis prolixa, distingue ipsam per partes et pone primam in primo loco, secundam in secundo et sic de alijs. Potes eciam notare vocabula, in quibus continentur puncta tocius ambasiate, et pone ymaginem primi vocabuli in primo loco, secundi in secundo et cetera. Potes eciam ex illis vocabulis fingere vnum de quinque uel tribus primis silabis [83rb] uel duo et cetera. Et ex vocabulo ficto fingere ymaginem, in qua posita ad locum continebitur tota ambasiata.

1 correpta] correpte  L 2 ponendum] pone  L 3 hamos et †bramas†] hamos ad labia et bulinam ad barbam qui  L - 4 positi] posite  L 5 primo] prime L 5 dextera] dexteram L 5 secundo] secunde L 7 De ambasiatis… et cetera] om.  L 10 eos] eas  L 11–12 diceret… Stephano, quod] om.  L 12 euni] eundi M 13 capiciorum, et] capuciorum quia L 13 mandabo] mandabo sibi L 13 Zeneto] seneto L 15 faxem] fasciam uel fascem L 16 et] quia L 18 in secundo] in secundo et tercia in tercio 19 nimis] nimium  L 22 pone] ponere L 24 et cetera] eciam L 25 ymaginem] historiam L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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hen; diese werden für eine Vier (vier Silben) stehen. Wenn du dich bei amabamus erinnern willst, dass die erste und letzte Silbe verkürzt sind und die mittleren gedehnt, musst du eine dir bekannte Person an den Ort setzen, die (Angel-)Haken (hamos) und Brassen140 (bramas) hat und von daher amabamus gerufen wird. In die beiden ersten Öffnungen der Lampe, die dort aufgestellt wurde, setze zwei Zapfen, die von der linken auf die rechte Seite durchgehen, und in die linke setze zuerst ola und in die rechte zweitens olla, und so weiter. Über zu memorierende Botschaften und anderes Wenn du die Erinnerung an irgendeine Botschaft behalten willst, habe deinen Ort bereit vor Augen und hinterlege dort, für wen die Botschaft zu erbringen ist und im Auftrag wessen sie geschehen soll, und zwischen diese setze den Inhalt der Botschaft, so wird sie denn leicht im Geist141 haften bleiben. Wenn zum Beispiel Bruder Montus dir sagte, sobald du nach Padua gingest: ‚Ihr sollt Bruder Stephanus sagen, dass er mir Samen von Weißkohl142 schicke, und ich werde ihm Samen von Kohl aus Zeneto143 überlassen.‘ Setze in den Ort den vorher genannten Bruder, der dem Bruder Montus Kapuzen (capucios) darreicht, und den Bruder Montus, der dem Bruder Stephanus ein zusammengeknüpftes Bündel Kohlstengel darreicht, und so werden in angemessener Weise Kohlstengel aus Zeneto verhandelt. So wirst du die ganze Botschaft im Gedächtnis haben und so verstehe auch die anderen Fälle, doch in der Art, dass die erste Botschaft am ersten Ort sei, die zweite am zweiten, und so weiter der Reihe nach. Wenn aber die Botschaft zu lang ist, gliedere sie in Teile und setze den ersten Teil an den ersten Ort, den zweiten an den zweiten und so weiter. Du kannst auch Wörter, in denen die Punkte der ganzen Botschaft enthalten sind, aufzeichnen, setze dann das Bild des ersten Wortes an den ersten Ort, des zweiten an den zweiten Ort und so weiter. Du kannst auch durch144 jene Wörter ein Wort bilden aus den fünf oder drei ersten Silben [83rb] oder zwei und so weiter. Du kannst auch aus dem geschaffenen Wort ein Bild entwerfen, das an den Ort gesetzt ist und in dem die ganze Botschaft enthalten sein wird.

140 brama: ‚Brasse‘, ein breitköpfiger Fisch, frz. brasme (Zedler). 141 menti: vulg. Abl. Sing. 142 capicium: vgl. ital. cavolo cappuccino, ‚Weißkohl‘. 143 Zeneto: die Zuordnung des Ortsnamens bleibt unklar; denkbar wäre Geneto/Gineto/Sangineto in Kalabrien. 144 ex: hier instrumental aufgefasst.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De hystorijs memorandis Cum cupis recordari hystoriam alicuius sancti, tyrampni sew belli uel alterius gesti, nota bene puncta tocius hystorie  – siue sint decem siue viginti siue plura – et addisce bene ea, que continentur in primo puncto, deinde, que in secundo, usque ad vnum uel 5 tria. Postea accipe vocabulum in primo puncto, per quod possis melius memorari omnia in eodem puncto contenta. Cuius ymaginem ponas ad primum locum et sic per ordinem quousque habebis totam hystoriam. Potes eciam de primis silabis quinque uel tria vocabulorum  – per que recoluntur omnia contenta in primis 10 quinque uel tribus punctis – fingere vnum vocabulum, et ex vocabulis hystoriam, quas ponas ad primum locum. Et sic per ordinem operare quousque tota hystoria sit completa cum suis miraculis et portentis. De ponderibus memorandis siue mercancijs 15 Tu, qui desideras memorari pondera sicut fit in mercancijs siue piperum siue nucum muscatarum siue alterius materie, sic agere debes, ut in loco tuo – qui sit adminus septem cubitorum, si fieri potest – non locentur ultra tria. Vnum in principio, secundum in medio, tercium in fine. Verbi gracia si vis recolere, quando exone- 20 rantur naues, quod in primo sacco sunt decem pondera, lib et viginti, vncie octo, minutula quinque de pipere, et in secundo sacco sunt octo pondera nucum muscatarum, libre decem, vncie quattuor et minutula duo, agas per hunc modum: ponas ad primum locum ipsum, cuius sunt res iste, uel alium tibi notum. Cuius 25 dextera signat pondera, sinistra libras, os vncias et vertex capitis minutula. Et pone ante ipsum saccum pipere plenum, in manu dextera castaneas, que signant decem, in leua arancium, quod signat viginti, in ore paletam, que signat octo, et in capite pennas,

1 De hystorijs memorandis] om.  L 2 Cum] Si  L 2 tyrampni sew] legend. tyranni seu; tyranni uel  L 3 gesti] om.  L 4 bene ea, que continentur] bene que sunt  L 5 vnum] quinque  L 6 possis] posset  L 8 ponas] pone  L 8 ordinem] ordinem operare  L 8–13 habebis… quousque] om.  L 14 et portentis] om.  L 15 De ponderibus… mercancijs] om.  L 16 Tv, qui desideras memorari] Si memorari desideras L 17 piperum] piperis L - 19 principio] primo L 21 lib] libi M; librarum L 22–24 et in secundo… hunc modum] om. L 24 Ponas] pone  L 25 ipsum] om.  M 25 iste] om.  L 27 in] lit.  M 28 signant] significant L 28 arancium] rancium M 29 ore paletam] oro paleta L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über zu memorierende Geschichten Wenn du dich an die Geschichte irgendeines Heiligen, Königs oder Krieges oder einer anderen Tat erinnern willst, beobachte gut die Punkte der ganzen Geschichte – sei es, dass es zehn oder zwanzig oder mehr seien – und eigne dir gut das an, was im ersten Punkt enthalten ist, dann das, was im zweiten Punkt enthalten ist, bis zu einem oder drei Dingen. Später nimm das Wort im ersten Punkt, durch welches du dich besser an alles, was in demselben Punkt umschlossen ist, erinnern kannst. Dessen Bild sollst du an den ersten Ort setzen und so der Reihe nach, bis du die ganze Geschichte haben wirst. Du kannst auch von den ersten Silben der fünf oder drei Wörter – durch die alles, was in den ersten fünf oder drei Punkten enthalten ist, erinnert wird – ein Wort bilden, und aus den Wörtern eine Geschichte, welche du an den ersten Ort setzen sollst. So gehe der Reihe nach vor, bis die ganze Geschichte vollendet ist mit ihren Wundern und Prophezeihungen. Über zu memorierende Gewichte oder Handelsgeschäfte Du, der du es wünschst, dich an Gewichte zu erinnern, wie es in Handelsgeschäften der Fall ist, seien es Gewichte von Pfeffer oder Muskatnüssen oder einer anderen Ware, musst so vorgehen, dass in deinem Ort – der nach Möglichkeit wenigstens sieben Ellen groß sein soll – nicht mehr als drei Dinge loziert werden. Eins an den Anfang, das zweite in die  Mitte, das dritte am Ende. Wenn du dir zum Beispiel ins Gedächtnis rufen willst, wenn Schiffe entladen werden, dass im ersten Sack zehn Pfund und zwanzig Libra,145 acht Unzen und fünf Minutula146 von Pfeffer sind, und im zweiten Sack acht Pfund, zehn Libra, vier Unzen und zwei Minutula von Muskatnüssen, sollst du auf diese Weise vorgehen: Setze an den ersten Ort denjenigen selbst, dem diese Dinge gehören, oder einen anderen, der dir bekannt ist. Dessen rechte Hand bezeichnet das Pfund, die linke Hand die Libra, der Mund die Unzen und der Scheitel die Minutula. Setze vor diesen selbst einen mit Pfeffer gefüllten Sack, in die rechte Hand Kastanien, die zehn bezeichnen, in die linke Hand eine Orange, die zwanzig bezeichnet, in den Mund

145 libra: ebenfalls Bezeichnung für ‚Pfund‘; auch als Gewichtseinheit für Gold oder Silber verwendet. 146 minutulum: Gewichtseinheit.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

que signant quinque. Ex quibus habebitur, quod piper ex nucibus in primo sacco est decem pondera viginti libre octo vncie et quinque minutula. Et sic per ordinem est operandum. Hoc idem potes facere in locellis et in locis siue in accidentibus et proprijs.

De debitis memorandis Dum flagitas memoriam habere quantum debet vnus alteri et quo tempore, age per hunc modum: pone vnum uel duo uel tres [83va] debitores ad locum. Vnum in principio, secundum in medio, tercium in fine versus vvltum ad te, uel alios tibi notos loco eorum et creditores aput eos. Et fac, quod pes dexter significet millesimum et centesimum annorum et numerum temporis et sinist diem mensis in homine ibi posito. Manus vero dextera significet ducatos, sinistra libras, os solidos et vertex denarios. Et ymaginare, quod saccus milij significet tibi mille. Si ergo vis memorari primo, quod Antonius debet Johanni sexaginta libras, solidos quindecim et denarios septem de millesimo quadringentesimo duodevicesimo die vicesimo Aprilis, pone ad locum primum ipsum Anthonium uel alium loco eius et ante uel prope eum Johannem creditorem. Et pone scartocium in manu sinistra Anthonij, qui signat sexaginta, caseum in ore, qui designat quindecim, et carbonem in vertice capitis, qui designat septem. Ad pedem dexterum suum milium, superius quod sit vna fiola plena vernice cooperta lardone. Dehinc ad sinistrum suum rancia cum ampillis superius, et sic habes memoriam tocius. Nam quia milium positum ad pedem dexterum, designatur mille, per vernicem trecenti et per lardonem duodeviginti, sed per rancia posita in sinistra designatur viginti dies et per ampullas Aprilis. Omnia ista patent hic et in superioribus, et sic

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1 signant] significant  L 2 pondera] ponderis  L 2 libre] librarum  L 2 vncie] vnciarum  L 5 De debitis memorandis] om.  L 6 Dum flagitas] Si desideras  L 8 debitores] om.  L 11 sinist] sinistrum  M,  L 12 mensis] mensem  L 13 os solidos et vertex denarios] om.  L -  14 primo] om.  L 16 quadringentesimo] trecentesimo  M 16 duodevicesimo] duodetricesimo  L 17 Aprilis] Decembris  L 19 scartocium] om.  M 20 qui designat] quod significet  L 21 qui designat] que significet  L 22 superius] dub., supra  L 22 fiola] fiala  L 24 quia] per  L 24 pedem dexterum] dexteram L 26 designatur] designantur L 27 ampullas] ampilli cancell. M 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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einen Spaten, der acht bezeichnet, und auf den Kopf Federn, die fünf bezeichnen.147 Daraus wird man erhalten, dass Pfeffer aus Nüssen im ersten Sack ist, und zwar zehn Pfund, zwanzig Libra, acht Unzen und fünf Minutula. So muss man der Reihe nach vorgehen. Dasselbe kannst du bei den Kästchen sowie bei den Örtern durchführen, oder bei den accidentia und propria. Über zu memoriernde Schulden Wenn du verlangst, im Gedächtnis zu haben, wie viel der eine dem anderen schuldet und zu welchem Zeitpunkt, gehe auf diese Weise vor: Setze einen oder zwei oder drei [83va] Schuldner an den Ort. Einen an den Anfang, den zweiten in die Mitte, den dritten an das Ende, das Gesicht zu dir hin gerichtet, oder andere dir bekannte Personen an deren Stelle, auch die Gläubiger bei ihnen. Bewirke, dass am dort platzierten  Menschen der rechte Fuß auf das tausendste und hundertste der Jahre hindeute sowie auf die Jahreszahl, und der linke Fuß auf den Monatstag. Die rechte Hand aber soll auf Dukaten hinweisen, die linke Hand auf Libra, der Mund auf Solidi und der Scheitel auf Denare. Stelle dir vor, dass ein Sack mit Hirse dir die Tausend anzeigt. Wenn du dich also zuerst erinnern willst, dass Antonius dem Johannes im Jahr 1418 am 20.  April sechzig  Lira, fünfzehn Solidi und sieben Denare schuldet, setze an den ersten Ort Antonius selbst, oder einen anderen an seiner Stelle, und setze vor ihn oder in die Nähe den Gläubiger Johannes. Setze in die linke Hand des Antonius ein Kardiergerät,148 der sechzig bezeichnet, einen Käse in seinen Mund, der fünfzehn bezeichnet, und eine Kohle auf seinem Scheitel, die sieben bezeichnet. An seinen rechten Fuß Hirse, weiter oben befindlich sei eine Schale gefüllt mit Firnis und bedeckt mit Speck.149 Dann an seinen linken Fuß Orangen mit Fläschchen150 weiter oben, und so besitzt du die Erinnerung an alles. Denn weil Hirse an seinen rechten Fuß gesetzt wurde, wird tausend bezeichnet, durch den Firnis wird dreihundert und durch den Speck achtzehn, durch die Orangen aber, die in die Linke gesetzt wurden, wird der Tag 20 bestimmt, und durch die Fläschchen der April. All dieses liegt hier und

147 Vgl. poma rancea in der 100-Örter-Liste (f. 77vb–78rb). 148 In der 100-Örter-Liste nimmt das Kardiergerät (scartacie) allerdings die Nummer 62 ein. 149 Vgl. lardones (‚Speckseiten‘) in der 100-Örter-Liste. 150 ampillis: hier als Nbf. von ampulla übersetzt.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

debes operari per ordinem in omnibus alijs. Hoc idem potest fieri eciam ut dictum est in fine precedentis capituli.

De predicacionibus recolendis Si vis memorari vnam predicacionem, diuide ipsam primo per partes, scilicet in salutacionem, introduccionem et membra thematis diuisiua, siue sint duo uel tria uel plura, sicut moris est. Deinde incipe a salutacione et diuide ipsam in partes uel clausulas diminutas duas, tres, quattuor uel quinque, si fuerit oportunum. Quo facto intellige primam et intellectam memorie trade recitando eam quater uel quinquies, si est necessum. Quo peracto disce secundam et sic per ordinem usque ad quintam uel terciam, si tot sunt ibi. Post hoc pone ymaginem prime particule in primo loco, secunde in secundo et sic de alijs, uel ex primis silabis primarum clausularum finge vocabulum et ex vocabulo hystoriolam, cuius ymaginem ponas ad primum locum. Deinde videas si scis recitare clausulas contentas sub sillabis vocabuli ficti. Quo facto vade ad introduccionem et ad membra diuidencia. Et hoc [83vb] idem debes operare per ordinem quousque habebis totam predicacionem. Si autem es assuetus predicare, sufficit tibi puncta predicacionis notare et ex principijs vocabulorum, per que puncta recoluntur, fingere dicciones et cetera ut supra. Potes eciam fingere hystoriam ex diccionibus integris absque vocabulis fictis. Et hoc intellige vbicumque dictum est de ipsis dicetur.

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De sermonibus litteralibus dicendis Qui vis memorie tradi litteralem sermonem, age per hunc modum. 25 Diuide ipsum in suas partes principales, hoc est in salutacionem, introduccionem et membra diuidencia et subdiuidencia, si ibi sunt. Uel si procedis per modum oracionis, distingwe sermonem in exor-

2 eciam] om. L 3 De predicacionibus recolendis] om. L - 4 memorari] memoracionem M 5 introduccionem] introitum L 6 diuisiua] diuisa L 6 sicut moris est] om. L 10 necessum] necessarium L 11 per ordinem] om. L 14 hystoriolam] hystoriam L 14 ponas ad primum locum] pones in primo loco L 20 vocabulorum] notatur M 22 de ipsis] de ipsis et L 24 De sermonibus… dicendis] om. L 25 Qui vis] Si cupis L 25 tradi] tradere 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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im oben Genannten offen zutage, und so musst du der Reihe nach vorgehen auch in allen anderen Fällen. Dasselbe kann auch so geschehen, wie es am Ende des vorhergehenden Kapitels gesagt wurde. Über Predigten, die man sich ins Gedächtnis rufen will Wenn du dich an eine Predigt erinnern willst, zerlege diese erstens in ihre Teile, nämlich in die Begrüßung, die Einführung und die Teile der Sachgliederung, seien es zwei, drei oder mehr, wie es üblich ist. Dann beginne bei der Begrüßung und trenne diese in Teile oder verkürzte Formeln, zwei, drei, vier oder fünf an der Zahl, wenn es dienlich sein wird. Danach mache dir den ersten Teil vertraut und übertrage ihn, wenn du ihn verstanden hast, in dein Gedächtnis, indem du den Teil viermal laut vorträgst oder fünfmal, wenn es notwendig ist. Nach der Ausführung dessen lerne den zweiten Teil und so der Reihe nach bis zum fünften Teil oder dem dritten, wenn dort so viele sind. Danach setze das Bild für das erste kleine Stück in den ersten Ort, für das zweite Stück in den zweiten und so weiter, oder bilde aus den ersten Silben der ersten Textstücke ein Wort und aus dem Wort eine kleine Geschichte, deren Bild du an den ersten Ort setzen sollst. Alsdann sollst du darauf achten, ob du die Textstücke zu memorieren verstehst, die unter den Silben des gebildeten Wortes enthalten sind. Dies ausgeführt, gehe zur Einleitung und zu den Teilen der Sachgliederung. Dasselbe [83vb] musst du der Reihe nach ins Werk setzen, bis du die ganze Predigt haben wirst. Wenn du aber an das Predigen gewöhnt bist, genügt es für dich, die Punkte der Predigt aufzuzeichnen und aus den Anfängen der Wörter, durch welche die Punkte erinnert werden, Ausdrücke zu bilden und so weiter wie oben. Du kannst auch eine Geschichte aus ganzen Ausdrücken bilden, ausgenommen neugeformte Wörter. Dies beachte, wo immer über diese gesprochen wurde und gesprochen werden wird. Über vorzutragende wissenschaftliche Abhandlungen Wer will, dass eine wissenschaftliche Abhandlung seinem Gedächtnis anvertraut werde, verfahre auf diese Weise. Unterteile die Abhandlung selbst in ihre hauptsächlichen Teile, das ist die Begrüßung, die Einführung und die Abteilungen und Unterabteilungen bildenden Teile, wenn dort welche sind. Oder, wenn du nach Art und

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

dium, narracionem, peticionem et conclusionem et hoc idem intellige de epistula, si tot partes principales sunt in eis. Hoc facto redi ad primam partem, quam diuides in partes uel clausulas – magnas uel paruas  –, secundum quod eas melius poteris memorari. Hoc peracto regredere ad primam particulam, quam addiscis bene 5 menti, quod ut facilius agere queas, serua istos gradus in discendo: Lege particulam, construe, intellige mentis oculis eam, conspice puncta, eam signa, vbi punctanda est. Nota qua littera incipit pars siue punctuacio, sequens eciam in qua sunt precedens, in qua parte libri et carte posita est. 10

Primo disce particulam per te, intra te siue voce, secundo murmura eam, tercio vocem eleua, quarto vocifera. Recita eam quinquies uel decies super digitos manus, ac si ad hoc esses obligatus, quous­ que ipsa bene menti fuerit sigillata. Uel recita eam plus uel minus, secundum quod erit facilior uel difficilior ad recolendum. Et quod 15 dictum est hic de particula addiscenda, intellige in textu inscripto ‚In questionibus et originalibus siue auctoritatibus addiscendisʻ. Memorata prima veni ad secundam et fac id ipsum. Deinde potes recitare ambas insimul, si fuerit oportunum, et sic lento pede usque ad quintam uel terciam inclusiue, si tot fuerint, 20 quibus memorie traditis. Pone ymaginem prime partis ad primum locum, secunde ad secundum et sic per ordinem. Uel si non vis occupare tot loca, forma vocabulum fictum ex primis silabis particularum memoratarum uel ex primis silabis vocabulorum in particulis contentorum. Per que melius et tenacius recoluntur. Et ex 25 vocabulo forma hystoriale quinque uel trium diccionum illarum, cuius ymaginem pones ad primum locum tuum. Quo facto potes videre si scis dicere particulas in silabis vocabuli ficti [84ra] uel

2 redi] redire ut vid. L 4 melius] facilius L 5 regredere] retrogradare L 5 addiscis] addisces  L 6 quod ut] prout  L 7 discendo] addiscendo  L 7 eam] esse  M 8 signa] lingua  M 8 qua] a qua  L 9 sunt] finitur  L 10 in qua parte libri et carte] in qua carta et parte libri L 11 disce] addisce L 11 per te] om. L 14 plus uel minus] pluries uel paucioribus vicibus L 16 hic de particula] de hac particula L 16 inscripto] scripto L 17 originalibus] origenalibus ut vid. M 17 auctoritatibus] autoribus L - 18 ipsum] idem L 20 pede usque ad quintam] pede id est vsque ad primam quintam L 26 hystoriale quinque] historiam illarum quinque L 27 tuum] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Weise einer Rede vorgehst, unterteile die Abhandlung in Beginn, Gegenstand, Bitte und Beschluss und dasselbe beachte für den Brief, wenn so viele hauptsächliche Teile in ihnen vorliegen. Nachdem dies geschehen ist, kehre zum ersten Teil zurück, den du in Teile oder Formeln – große oder kleine – teilen wirst, und du wirst sie demzufolge besser einprägen können. Nach der Ausführung dessen gehe zurück zum ersten kleinen Teil, den du dir gut einprägst, und damit du das leichter zu tun vermagst, bewahre diese Schritte beim Lernen: Lies einen kleinen Teil, füge ihn zusammen und verstehe ihn mit den Augen deines Geistes, erkenne die Punkte und bezeichne ihn, wo er mit Punkten zu versehen ist.  Merke, mit welchem Buchstaben der Teil oder die Punktmarkierung beginnt, auch die folgende und die vorhergehende, insofern sie da sind, und in welchem Teil des Buches und des Blattes sie gesetzt wurde. Zuerst lerne einen kleinen Teil für dich, sei es leise oder mit Stimme, zweitens murmle ihn, drittens erhebe die Stimme, viertens schreie. Trage ihn fünfmal oder zehnmal vor, an den Fingern der Hand, als wenn du dazu verpflichtet wärest, bis er deinem Geist gut eingeprägt sein wird. Oder trage ihn häufiger oder weniger häufig vor, demgemäß wird er leichter oder schwieriger zu erinnern sein. Was hier über das Erlernen eines kleinen Teils gesagt wurde, beachte auch im Text, der überschrieben ist mit ‚Bei zu lernenden Quaestiones und Zitaten oder Autoritäten‘. Wenn du den ersten Teil memoriert hast, komme zum zweiten und mache dasselbe. Dann kannst du beide zugleich memorieren, wenn das zweckmäßig wäre, und so langsam weiter bis zum fünften Teil oder einschließlich zum dritten, wenn da so viele dem Gedächtnis anvertraut wurden. Setze das Bild des ersten Teils an den ersten Ort, des zweiten an den zweiten und so der Reihe nach. Oder wenn du nicht so viele Örter besetzen willst, forme ein neugebildetes Wort aus den ersten Silben der kleinen Teile, die du memoriert hast, oder aus den ersten Silben der Wörter, die in den kleinen Teilen enthalten sind. Durch diese werden sie leichter und dauerhafter erinnert. Aus dem Wort bilde eine Erzählung vom Umfang jener fünf oder drei Ausdrücke, deren Bild du an deinen ersten Ort setzen wirst. Danach kannst du darauf achten, ob du die kleinen Teile aufzusagen verstehst, die in den

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

diccionibus hystorie contentas. Et sic procede per ordinem quousque habebis totum sermonem. Ita tamen quod non misceas exordium cum narracione et sic de alijs partibus principalibus. Ex hoc enim posset memoria aliqualiter confundi. Nota hic vnum: primum est, quod – si plures particule inciperent 5 ab eadem diccione non significatiua ut ‚abʻ uel ‚etʻ, nisi esset prima in particulis – non esset formandum vocabulum totum ex talibus silabis, ne memoria tedium pateretur et confunderetur uel propter nimiam similitudinem diccionum uel propter non significatiuam earum. 10

Boethius, Consolatio philosophiae, I, carm 1

De versibus memorandis Si cupis versus plures memorie commendare, hoc fieri potest dupliciter. Potes enim velle discere de versu in versum, ut scias non solum versus, sed eciam numerum versuum. Potes eciam discere de sentencia in sentenciam uel clausula in clausulam versuum 15 numero non considerato. Hic enim modus est differens a prima, quia aliquando plures sentencie uel oraciones perfecte, quarum vna non dependet ab altera, continentur in eodem versu, aliquando vna sola in pluribus. Si vis ergo memorari secundo modo, operare sicut dictum est supra de particulis sermonis memorandis. 20 Si primo modo, age secundum aliquem istorum trium modorum: vno modo disce primum versum et eius ymaginem pone ad primum locum, deinde secundum et eius ymaginem pone ad secundum et sic usque ad quinque et de quinque in quinque et sic de alijs. Ita tamen quod ymago prime littere primi uersus ponatur in manu, 25 capite uel ore prime ymaginis et sic per ordinem. Verbi gracia disce primo hunc uersum Carmina que quondam studio florente peregi. Quo facto pone ad primum locellum tuum vnum, qui sciat bene

5 hic] hoc L 5 primum est, quod] videlicet quod L 6 ab eadem… significatiua] ab eadem diccione uel a diccione non significatiua 7 totum] toni M 9 non] om.  L 9 significatiuam] vel significanciam  L 11 De versibus memorandis] om.  L 12 commendare] tradere  L 13 velle] om.  L 15 uel clausula] uel de clausula 16 prima] primo L 20 supra] om. L 12–24 vno modo… et sic] vno modo disce primum versum et eius ymaginem pone ad primum locum deinde secundum et eius ymaginem pone ad primum locum deinde secundum et eius ymaginem pone ad secundum et sic L 28 facto] om. M 28 ad primum locellum] pone ad secundum locum L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Silben des gebildeten Wortes [84ra] oder den Ausdrücken der Geschichte enthalten sind. So schreite der Reihe nach fort, bis du die ganze Abhandlung präsent haben wirst. Doch in der Weise, dass du nicht den Anfang mit der Erzählung vermischst, und so auch bei den anderen Hauptteilen. Dadurch könnte denn das Gedächtnis einigermaßen verwirrt werden. Merke hier das eine: Das erste ist es, dass – falls mehrere kleine Teile mit demselben nicht bezeichnenden Wort anfingen wie ab oder et, wenn es nicht das erste Wort in den Teilen wäre – ein ganzes Wort aus solchen Silben nicht gebildet werden dürfte, damit das Gedächtnis nicht überdrüssig und verwirrt würde, entweder wegen der zu großen Ähnlichkeit der Ausdrücke oder wegen einem nichtbezeichnenden Ausdruck unter ihnen. Über zu memorierende Verse Wenn du es wünschst, mehrere Verse dem Gedächtnis anzuvertrauen, kann das auf zweifache Weise geschehen. Du kannst nämlich von Vers zu Vers lernen wollen, damit du nicht nur die Verse, sondern auch die Reihe der Verse weißt. Du kannst aber auch von Satz zu Satz lernen, oder von Schlussvers151 zu Schlussvers, ohne die Versreihe in Erwägung gezogen zu haben. Diese Methode ist denn von der ersten verschieden, weil einmal mehrere vollendete Sätze oder Äußerungen, von denen eine nicht von der anderen abhängt, in demselben Vers enthalten sind, und einmal eine allein in mehreren. Wenn du dich also auf die zweite Weise erinnern willst, gehe vor, wie es oben gesagt wurde über die zu memorierenden Teile einer Predigt. Wenn du dich auf die erste Weise erinnern willst, handle gemäß einer der drei folgenden Methoden: Auf eine erste Art, lerne den ersten Vers und setze dessen Bild an den ersten Ort, dann den zweiten, und setze dessen Bild an den zweiten Ort, und so bis zu fünf, und von fünf zu fünf und so weiter. Doch gehe so vor, dass das Bild des ersten Buchstabens des ersten Verses in die Hand, auf den Kopf oder in den  Mund des ersten Bildes gesetzt sei, und so der Reihe nach.  Lerne beispielsweise zuerst diesen Vers Carmina que quondam studio florente peregi. Danach setze in das erste deiner Kästchen eine Person, die ein Gericht gut zu

151 clausula: metrischer terminus technicus für einen zweiten, kürzeren Vers.

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Boethius, Consolatio philosophiae, I, carm 1

 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

candire ferculum, qui ex hoc notetur: ‚qui quondamʻ et ille carminet lanam super studium pictum floribus, vbi sint animalia. Et per hanc ymaginem habebis: ‚Carmina que quondamʻ. Et si ponis in eius ore caligam, habebis memoriam prime littere. Disce post hoc secundum versum scilicet: flebiles hew mestos cogor inire modos. Quo facto 5 pone ad secundum locellum vnum cocum nudum, qui cogatur intrare in medium mascelli feruentis olei cum foreta ad collum, quam furatus fuit, et ex hoc amare fleat. Nam sic habebis leuiter et ‚flebiles hew mestosʻ, et per foretam ad collum pendentem memoriam habebis prime littere secundi versus. Secundo modo potes sic 10 agere, ut accipias solum ymaginem prime diccionis significatiue versuum cum nominibus primarum litterarum, ut pro primo versu ponatur ad primum locum [84rb] vnus carminans lanam cum caliga in ore uel alibi, pro secundo vnus flens ad secundum cum foreta ad collum et sic de alijs. Tercio modo possunt disci quinque versus. 15 Deinde ex primis silabis versuum uel illarum diccionum, per quas melius recoluntur, forma vocabulum et ex vocabulo hystoria et cetera ut prius.

De argumentacionibus recolendis Cupis recolere silogismos tibi factos uel parte lectos, hoc potest esse 20 dupliciter: vno modo, quod prius numerus significet figuram et secundus modum. Verbi gracia si argumentum est in prima figura et in primo modo, et medie sint ‚carnesʻ, pone cum carne cultellum, qui signat duo. In quo numero sunt due figure abathi, et prima

1 condire] candere  M condere  L 1 ferculum] fercula  L 1 notetur] vocetur  L 2 super] per  L 2 pictum] perictum  M 3 que] qui  M 3 ponis] ponas L 4 caligam] lit. M 4 secundum versum scilicet] om. L 6 locellum] locum L 6 cocum] totum L 8 fleat] fleuit L 9 pendentem] om. L 10 potes sic agere] sic age L 11 accipias] capias L 11 diccionis] littere diccionis L 12 pro] om. L 13 vnus] vnum M 14 in ore] uel in capite uel in ore L 17 forma] formari L 19 De argumentacionibus recolendis] om. L 20 Cupis recolere] Si recolere cupis L 23 medie sint] medium sit 23 carne] carnibus L 24 signat] significet ut vid. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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würzen weiß, [so dass] von daher bezeichnet ist: ‚Der einst‘; und [ferner] dass jener Wolle krempelt (carminet) über einer Arbeit (studium), die mit Blumen (floribus) geschmückt ist, wo Tiere seien. Durch dieses Bild wirst du haben: Carmina que quondam. Wenn du in dessen Mund einen Schuh (caligam) setzt, wirst du die Erinnerung an den ersten Buchstaben haben.  Lerne danach den zweiten Vers, nämlich: flebiles hew mestos cogor inire modos. Nachdem dies erledigt ist, setze in das zweite Kästchen einen nackten Koch (cocum), der gezwungen wird (cogatur), mitten in eine Wanne (mascelli) von siedendem Öl zu treten mit einem Bohrer (foretam) am Hals, den er gestohlen hat, und deshalb bitter weint (fleat). Denn so wirst du leicht auch flebiles hew mestos verinnerlichen, und durch den Bohrer, der an seinem Hals hängt, wirst du die Erinnerung an den ersten Buchstaben des zweiten Verses haben. Auf eine zweite Weise kannst du so vorgehen, dass du allein das Bild des ersten bezeichnenden Wortes der Verse nimmst mit den Namen der Anfangsbuchstaben, damit für den ersten Vers an den ersten Ort eine Person gesetzt wird, [84rb] die Wolle krempelt (carminans) mit einem Schuh (caliga) im Mund oder anderswo, für den zweiten Vers an den zweiten Ort eine weinende (flens) Person mit einem Bohrer am Hals und so weiter. Auf eine dritte Weise können fünf Verse einstudiert werden. Dann bilde aus den ersten Silben der Verse oder jener Wörter, durch die sie besser ins Gedächtnis gerufen werden, ein Wort und aus dem Wort eine Geschichte, und das übrige wie vorher. Über Beweisführungen, die ins Gedächtnis zu rufen sind Wenn du wünschst dich an Syllogismen152 zu erinnern, die von dir ausgeführt oder zum Teil gelesen wurden, dann kann dies auf zweifache Weise sein: Einmal so, dass die erste Zahl die Figur bezeichnen soll und die zweite Zahl den Modus. Zum Beispiel, wenn der Beweis in der ersten Figur ist und im ersten Modus, und in der Mitte seien ‚Fleischstücke‘, setze zum Fleisch ein kleines Messer, das eine Zwei bezeichnet. In dieser Zahl sind zwei Bilder für einen Abakus, und das erste

152 Syllogismus: Schlussverfahren der formalen Logik, das in der Scholastik eine zentrale Rolle in der Disputation einnimmt. Aristoteles behandelt in seiner Logik Syllogismen als deduktive Argumente, die aus zwei Prämissen und einer Schlussfolgerung bestehen; die Arten der Schlüsse werden Figuren genannt, die sich durch die Anordnung des Mittelbegriffs in den Prämissen unterscheiden, die  Modi sind Kombinationsmöglichkeiten. Dem  Mittelalter wird die Syllogistik durch die Werke des Martianus Capella und Boethius – der die Diskussion bis ins 12. Jahrhundert dominierte – vermittelt, bis die Neuentdeckung der aristotelischen Ersten Analytiken Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzt.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

signat figuram argumenti et secunda modum secundum se sumpta, per hunc modum igitur primam figuram. Et secundum modum signat 22, secundam figuram et secundum modum tercij, terciam figuram et primum modum et cetera. Secundo modo sic quod carta significet primum modum et primam figuram, riga secundum prime 5 et cetera. Si recordare affectas alias species argumentacionis, que non sunt silogismi, fac, quod manus dextera illius, qui est in loco, significet vniuersalem affirmatiuam et sinistra particularem negatiuam, uel quod prius locellus significet vniversalem affirmatiuam, secundum vniuersalem negatiuam, tercius particularem affirma- 10 tiuam et quartus particularem negatiuam. Si ergo conclusio est vniuersalis affirmatiua, pone ymaginem medij uel maioris sew minoris extremitatis in dextera illius, qui est in loco, et sic per ordinem. Et melius est ad hoc accipere ymaginem medij cum aliqua extremitatum. Exempla dimitto, ne sim nimis onerosus. 15

De textibus memorandis Qui cupis memorari vnum textum in grammatica, loyca, physica uel in alia sciencia, hoc potest esse dupliciter, quia uel tu vis primo scire partes diuidentes librum per se, et tunc sic operare: primo diuide ipsum in libros parciales secundum diuisionem uel subiecti 20 uel a loco bene et subiliter. Quo facto pone ymaginem primi libri ad primum locum, secundi ad secundum et sic per ordinem. Vel forma vocabulum vnum uel plura, si fuerint necessaria, ex principijs librorum uel parcium diuidencium subictum, et pone ymagines vocabulorum ad sua loca per ordinem. Secundo reuertere ad 25 primum librum et subdiuide ipsum per capitula et fac ut prius in alijs locis subsequentibus primos. Verbi gracia si vis scire textum

1 signat] significat  L 2 per hunc modum] modum  M - 2 figuram] figuram. Secundo modo sic quod carta significet primum modum  M 5 riga] et riga  L 6 recordare] recordari  L 8 particularem negatiuam] Potes eciam hoc idem facere per res numerales in dextera et in leua positas add. 11 conclusio] dub. 12 medij] add. sup. lin.  M 12 sew] uel  L 13 illius, qui est] l.n. M 16 De textibus memorandis] om. L - 17 cupis] cupes M 17 memorari] scire et memorari L 19 primo] primum L 20 uel subiecti uel a loco] sui uel alio modo L 23 vnum] om. L 24 subictum] subictum M 25 vocabulorum] lit. M 26 per capitula] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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bezeichnet die Figur des Beweises, und den  Modus das zweite, das entsprechend gewählt wurde, auf diese Weise folglich die erste Figur bezeichnend. Den zweiten Modus bezeichnet die Zahl 22, die zweite Figur und den zweiten Modus des dritten, die dritte Figur und den ersten Modus und so weiter. Auf eine zweite Weise so, dass ein Blatt (carta)153 den ersten Modus anzeigen soll und die erste Figur, und eine Linie den zweiten Modus der ersten und so weiter. Wenn du verlangst, dich an andere Erscheinungen der Beweisführung zu erinnern, die keine Syllogismen sind, mache, dass die rechte Hand dessen, der im Ort ist, eine allgemeine bejahende Beweisführung bezeichnen soll, und die linke eine teilweise verneinende, oder dass das vorher angebrachte Kästchen eine allgemeine bejahende Beweisführung bezeichnen soll, das zweitens angebrachte Kästchen eine allgemeine verneinende, das dritte Kästchen eine teilweise bejahende und das vierte eine teilweise verneinende. Wenn also eine Schlussfolgerung allgemein und bejahend ist, setze das Bild des Mittelteils,154 entweder der oberen oder unteren Aussage155 in die rechte Hand jener Person, die im Ort ist, und so der Reihe nach. Besser ist es, dazu das Bild des Mittelteils zu nehmen mit irgendeiner der Schluss­ aussagen. Beispiele übergehe ich, damit ich nicht allzu ermüdend bin. Über zu memorierende Texte Wenn du dich an einen Text in der Grammatik zu erinnern wünschst, in der Logik, Physik oder einer anderen Wissenschaft, kann dies auf zweifache Weise geschehen, weil du vielleicht zuerst die Teile wissen willst, die das Buch unmittelbar unterteilen, dann gehe so vor: Zuerst separiere das Buch geschickt und scharfsinnig in Teilbücher, gemäß einer Gliederung entweder der Materie oder in Bezug auf den Platz in der Reihenfolge. Danach setze das Bild des ersten Buches an den ersten Ort, des zweiten an den zweiten und so der Reihe nach. Oder bilde, wenn nötig, ein Wort oder mehrere aus den Anfängen der Bücher, oder bilde die Materie nach ihrer sachlichen Einteilung, und setze die Bilder der Wörter der Reihe nach an ihre Örter. Kehre zweitens zum ersten Buch zurück, unterteile es nach Kapiteln und mache dies wie vorher bei den anderen Örtern, die den ersten nachfol-

153 carta: erster Ort der 100-Örter-Liste etc. 154 medius: als terminus medius aufgefasst, der im Syllogismus in beiden Prämissen auftritt. 155 extremitas: äußerster Begriff; extremitas maior und minor: Ober- und Unterbegriff eines Schlusses.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

loyce, diuide [84va] ipsum in libros parciales, qui sunt vniuersales, predicamenta, sex principia, liber peryarmenias, priorum topicorum, elencorum posteriorum. Deinde pone ymaginem vniuersalis ad primum locum, predicamenti ad secundum et sic per ordinem ut dictum est. Posses eciam diuidere per subiectum, vt si subiectum 5 loyce est ens racionis. Tunc aut prout patet ad primam operacionem intellectus, ut in tribus primis libris, aut ad secundam, ut patet in quarto, aut ad terciam, ut patet in reliquis. Prima operacio intellectus est simplicium intelligencia, secunda composicio uel diuisio, tercia discursus, qus locabis ut dictum est, et sic procede per 10 ordinem. Nimis enim longum esset velle omnia hic explanare. Tercio redi ad tractatum vniuersalium, quem diuides in duo scilicet in vniuersalia et proprietates eorum. Deinde vniuersalia in genus, speciem, differenciam, proprium et accidens, que omnia locabis per ordinem ut dictum est. Vel tu vis solum textum non preposi- 15 tis diuisionibus, et tunc incipe a primo capitulo et diuide ipsum in clausulas uel partes minutas et eas disce. Et loca, ut dictum est

1 qui sunt vniuersales] que sunt vniversalia  L 2 topicorum] posteriorum L 3 posteriorum] et sic de alijs L 5 si] om. L 6 prout patet] pertinet ut vid. L 7 ut] ut patet L 10 qus] quas M, L 11 longum] largum L 12 redi] reuertere L 16 diuisionibus] diuersionibus 17 clausulas uel partes minutas] in partes et clausulas minutas 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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gen. Wenn du zum Beispiel einen Text der [84va] Logik wissen willst, separiere ihn in Teilbücher, welche die Einführung156 sind, die Prädikamente,157 die sechs Prinzipien,158 das Buch Peri hermeneias,159 die frühere Topik160 und die späteren Widerlegungen.161 Dann setze das Bild für die Einführung an den ersten Ort, des Prädikaments an den zweiten und so der Reihe nach, wie es gesagt wurde. Du könntest auch nach der Materie einteilen, wenn z.  B. der Stoff der Logik ein gedachtes Ding ist. Dann entweder wie es ersichtlich ist im Hinblick auf die erste Verrichtung des Verstandes, wie in den drei ersten Büchern, oder auf die zweite, wie es ersichtlich ist im vierten Buch, oder auf die dritte, wie es ersichtlich ist in den restlichen Büchern. Die erste Verrichtung des Verstandes ist das Verständnis einfacher Dinge, die zweite ist die Zusammensetzung oder Unterteilung, die dritte sind die Erörterungen, die du einrichten wirst, wie es gesagt wurde, und so mache der Reihe nach weiter. Allzu langwierig wäre es nämlich, hier alles erklären zu wollen. Drittens, kehre zum Traktat über die universalia162 zurück, den du in zwei Gegenstände unterteilen wirst, nämlich in die universalia und deren proprietates. Dann die universalia in genus, species, differentia, proprium und accidens, die du alle der Reihe nach, wie es beschrieben wurde, lozieren wirst. Vielleicht willst du allein den Text ohne vorangestellte Unterteilungen, dann beginne vom ersten Kapitel und teile dieses in Aussagen oder kleine Stücke und lerne sie. Loziere, wie

156 Porphyrius legt im 3. Jahrhundert mit der Isagoge (εἰσαγωγή) eine kurze Einführung zu den aristotelischen ‚Kategorien‘ vor, welche fünf Prädikabilien behandelt (genus, species, differentia, proprium, accidens); diese Prädikabilien werden in lateinischen Übertragungen quinque voces oder quinque universalia genannt. 157 Gemeint ist das erste Buch des aristotelischen Organon (Κατηγορίαι, Categoriae), das sich mit der Klassifikation von Aussageformen befasst; der Titel Predicamenta ist im Mittelalter üblich. 158 Das im Mittelalter dem Aristoteles zugeschriebene und dem Korpus seiner logischen Schriften zugerechnete Werk Liber sex principiorum (entstanden im 12. Jahrhundert); es behandelt die aristotelischen Prädikamente. 159 Das zweite Buch des aristotelischen Organon (Περὶ ἑρμηνείας, De interpretatione), in dem eine Satzlehre entwickelt und Aussagen behandelt werden. 160 Das fünfte Buch des aristotelischen Organon (Τόποι, Topica), ein Lehrbuch logischer Argumentationstechnik. 161 Die sechste und letzte Schrift des aristotelischen Organon (Περὶ σοφιστικῶν ἐλέγχων, De sophisticis elenchis) behandelt Trugschlüsse und ihre Widerlegungen. 162 universalia: ‚das Allgemeine‘, in Einzeldingen unveränderlich vorhandenes und übereinstimmendes Allgemeines, so die Arten und Gattungen von Individuen, und im  Mittelalter im Anschluss an Aristoteles besonders als die ‚zweiten Substanzen‘ aufgefasst, welche die Arten und Gattungen der individuellen ‚ersten Substanzen‘ bilden (vgl. Aristoteles: Kategorien, Kap. 5, 2a10–19); Matthaeus bezieht sich hier dennoch eher auf die – häufig quinque universalia betitelte – Isagoge des Prophyrius, in der fünf Prädikabilien behandelt werden (genus, species, differentia, proprium, accidens).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

capitulo de sermone litterali, et sic procede usque in finem. Quia sic subtilius et tenacius plus discis per mensem quam aliter per annum. De gradibus rerum naturalium recolendis Si cupis memorie tradere gradus rerum naturalium quoad qualitates primas, ut medici faciunt, tene hunc modum: primo para tibi viginti quinque uel quinquaginta uel centum loca pro calidis et siccis, in quorum quolibet sit columpna caloris ignei uel ruffi. Totidem pro rebus calidis et humidis cum columpnis aliquantulum minoris quantitatis quam prime coloris aerei uel celestis clari. Totidem pro rebus frigidis et humidis cum columpnis adhuc minoris quantitatis quam secunde coloris aquei uel argentei. Et totidem pro rebus frigidis et siccis cum columpnis adhuc minoris quantitatis quam tercie coloris terrei uel nigri. Secundo in qualibet columpna sint quattuor foramina transeuncia a dextero in sinistrum equaliter distancia secundum sub et supra. Et in quolibet foramine sit vna magna cauilla procedens ex vtraque parte, et in columpna ruffa prima cauilla dextera ascendendo signat primum gradum caliditatis, secunda secundum, tercia tercium, quarta quartum. Sinistra vero primum [84vb] siccitatis et sic per ordinem in columpna celesti. Pars dextera stat pro gradibus caliditatis et sinistra humiditatis. In co­lump­na argentea pars dextera erit pro gradibus humiditatis et sinistra frigiditatis. In columpna autem nigra pars dextera erit pro gradibus siccitatis et sinistra frigiditatis. Tercio: calida et sicca. In primo gradu ponas in prima cauilla dextera columpne ruffe, in secundo gradu in secunda et sic per ordinem ascendendo. Si autem aliqua essent calida in quarto gradu et sicca, in primo pones eandem rem

1 capitulo] in capitulo L 2 plus discis] addisces 2 aliter] om. L 4 De gradibus… recolendis] om. L 6 medici] medi L 7 pro] pro rebus L 9 columpnis] columpna L 9 aliquantulum] alumculum M 10 quam prime] om. L 10 aerei] aurei  L 11 columpnis] columpna  L 13 columpnis] columpna  L 15 a dextero in sinistrum] ad dextera in sinistram  L 17 procedens] equaliter pedes M 21 stat] stabit L 21 pro gradibus] in gradibus M 21 humiditatis] frigiditatis L 21–24 In columpna… frigiditatis] om. L 25 ponas] pones L 26 secunda] secundo M 26 aliqua] om. L 

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Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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es im Kapitel über die wissenschaftliche Abhandlung gesagt wurde, und schreite so weiter fort bis zum Ende. Denn auf diese Weise lernst du gründlicher und verlässlicher, und zwar mehr in einem Monat als sonst in einem Jahr. Über zu erinnernde Seinsstufen der natürlichen Dinge Wenn du die Stufen der natürlichen Dinge dem Gedächtnis anvertrauen willst, hinsichtlich der ersten Qualitäten,163 wie es die Ärzte tun, behalte diese Vorgehensweise bei: Zuerst bereite dir fünfundzwanzig oder fünfzig oder hundert Örter für warme und trockene Dinge, und in jedem beliebigen von ihnen sei eine Säule von einer feurigen oder roten Wärme. Ebenso viele für warme und feuchte Dinge mit Säulen von einer etwas geringeren Ausdehnung als die ersten und von einer himmelblauen oder klaren blauen Farbe. Ebenso viele für kühle und feuchte Dinge mit Säulen noch geringerer Ausdehnung als die zweiten und von einer wasserblauen oder silbernen Farbe. Ebenso viele für kühle und trockene Dinge mit Säulen von noch geringerer Ausdehnung als die dritten und von einer erdigen oder schwarzen Farbe. Zweitens sollen in jeder beliebigen Säule vier Öffnungen sein, die von rechts nach links reichten und die gleichmäßig entfernt seien von unten und oben. In jeder Öffnung sei ein großer Zapfen ausgehend von beiden Seiten. In der roten Säule bezeichnet der erste rechte Zapfen von unten die erste Stufe der Wärme, die zweite die zweite Stufe, die dritte die dritte, die vierte die vierte. Der linke Zapfen aber die erste [84vb] Stufe der Trockenheit und so der Reihe nach in der blauen Säule. Der rechte Teil steht für die Stufen der Hitze und der linke für die der Feuchtigkeit. In der silbernen Säule wird der rechte Teil für die Stufen der Feuchtigkeit sein und der linke für die der Kälte. In der schwarzen Säule aber wird der rechte Teil für die Stufen der Trockenheit sein und der linke für die der Kälte. Drittens: Warmes und Trockenes. Auf der ersten Stufe sollst du den ersten rechten Zapfen der roten Säule verwenden, auf der zweiten Stufe den zweiten Zapfen und so der Reihe nach aufsteigend. Wenn aber irgendetwas Warmes und Trockenes auf der vierten Stufe wäre, wirst du auf die erste Stufe

163 Vgl. Anm. 104 (qualitates primae).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

uel aliquid loco eius in quarta cauilla a dextris et in prima a sinistris. Et sic intellige in alijs columpnis secundum suum modum. In tercia cauilla dextera columpne celestis caseus recens insalitus, in tercia cauilla dextera columpne argentee et cetera. De scriptis recolendis 5 Si cupis memorari aliquo scripto, exposicione, postilla uel commento, hoc potest esse dupliciter. Nam alio modo vis memorari totum et tunc agas sicut dictum est de textu. Aut vis habere autoritates ibi contentas et tunc agas sicut dicetur in capitulo de originalibus.

De glosis recolendis Si vis recolere glosas, operare sicut habebitur in capitulo de originalibus. Nam glose quedam originalia esse videntur, nisi quod ponuntur pro breui declaracione passus alicuius textus.

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De questionibus, diffinicionibus et titulis recolendis 15 Si desideras bene et scientifice totam primam partem sancti Thome uel primam secunde uel primam sentenciarum uel questiones de anima uel aliquod alium librum, in quo procedatur per questiones, distincciones uel titulos, age per hunc modum. Primo habeas loca parata pro distinccione tocius libri. Secundo loca pro questioni- 20 bus et articulis questionum. Tercio loca pro particulis articulorum memorandis ita quod ista loca sint distincta et ordinata per se ut dictum est. Tunc locabis in primis locis vocabula distinccionis libri ficta. Secundo in signatis locis ponas vocabula questionum et articulorum. Ita quod in vno loco erit ymago questionis in principio loci 25

2 suum modum] suum modum per hunc modum ponetur rosa in prima cauilla dextere columpne nigre granum pini add. L 3 dextera] dextere L 4 dextera] dextere L 4 et cetera] et sic de alijs add. in marg. L 5 De scriptis recolendis] om. L 7 alio modo] aut L 8 agas] age 9 agas] ages L 11–13 De glosis… originalibus] om. L 15 De questionibus… recolendis] om. L 16 bene] bene recolere  L 17 uel primam secunde] uel secundam  L 17 uel] aut  L 18 aliquod] om. L 20 pro] om. M 24 ponas] pones L 

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dieselbe Sache setzen, oder etwas anderes an ihrer Stelle, in den vierten Zapfen rechts und in den ersten links. So beachte es auch bei den anderen Säulen gemäß ihrer Art. Im dritten rechten Zapfen der blauen Säule ist ein frischer eingesalzener Käse, im dritten rechten Zapfen der silbernen Säule und so weiter. Über zu erinnernde Schriften Wenn du verlangst, dich an irgendeine Schrift zu erinnern, an eine Expositio,164 eine Postilla165 oder einen Kommentar, kann das auf zweifache Weise geschehen. Denn wenn du dich an alles erinnern willst, dann sollst du so vorgehen, wie es im Abschnitt über den Text gesagt wurde. Oder du willst Autoritäten zur Verfügung haben, die dort enthalten sind, und dann sollst du so vorgehen, wie es im Kapitel über die Zitate dargestellt werden wird. Über zu erinnernde Glossen Wenn du dir Glossen ins Gedächtnis rufen willst, gehe nach der Methode vor, die im Kapitel über die Werke enthalten sein wird. Denn Glossen scheinen gewissermaßen Werke zu sein, abgesehen davon, dass sie auch als kurze Erläuterung einer Passage irgendeines Textes verwendet werden. Über zu erinnernde Quaestiones, Definitionen und Überschriften Wenn du den ganzen ersten Teil der Summa Theologiae des Heiligen Thomas gut und wissenschaftlich sicher zu beherrschen wünschst oder den ersten des zweiten Teils der Summa Theologiae oder den ersten Teil der Sentenzen166 oder der Questiones de anima167 oder irgendein anderes Buch, in welchem vorgegangen würde mittels Quaestiones, Abschnitte oder Überschriften, verfahre auf diese Weise. Zuerst sollst du Örter bereit haben für die Abschnitte des gesamten Buches. Zweitens Örter für die Quaestiones und Absätze der Quaestiones. Drittens Örter für die zu memorierenden Teile der Absätze und zwar so, dass diese Örter für sich unterschieden und geordnet seien, wie es gesagt wurde. Dann wirst du in die ersten Örter Wörter lozieren, die für die Abschnitte des Buches gebildet wurden. Zweitens sollst du in die bezeichneten Örter Wörter setzen für die Quaestiones und Absätze. So, dass in einem Ort das Bild für die Quaestio am Anfang des Ortes sein wird mit der Zahl der Articuli in der Hand oder dem  Mund  – oder wo es

164 exposicio: ‚Auslegung, Erklärung‘. 165 postilla: die Auslegung eines Bibeltextes, die der Vorlage abschnittweise folgt (post illa). 166 Sentenzenbücher des Petrus Lombardus. 167 Thomas von Aquin erstellt 1267/1268 Sentencia libri de anima, einen Kommentar zu Aristotelesʼ Schrift De anima (Περὶ Ψυχῆς).

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

cum numero articulorum in manu uel ore – uel vbi fuerit commodius –, et in lateribus loci erunt ymagines vocabulorum fictorum ex primis silabis articulorum eiusdem questionis, et sic fiet in alijs. [85ra] Tercio, locatis distinccionibus questionibus et articulis libri, veni ad primum articulum et diuide ipsum in partes diminutas et eas disce et loca in tercijs locis per ordinem, ut dictum est de particulis sermonis litteralis. Ita tamen quod primus articulus in primo loco istorum ponatur terciorum, secundus in secundo et sic de alijs. Verbi gracia si volo locare primam partem sancti Thome, primo distingwam eam in duo sicut doctor sanctus, scilicet in sacram theologiam et deum, qui est eius subiectum. Et ex primis silabis parcium diuidencium formabo vocabulum bissilabum, scilicet ‚sacriʻ ‚deʻ, et ex vocabulo ystoriam, que est ‚sacri deusʻ, cuius ymaginem ponam ad primum locum. Et sic procedam quousque totus liber erit distinctus. Secundo veniam ad primam questionem, que est de sacra theologya. In qua sunt decem articuli, et ponam in principio primi loci vnum sacerdotem paratum comedentem castaneas. Et hic erit ymago questionis cum numero articulorum. Deinde formabo vocabulum de primis quinque silabis primorum articulorum et ex vocabulo hystoriam, cuius ymaginem ponam in medio uel latere eiusdem loci. Postea formabo aliud vocabulum de alijs quinque et ex vocabulo hystoriam, cuius ymaginem ponam in fine uel in latere loci. Hec sunt illa vocabula: ‚nec sa prat dic sap sub arg ment senʻ. Et hec sunt hystorie vocabulorum, scilicet: ‚necat scienciam vnam predicatus dignior sapienciam subigit argentum mente sensataʻ, et sic procedam per ordinem usque in finem. Tercio veniam ad primum articulum et ipsum discam et locabo ut dictum est et cetera. Potes tamen diuisionem libri et locacionem questionum per se et aliter uel tercio modo operari.

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De originalibus uel autoritatibus recolendis 30 Si memorari cupis originalibus uel auctoritatibus multis, sic agere potes. Diuide primo originale in clausulas, si est nimis prolixum. 1 commodius] commodosius  M 8 terciorum] trium  L 12 bissilabum] om.  L 13 sacri de] sacede ut vid.  L 13 sacri] sacer  L 15 Secundo] deinde L 16 decem] quattuor L 16 et ponam] et M 23–24 nec sa… ment sen] sem im prat dig sap arg met sen L 25 vnam predicatus] vnam M 26 mente sensata] mete senata L 27 discam] distingam L 28 questionum] articulorum et questionum L 29 operari] operare L 30 De originalibus… recolendis] om. L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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zweckmäßiger sein wird –, und an den Seiten des Ortes werden Bilder der Wörter sein, die aus den ersten Silben der Articuli derselben Quaestio geschaffen wurden, und so wird es auch in den anderen Fällen geschehen. [85ra] Kehre drittens, wenn die Abschnitte, Quaestiones und Articuli des Buches loziert wurden, zum ersten Absatz zurück und teile ihn in kleinere Stücke und lerne diese und loziere sie in den dritten Örtern der Reihe nach, wie es gesagt wurde im Abschnitt über die Teile einer wissenschaftlichen Abhandlung. Doch so, dass der erste Absatz im ersten Ort dieser dritten [Örter] platziert sei, der zweite im zweiten und so weiter. Wenn ich zum Beispiel den ersten Teil des Heiligen Thomas lozieren will, werde ich den Teil zuerst in zwei Bereiche trennen, gleichwie der Doctor sanctus, nämlich in die heilige Theologie und Gott, der ihr Thema ist. Aus den ersten Silben der Teile der Sachgliederung werde ich ein Wort bilden, das aus zwei Silben besteht, nämlich sacri und de, und aus dem Wort eine Geschichte, die lautet sacri deus, deren Bild werde ich an den ersten Ort setzen. So werde ich weitermachen, bis das ganze Buch unterteilt sein wird. Zweitens werde ich zur ersten Quaestio gehen, die von der heiligen Theologie handelt. In dieser sind zehn Articuli, und in den Anfang des ersten Ortes werde ich einen Priester setzen, der bereitsteht und Kastanien isst. Hier wird das Bild der Quaestio sein mit der Anzahl der Articuli. Dann werde ich ein Wort aus den ersten fünf Silben der ersten Articuli bilden und aus dem Wort eine Geschichte, deren Bild ich in die Mitte oder in die Seite desselben Ortes setzen werde. Später werde ich ein anderes Wort bilden aus anderen fünf Silben und aus dem Wort eine Geschichte, deren Bild ich an das Ende oder in die Seite des Ortes setzen werde. Dies sind die jene Wörter: ‚nec sa prat dic sap sub arg ment sen‘. Dies sind die Geschichten aus den Wörtern, nämlich: necat scienciam vnam predicatus dignior sapienciam subigit argentum mente sensata. So werde ich der Reihe nach fortschreiten bis zum Ende. Drittens werde ich zum ersten Articulus gehen, ihn lernen und lozieren, wie es beschrieben wurde, und so weiter. Doch du kannst die Einteilung des Buches und die Lozierung der Quaestiones für sich und anders oder auf dritte Weise vornehmen. Über zu erinnernde Werke und Autoritäten Wenn du dich an viele Werke oder Autoritäten zu erinnern wünschst, kannst du so vorgehen. Teile zuerst das Werk in Textstücke, wenn es zu umfangreich

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Paulinus von Aquileia, Liber Exhortationis vulgo de salutaribus documentis, cap. 21

 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

Deinde eas disce et loca, ut dictum est in capitulo de sermone litterali, et auctoritatem originalem ad locum, vbi ponitur ymago originalis, ut sciatur cuius est. Verbi gracia si volo recolere et retinere hoc originale beati Augustini: ‚Quanto deum quis plus diligit, tanto felicior et beacior efficietur, in tantum enim nos amauit, [85rb] ut pro nobis mori dignatus sit. Et manus eius, que plurima signa faciebant, clauis pro nostra redempcione confixe sunt. Et ori mellifluo, quo saluationis doctrina profluxit, et fel pro cibo impii porrexerunt.ʻ, diuidam in quattuor clausulas, ut patet in paragraphis, quo facto discam primam, secundam, terciam et quartam, ut dictum est prius. Dehinc possum formare ymaginem prime et ponere ad primum locum, et ad collum uel in capite ymaginis ponam torquem auream, per quam innuitur, quod originale est Augustini. Deinde formabo ymaginem secunde et sic usque ad quartam. Potest eciam formari vocabulum tale de principijs clausularum, quale est hec: ‚quant int man orʻ, cuius hystoria est hec: ‚quantus intingit manum orbiʻ, et eius ymago poni ad locum ut docebitur vna voce. Nota eciam, quod vtile est discere originalia pertinencia ad caritatem per se, pertinencia ad spem per se et sic de alijs, ut ponuntur in manipulo florum uel alibi. Sic enim non miscetur vna materia cum alia, et memoria manet magis libera.

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De cedulis portandis Nota, quod vtile est memoranti cedulam habere portabilem. In qua scribantur vocabula ficta de primis silabis uel hystorie de diccionibus memorandorum, ne eundo per uiam mens maneat ociosus. 25 Sic enim faciliter et delectabiliter potest per uiam tradere memorie uel alibi, que discere volebat.

4 hoc originale] hec originalia L 6 sit] est L 6 faciebant] faciebat M 7 ori] ore M 8 saluationis] salutaris L 8 profluxit] fluxit L 12 et ad collum] ut ad collum  L 12 torquem] torquentem  M 15 de principijs clausularum] de primis silabis clausularum L - 15 hec] hoc L 15 Quant int man or] quant in tam man or L 16 manum] manus L 17 vna] viua L 22 De cedulis portandis] om. L 25 mens] animus L 25 ociosus] vic***sus L 

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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ist. Dann lerne diese und loziere, wie es im Kapitel über die wissenschaftliche Predigt gesagt wurde, die Autorität an den Ort, wo ein Bild des Werks gesetzt wird, damit man wisse, wessen der Ausspruch ist. Wenn ich mir beispielsweise dieses Diktum des Seligen Augustinus ins Gedächtnis rufen und bewahren will: „Je mehr ein Mensch Gott liebt, desto glücklicher und seliger wird er werden, denn so sehr liebte er uns, [85rb] dass er geruhte, für uns zu sterben. Seine Hände, die sehr viele Wunderzeichen wirkten, wurden für unsere Erlösung mit Nägeln ans Kreuz geschlagen. Dem honigfließenden Mund, aus dem die Lehre des Heils strömte, reichten die Gottlosen Galle statt Nahrung.“, werde ich das Diktum in vier Aussagen unterteilen, wie es in den Paragraphen ersichtlich ist, danach werde ich die erste, die zweite, die dritte und die vierte lernen, wie es zuvor gesagt wurde. Dann kann ich ein Bild für die erste Aussage gestalten und an den ersten Ort setzen, und an den Hals oder den Kopf des Bildes werde ich eine goldene Halskette setzen, durch die angedeutet wird, dass es ein Diktum des Augustinus ist. Hierauf werde ich ein Bild für die zweite Aussage gestalten und so weiter bis zur vierten. Es kann auch ein so beschaffenes Wort aus den Anfängen der Aussagen gebildet werden, wie dieses ist: ‚Quant int man or‘, dessen Geschichte folgende ist: quantus intingit manum orbi, und dessen Bild soll an den Ort gesetzt werden, wie es nach einhelliger Meinung gelehrt wird. Merke auch den Nutzen, der darin liegt, Autoritäten zu lernen, die die Nächstenliebe an sich und die Hoffnung an sich betreffen und so weiter, wie sie in einer Blütenlese168 oder anderswo angeführt werden. Denn so wird ein Stoff nicht mit dem anderen vermischt, und das Gedächtnis bleibt freier. Über mitzuführende Zettel169 Merke, dass es für den, der sich erinnern will, nützlich ist, einen handlichen Zettel zu haben. Auf ihm sollen die Wörter geschrieben sein, die aus den ersten Silben gebildet sind, oder die Geschichten aus den Ausdrücken dessen, was erinnert werden soll, damit der Geist nicht unterwegs beim Gehen müßig bleibe. So kann man denn leicht und angenehm auf einem Weg oder anderswo etwas dem Gedächtnis einprägen, was man lernen wollte.

168 manipulo florum: gemeint ist ein Florilegium (dt. ‚Blütenlese‘), eine Sammlung ausgewählter Textstücke meist verschiedener Autoren, die aus der profanantiken oder patristischen Literatur in Form von lehrhaften oder erbaulichen Zitaten oder Aussprüchen gesammelt werden; im MA weit verbreitet und u.  a. für den Unterricht verwendet. 169 cedula: ‚Blättchen, Zettel‘; ‚Kodex, Urkunde‘.

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 Matthaeus de Verona: De arte memorandi

De quaternis habendis Sciendum, quod prodest habere tres quaternos, quamquam quidam ponunt octo. Quorum in primo scribantur loca tua seriatim, in secundo ymagines rerum, de quo dictum fuit similiter, et in tercio preposito titulo libri discendi scribantur, primo vocabula 5 ficta, secundo hystoria vocabuli uel tantum hystorie diccionibus memorandorum, in littera grossa cum glosulis superius. Pones autem omnes istorum. Possunt redigi in vnam, quamuis multe alie voce vna reddi queant, videlicet quod hoc totum sit. Et ymaginibus inventis et significacionibus vocabulorum fictorum habitis iterum 10 non laboremus in adinveniendo et acquirendo et cetera.

1 De quaternis habendis] om. L 2 Sciendum, quod] Nota eciam quod L 2 quamquam quidam ponunt] et in quemquam ponant 3 primo] prima M 3 seriatim] seruatim  M 4 similiter] supra  L 6 diccionibus memorandorum] diccionum memorandarum  L 8 omnes] dub.  L 9 vna] viua  L 9 reddi] redigi  L 9 sit] fit  M 9 Et ymaginibus] ut locis et ymaginibus  L 10 significacionibus] sermonibus L 11 acquirendo] a conquirendo L 11 et cetera] Et sic est finis huius tractatus L

Matthaeus von Verona: Über die Kunst des Gedächtnisses 

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Über Hefte,170 die du anlegen sollst Man muss wissen, dass es nützt, drei Hefte zu haben, obwohl manche Leute acht ansetzen. In deren erstes sollen deine Örter nach der Reihe verzeichnet werden, in das zweite die Bilder der Dinge, worüber ähnlich schon gesprochen wurde, und in das dritte sollen, mit vorgesetztem Titel, die zu lernenden Bücher geschrieben werden, zuerst die gebildeten Wörter, dann die Geschichte des Wortes oder nur Geschichten aus den Wörtern dessen, was erinnert werden soll, in größerer Schrift mit kleinen Glossen darüber. Du wirst aber alle von diesen setzen. Sie können in ein [Wort] zurückgeführt werden, [so wie] beliebig viele andere mit einem Wort wiedergegeben werden können, so dass dieses das Ganze darstellt. Nachdem die Bilder gefunden und die Bedeutungen der gebildeten Wörter beisammen sind, wollen wir uns nicht wieder mit dem Erfinden und Erwerben [weiterer] mühen und so weiter.

170 quaternus: ‚Heft, Quartbogen‘, aus vier Doppelblättern (quaternio) bestehender Faszikel.

Anonymus Ars memorandi (überliefert um 1451–53) Incipit: Et nota primo quod artis nobilissime memorandi Editorische Hinweise Hss.: Erlangen, UB, Cod 554, 96r–99v (Frgm.; 1455); Melk, Stiftsb., Cod. 177, 16r–25r (1479); Melk, Stiftsb., Cod. 1805, 192r–202r (4.V.15.Jh.); München, BSB, Clm 4393, 12r–16v (unvollständig; 1479); München, BSB, Clm 14260, 93ra–94va (unvollständig; 1451–1453; aus St. Emmeram); Wien ÖNB, Cod. Vind. 4121, 169v–172r (nur Schemata/Örter). Die Edition des Traktats erfolgte auf Basis der beiden einzigen Handschriften, die den Text vollständig überliefern:  Melk Cod. 177 (M1) sowie Melk Cod. 1805 (M2). Als Leithandschrift für den Text dient Melk Cod. 177. Bei korrupten Passagen wurden die Parallelhandschriften Cod. Vind. 4121 und München Clm 4393 hinzugezogen. Namentlich wurde durch die Rubrizierung die Ordnung der Örter-Liste in  M1 völlig zerstört. Diese musste aus der Parallelüberlieferung rekonstruiert werden. Die Kommentarglossen in M1 von späterer Hand wurden in der Edition nicht berücksichtigt. Siglen: Melk Cod. 177 M1 Melk Cod. 1805 M2

https://doi.org/10.1515/9783110575231-003

Incipit ars memorandi Et nota primo quod Artis memorandi nobilissime, de qua Tulius circa quarti finem tractatus rethorice perstringit, sunt generales pro terminis et dictionibus regule decem. Et nota aliqua ad indagacionem illius artis neccessaria et in numero sunt octo et continentur in hiis versibus. 5 Si cupis esse memor, bis quatuor accipe claues. Esto vacans, mitis sis, sobrius atque benignus. Ordo sit et numero tibi constituatur ymago. Et quod concipit tua mens, meditare frequenter.

Prima regula generalis est hec, quod capiantur ydola seu signa circulariter et non dyametraliter. Secunda, quod quinti loci sit notabilis signatio. Tertia, quod illa ydola seu signa debeant habere debitam proportionem temporis quantitatis et loci, ita quod minimum sit in illis aut maximum euitetur.Quarta regula, ydem ydolum uel signum nullatenus bina vice replicetur aut incipiendo iteretur. Quinta regula, quod locus ydolorum quanto in secundariori loco et plus deserto et squalebroso fieri potest adaptetur, ne per fantassmata priora offendantur ymagines postreme. Sexta regula est, quod materia memoranda numquam subiiciatur memorie pluribus vicibus quam semel nec adaptetur per eadem ydola sine regulis infra dicendis, ne vetera pro nouis contingat prenuntiare. [16v] Septima, quod termini siue dictiones talibus ydolis sic dispositis conparentur vel ab simili vel ab opposito vel ab aliqua secunda intencione scilicet parcium orationis vel decem predicamentorum vel materialiter a sono vel a voce vel a casu vel a numerabilitate vel aliqua nouitate. Octaua regula pro cautela datur, vt, si cui ydola uel signa non sufficerent pro noto, aliquam fortassis

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Incipit ars memorandi] titulus om.  M2 1 Et nota primo quod] om.  M2  1 memorandi nobilissime] nobilissime memorandi  M2 2 noue] nonne  M1, M2 3–9 Et nota aliqua … frequenter] Quarum prima sit talis M2 10 est hec] om. M2 12 Tertia] Tertia regula M2 14 minimum] nimium M2 18–22 Sexta … prenuntiare] add. in marg. M1, Sexta regula quod numquam subiciere sine regulis infra dicendis per eadem ydola memoria pluribus uicibus quam semel adaptetur ne uetera pro nouis pro contingat prenunciare M2; del. M1 21 nouis] hab. Clm 4393, 12r; vanis M1, M2 27 pro noto] pre noto M1 

Es beginnt die Gedächtniskunst Und merke Dir zuerst, dass es zehn allgemeine Regeln für die Begriffe und Bezeichnungen der überaus edlen Kunst des Erinnerns gibt, von der Tulius am Ende des vierten Traktats der Rhetorica nova1 handelt. Merke: zur Erforschung jener Kunst sind einige Dinge nötig, acht an der Zahl, und sie sind in diesen Versen enthalten: Wenn Du etwas im Gedächtnis behalten willst, ergreife die zwei mal vier Schlüssel. Mache dich frei, sei friedsam, nüchtern und gnädig. Ordnung herrsche und durch die Anordnung wird dir ein Bild geschaffen. Und was dein Verstand aufnimmt, durchdenke immer wieder!

Die erste allgemeine Regel ist diese, dass man Abbilder und Zeichen im Kreis anordnen soll und nicht in gerader Linie. Die Zweite, dass die Bezeichnung des fünften Ortes auffällig sein soll. Die Dritte ist, dass jene Abbilder und Kennzeichen die nötige Verhältnismäßigkeit nach Zeit, Größe und Ort haben müssen, damit in ihnen sowohl das kleinste als auch das größte Maß vermieden wird. Die Vierte Regel ist, dass dasselbe Abbild oder Zeichen auf keinen Fall an zwei Stellen wiederholt oder von neuem vorgenommen wird. Die Fünfte Regel ist, dass der Ort der Bilder, soweit dies an einem zweiten Ort, der etwas einsamer und dunkler ist, geschehen kann, angepasst werde, damit die späteren Bilder nicht durch die vorherigen Bilder beschädigt werden. Die sechste Regel ist, dass der zu erinnernde Stoff niemals in vielen Örtern der Erinnerung angebracht werden soll als einmal und dass er nicht durch dieselben Bilder – ohne die unten genannten Regeln – vertreten werden soll, damit es nicht geschieht, älteres für neues anzugeben. Die siebte, dass die Begriffe oder die Bezeichnungen mit solchen Abbildern ausgerüstet werden sollen, die folgendermaßen eingerichtet sind: entweder nach etwas Ähnlichem oder Gegensätzlichem oder von einer zweiten Ordnung, nämlich der Redeteile oder der zehn Prädikamente, oder ‒ in materialer Hinsicht ‒ vom Klang oder vom Wort, vom Kasus oder von der Zählbarkeit oder von irgendetwas anderem, das ungewöhnlich ist. Die achte Regel wird zur Vorsicht gegeben,

1 Rhetorica nova: Bezeichnung der Rhetorica ad Herennium, die ebenfalls Cicero zugeschrieben wurde und mit dieser Bezeichnung von der Rhetorica vetus (i.  e. De inventione) desselben Autors unterschieden wurde.

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 Incipit ars memorandi

prolixam pronunciacionem non comprehendendi uel rediendi ad primam illa uariaret ymaginando duo uel plura pro vno vel vnum aridum ymaginando aliud recens vel vnum in monte aliud in valle et cetera. Nona regula similiter pro cautela datur, quando pronunciantur termini subiecti abstracti in -cio, in -tas, in -bilis, in -or ter- 5 minati. Vel termini inuisibiles, quod multum diligenter notentur et in eis semper recompensatio omnis habeatur tamquam in quintis locis, quia memoria in talibus non tantum quantum positiue regulatur. Decima et vltima regula eciam pro cautela datur, vt, si quis non spatiari vel esset in captiuitate vel cecus, tunc utendo singulis 10 regulis iam tactis ymaginetur sibi vnum campum amplum et in eodem ydola illa, que in numero 62, reperiuntur, ex quibus eciam memoria fantasmatur et in quibus totius artis memorandi fundamentum habetur; quorum ordo sic habetur et primo ymaginetur hoc modo primo vnum letum. [17r] 15

(2) Ymaginatio ydolorum et numerus eorum 1 vnum letum aliud 2 triste aliud 3 iocundum aliud letitia 4 seriosum aliud 5 igneum aliud 6 terreum aliud 7 aereum aliud 8 aqueum aliud terra 9 calidum aliud 10 frigidum aliud 6 inuisibiles] indiuisibiles M1, M2; invisibiles Clm 4393, 12r 6 diligenter] diligentur  M2 7 recompensatio] repensatio  M2 10 singulis] duplex  M2 14 sic habetur] sic ut sequitur habetur M2 15 hoc modo… letum] om. M2 17 vnum letum… uiciosum est et cetera] mit anderer Tinte sind die Begriffe in  M1,  M2 nummeriert von 1 bis 67; die rechts ausgestellten rubrizierten Oberbegriffe der Fünfergruppen stehen in  M1,  M2 an falscher Stelle. Die Gruppen wurden vom Rubrikator zu Gruppen von 3 bis 9 Begriffen (meist jedoch vier) eingerahmt. 17 letum] lete  M1; letum add. sup. lin.  M1 19 iocundum aliud] add. aqueum aliud frigidum aliud calidum aliud M1, M2 20 seriosum aliud] seriosum vel iratum Clm 4393, 12v; add. iratum aliud M1, M2 

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Es beginnt die Gedächtniskunst 

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damit irgendjemand, falls ihm die Abbilder und Zeichen für das Gemerkte nicht genügen, nicht eine vielleicht weitläufige Rede hinsichtlich der ersten [Regel] des Verstehens und Wiederholens durch jene verändert, indem er sich zwei oder mehr für eines vorstellt oder indem er ein trockenes Ding für etwas Frisches abbildet oder etwas auf dem Berg für etwas im Tal und so weiter. In gleicher Weise wird auch die neunte Regel zur Vorsicht gegeben, wenn abstrakte Unterbegriffe reproduziert werden sollen, die auf -cio, auf -tas, auf -bilis oder auf -or enden. Oder Termini des nicht Sichtbaren, weil man sie sehr gründlich bezeichnen soll und man bei ihnen immer ein Äquivalent des Ganzen hat wie gleichsam an fünften Örtern, da die Erinnerung bei solchen nicht nur soviel [umfasst], wie tatsächlich gegeben und eingerichtet ist. Und auch die zehnte und letzte Regel wird zur Vorsicht gegeben, damit sich dann jemand, falls er nicht gehen kann oder in Gefangenschaft oder blind sein mag, durch den Gebrauch der einzelnen Regeln, die bereits gestreift wurden, ein weites Feld vorstellt, wo man jene Abbilder findet, derer es 62 an der Zahl gibt und aus denen auch die Erinnerung ersteht und in denen man das Fundament für die ganze Kunst des Gedächtnisses besitzt. Deren Reihenfolge erhält man auf diese Weise und man stellt sich zunächst bei dieser Art als erstes etwas Heiteres vor. (2) Die Vorstellung der Abbilder und ihre Nummer erstens etwas Heiteres 2 etwas Trauriges 3 etwas Vergnügliches Freude etwas Ernstes 4 5 etwas Feuriges 6 etwas Erdiges 7 etwas Luftiges 8 etwas Wässriges Erde 9 etwas Heißes 10 etwas Kaltes

114 

 Incipit ars memorandi

11 siccum aliud 12 humidum aliud 13 coloratum aliud fixum aliud 14 15 mobile aliud 16 animatum aliud 17 inanimatum aliud 18 splendens aliud 19 opacum aliud 20 viuens aliud 21 mortuum aliud 22 vegetabile aliud 23 sensibile aliud 24 molle aliud 25 durum aliud 26 odoriferum aliud 27 fetidum aliud 28 artificiale aliud 29 naturale aliud 30 arboreum aliud 31 leguminosum 32 gramineum aliud 33 reptile aliud 34 volatile aliud 35 materiale aliud 36 subtile aliud 37 scientificum aliud 38 grossum aliud 39 pingue aliud 40 macrum aliud 41 bonum aliud 42 malum aliud 43 simile 44 magnum aliud

siccitas 5

anima 10

mors 15

olfactus 20

gramineum 25

subtilitas 30

bonitas

21 leguminosum] lignosum M1, M2; leguminosum Clm 4393, 12v et Cod. Vind. 4121, 171r; cf. Lignosum, ut Archa, promptuarium grani in Exempla ydolorum; cf. leguminibus M1, M2 in Kapitel (8) 23 ] hab. Clm 4393, 12v et Cod. Vind. 4121, 171r, om. M1, M2; hab. M1, M2 in Exempla ydolorum 33 simile] hab. Clm 4393, 12v, 13r; Cod. Vind. 4121, 170v, om. hic M1, M2 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

etwas Trockenes 11 12 etwas Feuchtes 13 etwas Buntes 14 etwas Festes 15 etwas Bewegliches 16 etwas Belebtes 17 etwas Unbelebtes 18 etwas Glänzendes 19 etwas Dunkles 20 etwas Lebendiges 21 etwas Totes 22 etwas Vegetatives 23 etwas Wahrnehmendes 24 etwas Weiches 25 etwas Hartes 26 etwas Duftendes 27 etwas Stinkendes 28 etwas Künstliches 29 etwas Natürliches 30 etwas Baumartiges 31 etwas Hölzernes 32 etwas von Kräutern 33 etwas Kriechendes 34 etwas Flugfähiges 35 etwas Stoffliches 36 etwas Geistiges 37 etwas Wissenschaftliches 38 etwas Grobes 39 etwas Fettes 40 etwas Mageres 41 etwas Gutes 42 etwas Schlechtes 43 Ähnlichkeit 44 etwas Großes

Trockenheit

Seele

Tod

Geruch

Kraut

Feinsinnigeit

Güte

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 Incipit ars memorandi

45 paruum aliud 46 superius uel altum aliud 47 inferius uel decliue aliud 48 sonans aliud 49 tacens aliud [17v] 50 dulce aliud 51 amarum aliud 52 generale aliud 53 speciale aliud 54 primum aliud 55 postremum aliud 56 temperatum 57 sanum aliud 58 egrum aliud 59 vile 60 et tardum aliud 61 delectabile aliud 62 recens aliud 63 virtuosum aliud 64 viciosum et cetera

altitudo 5

amaritudo 10

temperamentum 15

paulo plus 20

Per hec igitur ydola tocius mundi materia potest amplecti, licet aliqui ponant septuaginta duo, quorum propter saniorem contemptum et intellectum exempla sic, vt sequitur, sunt uel prout cui placet formanda pro libito et beneplacito memorie melius dispositiue. Oportet autem, ut clarificetur presens propter rudes exempla 25 pro singulis ydolis, que sunt talia sub ornatis.

(3) Exempla ydolorum secundum numerum ipsorum Primo ymaginetur vnum lete et intelligendo: Letum, ut iuuenis ducens pulchram uxorem.

2 uel altum] hab. Clm 4393, 13v; altum M1, M2; cf. superius uel altum M1, M2 in Exempla ydolorum 3 uel decliue] hab. Clm 4393, 13v; decliue  M1,  M2; cf. inferius uel decliue M1, M2 in Exempla ydolorum 11 postremum] ultimum Clm 4393, 13v;  M1,  M2 in Exempla ydolorum 19 virtuosum] viciosum  M2 20 viciosum et cetera] virtuosum  M2 21 igitur] namque  M2 22 septuaginta duo] LXXII  M2 24 formanda] foruanda  M2 27 Exempla… ipsorum] titulus om. M2 28 Primo… lete et] om. M2 - 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

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45 etwas Kleines 46 etwas Höheres oder Hohes 47 etwas Tieferes oder sich Neigendes 48 etwas Tönendes Höhe 49 etwas Schweigendes 50 etwas Süßes 51 etwas Bitteres 52 etwas Allgemeines 53 etwas Besonderes Bitterkeit 54 etwas Erstes 55 etwas Letztes 56 etwas Ausgeglichenes2 57 etwas Gesundes 58 etwas Krankes Maßvolles 59 etwas Wildes 60 und Träges3 61 etwas Ergötzliches 62 etwas Frisches4 ein Weniges mehr 63 etwas Tugendhaftes 64 Lasterhaftes Durch diese Abbilder kann folglich die Beschaffenheit der ganzen Welt erfasst werden, wenngleich andere 72 anführen. Für das Bemühen5 um diese, das sehr vernünftig ist, und für deren Verständnis gibt es solche Bespiele, wie das folgende, oder solcherart, wie es jemandem gefällt sie nach seinem Gutdünken und Wohlgefallen zu formen für die besser zu ordnende Erinnerung. Es ist dienlich, dass das Vorliegende für die Anfänger erhellt wird. Beispiele für die einzelnen Abbilder, wie sie in ausgeschmückter Form vorliegen: (3) Beispiele für die Abbilder gemäß ihrer Nummer Als Erstes stellt man sich einen Heiteren vor und man erkennt: (1) Heiter, wie der Jüngling, der eine hübsche Ehefrau heimführt.

2 Kein Gegenbegiff vorhanden. 3 Gegenbegriffe in einer Zeile. 4 Ergötzliches und Frisches bilden kein Gegensatzpaar. 5  Hier contemptus = contentus.

118 

 Incipit ars memorandi

Triste, vt aliquis sedens in cippo, qui cicius debet decollari. Iocundum, ut aliquis cum canibus et auibus volatilium celi uenator. Seriosum uel iratum, ut Herodes occidens infantes. Igneum, ut Salamandre multe circum montem Terreum, ut mures, ut formice cum suis aceruis. Aereum, ut nubes due una caliginosa alia serena. Aqueum, ut cetus deuorans Ionam. Calidum, ut calx intima per aquam resoluta valde vaporans. Frigidum, ut massas de glacie super quam mergit. Siccum, ut pisces magni peciati exsiccati. Humidum, ut uir aquaticus lauans vestes et numquam siccans. [18r] Coloratum, ut pellis salmorum omnes colores habens. Fixum, ut statua care in sale mutata. Mobile, ut uentilabrum, quod est in continuo motu venti, numquam quietatur. Animatum, vt vna ydea stans in aere, apta nata dare animam cunctis viuentibus, habentes animam rationalem in facie, sensitiuam in ventre et vegetatiuam in pedibus. Inanimatum, ut ciconia ranarum troncus in medio cuiusdam paludis. Splendens, ut scutum aureum vel speculum contra solem positum. , ut locus animarum sine baptismo pereuncium. Viuens, ut Enoch et Helyas qui numquam mortui existunt. Mortuum, ut ymago mortis cum falcastro occidens viuencia vniuersa. Vegetabile, ut mercurius in quodam puteo. Sensibile, vt aranea cum suis telis et basiliscus perspicuus murorum. Molle, ut vera laxacio luti vel terre cum pedibus et manibus.

1 Triste… Gramineum] von der Hand des Rubrikators finden sich am Rand Anfangsbuchstaben der idola, allerdings völlig willkürlich verteilt und unpassend; ab Nr. 33 Reptile fehlen diese gänzlich. Da hier ohne Funktion, werden sie nicht übernommen. 1 cicius] cras M2 2 uenator] fenator M1 4 Salamandre] hab. Clm 4393, 12v; corr. M2; Saloman de M1 5 Terreum] terrarum M1 5 ut formice] in formice  M2 13 care] Care hab. Clm 4393, 13r; caro  M1,  M2 14 quod est] quod M2 21 positum] expositum M2; Clm4393, 13r 22 Oppacum] emend. operatum M1, M2 

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Es beginnt die Gedächtniskunst 

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(2) Traurig, wie irgendjemand, der vor dem Richtblock kniet und sehr bald enthauptet werden soll. (3) Vergnüglich, wie jemand, der mit Hunden und Greifvögeln die Vögel des Himmels jagt6. (4) Sehr ernst und zornig, wie Herodes der die Kinder mordet. (5) Zum Feuer gehörend, wie viele Salamander rings um den Berg. (6) Zur Erde gehörend, wie Mäuse und wie Ameisen mit ihren Massen. (7) Zur Luft gehörend, wie zwei Wolken, die eine dunkel, die andere hell. (8) Zum Wasser gehörend, wie der Wal der Jonas verschlingt. (9) Heiß, wie Kalk der stark dampft, wenn er im Innersten durch Wasser gelöst wird. (10) Kalt, wie eine Masse aus Eis auf der man stürzt. (11) Trocken, wie große kleingeschnittene,7 getrocknete Fische. (12) Feucht, wie der Wassermann, der seine Schlangenhaut benetzt und niemals trocknet. (13) Bunt, wie die Haut der Lachse, die alle Farben hat. (14) Fest, wie eine Statue der [Ehe-]Liebsten, in Salz verwandelt. (15) Beweglich, wie der Fächer,8 der in unablässiger Bewegung des Windes ist und niemals ruht. (16) Belebt, wie die Idee, die sich in der  Luft befindet, dienlich geschaffen um allen Lebenden einen Geist zu geben, indem sie einen verständigen Geist im Antlitz haben, einen empfindsamen im Bauch und einen belebenden in den Füßen. (17) Unbelebt, wie der Storch, der Baumstumpf der Frösche inmitten eines Sumpfes.9 (18) Glänzend, wie ein goldener Schild oder ein Spiegel, der gegen die Sonne gerichtet ist. (19) Dunkel, wie der Ort für die verlorenen Seelen ohne Taufe (20) Lebendig, wie Henoch10 und Elijas,11 die niemals als Tote erscheinen. (21) Tot, wie das Bild des Todes, der mit der Sense alles Leben niedermäht. (22) Belebend [vegetativ], wie Quecksilber in irgendeiner Grube. (23) Empfindend [wahrnehmend], wie die Spinne mit ihren Geweben und die durchsichtige Eidechse auf den Mauern.

6 Wörtl. ‚ein Jäger der Vögel des Himmels ist‘. 7 ital. pezziare, ‚in kleine Stücke schneiden‘. 8 Hier wohl als Wetterhahn zu verstehen. 9 Anspielung auf die Phaedrus-Fabel vom Baumstamm als neuem König der Frösche. 10 Gen. 5,24 11 2 Reg 2,11  f.

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 Incipit ars memorandi

Durum, ut adamans qui nulla re propter duriciem quam hircino sanguine diuisibilis. Odoriferum, ut vas repletum mirra et thure. Fetidum, ut cloaca. Artificiale, ut aliquis demonstrans figuras quadrangulares, circulares et triangulares. Naturale, ut ouis cognoscens lupum sibi inimicum. Arboreum, ut rubus in quo deus Moysi apparuit.  Leguminosum, ut Archa, promptuarium grani. Gramineum, ut diuerse herbe in quodam castro floride et mature. Reptile, ut serpens eneus [18v] in deserto suspensus in quandam statuam. Volabile ut griffo ferens aratrum cum agricola. Materiale ut Philippus equitans asinum. Subtile, ut dominus Pax et dominus Colutius aliquid simul super aliqua materia concipientes. Scientificum, ut patriarcha reuertens a morte et aliquid noui ex parte Tulii et Virgilii Aristotilis quoque nuntians et manifestans. Grossum, ut panis in mensa furfureus et caseus asininus. Pingue, ut thaurus uel bos, qui ad victimam ducitur ymolandus. Macrum, ut canis scabiosus quem omnes fugientes propter abusionem non poscunt illum. Bonum, ut Deus dans omne bonum suis. Malum, ut demon Torantus niger et pessimus. Simile ut duo gemelle. Magnum, ut ymago sancti Cristofori.

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1 adamans qui] ad amas  M2 1 duriciem] duricie  M2 1 hircino] hircio  M2 2 sanguine] sanguinem  M1 3 repletum mirra] repletum balsamo mirra  M2 9 Leguminosum] lignosum  M1,  M2; leguminosum Clm 4393, 13r 10 ] solaciorum Clm 4393, 13r; salaticorum  M1,  M2 16 aliquid] aliud M2 18 aliquid] aliud M2 25 Torantus niger] ter niger Clm 4393, 13v 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

 121

(24) Weich, wie die kräftige Lockerung des Lehms oder der Erde mit Händen und Füßen. (25) Hart, wie der Diamant, der wegen seiner Härte durch keine Sache als durch Bocksblut zerstört werden kann. (26) Duftend, wie ein Gefäß, das mit Myrrhe und Weihrauch gefüllt ist. (27) Stinkend, wie eine Kloake. (28) Künstlich, wie jemand der viereckige, kreisförmige und dreieckige Figuren vorzeigt. (29) Natürlich, wie das Schaf, das erkennt, dass der Wolf ihm feindlich gesonnen ist. (30) Baumartig, wie der Dornbusch in dem Gott Moses erschien. (31) Voll mit Feldfrüchten,12 wie die Arche und der Kornspeicher. (32) Aus Kraut gewachsen, wie verschiedene Aphrodisiaca, die in einer Burg blühen und reif werden. (33) Kriechend, wie die Schlange,13 die ehern in der Wüste zu einem Standbild aufgerichtet wurde. (34) Fliegend, wie der Greif, der den Pflug mitsamt dem Bauern fort trägt. (35) Weltlich [stofflich], wie Philippus, der einen Esel reitet. (36) Scharfsinnig [genau], wie Herr Pax und Herr Colutius,14 die gemeinsam irgendetwas über irgendeinen Gegenstand verfassen. (37) Wissenschaftlich, wie der Patriarch, der vom Tod zurückkehrt15 und etwas Neues von der Seite des Tulius und des Vergil und auch des Aristoteles berichtet und offenbart. (38) Grob, wie das Kleiebrot und der Eselskäse auf dem Esstisch. (39) Fett, wie der Stier oder der Ochse, der zur Schlachtung geführt wird um geopfert zu werden. (40) Mager, wie ein räudiger Köter, den alle verschmähen und den sie wegen ihrer Verachtung nicht haben wollen. (41) Gut, wie Gott, der den Seinen alles Gute schenkt. (42) Schlecht, wie der Teufel Torantus,16 der boshaft und überaus gerissen ist. (43) Einander ähnlich,17 wie zwei Zwillingsschwestern.

12 Die Hss. M1 und M2 haben hier lignosum, ‚holzreich‘ – die Verwechslung (Vorräte für Mensch und Tier) ergibt sich durch das ähnlich klingende Baumaterial für die Arche. 13 Cf. Num. 21,8. 14 Coluccio Salutati (1331–1406), Kanzler von Florenz; Paolo di Ser Pace da Certaldo (1315-ca. 1370), Jurist in Florenz, Verf. des Libro di buoni costumi. 15 Enoch, Gen 5,24; Hbr 11,5; vgl. das apokryphe Henochbuch (1 Hen). 16 Nicht ermittelt (vgl. ital. demone cornuto?). 17 Simile: fehlt in der Liste der Bilder (nach 44).

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 Incipit ars memorandi

Paruum, ut gnanus et pigmeus homo. Superius vel altum, ut XII armati in alodio aliquo. Inferius uel decliue, ut duo aliqui fodientes fossum. Sonans, ut campana. Tacens, ut pisces in aqua. Dulce, ut alphearium apum. Amarum, ut Ypocras potans egrotum absinthio. Generale, ut corus habens latera rotunditate. Speciale, ut ultimus homo qui est nasciturus. Primum, ut sacerdos primam missam habens. Vltimum, ut Christus [19r] iudicans in fine mundi. Temperatum, ut sol et luna. Sanum, ut Maria Magdalena cum alabastro ungenti. Egrum, ut Lazarus in domo diuitis induentis se cottidie purpura et bisso. Vile, ut upupa defendans proprium nidum. Tardum, ut testudo perambulans vniuersum mundum. Delectabile, ut Maius tenens in manibus rores gramina et flores. Recens, ut fons in medio platee. Viciosum, ut mulier pulchra et meretrix tenens speculum in manibus. Virtuosus, ut Katho dans precepta virtuosa se ipsum occidens. Et si cui placent ydola plura vix uel difficulter possunt esse alia preter ista et cetera.

5 pisces] piscens  M2 6 alphearium] aluearium  M2 8 corus] hab. Clm 4393, 13v; corpus M1, M2 8 latera rotunditate] latera in rotunditate  M2 18 Maius] in anis M1, corr. iuuenis 19 platee] hab. Clm 4393, 13v; platea M1,  M2 24 et cetera] om. M2 

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Es beginnt die Gedächtniskunst 

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(44) Groß, wie das Abbild des heiligen Christopherus. (45) Klein, wie der Zwerg18 und pygmäische Mensch. (46) Höher oder hoch, wie 12 Ritter auf einem Erbgut. (47) Tief oder sich neigend, wie zwei Leute, die einen Graben ausheben. (48) Tönend, wie die Glocke. (49) Schweigend, wie die Fische im Wasser. (50) Süß, wie der Korb der Bienen. (51) Bitter, wie Hypocras, der dem Kranken Wermut zu trinken gibt.19 (52) Allgemein [gewöhnlich], wie der Altaraum,20 der Seiten mit einer Rundung hat. (53) Besonders, wie der letzte Mensch, der geboren werden wird. (54) Als Erster, wie der Priester, der die Frühmesse hält. (55) Als Letztes, wie Christus, der Gericht hält am Ende der Welt. (56) Ausgeglichen, wie Sonne und Mond.21 (57) Gesund, wie Maria Magdalena mit dem Alabasterfläschchen für die Salbe. (58) Krank, wie Lazarus im Haus des Reichen, der sich täglich mit Purpur und Batist bekleidete. (59) Wild, wie ein Wiedehopf der sein eigenes Nest schützt. (60) Träge, so wie die Schildkröte, die Welt durchwandert. (61) Ergötzlich, wie Mai, ländliche22 Kräuter und Blüten in seinen Händen hält. (62) Frisch, wie der Brunnen mitten auf einem Platz. (64) Lasterhaft, wie die schöne Frau und die Hure, die einen Spiegel in der Hand halten. (63) Tugendhaft, wie Cato der tugendhafte Belehrungen gab, indem er sich selbst tötete. Und wenn jemandem mehr Abbilder gefallen, können auch andere außer diesen oder weitere [Abbilder] kaum schwieriger sein.

18 gnanus: Nebenform von nanus, ‚Zwerg‘. 19 Hypocras: Hippokrates, Vater der Arzneikunst; absinthium: ‚Wermutwein‘. 20 Der chorus einer Kirche. 21 Umfang und Entfernung beider Himmelskörper sind u.  a. insofern ausgeglichen, als die Sonne ca. 400 mal größer im Durchmesser als der Mond ist, der Mond dafür nur ca.ein 400stel der Strecke zur Sonne von der Erde entfernt ist. Bzw. die scheinbare Größe beider Himmelskörper liegt deckungsgleich bei 32′ (Bogenminuten). 22 rores: Nebenform von rures (Adj.).

124 

 Incipit ars memorandi

(4) Sequitur de quinariorum particione Sunt igitur quinarii generales huius artis duodecim vel paulo plus. Et primi quinarii dux est letitia, secundi terra, tercii siccitas, quarti anima, quinti mors, sexti olfactus, septimi gramineum, octaui 5 subtilitas, noni bonitas, decimi altitudo, vndecimi amaritudo, duodecimi temperamentum; paulo pluris omnis mortalitas et defectus in quibus omnia conprehenduntur. Omne enim, quod est aut est viciosum aut virtuosum. Primus igitur dux habet in se omne illud, quod est viciosum aut virtuosum. [19v] 10 (5) Primus igitur dux habet quatuor litteras, scilicet t consonans et i vocalem, . Secundus etiam quatuor, scilicet a ante e et a ante q, c et f. Tercius eciam quatuor, scilicet h, c, f, m. 15 Quartus eciam quatuor, scilicet i, s, o et u. Quintus eciam quatuor, scilicet v, s, m, d. Sextus eciam quatuor, scilicet f, a ante et a ante rb. Septimus eciam quatuor, scilicet g, r, v, m. Octauus eciam quatuor, scilicet g, p, m. 20 Nonus eciam quatuor, scilicet m cum a ante l, s, m cum a ante g et p. Decimus eciam quatuor, scilicet † a, i, d, s†. Vndecimus eciam quatuor, scilicet g, et p ante r et p ante o. Duodecimus eciam quatuor, scilicet s, e, v et t. Finalia quinque per se tamquam generaliora considerentur. 25

9 in se] om. M2 9 illud] enim M2 13 uocalem, ] s et i om. M1, M2, Clm 4393, 14r 16 i, s, o et u] hab. Clm 4393, 14r; s i o et v M1, M2 18 ante et a ante rb] ante q t i et a ante tb M1, M2; ante q r i et a ante rb Clm 4393, 14r 20  g, p, m] b g x m M1, M2; b g p m Clm 4393, 14r 21 et p] et p et x M1, M2 22 Decimus] nonus M2 22 a, i, d, s] a i d s M1, M2; Clm 4393, 14r 23 g, et p ante r] g b et p ante r M1, M2, Clm 4393, 14r 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

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(4) Es folgt etwas über die Einteilung der Fünfergruppen Es gibt also zwölf oder wenig mehr allgemeine Fünfergruppen in der Kunst. Und der Wegweiser für die erste Fünfergruppe ist die Freude, für die zweite die Erde, für die dritte die Trockenheit, für die vierte die Seele, für die fünfte der Tod, für die sechste der Geruch, für die siebte der Bewuchs, für die achte die Feinsinnigkeit, für die neunte die Güte, für die zehnte die Höhe, für die elfte die Bitterkeit und für die zwölfte die Mäßigung. Um weniges mehr sind es Sterblichkeit und Sterben, in denen alles erfasst wird. Alles freilich was es gibt, ist entweder laster- oder tugendhaft. Der erste Wegweiser trägt daher all das in sich, was laster- oder tugendhaft ist. (5) Der erste Wegweiser hat also vier Buchstaben, nämlich t (triste) als Konsonant und i (iocundum) als Vokal, . Der zweite hat nocheinmal vier, das sind a vor e (aereum) und a vor q (aqueum), c (calidum) und f (frigidum). Der dritte besitzt auch vier, das sind h, c, f und m (humidum, coloratum, fixum, mobile). Der vierte besitzt auch vier, das sind i, s, o und u (inanimatum, splendens, opacum, uiuens). Der fünfte besitzt auch vier, das sind u, s, m und d (uegetabile, sensibile, molle, durum). Der sechste besitzt auch vier, das sind f, a vor und a vor rb (fetidum, artificiale, naturale, arboreum). Der siebte besitzt auch vier, das sind g, r, u und m (gramineum, reptile, uolabile, materiale). Der achte besitzt auch vier, das sind , g, p und m (scientificum, grossum, pingue, macrum). Der neunte besitzt auch vier, das sind m mit a vor l (malum), s (simile), m mit a vor g (magnum) und p (paruum). Der zehnte besitzt auch vier, das sind †a, i, d und s† (altum, inferius, decliue, sonans).23 Der elfte besitzt auch vier, das sind g, und p vor r und p vor o (generale, speciale, primum, postremum). Der zwölfte besitzt auch vier, das sind s, e, u und t (sanum, egrum, uile, tardum). Die letzten fünf24 werden gesondert gleichsam als allgemeine Punkte betrachtet.

23 Zu erwarten wären die Anfangsbuchstaben von inferius (decliue), sonans, tacans, dulce. 24 recte: vier (oder drei).

126 

 Incipit ars memorandi

(6) De uexillis singulorum quinariorum Primi passiones proprie subiectorum. Secundi elementaria. Tertii accidentalia. Quarti sapiencia siue moralia. Quinti declinatio. Sexti qualitas. Septi victus. Octaui virtus acquisita. Noni virtus innata. Decimi nobilitas. Vndecimi sensitiua passio. Duodecimi modus et 5 mensura. Quod est pro fundamentum et principium omnium modorum et virtutum. Ex cuius opposito et fundamentum vitandi cognoscendo omnia mala et vicia habetur. [20r]

(7) Sequitur finaliter modus ydola restringendi et de memoria bre­ uiter apprehendendi 10 Notandum est, quod differentia est inter memoriam domuum et memoriam sentenciarum vel memoriam rerum et memoriam vocum; vnde regule premisse sufficiunt iam absolute pro memoria quacumque tam domuum quam vocum. Sed pro memoria rerum hoc addere oportet ut non solum illa ydola, sed etiam loca cuilibet 15 enti apta cum diuersis appendentibus adaptantur tali ut sequitur modo. Et hoc semper intuitis regulis iam prelibatis ita, scilicet ut talia loca seu locus sit tamquam cartha et ydola sint tamquam scriptura. Et sicut ex cartha et scriptura id, quod quis satagit representat sic ex talibus locis et ydolis, quod quis vvlt, capit memoriter. 20

(8) Distinctio locorum Io 2 Io 12

Primus igitur locus sit domus in Chana Galilee, in qua Dominus noster Iesus Christus fecit ex aqua vinum. Secunda domus Marthe, in qua Dominus noster Iesus Christus 25 flente Maria Magdalena Lazarum resuscitauit. 1 De … quinariorum] Sequitur de uexillis. Sunt igitur uexilla singulorum quinariorum  M2 6 pro] om.  M2 7 uitandi] corr. uitande  M1 9 Sequitur finaliter] Sequitur ideo finaliter  M2 9 de] om.  M2 13 premisse  … absolute] iam premisse absolute sufficiunt  M2 20 vvlt] om.  M2 21 Distincio locorum] om. M2 25 domus] domus in Bathania M1 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

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(6) Über die Kennzeichen der einzelnen Fünfergruppen Für die erste Fünfergruppe die den Subjekten eigenen Empfindungen. Für die zweite Grundlegendes. Für die dritte Akzidentien. Für die vierte Weisheit oder Moral. Für die fünfte eine Abweichung. Für die sechste die Beschaffenheit. Für die siebte eine Speise. Für die achte eine erworbene Tugend. Für die neunte eine angeborene Tugend. Für die zehnte Adel. Für die elfte Sinneswahrnehmungen. Für die zwölfte Mäßigung und Verhältnis. Das sind die Grundlage und der Anfang allen Maßes und aller Tugenden. Aus dem Gegensatz zu diesen gewinnt man auch die Grundlage des Meidens, indem man alles Schlechte und Lasterhafte erkennt. (7) Zuletzt folgt eine Vorschrift um Abbilder zurückzuziehen und rasch aus der Erinnerung zu nehmen Man muss anmerken, dass es einen Unterschied zwischen der Erinnerung an Häuser und der Erinnerung an Aussprüche bzw. der Erinnerung an Dinge und der Erinnerung an Wörter gibt. Weshalb die vorausgeschickten Regeln bereits in jeder Hinsicht sowohl für die Erinnerung an Häuser als auch an Wörter vollauf genügen. Aber für die Erinnerung an Dinge ist es dienlich dies hier hinzuzufügen, damit nicht nur die Abbilder, sondern auch die Örter, die für jede beliebige Entität passend sind, mit unterschiedlichen Anhängen so angepasst werden, wie auf folgende Art und Weise. Und dies geschieht immer, indem man die Regeln beachtet, die bereits erwähnt wurden; so nämlich, dass solche Örter oder ein Ort gleichsam das Blatt und die Abbilder gleichsam die Schrift seien. Und so wie jemand von Blatt und Schrift das vergegenwärtigt, was er begehrt, so erfasst jemand aus solchen Örter und Abbildern das, was er will, mit seinem Gedächtnis. (8) Die Einteilung der Örter Der erste Ort (letum) sei also das Haus in Kana zu Galiläa, wo unser Herr Jesus Christus aus Wasser Wein machte. Zweitens (triste) das Haus der Martha in Bethanien, wo unser Herr Jesus Christus unter Weinen der Maria Magdalena den Lazarus wiederauferweckte.

128  Lc 15 Lc 23

 Incipit ars memorandi

Tertia domus patris prodigi, in qua reuerso ipso plausus erat, iocunditas et sonus iubili et tympanorum. Quarta domus [20v] pretorium seu consistorium, vbi seriose cuncta examinantur et iura redduntur. Quinta, ut infernus crucians animas diuersorum statuum. Sextum, ut omnis terra in Roma cum festi sui recolacione ibidem olim facte. Septimum, vt molendinum aereum ventis impulsum cum multa farina et ceteris suis condicionibus. Octauum, ut lacus seu piscina circum adiacentibus dyocesibus. Nonum, ut domus fabri et caminus cum malleis; in cudibus multis quoque aliis in ipsa domo exercentibus artem fabrilem. Decimum, ut cellarium plenum vini, glaciei niuis et aque. Vndecimum area, in qua grana bene arida et siccissima sole vrente triturentur. Duodecimum balneum siue stuba, in qua fluit et stillat continua humiditas vaporibus et humoribus adherentibus. Terciadecima ecclesia sancte Katharine multifarie multisque modis picta. Quartadecima petra in medio maris nequaquam concussa et turris super illam. Quintadecima ut magna barca seu galea cum remis et velis et suis attinentiis. Sextadecima domus Cupidinis pueri vniuersa uis propagacione viuificantis. Decimaseptima [21r] locus quidam in deserto crudelissimus carens solis ambitu lucis aeris aque priuatis. Decimaoctaua dies purificationis sancte Marie maior repleta muneribus confecta.

2 tympanorum] thympanarum M2 3 domus] om. M2 5 statuum] statuum et conuicionum M2; Clm 4393, 14v 6 in Roma] hab. Clm 4393, 14v; ut rama M1; ut roma M2 8 cum multi farina] in multa sapiencia Clm 4393, 14v 10 lacus] hab. Clm 4393, 14v; locus M1, M2 13 cellarium] celarium M2 15 triturentur] titulantur M2 22 galea] galia M2 24 e Uenere] emend. eueneri M1, M2 24 uis] emend. suis M1, M2 28 sancte Marie] hab. Clm 4393, 14v; sancta Maria M1, M2 

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Drittens (iocundum) das Haus des Vaters des Verschwenderischen [des verlorenen Sohns], wo es für den Zurückgekehrten Beifall, Freundlichkeit und den Klang von Jauchzen und Trommelschläge gibt. Viertens (seriosum) das Rathaus, das heißt der Versammlungsort, wo alles ernsthaft geprüft wird und man Rechte wiederherstellt. Fünftens (igneum), wie der Teufel, der Seelen aus verschiedenen Ständen peinigt. Sechstens (terreum), wie alle Welt in Rom einst ebendaselbst mit der gepflegten Erneuerung ihres (der Stadt) Festes.25 Siebtens (aereum), wie die Windmühle, die durch die Windströme angetrieben wird, mit viel Mehl und ihren weiteren Eigenschaften. Achtens (aqueum), wie der See oder Fischteich, umringt von den angrenzenden Gebieten. Neuntens (calidum), wie die Schmiede und die Esse mit den Hämmern und auch vielen Ambossen für die, die in diesem Haus die Schmiedekunst ausüben. Zehntens (frigidum), wie eine Vorratskammer reich an Wein, Eis aus Schnee und Wasser. Elftens (siccum) eine Fläche, wo man die gut trockenen und von der Sonne gedörrten Körner drischt. Zwölftens (humidum) das Bad oder die Badestube, wo in Dampfschwaden und anhaftender Nässe unablässig Feuchtigkeit fließt und tropft. Dreizehntens (coloratum) die Kirche der heiligen Katharina, die vielfältig und in mannigfacher Weise ausgemalt ist. Vierzehntens (fixum) ein Felsen inmitten des Meeres, der keineswegs erschüttert wird und der Turm auf ihm. Fünfzehntens (mobile), wie eine große Barke, das heißt eine Galeere mit ihren Rudern, Segeln und Zubehör. Sechzehntens (animatum) das Haus des Knaben Cupido, des Sohns der Venus, der allgemein die Kraft lebensspendender Fortpflanzung ist. Siebzehntens (inanimatum) ein überaus unbarmherziger Ort in der Wüste, dem fruchtbare Böden fehlen, die durch den Umlauf von Sonnenlicht und die Witterung des Wassers beraubt wurden. Achtzehntens (splendens) der Tag der Reinigung der Heiligen Maria [Maria Lichtmess], der reichlich mit Gaben [Geschenken] gefüllt vollzogen wird.26

25 XI. Kal. Maii (20. April), das Fest der Hirtengöttin Pales und Geburtstag der Stadt Rom. 26 Zu Marie Lichtmess wurden Kerzen geweiht und Zierwachsstöcke als Liebesgaben verschenkt.

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 Incipit ars memorandi

Decimanona cripta sancti Sebastiani et antrum illud. Vicesimo paradisus omnia amena diuersimode continens viua numquam moritura. Vicesimaprima ossatorium, vbi multa ossa sunt mortuorum et patibulum iuxta illud exstructum. Vicesimasecunda domus seu casa inter arundines et infinitos rubetorum dumus circumeuntibus et volantibus grossibilibus volatilibus et reptilibus vniuersis. Vicesimatertia Babilonia cum serpentibus, cum draconibus et venenatis innumerabilibus vel castrum in sumo uel in arce habens quinque magna animalia scilicet aprum, symeam, araneam, lincem et vvlturem. Vicesimaquarta ut apotecarius in sua apoteca cum multis carnium, caseorum, piscium ceterarumque materiis rerum corruptarum. Vicesimaquinta sectores in fouea effodientes aurum et argentum tum ex diuersis silicibus et lateribus in profunda. Vicesimasexta domus cerdonis, pelliparii et sutoris cum eorum pertinentiis. Vicesimaseptima horologium in turri, tanquam pluribus ymaginibus hominum [21v] et dirigentibus illud. Vicesimanona ecclesia sancti Benedicti que plus habet nature quam artis ad habitacula. Tricesima ortus Morelli de omni genere arborum consitus. Tricesimaprima domus principalis Terra Laboris habundans singulis leguminibus et vniuersis.

1 cripta] hab. Clm 4393, 14v; scripta  M1,  M2 1 Sebastiani] hab. Clm 4393, 14v; Sebastiani et Fabiani  M1,  M2 1 antrum] hab.  M2, Clm 4393, 14v; autorum M1 2 paradisus] paradi corr. M1 7 grossibilibus] gressibilibus Clm 4393, 15r 10 sumo] corr. suma  M1; summo  M2 11 quinque] hab. Clm 4394, 15r; quoque  M1,  M2 17 cerdonis, pelliparii] cerdutus palliparii  M1 17 eorum] illorum  M2 19 Uicesimaseptima] 28  M2 19–20 viridarium… artificiale] 27 locus viridarium diuersis rosis et lilys consitum. 28 artificiale hab. Clm 4393, 15r; om.  M1,  M2 20 pluribus] plurimus  M2 21 regirantibus] emend. registrantibus  M1,  M2; Clm 4393, 15r 22 Benedicti que] Benedicti in specu que M2 25 domus] domus prima M2 25 Terra] terre M2;Clm 4393, 15r 

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Neunzehntens (opacum) Die Krypta des Hl. Sebastian und die dortige Grotte.27 Zwanzigstens (viuens) das Paradies, das alle lieblichen Dinge enthält, die lebendig sind und niemals vergehen werden. Einundzwanzigstens (mortuum) das Beinhaus, wo es viele Knochen von Verstorbenen gibt und das Kreuz [Marterholz], das daneben aufgerichtet ist. Zweiundzwanzigstens (vegetabile) das Haus, das heißt das Häuschen umgeben von Schilfrohren und dem endlosen Gestrüpp28 der Brombeersträucher für die umherstreifenden und die fliegenden Tiere und für alles was gehen29, fliegen oder kriechen kann. Dreiundzwanzigstens (sensibile) Babylon mit seinen Schlangen, mit seinen Drachen und den unzähligen giftigen Tieren, und das eine Burg in der Höhe oder vielmehr in der Akropolis hat und das fünf große Tiere besitzt, nämlich den Eber, den Affen, die Spinne, den Luchs und den Geier. Vierundzwanzigstens (molle) wie der Krämer in seiner Bude mit einer  Menge Fleisch, Käse und Fisch und weiteren Dingen, die von ihrer Beschaffenheit her verderblich sind. Fünfundzwanzigstens (durum) die Bergleute30 in der Grube, die Gold und Silber freilich aus den unterschiedlichen Felsen und Bruchflächen in der Tiefe ausgraben. Sechsundzwanzigstens (recte 27: fetidum) das Haus des Gerbers, des Kürschners und des Schusters mit deren Zubehör. Siebenundzwanzigstens (recte 26: odoriferum) ein Garten, bepflanzt mit Rosen und  Lilien. Achtundzwanzigstens (artificiale) ein künstliches Turmuhrwerk gleichsam mit vielen  Menschenfiguren, die sich im Kreise drehen31 und jenes regieren. Neunundzwanzigstens (naturale) die Kirche des heiligen Benedikt, die mehr Natürliches als Künstliches zur Behausung hat. Dreißigstens (arboreum) der Garten von  Morellum,32 der mit allen Arten von Bäumen bepflanzt ist. Einunddreißigstens (leguminosum) das Fürstentum von Terra di Lavoro, das reich ist an einzelnen und an sämtlichen Ackerfrüchten.

27 Gemeint ist die Krypta der Kirche San Sebastiano bei Rom und der dortige Eingang zu den Katakomben. 28 Der Autor setzt für dumus die u-Deklination an. 29 grossibilis = gressibilis. 30 Wörtlich ‚die Zerteiler, Zerschneider‘. 31 regirare: mlat. ‚sich im Kreise drehen‘, ‚zurückwenden‘ und ‚herdrehen‘. 32 Vermutlich der artenreiche Wald um den Monte Morello bei Florenz.

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 Incipit ars memorandi

Tricesimasecunda refectorium in monasterio aliquo, ut solet fieri in ambitu, viridarium multarum graminum et herbarum, via quoque graminea in aliqua indulgentia dirigens et ducens homines ad illud. Tricesimatertia multe domus in pratis seu alique formicarum equos albos equitancium. Tricesimaquarta domus Terii et Phinei replete volatilibus et presertim vvlturum yrundinum et graculorum. Tricesimaquinta domus tres vna pastorum altera bubulcorum tertia vinificum. Tricesimasexta domus cum multis votis, vbi sit sericum et circum ea subtiles. Tricesimaseptima collegium hispanorum de Bononia et collegium Caroli de Praga. Tricesimaoctaua scola Sclauorum, Vngarorum, Sarmatum et . Tricesimanona domus, in qua oleum calcatur et aruina et sepum ad vasa conduntur. Quadragesima bis septem spice et totidem vacce, que alias pingues deuorauerunt. Quadragesimaprima mons Synaii in quo data sunt Moysi X precepta et Christus inde ascendit et nunc sancte Katherine membris oleum manat. Quadragesimasecunda domus thebane [22r] e quibus omnia mala procedebant. Quadragesimatertia domus tres albe habentes tria alba hostia, tres albos hospites, tres albas mensas.

4 alique] hab. Clm 4393, 15r; alicui M1, M2 9 vinificum] vinitorum Clm 4393, 15r; artificum in margine M1 10 votis] votis M1, M2; rotis corr. interlin. M1; rotis Clm 4393, 15r 10 sericum] seritum M2 11 ea aurifabri subtiles] emend. ea aurifaber subtiles M1,M2;ea aurifabri subtiles Clm 4393, 15r 14 Grecorum] emend. Gerorum M1, M2 20 Synaii] Synai M2 20 X precepta] hab. Clm 4393, 15v; ex precepta corr. M1, M2 21 inde ascendit] inde celum ascendit M2 

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Zweiunddreißigstens (gramineum) das Refektorium in einem Kloster, das für gewöhnlich am Kreuzgang erbaut ist, das ist der Garten für zahlreiche Gräser und Kräuter und auch der grasgesäumte Weg, der zur Vergebung anleitet und der die Menschen dorthin führt. Dreiunddreißigstens (reptile) die vielen Häuser auf den Wiesen oder solche33 [Häuser] der Ameisen, die weiße Pferde reiten.34 Vierunddreißigstens (volatile) die Häuser des Terius35 und des Phineus,36 die von fliegenden Wesen angefüllt sind und vor allem von Geiern, Schwalben und Dohlen. Fünfunddreißigstens (materiale) drei Häuser. Das erste für die Hirten, das zweite für die Ochsentreiber und das dritte für die Winzer.37 Sechsunddreißigstens (subtile) ein Haus mit Votivgaben,38 wo Seide wäre und um sie herum sorgfältige Goldschmiede. Siebenunddreißigstens (scientificum) das Collegium Hispanorum von Bologna und das Collegium Caroli von Prag. Achtunddreißigstens (grossum) die Scuola39 degli Schiavoni, die Schola Ungarorum, die Schola Sarmatum und die Schola Graecorum. Neununddreißigstens (pingue) das Haus in dem man Öl keltert und man Schmalz und Talg in Gefäße abfüllt. Vierzigstens (macrum) die zweimal sieben Ähren und ebensoviele Kühe, die die anderen fetten Kühe verschlangen. Einundvierzigstens (bonum) der Berg Sinai auf dem Mose die Zehn Gebote gegeben wurden und von wo Christus in den Himmel auffuhr und wo heute vom Körper der Heiligen Katharina Öl ausströmt. Zweiundvierzigstens (malum) die Häuser von Theben aus denen alles Schlechte hervorging. Dreiundvierzigstens (simile) drei weiße Häuser, die drei weiße Eingänge40, drei weiße Wirte und drei weiße Tische haben.

33 Nach einem Vorschlag von Chr. Walter sollte für alicui der Hss. alvus,‘Leib, Mutterleib‘ konjiziert werden; alvus/alvarium, ‚Bienenkorb‘ ist jedoch nur auf Bienen bezogen deren Behausung. 34 Ameisen tragen ihre großen, weißen Puppen unter ihren Leibern an andere Orte. 35 Tereus, Gemahl der Prokne, der zusammen mit Prokne (Nachtigall) und Philomela (Schwalbe) und Itys (Fasan) in einen Wiedehopf verwandelt wurde. 36 Phineus wurde von den Harpyien gequält, die ihm alle Speise raubten oder besuldeten. 37 lat. vinifex (vgl. vinificium), vinificator, vinitor: ‚Winzer, Weinerzeuger’; ital. vinifice. 38 Besondere Votivgaben wurden aus Silberblech (votum argenteum) angefertigt. 39 scola kann hier auch wie in Nr.  37 das collegium bezeichnen. Gemeint sind die Nationes (Landsmannschaften) an einer Universität. 40 hostium = ostium: hyperkorrekte Schreibweise.

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 Incipit ars memorandi

Quadragesimaquarta domus tinctorum, domus tingentium nigra ipsis de nigratis. Quadragesimaquinta quatuor gigantes domum Helizei conponentes. Quadragesimasexta domus Zachei propter paruitatem ascendentis in arborem siccomorum, qua Christum suscipiebat. Quadragesimasepta castrum seu domus Virgilii, quam vxori sue fecerat in aere nubis. Quadragesimaoctaua domus lotricum sub castro artem suam exercencium omnibus de castro subiectorum. Quadragesimanona impetus orbati maris multos clamantes tamen inauditos per sono submergens scilla adherente. Quinquagesima monasterium carthusiensium in quo semper tacetur et solum conuiuentibus sit sermo. Quinquagesimaprima terra promissionis de qua et per quam lac et mel fluunt. Quinquagesimasecunda domus fimosa habens in se XII vasa mirre XII aceti et XII fellis. Quinquagesimatertia illud comune reclinatorium in Bethleem in quo Christus est natus, ubi bos et asinus spirabant illi calorem. Quinquagesimaquarta domus in qua nullus habitat, quam fenix vnicus nidificans de materiis specialibus mundi, non cooperta, ut sol faciat incrementum. Quinquagesimaquinta ecclesia Constantinopolitana primas habens centum portas, tricentas columpnas, fenestras mille. Quinquagesimasexta [22v] ecclesia Antichristi, que ultima in fine mundi fieri debet, in qua sunt picti demones mammona ferentes auaris et clibanum seu furnum pro omnibus damnandis succendentes.

1 tingencium] om.  M2 3 domum Helizei] domus Helizei  M1 11 orbati] orbaci M2 12 inauditos] emend. in auditos M1, M2 12 scilla] hab. Clm 4393, 15v; si illa  M1,  M2; 13 carthusiensium] cartusientum  M2 14 tacetur] tacitur  M2 - 15–16 lac et mel] mel et lac M2 22 nidificans] indificans M2 27 mammona ferentes] mamona farentes M2 

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Vierundvierzigstens (recte ebenfalls 43: simile) das Haus der Färber, ein Färbhaus, das von den Schwärzungen selbst schwarz ist. Fünfundvierzigstens (recte 44: magnum) die vier Riesen, die das Haus des Eli­ saeus41 erbauen. Sechsundvierzigstens (recte 45: parvum) das Haus des Zachäus, der wegen seiner geringen Größe auf einen Maulbeerfeigenbaum stieg, damit er Christus heimlich beobachten könne. Siebenundvierzigstens (recte 46: superius), die Burg, das heißt das Haus des Vergil, das er für seine Frau im Dunst der Wolken erschuf.42 Achtundvierzigstens (recte 47: inferius) das Haus der Wäscherinnen,43 die nahe bei der Burg ihre Kunst für alle ausüben, die von der Burg abhängig sind. Neunundvierzigstens (recte 48: sonans) das Ungestüm des wüsten Meeres, das viele Schreiende in der Nähe der Scylla, gleichwohl durch das Getöse ungehört, untertaucht. Fünfzigstens (recte 49: tacens) das Kartäuserkloster, in dem man immer schweigt und es einzig für die Speisenden eine Predigt gibt. Einundfünfzigstens (recte 50: dulce) das verheißene  Land aus dem und in dem Milch und Honig fließen. Zweiundfünfzigstens (recte 51: amarum) ein schmutziges Haus, das 12 Gefäße Myrrhe, 12 Gefäße Essig und 12 Gefäße Galle enthält. Dreiundfünfzigstens (recte 52: generale) jene gemeinschaftliche Unterkunft in Bethlehem, in der Christus geboren wurde und wo Ochse und Esel ihm Wärme spendeten. Vierundfünfzigstens (recte 53: speciale) das Haus in dem niemand wohnt, das einzig der Phönix als Nest aus besonderen Stoffen der Welt macht und das nicht bedeckt ist, damit die Sonne den Sprößling hervorbringen kann. Fünfundfünfzigstens (recte 54: primum) die Kirche von Konstantinopel,44 die hundert Pforten hat, dreihundert Säulen und eintausend Fenster. Sechsundfünfzigstens (recte 55: postremum) die Kirche des Antichristen, die es zuletzt am Ende der Welt geben muss, in der Dämonen, die den Habgierigen den  Mammon herbeischaffen und den Ofen oder die Feuerstätte für all die zu Verdammenden anzünden, gemalt sind.

41 Helizeus (Elischa, Elisa); über die Hilfe von Riesen beim Hausbau findet sich nichts in 2 Reg 2 bis 14. 42 Nicht ermittelt. 43 lotrix: ital. lavatrice, ‚Wäscherin‘. 44 Die Hagia Sophia in Konstantinopel.

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 Incipit ars memorandi

Quinquagesimaseptima domus fratrum in qua ad mensam terne super temperancia legitur et predicatur. Quinquagesimaoctaua Iordanis flumen, quod omnia infirma reddit sana. Quinquagesimanona domus leprosorum et infirmitatum extra com- 5 munitatem locata. Sexagesima domus scabiose dormientis ad ignis adustionem nec curantis pluuiam eius domum vbilibet . Sexagesimaprima pistoria in roma in qua necessarium est semper fieri ea, que sunt recencia et noua. 10 Sexagesimasecunda et vltima est domus Neronis et domus Senece reponendo omne viciosum ad domum Neronis et ad domum Senece omne virtuosum. (9) 15

Rhetorica ad Herennium III, XXIV, 40

Et sic hec loca erunt quasi carta uel pergamentum sed ydola quasi scriptura, ita sicut vertitur et reuertitur carta sic habitacula locorum, quod ad sensum vnicuique potest apparere euidenter. Distinguendo hec loca per quinarios cum litterarum designatione modo, quo patuit supra et materias iuxta exigenciam vbilibet col- 20 locando. Sic quoque potuerint materie [23r] totius mundi leuiter amplecti. Hoc adiecto quod Tulius ibidem, precipuus huius artis fons, inquit sic dicens: Cum in omni disciplina infirma est artis preceptio sine summa assiduitate exercitacionis, tum vero in memoriis minimum valet doctrina, nisi industria, studio, labore, diligentia 25 conprobetur. Non enim, sicut in ceteris studiis adducuntur nonnumquam occupacione, ita ab hac re potest nos causa deducere aliqua. Numquam est enim, quin aliquid memorie tradere volumus maxime et tunc cum aliquo negocio detinemur. Quare, cum sit vtile facile meminisse, non te fallat, quod tanto opere facile sit, quanto 30 labore sit appetendum, quod poterit existimari cognita vtilitate. Pluribus verbis ad eam te ortari non ex rata sententie, ne aut tuo iudicio , aut minus, quam res postulat, dixisse videamur. 7 hirce scabiose] birzee scabiose (corr. scabiosa) si M1, birzee scabiosi M2; hirci scabiosi Clm 4393, 16r 8 perstillantem] emend. pro stillantem  M1,  M2 9 pistoria] hab.  M1,  M2; piscaria Clm 4393, 16r 11 domus Senece] emed. domum Senece M1, M2 25 minimum] in marg. M1; nimium M1, M2 29 maiore] emend. maioris M1, M2; Clm4393, 16r 33 diffisi] emend. diffici M1, M2 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

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Siebenundfünfzigstens (recte 56: temperatum) das Haus der Brüder in dem bei Tisch dreifach über Maßhaltung gelesen und gepredigt wird. Achtundfünfzigstens (recte 57: sanum) der Fluss Jordan, der alles Kranke heilt. Neunundfünfzigstens (recte 58: egrum) das Haus für die  Leprösen und die Kranken, das außerhalb der Gemeinde liegt. Sechzigstens (tardum)45 das Haus der struppigen Aussätzigen,46 die bis zum Anfachen des Feuers ruht und sich nicht um den Regen kümmert, der überall in ihr Haus tröpfelt. Einundsechzigstens (recte 62: recens) eine Bäckerei zu Rom, wo es stets notwendig ist, dass dies verfertigt wird, was frisch und neu ist. Zweiundsechzigstens (recte 64: viciosum) und der letzte Teil (recte 63: virtuosum) sind das Haus des Nero und das Haus des Seneca, weil man alles Lasterhafte zum Haus des Nero rechnet und alles Tugendhafte zum Haus des Seneca. Und so wie diese Örter gleichsam das Blatt oder das Pergament sind, sind die Abbilder aber gleichsam die Schrift und so wie auch das Blatt hin und her gedreht wird, so werden auch die Wohnungen der Örter hin und her gewendet, weil das unverkennbar für jeden zum Verständnis dienen kann. Man unterscheidet diese Örter durch Fünfergruppen mit der Zuordnung von Buchstaben auf die Weise, wie es oben erläutert wurde und indem man die Stoffe nach Bedarf versammelt, wo es beliebt. So können die Stoffe der ganzen Welt leicht erfasst werden. Dazu muss man hinzufügen was Tulius, die wichtigste Quelle dieser Kunst, ebenda erklärt, indem er sagt: „Wenn bei jeder Disziplin Unterweisung in dieser Kunst ohne die Beständigkeit der Übung unwirksam ist, so vermag aber besonders bei der Erinnerung der Unterricht alleine sehr wenig, wenn er nicht mit Mühe, Eifer, Arbeit und Sorgfalt bestätigt wird. Denn auf diese Weise kann uns kein Umstand von dieser Sache abbringen, so wie wir manchmal bei anderen Bemühungen von irgendeiner Beschäftigung abgelenkt werden. Es gibt nämlich immer irgendeinen Anlass, so dass wir etwas unserem Gedächtnis übergeben wollen gerade dann, wenn wir von irgendeiner wichtigeren Tätigkeit in Anspruch genommen werden. Da es deshalb nützlich ist, sich etwas leicht einzuprägen, täusche dich nicht darüber, mit welcher Anstrengung man das anstreben muss, was so nützlich ist. Das kannst du beurteilen, wenn du den Nutzen erkannt hast. Dich mit noch mehr Worten dazu zu ermahnen, gehört nicht zu meiner Absicht, damit wir weder misstrauisch gegen dein Urteil erscheinen, noch dass wir weniger gesagt zu haben scheinen, als es die Sache erfordert.“

45 Beispiele für vile (59) und delectabile (60) fehlen. 46 hirtus (adj.): ‚struppig, rauh‘; scabiosa: ‚die Krätzige, Aussätzige‘.

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Rhetorica ad Herennium III, XVI, 28–29

Hieronymus, epist. 52, 3

Iob 12,12

cf. Seneca Maior Controversiae I. praef. 2

 Incipit ars memorandi

Hec ille, quorum memoria per artem invenitur, ostendit Tulius ostenditque naturalem esse artificiosam per descripcionem memorie naturalis. Hec autem memoria artificialis est ista, quam confirmat induccio quedam et ratio preceptionis, sed qua in ceteris rebus ingenii bonitas imitatur sepe doctrinam ars porro nature comoda confirmat et augeret. Ita fit in hac re, ut numquam naturalis memoria, si cui data est egregia, similis sit [23v] huic artificiose. Porro hec artificiosa comoda nature retinet et amplificat ratione et doctrina. Quapropter indiget ingenii. Naturalis ergo memoria per industriam confirmata in senibus nescit senescere ymmo, quanto sit etate diuturnior, quantum ad gignendam placidam prolem intelligencie uel sapiencie iuuenescit. Vnde Ieronimus ad Nepocianum in quadam epistula de institucione ostendit et dicit: omnes pene corporis virtutes mutantur in senibus et crescente sola sapientia cetere decrescunt. Et ita senectus eorum, qui adolescenciam suam honestis artibus instruxerant et in lege Domini meditati sunt die ac nocte. Etate fit doctior, vsu dicior et processu temporis sapiencior. Et veterum studiorum dulcissimos fructus metit. Vnde et sapiens vir ille Grecie, cum expletis centum et octo annis se mori cerneret, dixisse fertur, quod egrederetur e vita cum sapere cepisset vnde Iob  XII In antiquis est sapientia. Perpende itaque quam gloriosa est artis excogitacio et preciosa per quam possit id, quod in nobis dignissimum est, illesum custodiri. Nota ut ait Seneca inter omnia humane nature comoda nichil dignius memoria reperitur.

1–/27 Hec ille, quorum memoria…habere ingenium Dei.] om. Clm 4393; hab. Hec Tullius Clm 4393, 16r 1 quorum] om. M2 5 doctrina] doctrinam M2 6 num­ quam] nonnumquam  M2 8 amplificat] amplectat  M2 9 industriam] industria  M1 11 tamquam] emend. tamtam  M1,  M2 13 ] clericatus M1, M2 14 mutantur] immutantur M1, M2 20 mori cerneret, dixisse] mora cerneret doloriose dixisse M2 21 vnde] om. M2 23 Nota] Nam M2 

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Es beginnt die Gedächtniskunst 

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Diese Dinge, zu deren Erinnerung man durch diese Kunst gelangt, hat jener Tulius dargelegt und er hat auch dargelegt, dass das künstliche Gedächtnis durch [Nachahmung]47 des natürlichen Gedächtnisses [entsteht]. Dieses künstliche Gedächtnis ist ein solches, „welches eine gewisse Einführung und methodische Anleitung stärkt. Aber auf dem [gleichen] Weg, wie in den übrigen Dingen eine gute Begabung oft die Belehrung ersetzt, die Kunst weiterhin die Vorteile der Natur stärkt und vermehrt, so geschieht es auch hier, dass [nämlich] manchmal das natürliche Gedächtnis, wenn es jemandem in herausragendem Maße gegeben ist, diesem künstlich erworbenen ähnlich ist und weiterhin dieses künstlich erworbene [Gedächtnis] die Vorteile der Natur beibehält und durch methodische Lehre steigert.“ Weshalb es der Natur bedarf. Die natürliche Erinnerung, die nun also mit Fleiß befestigt wurde, vermag im Alter nicht zu altern, ja verjüngt sich sogar soweit, wie die Lebenszeit fortgeschritten sein mag, um gleichsam einen gefälligen Sprössling des Verständnisses und der Weisheit zu zeugen. Daher hat Hieronymus in einem Brief über die Unterweisung der Kleriker48 an Nepotian dargelegt und gesagt: „Beinahe alle Fähigkeiten des Körpers ändern sich im Alter und während einzig die Weisheit wächst, nehmen die übrigen ab.“ Und so ist das Greisenalter derjenigen, die ihre Jugend in den ehrenwerten Künsten unterwiesen und Tag und Nacht über das Gesetz Gottes nachdachten: Es wird wegen der Lebenszeit verständiger, wegen der Übung reicher und wegen des Fortschreitens der Zeit weiser. Und es erntet die allersüßesten Früchte vergangener Mühen. Daher soll auch jener weise Mann aus Griechenland, da er wusste, dass er mit erfüllten 108 Jahren sterben würde, gesagt haben, dass er diese Welt verlassen kann, weil er es erreicht hatte weise zu sein, wovon es ja bei Hiob 12 heißt: „Bei den Alten ist Weisheit“. Bedenke also, wie überaus rühmlich das Ergründen dieser Kunst ist und wie kostbar das ist, durch man das, was in uns das Wertvollste ist, unversehrt bewahren kann. Merke, wie Seneca sagt: „Unter allen Vorzügen der menschlichen Natur kann man nichts finden das mehr wert ist als die Erinnerung.“

47 So in der Rhetorica ad Herennium; descriptio: eigentl. die Beschreibung. 48 Der Autor setzt hier offenbar die Form clerica statt clericus an.

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 Incipit ars memorandi

(10) De hiis qui conseruant memoriam [24r] Ostendamus Dei adiutorio quantum possumus, quae et quot sunt, in quibus consistit artificiosa memoria, horum autem inuencio per diuisionem venanda est. Notandum est ergo quod ad hoc quod aliquid imprimatur memorie, quatuor necessarium est concurrere, 5 sed ipsa memoria naturalis, cui sit inpressio, et ipsa res, quae imprimitur, et disposiciones rei imprimende et modus imprimendi. Ex parte memorie , cui facienda est impressio, debent esse tres circumstancie ipsam expedientes, videlicet vacacio, mansuetudo et sobrietas, vacacio ne distrahetur, mansuetudo ne turbetur, 10 sobrietas ne suffocetur. Ne distrahatur per curiosam occupacionem vis rationalis. Ne turbetur per inpacienciam vis irascibilis. Ne suffocetur per †inpacientiam† vis concupiscibilis.

(11) Tabula memorie

Eccl 38,25

Ps 71,15–17.

Tabula namque memorie, in qua scribuntur omnia, que memorie 15 commendantur; oportet primo, quod sit vacua, ut scriptura ibi locum habeat. Secundo, ut sit plana, ne inequalitas scripturam impediat. Tertio, ut sit munda et nitida, ut scriptura impressa reluceat. Primum habet memoria per vacacionem. Secundum per mansuetudinem tercium per sobrietatem. Quod vacacio sit oportuna 20 memorie habetur Ecclesiastici XXXVIII Sapiencia scribe in tempore vacuitatis, [24v] et qui minoratur actu sapientiam percipiet. Tempus vacuitatis est tempus vacacionis, quod est optimum ad scribendum sapientiam in libro memorie. Psalmista: Quoniam non cognoui litteraturam uel negociacionem quia introibo in potentias Domini 25 Dei mei iusticie tue solius. Non poterat propheta aliter habere ingenium Dei. Quare quicumque vvlt esse perfectus in hac arte, id faciendo senciat ex regulis iam datis posse concipere

1 memoriam] om.  M2 5 quatuor] in  M2 6 naturalis] om.  M2 8 naturales] emend. naturalis  M1, om.  M2 9 mansuetudo et sobrietas] om.  M2 14 Tabula memoriae] om.  M2 16 primo] om.  M2 17 Secundo] om.  M2 18 Tertio] om.  M2 22 Sapientia] emend. sapientiam  M1,  M2 24 Psalmista] Psalmus M2 25 potentias] potentiam M2 26 iusticie tue solitus] i t s M2 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

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Über die Dinge, die die Erinnerung bewahren Mit Gottes Hilfe wollen wir nun so gut wir können darlegen, welche und wieviele Dinge es gibt, aus denen das künstliche Gedächtnis besteht, deren Entdeckung man aber durch Unterteilung erjagen muss. Zu merken ist also, dass es dazu, dass man sich etwas im Gedächtnis einprägen kann, nötig ist, dass vier Dinge zusammenkommen: allgemein das natürliche Gedächtnis selbst, dem etwas eingeprägt werden soll, und die Sache selbst, die man sich einprägt und die Einteilung der Sache, die eingeprägt werden soll, und die Art und Weise des Einprägens. Bezüglich des natürlichen Gedächtnisses dem das Einprägen geschehen soll, müssen drei Umstände vorliegen, die dieselben befreien, nämlich Befreitsein, Sanftmut und Nüchternheit, so dass das Befreitsein nicht zerstört, die Sanftmut nicht getrübt und die Nüchternheit nicht erstickt werden. Damit die vernünftige Kraft nicht durch neugierige Beschäftigung zerrissen, die zornhafte Kraft durch Ungeduld nicht getrübt und die begehrende Kraft nicht durch †Ungeduld† erstickt werden. Die Erinnerungstafel Es gibt nämlich eine Tafel für Erinnerungen, auf der man alle Dinge niederschreibt, die man der Erinnerung anvertraut. Es ist erstens nötig, dass die Tafel leer ist, so dass die Schrift dort einen Platz hat. Zweitens, dass die Tafel glatt ist, damit keine Unebenheit die Schrift behindern kann. Drittens, dass die Tafel sauber und hell ist, so dass die eingedrückte Schrift klar widerscheint. Das Erste hat das Gedächtnis durch das Befreitsein. Das Zweite durch Sanftmut und das Dritte durch Nüchternheit. Dass Befreitsein gut geeignet für die Erinnerung sein soll, findet man bei Ecclesiasticus 38: „Die Weisheit des Schriftgelehrten gedeiht zur Zeit seiner Muße, und wer weniger Geschäfte hat, wird zur Weisheit gelangen.“ Die Zeit der Muße ist die Zeit des Befreitseins, das ist die beste Zeit, um die Weisheit ins Buch der Erinnerung zu schreiben. So spricht der Psalmist: „Denn ich vermag nicht sie zu beschreiben. So will ich betrachtend eingehen auf die Macht­ erweise des Herrn; deiner Gerechtigkeit, o Herr, werde ich allein gedenken.“ Auf keine andere Weise konnte der Prophet eine Eingebung Gottes haben. Daher soll jeder, der in dieser Kunst vollendet sein will, bei seinem Tun folgendes bedenken,

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 Incipit ars memorandi

materias, dicciones, terminos quoscumque voluerit mirabiliter infinite. Saltim vni facultati studeas has applicare, alias confunderis posterius per primum et e conuerso. Quamuis ille, qui haberet memoriam naturalem bonam, possit facere in diuersis id idem. Sed quia scientia est vniuersalium, propterea hec cautela subditur 5 vniuersis. Sic vtique cuilibet malam habenti memoriam naturalem bona arte presenti ministrabitur, bona meliorabitur et melior optima fiet. Quondam quoque nobiliorem partem memorie in rationalibus, quae differunt ab irrationalibus, fore indicamus. Huic scientie nobilissime insistamus diligenter, qua mediante honorem 10 immensum assequamur. Quod ille prestet, qui sola memoria [25r] presencium gaudens in trinitate perfecta per secula seculorum viuit et regnat. Amen.

2 studeas] hab. Clm4393, 16r; studeat M1, M2 2 confunderis posterius] hab. Clm 4393, 16v; confunderis Possit posterius M1, M2 5–6 subditur uniuersis] subditur pro uniuersis M2 11 immensum] in mensum M1 

Es beginnt die Gedächtniskunst 

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dass er die Stoffe, Aussprüche, Begriffe und was auch immer er will, aus den Regeln, die bereits gegeben wurden, unendlich wunderbar in sich aufnehmen kann. Zumindest bemühe dich nach Vermögen um eine Möglichkeit, diese Sachen anzufügen, sonst wirst du das Letzte mit dem Ersten durcheinanderbringen und umgekehrt. Obgleich jener, der ein gutes natürliches Gedächtnis hat, im Stande sein mag, das ebenso auf verschiedene Weisen zu tun, wird, weil es Wissen um allgemeine Dinge ist, deshalb für alle diese Versicherung hinzugefügt. Jedem, der ein schlechtes natürliches Gedächtnis hat, wird aber gewiss durch die vorliegende Kunst ein gutes verschafft werden, ein gutes wird verbessert werden und das beste wird noch besser werden. Später wollen wir dann auch darlegen, dass der Teil des Gedächtnisses edler wird, der zu vernünftigen Dingen gehört, die sich von unvernünftigen unterscheiden. Bei dieser alleredelsten Wissenschaft wollen wir nun gewissenhaft stehen bleiben, durch deren Vermittlung wir unermessliche Ehre empfangen können. Das gebe jener, der sich des außerordentlichen Gedächtnisses der offenbaren Dinge erfreut und der in der vollkommenen Dreieinigkeit lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Anon. De arte memorativa (1. V. 15. Jh.) (Incipit: Nunc igitur ut ait Tulius due memorie sunt) Editorische Hinweise Hss.: Basel, UB, Cod. A X 9, 108r–128r; Melk, Stiftsb., Cod. 177, 25r–37v (1479); Melk, Stiftsb., Cod. 1805, 202r–220v (4.V.15.Jh.);  München, BSB, Clm 4393, 16v–26v (1486); München, BSB, Clm 7721, 1r–14r (1.V.15.Jh.); München, BSB, Clm 11927, 94r– 112r (1441); München, BSB, Clm 14260, 94vb–96va (Exzerpt);  München, BSB, Clm 18888, 49r–65v (1441–1442). Die Edition des Traktats erfolgte auf Basis der Handschriften  Melk Cod. 177 und  Melk Cod. 1805. Die Kollationierung mit den Parallelhandschriften aus München ergab keine relevante Textvarianz, so dass die exemplarische Dokumentation der Melker Handschriften einen verlässlichen Einblick in die Überlieferung ermöglicht. Als Leithandschrift für den Text dient Melk Cod. 177. Bei Bibelzitaten richtet sich der deutsche Text nach Joseph Franz von Alliolis (†1873) Vulgataübersetzung in der Ausgabe Arndt, Augustin (Ed.): Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes.  Mit dem Texte der Vulgata, 3 Bde., Regensburg/Rom/New York 1899–1901. Die Siglen der biblischen Bücher folgen der Vulgata-Ausgabe von Weber, Robert (Ed.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, Stuttgart 31983 bei der Deutschen Bibelgesellschaft. Bei längeren Zitaten aus der Rhetorica ad Herennium wurde der deutsche Text mit der freien Übersetzung von Nüßlein, Theodor (Ed.): Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch, Düs­ seldorf/Zürich 21998 abgeglichen. Siglen: M1 Melk Cod. 177 Melk Cod. 1805 M2

https://doi.org/10.1515/9783110575231-004

Anon. De arte memorativa De duplici memoria Rhetorica ad ­Herennium III, XVI, 28 cf. Seneca Maior Controversiae I, praef. 2

Rhetorica ad Herennium III,XVI, 29

Rhetorica ad Herennium III, XVII, 30

Nunc igitur ait Tulius due memorie sunt, vna naturalis, alia artificiosa. Naturalis est ea que nostris animis insita est et simul cum cogitatione nata. Hec in senibus solet obcumbi et obliterari. Quapropter artificiosa indiget confirmari; Seneca in primo de clemencia dicit eorum memoria est res tenera et delicata ex omnibus anime partibus; in qua primum senectus incurrit; hanc in me floruisse aliquando non nego, ut tantum non sufficeret, sed vsque in miraculum procederet. Nam duo milia nominum eo ordine, quo prolata erant, reddebam et singulos versus et singula, que erant cum proposito dicta, cum plures versus essent quam ducenti, ab vltimo illorum incipiens vsque ad primum recitabam. Qualiter autem memoria amplectere et amplecti queamus, ut edes, intercolumpnium, angulum, fornicem et alia, que hiis similia sunt. Ymagines sunt forme , et note et simulacra eius rei, quam meminisse volumus, ut equi, leonis, aquile et sic de aliis; que in memoria si volumus habere, ymagines locis certis collocare nos oportebit. Quemadmodum enim qui [25v] litteras sciunt, possunt id, quod dictum est, scribere et recordari, quod scripserunt. Ita qui in modica memoria didicerunt, ut ea, que didice-

De duplici memoria] om.  M2 6 dicit eorum] om.  M2 15 naturali] emend. naturalis  M1,  M2 15 amplectere et amplecti queamus] corr. unde amplecti posit M1 17 Ymagines sunt] om. M1 17 quedam] emend. quadam M1, M2 

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Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) Über das zweifache Gedächtnis Nun also sagt Tulius: „Es gibt zwei Arten des Gedächtnisses, eines ist natürlich, das andere künstlich. Natürlich ist jenes Gedächtnis, das unserem Geist eingegeben ist und zusammen mit dem Denkvermögen entsteht“. Allerdings pflegt es im Greisenalter niederzusinken und ausgelöscht zu werden. Daher muss es künstlich befestigt werden. Seneca sagt im ersten Teil von De clementia:1 Das Gedächtnis ist eine fragile Angelegenheit und unter allen Teilen der Seele der zarteste; bei ihm fällt das Greisenalter zuerst ein; ich leugne nicht, dass es einstmals in mir blühte, so dass es nicht mehr nur ausreichend war, sondern bis zum Wunderbaren voranschritt. Denn 2000 Namen gab ich nach der Reihenfolge wieder, in der sie vorgetragen worden waren; einzelne Verse und einzelne Dinge, die mit dem Thema gesagt worden waren, trug ich von ihrem letzten an beginnend, bis zum ersten vor, nachdem es bereits mehr als 200 Verse waren. – 2 durch das natürliche Gedächtnis erfassen und behalten,3 wie etwa ein Haus, ein Säulenzwischenraum, eine Ecke, ein Gewölbe und andere Dinge, die diesen ähnlich sind. Bilder sind bestimmte Formen, Kennzeichen und Abbilder jener Sache, die wir in Erinnerung behalten wollen, wie etwa von einem Pferd, einem Löwen, einem Adler und ebenso auch von anderen Dingen. Falls wir diese Abbilder im Gedächtnis besitzen wollen, wird es notwendig sein, dass wir ihre Bilder an bestimmten Örtern ablegen. Wie nämlich jene, die Buchstaben beherrschen, das, was gesagt wurde, aufschreiben und was geschrieben wurde wiedergeben können, so können jene, die das Gedächtnis angemessen geschult haben, auf diese Weise Dinge, die sie gelernt

1 Es handelt sich hier um ein korrumpiertes Zitat aus den Controversiae Senecas d. Älteren († 44 n. Chr.) und nicht um ein Stück aus De clementia von Seneca d. Jüngeren († 65 n. Chr.). 2 Ausgelassen wurde in den Handschriften die Passage Locos appellamus eos, qui breviter, perfecte, insignite aut natura aut manu sunt absoluti, ut eos facile. Die Passage wurde später nachgetragen. 3 Die zitierte Rhetorica ad Herennium hat an dieser Stelle comprehendere et amplecti, die nachträglichen Korrekturen der Stelle in M1 sind auf Verständnisprobleme aufgrund eines fälschlich gesetzten naturalis für naturali zurückzuführen.

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 Anon. De arte memorativa

runt, in locis collocare et ex hiis memoriter pronunciare. Nam loci cere aut carte similes sunt, ymagines litteris, dispositio et collocatio ymaginum scripture, pronuntiacio .

Oportet autem, si volumus multa meminisse, multos nobis locos comparare, ut in multis locis multas ymagines collocare possumus. Item 5 putamus ex ordine hos locos comparare, ne quandocumque perturbacione ordinis impediamur. Quin quoto quoque loco uel a superiore uel ab inferiore parte ymagines sequi, vt ea, que mandata locis erunt, videre et proferre possumus.

Rhetorica ad Herennium III, XVII, 31

Exemplum memorie 10 Nam ut, si in ordine stantes notos quam plurimos viderimus, nichil nostra intersit, utrum a summo uel ab ymo uel a medio nomina illorum dicere incipiamus. Item in locis ex ordine collocatis conuenire ut in quamlibet partem quoto quoque loco ymaginibus libebit commoniti, dicere possumus id quod in locis mandauerimus. Quare 15 placet ex ordine hos locos comparare et locos, quos sumpserimus egregie commeditari oportebit, ut perpetuo nobis inherere possunt. De ymaginibus Nam ymagines sicut littere delentur, vbi nichil vtemur; loci tamquam 20 cera uel carta remanere debent. [26r] Et, ne forte in numero locorum falli possumus, placet notari, quid genus sit: in quinto loco manum auream collocemus, si in decimo aliquem notum, cui nomen sit Decimus. Deinde facile erit similes notas quinto quoque loco collocare. Item commodius est in derelicta, quam in celebri 25 regione locos comparare, propterea quod frequentia et obambulacio hominum conturbat et infirmat ymaginum notas, solitudo conse-

2 similes] simili M2 3 leccioni] uel leccio M1, M2 5 ut in multis locis] uti multis in locis M1 6 putamus] om. M1 6 oportere] emend. aperte M1, M2 6 comparare] habere  M1 6 quandocumque] quandoque  M1 8 sequi, ut ea] sequi ea M1 10 Exemplum memorie] om. M2 16 hos locos comparare et locos quos] hos locos quos  M1 19 De ymaginibus] om.  M2 20 sicut] simili  M1 21 uel carta] om. M2 22 quintumquemque] emend. quantumcumque M1, M2 22 notari] notare M1 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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haben, an Örter ablegen und aus diesen auswendig aufsagen. Denn die Örter sind gleich einer Wachstafel oder einem Blatt Papyrus4, die Bilder gleich Buchstaben und die Einteilung und Anordnung der Bilder gleich der Schrift, der Vortrag aber gleicht dem Lesen. Es ist aber nötig, dass, wenn wir uns an viele Dinge erinnern wollen, wir uns viele Örter herrichten, damit wir in vielen Örter viele Bilder anordnen können. Ebenso ist es nötig, diese Örter in einer Ordnung zu haben, damit wir nicht irgendwann durch Unordnung behindert werden und von jedem beliebigen Ort aus den Bildern entweder von vorn oder von hinten folgen und, was den Örter anvertraut wurde, sehen und hervorholen können. Beispiel Denn so wie es für uns nicht von Belang ist, wenn wir sehr viele Bekannte in einer Reihe stehen sehen, ob wir am Anfang oder am Ende oder in der Mitte beginnen ihre Namen zu nennen, so können wir auch Örter, die nach einer Ordnung angelegt wurden, aufsuchen, damit wir, nachdem wir von den Bildern erinnert wurden, bei jedem beliebigen Stück an jedem beliebigen Ort, das aufsagen können, was wir den Örter anvertraut haben werden. Daher ist es nützlich, die Örter der Reihe nach vorzubereiten, und es ist notwendig, sich die Örter, die wir gewählt haben, ganz besonders einzuprägen, so dass sie dauerhaft bei uns haften bleiben können. Über die Bilder Bilder werden nämlich wie Buchstaben getilgt, wenn wir sie nicht nutzen. Die Örter müssen wie die Wachstafel und das Blatt überdauern. Und damit wir uns nicht zufällig bei der Zahl der Örter täuschen können, ist es dienlich jeden fünften Ort zu kennzeichnen.5 Das soll dieser Art geschehen: sei es dass wir an den fünften Ort eine goldene Hand anbringen, oder an den zehnten irgendeinen Bekannten, dessen Namen Decimus ist. Dann wird es leicht fallen ähnliche Zeichen an jeden fünften Ort zu setzen. Ebenso ist es zweckmäßiger, Örter in verlassenen, statt in viel besuchten Gebieten anzulegen, weil die Masse und das Getümmel der Menschen die Merkmale der Bilder in Unordnung bringt und schwächt, während die

4 charta: bezeichnet hier ein Papyrussblatt, das ebenso wie die Wachstafel (cera) in dieser Zeit als Beschreibstoff gebräuchlich war. 5 Die Rhetorica ad Herenium hat quintum quemque anstelle des quantumcumque. Mit dem ursprünglichen Wortlaut der Rhetorica ergibt sich eine im Kontext verständlichere Lesart.

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Rhetorica ad Herennium III, XIX, 32

Eccl 38,25

Ps 70,16

Ps 30,10

 Anon. De arte memorativa

ruat integras simulacrorum figuras; preterea dissimili forma atque natura loci comparandi sunt, ut distincte interlucere possint. Nam si quis multa intercolumpnia sumpserit, conturbabitur similitudine locorum et ignorabit quid in quoquo loco collocauerit. Et magnitudine modica et mediocres locos habere oportet. Nam et preter modum 5 ampli uagas ymagines reddunt et esse nimis angusti sepe non videntur posse capere ymaginum collocationem. Dum nec nimis illustres nec nimis obscuros locos habere oportet, nec aut obcecentur tenebris ymagines, aut splendore prefulgeant; interualla locorum mediocrum placet esse fere pauloplus aut minus pedum tricenum. 10 Nam ut aspectus, item cogitacio minus valet, tunc cum nimis procul remoueris aut sepe vehementer [26v] prope amoueris id quod oportet videre. Sed quamquam facile est ei qui pauloplura nouerit quamuis multos et ydoneos locos comparare, tamen si quis satis ydoneos ad ea inuenire se non putabit ipse sibi constituat quam volet multos 15 licebit.

Quot vacacio sit oportuna memorie habetur Ecclesie 38: Sapienciam scribe in tempore vacuitatis et qui minoratur actu sapienciam percipiet. Tempus vacuitatis est tempus vacacionis que est oportunum ac scibendam sapienciam in libro memorie. Psalmista: Quoniam 20 non cognoui litteraturam uel negocionem introibo in potencias domini etc. Et non poterat propheta aliter habere iugem dei memoriam scilicet nec vacaret et nec negociacionem dimitteret, que est superflua litteratura inutiliter occupans memoriam.

Quod mansuetudo sit oportuna memorie, unde Psalmus: Contur- 25 batus est in ira oculus meus, anima mea, et venter meus. Oculus est intelligencia qua Deus cognoscitur. Anima est voluntas qua Deus diligitur. Venter est memoria quia Deus in mente geritur et tenetur. 6 ampli uagas] emend. ampliuagas M1, M2 7 nimis] nimiis M1 8 nec aut] ne aut M1 12 aut sepe] delet. M1 13 nouerit] nouit M2 14–16 tamen si… quis licebit] add. in marg. M1, om. M2 17–22 Quot vacacio…iugem dei] om. M1, M2; hab. Clm 18888, 50v; Tamen si quis memoriam non vacaret, scilicet non negociacionem dimitteret, que est superflua litteratura inutiliter occupans memoriam M1, M2 24 inutiliter] om. M1 25 unde psalmus] dicit Psalmista M1 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Einsamkeit die ursprüngliche Gestalt der Abbilder bewahrt. Außerdem muss man Örter vorbereiten, die an Gestalt und Wesen unterschiedlich sind, damit sie sich in gehöriger Unterscheidung zeigen können. Denn wenn irgendjemand mehrere Säulenzwischenräume nehmen würde, wird er durch die Ähnlichkeit der Örter verwirrt werden und nicht mehr wissen, was er an welchem Ort abgelegt hat. Und man sollte die Örter sowohl im Umfang angemessen als auch mäßig groß haben. Denn übermäßig weit ausgedehnte Örter geben Bilder undeutlich wieder und allzu enge Örter scheinen die Anordnung der Bilder oftmals nicht fassen zu können. Ferner6 sollte man weder allzu helle noch allzu dunkle Örter besitzen, damit die Bilder weder durch Schatten verhüllt noch vom Glanz überstrahlt werden. Es ist zweckmäßig, dass es Abstände zwischen den mittelgroßen Örter7 gibt und es ist zweckmäßig, dass diese nicht mehr und nicht weniger als ungefähr dreißig Fuß betragen. Denn wie die Sehkraft so ist auch das Vorstellungsvermögen dann weniger stark, wenn man das, was man sehen soll, allzu weit entfernt oder häufig überaus nahe heranbringt.8 Obwohl es zwar für denjenigen, der ein wenig mehr weiß, leicht ist beliebig viele und geeignete Örter anzulegen, wird es dennoch jemandem möglich sein, sich selbst so viele Örter einzurichten wie er will, selbst wenn er glaubt, dass er keine geeigneten findet. Inwiefern das Freisein gut für das Gedächtnis ist, kann man dem Buch Ecclesiasticus 38 entnehmen: „Um Weisheit zu erlangen, braucht ein Weisheitslehrer viel Zeit zum Studieren. Die aber hat er nur, wenn er sich nicht mit anderen Arbeiten abgeben muss.“ Die Zeit des Freiseins ist die Zeit der Entledigung, welche dem Einschreiben der Weisheit in das Buch des Gedächtnisses zuträglich ist. Psalm: „Weil ich das Schrifttum nicht erkannt habe [nicht gelehrt bin], hoffe ich selig zu werden.“ Und auf keine andere Weise vermochte der Prophet der nie versiegenden Erinnerung an Gott habhaft zu werden, als sich frei zu machen und die Beschäftigung aufzugeben,9 die wie überflüssiges Schrifttum das Gedächtnis nutzlos beansprucht. Inwiefern Sanftmut am besten für das Gedächtnis ist: Psalm: „Verstört ist vom Grame mein Auge, meine Seele und mein Leib.“ Das Auge ist die Einsicht durch die man Gott erkennt. Die Seele ist der Wille, durch den man Gott liebt. Der Leib aber ist das Gedächtnis, weil man Gott im Verstand mit sich führt und festhält.

6 Das dum wird gebraucht wie ein tum. 7 Die Rhetorica hat interualla locorum mediocria, ‚mittelgroße Abstände zwischen den Örtern‘. 8 uidere: steht für videri; amoueo: für admoveo. 9 negotiatio = occupatio.

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Disticha Catonis II,4b Iac 1,19 Iac 1,21 Is 42, 3–4

Prv 21,17 Is 28,7 Evagrius, Proverbia ad fratres 101

Prv 20,13 Evagrius, Proverbia ad fratres 48

 Anon. De arte memorativa

Et ita tota trinitas supradicta deordinatur per iram; si sit per vicium uel ad minus turbetur ad tempus, si sit per zelum et durante illo feruore non possit discernere verum. Vnde philosophus: impedit ira animum, ne possit discernere verum. Item super illud: Sit omnis homo velox ad audiendum et tardus ab loquendum et tardus ad iram. Iacobi 5 primo. Glosa: maturitas sapiencie non est nisi ut scientia tranquilla mente percipiatur. Item Iacobi primo: In mansuetudine recipite insitum verbum. Propter hoc summo opere cauent sibi boni oratores siue aduocati, ne irascantur uel turbantur Ysaie 42: Quia in veritate deducet iudicetque iudicium non erit tristis, neque turbulentus.[27r] 10 Quot sobrietas sit oportuna memorie Quot sobrietas sit oportuna memorie. Quantum ad cibum et potum placet. Prouerbiorum 21: Qui amat vinum et pigria non dilatabitur auro sapientie et thesauro memorie. Ysaie 28: Nescierunt sacerdos et propheta pre ebrietate absorbti sunt et vino. Sanctus 15 in prouerbiis suis dicit Inuestigans conuiuia extinguit lumen anime. Anima autem eius videbit tenebras. Exemplum de lampade, que non potest lucere si ligmen oleo submergetur. De somno Item quantum ad sompnum. Prouerbiorum 20: Noli diligere 20 sompnum, ne te egestas opprimat: aperi oculos tuos et sapientias. Beatus : Somnus multum incrassat sensum, vigilia autem bona attenuat eum.

10 iudicetque] iudicatque  M1 10 tristis] corr. testes  M1, testis,  M2 11 Quot sobrietas sit oportuna memorie] om.  M2 15 Euagrius] emend. Eugenius M1, M2 19 De somno] om. M2 22 Euagrius] emend. Eugenius M1, M2 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Und so wird die ganze Dreifaltigkeit, die wir oben genannt haben, durch den Zorn in Unordnung gebracht. Sei es nun, dass man bei Zeiten von der Sünde zumindest verwirrt ist oder, dass man durch Eifersucht und andauernde Leidenschaft die Wahrheit nicht zu erkennen vermag. Der Philosoph sagt: Wird die Seele von Zorn beschwert, so kann sie die Wahrheit nicht erkennen.10 Ebenfalls zu dieser Sache: „Es sei aber jeder Mensch schnell zum Hören, langsam aber zum Reden und langsam zum Zürnen.“ 1. Jacobus. Erläuterung: Es gibt keine Vollendung zur Weisheit, wenn das Wissen nicht mit ruhigem Geist erfasst wird. Ebenfalls 1. Jacobus: „Nehmt in Sanftmut das eingepflanzte Wort an.“ Deswegen hüten sich gute Redner und Anwälte gar sehr, dass sie nicht erzürnen und sich nicht verwirren lassen. Jesaja 42: „Weil er der Wahrheit gemäß urteilt und das Recht bringt, wird er nicht zornig, noch aufbrausend.“ Inwiefern Enthaltsamkeit dem Gedächtnis nützen kann Inwiefern Enthaltsamkeit der Erinnerung nützen kann. Inwiefern Speis und Trank dienlich sind. Sprüche 21: „Wer Wein und Fettes liebt, wird nicht reich“ vom Gold der Weisheit und dem Schatz des Gedächtnisses. Jesaja 28: „Priester und Propheten sind unverständig und übermannt vor Trunkenheit und Wein.“ Der heilige Evagrius11 erklärt in seinen Sprichwörtern: „Wer Gelage besucht, löscht das Licht der Seele. Aber seine Seele wird die Schatten sehen.“ Das ist das Exempel von der Lampe, die nicht leuchten kann, wenn man den Docht12 im Öl untertaucht. Vom Schlaf Desgleichen was den Schlaf betrifft. Sprüche 20: „Liebe den Schlaf nicht, dass dich die Armut nicht überwältige; halte deine Augen offen, so wirst du Weisheit haben.“ Der selige Evagrius13: „Schlaf macht viele Sinne träge, das gute Wachen aber schärft sie.“14

10 Der Spruch wird an dieser Stelle fälschlich Aristoteles zugeordnet. 11 M1 und M2 schreiben das Sprichwort einem Eugenius zu. Das Zitat stammt jedoch aus der lateinischen Übersetzung der Proverbia ad eos qui in caenobiis et xenodoxis habitant fratres (Proverbium 101). Der Text ist ediert bei Jean Leclercq: L’ancienne version latine des sentences d’Evagre pur les moines. In: Scriptorium 5 (1951), S. 195–213; für das Zitat S. 211. Der Ausspruch ist auch in Florilegien mit patristischen Inhalten unter Evagrius’ Namen überliefert, Z.  B. den pseudoisidorischen Testimonia patrum, vgl. die Ausgabe von Albert Lehner (Hg.): Florilegia. Florilegium Frisingense (CLM 6433). Testimonia divinae scripturae . Turnhout 1987 (= CCSL 108D), für das Zitat S. 93. Es ist gut möglich, dass das Eugenius in M1 und M2 auf einen Abschreibe-/ Lesefehler beim Namen Euagrius zurückgeht. 12 ligmen = ligamen. 13 Auch hier wird eine Evagriussentenz (Proverbium 48, Ausgabe Leclercq, S. 207) einem Eugen zugeschrieben. 14 Im Hintergrund steht hier der Gegensatz ‚dick‘ (crassus) und ‚dünn‘ (tenuis).

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Hos 4,11 cf. Hieronymus, Ad Paulinum et Eustachium, Epist. 10: “modum nescit, nec aliud cogitare potest quam quod diligit” PL30, 141B; Vincent de Beauvais, Spec. maius l. 3, d. 3, p. 9 zit. Gregorius Magnus: “Quem luxuria semel ceperit, nihil aliud cogitare permittit.” (Nicht in Moralia in Job 21,2) Gen 40,23 Prv 31,4 cf. Rhetorica ad Herennium III, XVI, 29 Rhetorica ad Herennium III, XVI, 29

Rhetorica ad Herennium III, XIX, 32

 Anon. De arte memorativa

De coitu femineo Item quantum ad coitu. Osee quarto: Fornicacio vinum et ebrietas auffert cor. Item Ieronimus: Luxuria ex quo semel ceperit nichil aliud cogitare sinit. Sic patet quomodo verbum carnale et illecebre secundum omnes suas species mentem inebriat et in obliuionem 5 mittit. Prouerbium 31 Noli regibus dare vinum ne forte obliuiscantur iudiciorum iustorum Genesis 38 Succedentibus prosperis prepositus pincernarum oblitus est interpretis sui. Tres ergo comites memorie ipsam expedientes et [27v] confirmantes sunt vacacio mansuetudo et sobrietas, ut dictum est. Et ita ex parte memorie, cui sit impres- 10 sio, habemus tria necessaria. Ex parte eius rei inprimende, que memorie inprimenda est, vnum est necessarium ad faciendum vehementer impressionem scilicet artificiosa ymaginacio. Cuius artificium docet Cicero in tractatu de memoria quantum valeat diligens ymaginacio ad perpetuitatem memorie. Et patet in illis, qui 15 libros suos studiosius ymaginati sunt, qui eciam ad memoriam magis informandam aliquos karacteres et figuras rescripserunt in marginibus librorum materias singulas de quibus ibidem tractatur representantes. De artificiosa memoria 20 Constat igitur artificiosa memoria secundum Tulium ex locis et ymaginibus.  Locos, inquit, appellamus eos qui breuiter perfecte, insignite aut natura aut manu sunt absoluti, ut eos facile naturali. Ad ista satis ydoneos inuenire se putabit, ipse sibi constituet quam valet licebit. 25

De cogitatione Cogitatio enim quamuis regionem potest amplecti et in ea situm loci cuiusdam ad suum arbitrium et comodum fabricari et architectari. Quare licebit si hac promta copia contenti erimus, nosmetipsos nobis cogitacione nostra regionem constituere et ydoneorum 30 locorum commodosissimam distinctionem comparare. De locis satis

1 De coitu femineo] om. M2 4 patet] placet M1 5 mentem] mente M2 7 iudiciorum] iudicorum  M1 17 aliquos] aliquas  M2 26 De cogitatione] om. M2 29 contenti erimus] emend. contenti erimus M1, M2 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Vom Beischlaf mit der Frau Desgleichen was den Beischlaf betrifft. Hosea 4: „Unzucht, Wein und Trunkenheit rauben den Verstand.“ Ebenso Hieronymus: „Nachdem die Ausschweifung einmal begann, gestattet sie kein anderweitiges Denken mehr.“ So offenbart sich das fleischliche und verlockende Wort und macht den Geist ein jedes nach seiner Art trunken und schickt ihn ins Vergessen. Sprüche 31: „Gib Königen keinen Wein; auf dass sie nicht des gerechten Urteils vergessen.“ Genesis 38: „Der Obermundschenk jedoch vergaß, als es ihm wohlging, seines Traumdeuters.“ Das Gedächtnis hat freilich drei Gefährten, die es üben und befestigen. Wie man sagt sind das Freisein, Sanftmut und Enthaltsamkeit. Und so sind für uns auf Seiten des Gedächtnisses, dem etwas eingeprägt werden soll, drei Dinge nötig: Auf Seiten der Sache, die man sich einprägen will und die dem Gedächtnis eingeprägt werden soll, ist nur eines nötig um einen starken Eindruck zu bewirken, nämlich die künstliche Vorstellung. Deren Kunst hat Cicero im Traktat De memoria15 erläutert: Wie sehr eine sorgfältige Vorstellung dienlich sei für die Fortdauer der Erinnerung. Und das betrifft jene, die sich ihre Bücher eifrig vorgestellt haben und die sogar gewisse Zeichen und Figuren auf die Seitenränder der Bücher geschrieben haben, damit sie einzelne Gegenstände, die man ebendort behandelt, darstellen, um das Gedächtnis besser zu gestalten. Vom künstlichen Gedächtnis Nach Tulius besteht also ein künstliches Gedächtnis aus Örtern und Bildern. Er sagt: „Örtern nennen wir jene, die bündig, vollständig und entweder von Natur aus oder von  Menschenhand gebildet sind, so dass sie leicht dem natürlichen Gedächtnis gehören.“ Man wird sich überlegen, dass man genügend geeignete Örtern zu diesem Zweck findet, und kann sie sich nach eigenem Vermögen anlegen. Von der Vorstellungskraft Die Vorstellung kann nämlich ein ganzes Gebiet beliebig umfassen und in ihm die Lage eines bestimmten Ortes nach Belieben und Nutzen formen und anlegen. Daher wird es geboten sein, dass wir uns selbst mit unserer Vorstellung ein solches Gebiet einrichten und eine passende Einteilung der geeigneten Örter vorbereiten, wenn wir mit der angebotenen Menge zufrieden sind.16 Über die Örter ist nun genug gesagt worden. Jetzt wenden wir uns der Methode der Bilder zu. Und in der Tat ist es dienlich, dass die Bilder den Dingen ähnlich sind und

15 Gemeint ist das dritte Buch der Rhetorica ad Herennium. 16 In der Rhetorica findet man non erimus.

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 Anon. De arte memorativa

dictum est. Nunc ad ymaginum rationem transeamus. [28r] Etenim ergo similes rerum ymagines esse oportet; et ex omnibus verbis nosmet ipsos nobis notas et similitudines eligere debemus. Duplices igitur similitudines esse debent vna rerum altera verborum. Rerum similitudines exprimentur cum sumatim ipsorum negociorum ymagi- 5 nes comparamus; verborum ymagines constituuntur cum sumatim vnius cuiusque nominis et vocabuli memoria ymagine notatur. Rei tocius memoriam sepe vna nota ac ymagine simplici comprehendimus hoc modo.

De nodis 10 Exemplum eciam de illis qui faciunt nodos in corrigiis suis vel aliquid notabile portant supra se pro memoriali alicuius persone uel rei vel negocii et cetera. De hystoriis Similiter totam vnam hystoriam in dispositione et collectione vnius ymaginis possumus memorari. Vt si vellemus memorari meminisse hystoriam sancte Lucie virginis. Collocamus in medio ciuitatis ymaginem mulieris habentem faciem luminosam in memoriam nominis sui. Hoc est Lucia; hec ymago habebit sertam de floribus liliorum in memoriam virginitatis, pallium purpureum in memoriam martiry. Ignem habebit sub pedibus suis in memoriam, quod in igne posita illesa permansit. Circa ipsam erunt satellites coronam liliorum decerpere conantes in memoriam corruptorum volencium ipsam ad lupanar trahere. Ipsa vero erit statura sublimis, ita quod non possint sertum contingere. Ymago denique habebit gladium in gutture in memoriam quomodo passa fuit. In hunc modum tocius sue passionis memoriam [28v] habere poterimus. Et in hunc modum fingende sunt ymagines iuxta proprietates negotiorum et in locis competentibus collocandi.

3 eligere debemus. Duplices igitur similitudines] add. in marg.  M1, om. M2 4 vna rerum altera] une rerum altere M2 8 comprehendimus] comprehendamus M1 10 De nodis] om. M2 13 et cetera] om. M2 14 De hystoriis] om.  M2 21 in igne posita illesa] in igne illesa posita illesa 22 ipsam erunt] illam erant M1 

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Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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wir müssen uns von allen Wörtern Zeichen und Ähnlichkeiten auswählen. Das müssen freilich Ähnlichkeiten von zweierlei Art sein, die eine von Dingen, die andere von Worten. Die Ähnlichkeiten von Dingen werden gewonnen, indem wir die Bilder eben dieser Gegenstände den Hauptpunkten nach anordnen. Abbilder von Worten werden erstellt, indem die Erinnerungen an jeden einzelnen Namen und jedes einzelne Wort durch ein Bild gekennzeichnet wird. Auf diese Weise können wir die Erinnerung an eine ganze Sache oft in einem einfachen Kennzeichen oder Bild erfassen. Über die Knoten Nun auch ein Beispiel von denen, die zur Erinnerung an irgendeine Person oder Sache oder Angelegenheit und so weiter, Knoten in ihre Riemen machen oder irgendetwas Bemerkenswertes bei sich tragen. Über die Geschichten In gleicher Weise können wir uns in der Einteilung und Zusammenstellung eines einzelnen Bildes einer ganzen Geschichte erinnern. Wenn wir wollen, können wir uns so an die Geschichte der heiligen Jungfrau Lucia erinnern. Zur Erinnerung an ihren Namen legen wir das Bild einer Frau in mitten einer Stadt an, die ein strahlendes Antlitz hat. Der Name ist  Lucia. Zur Erinnerung an ihre Jungfernschaft wird das Bild einen Kranz aus  Lilienblüten tragen und zur Erinnerung an ihr Martyrium einen Purpurmantel. Sie wird Feuer unter ihren Füßen haben zur Erinnerung, dass sie im Feuer unverletzt war und blieb. Zur Erinnerung an die Verderbten, die sie ins Hurenhaus zu verschleppen wünschten, werden üble Gesellen um sie herum stehen, die versuchen ihr die Lilienkrone abzureißen. Sie selbst wird von erhabener Gestalt sein, so dass jene den Kranz nicht berühren können. Schließlich wird das Bild ein Schwert in der Kehle haben, zur Erinnerung daran, welcher Art ihre Passion war. Auf diese Weise können wir eine Erinnerung an ihre ganze Passion erhalten. Und die Bilder müssen auf folgende Weise gebildet werden: nach Eigenheiten der Gegenstände und an passenden Örtern, die man dafür anlegen muss.

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Ps 96,11

cf. Hieronymus, ep. 22 Mt 19,11  f. Apc 3,4 Gen 6,12 Apc 14,4 Ct 1,14 I Cor 7,34

 Anon. De arte memorativa

De similitudinibus uerborum Cum verborum similitudines ymaginibus exprimere volumus, plus negocii suscipiemus et magis ingenium nostrum exercebimus, id nos hoc modo facere oportebit. Lux orta est iusto et rectis corde letitia. Huius verbi seriem tali ymaginatione poterimus ymaginari. 5 Pro eo enim quod dicitur ‚lux orta est iusto’ ymaginemur solem orientem. Pro eo quod dicitur ‚iusto’ faciamus iudicem ad ortum solis furem suspendentem. Pro eo quod dicitur ‚rectis corde’ constituantur multi homines ad spectaculum et diligentes iusticiam. Pro eo quod dicitur ‚letitia’ fingantur homines ridentes. Hoc modo 10 omnia verba existunt expressa. Sed hec ymaginum confirmatio tunc videbitur esse, si naturalem exsuscitauerimus hac notacione, ut versu posito ipsi nobiscum primo transeamus bis aut ter eum resumendo. Deinde cum ymaginibus verba exprimamus; hoc modo nature suppeditabitur doctrina. Nam ex vtrumque altera seperata 15 minus erit firma.

Auscultatio virginitatis Item posito quod tu auscultes sermonem in quo laudabitur virginitas hoc modo: ‚Decem’, inquit, ‚sunt prerogatiua virginitatis’. Est enim difficilis. Mathei decimo nono: Non omnes capiunt verbum 20 istud et ita qui possunt capere capiant. Item rara. Apokalippsis tertio: Habes pauca nomina in Sardis qui non requirunt vias suas Genesis 6: [29r] Omnis caro corrupit viam suam. Item est munda Apokalippsis XIIII: Hii sunt qui cum mulieribus non sunt coinquinati. Item pulchra Canticorum primo: Ecce tu pulchra es 25 amica mea, ecce tu pulchra. Bis dicit ‚pulchra’ propter virginitatem mentis et corporis. Item quieta prime Corinthorum  VII:  Mulier innupta et virgo cogitat que Domini sunt, ut sit sancta corpore et

1 De similitudinis uerborum] om. M2 7 iusto] om. M2 15 ex] om. M2 17 Auscultatio virginitatis] om. M2 18 Item posito] primo est enim posito M1 19 Est enim] et enim M1 21 ita qui] itaque M2 21 Item] secundo est M1 22 Sardis] Surdis  M1 23 corrupit] corrumpit  M1 24 suam] suam sit  M2 24 Item] item tertio M1 25 Item] quarto est M1 27 Item] quinto M1 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Über die Ähnlichkeiten von Worten [das Wortgedächtnis] Wenn wir Ähnlichkeiten von Worten durch Bilder ausdrücken wollen  – wir werden mehr Mühe auf uns nehmen und unseren Scharfsinn mehr üben – ist es notwendig, dass wir es auf die folgende Weise tun: „Licht geht dem Gerechten auf und Freude denen, die aufrichtigen Herzens sind.“ Die Abfolge dieses Wortes können wir uns mit einer solchen Vorstellung ­vorstellen. Für das nämlich, was mit ‚Licht geht dem Gerechten auf’ gesagt wird, wollen wir uns die aufgehende Sonne vorstellen. Für das, was mit ‚dem Gerechten’ gesagt wird, wollen wir einen Richter machen, der einen Dieb bei Sonnenaufgang hängt. Für das, was mit ‚die aufrichtigen Herzens sind’ gesagt wird, muss man viele Menschen setzen, die bei diesem Spektakel anwesend sind und sich an der Gerechtigkeit erfreuen. Für das, was mit ‚Freude’ gesagt wird, muss man sich ein Bild von lachenden Menschen machen. Auf diese Weise werden alle Worte ausgedrückt. Aber diese Stärkung von Bildern wird dann klar ersichtlich stattfinden, wenn wir das natürliche Gedächtnis mit dieser Kennzeichnung anfachen, indem wir erst voranschreiten, nachdem wir die erste abgelegte Zeile ein zweites und drittes Mal durchgegangen sind. Sodann können wir Worte mit Bildern ausdrücken. Auf diese Art wird der Natur die Kunst beistehen. Denn jede von den beiden wird für sich allein weniger beständig sein. Das Hören von der Jungfräulichkeit In gleicher Weise, gesetzt den Fall, dass17 du eine Predigt hörst, in der die Jungfräulichkeit folgendermaßen gelobt wird: Es heißt „Es gibt zehn Zeichen für Jungfräulichkeit.“ Sie [die Jungfräulichkeit] ist freilich schwierig.  Matthäus 19: „Nicht alle fassen dieses Wort und daher fasse es, wer es fassen kann.“ Ebenso ist sie selten. Offenbarung 3: „Du hast wenige Namen in Sardes, die nicht ihren [der Befleckten] Weg suchen.“18 Genesis 6: „Alles Fleisch verdirbt seinen Pfad.“ Ebenso ist sie rein. Offenbarung 14: „Diese sind es, die sich mit Weibern nicht befleckt haben.“ Ebenso ist sie schön. Hohelied 1: „O siehe, wie schön bist du meine Freundin! Siehe wie schön bist du.“ Er sagt zweimal ‚schön’, wegen der Jungfräulichkeit von Geist und Körper. Ebenso ist sie ruhig. I. Korinther 7: „Das unverheiratete Weib und die Jungfrau ist auf das bedacht, was des Herrn ist, dass sie heilig sei an  Leib und Geist.“ Ebenso ist sie überaus fruchtbar, sowohl bei

17 Die Wendung Item posito quod (‚In gleicher Weise, gesetzt den Fall, dass…‘) ist eine geläufige Gliederungsfloskel in scholastischen Texten. 18 Im Original lautet dieses Bibelzitat habes pauca nomina in Sardis, qui non inquinaverunt vestimenta sua (‚Du hast wenige Namen zu Sardes, die ihre Kleider nicht befleckt haben‘).

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Sp 3,13 Ct 3,8 Lc 1,26  f. Radbertus (Ps-Hier.), De assumptione S. Mariae 27 Dn 1,17 Apc 14,3 Sp 4,1

CAO 4063

 Anon. De arte memorativa

spiritu. Item fructuosa excellenter et in operibus deuotionis ad deum et misericordie ad proximum, vnde fructus centesimus ei attribuitur, ut in parabola evangelica  Mathei  XIIII,  Marci  IIII, Sapientie IIII: Habebit fructum in respectione animarum sanctarum. Item secura. Canticorum III: Vniuscuiusque ensis super femur suum 5 propter timorem nocturnos. Item familiaris angelorum. Luce  I: Missus est angelus Gabriel ad virginem et cetera. Item super hoc Hieronimus: Bene angelus ad virginem mittitur, quia semper est angelis cognata virginitas. Item conscientia diuersorum secretorum Danielis primo: Pueris autem de hiis deus dedit scientiam et discre- 10 tionem in omni libro et sapientia; Danieli autem intelligenciam omnium visionum et somniorum. Item gloriosa apud Deum et apud homines. Apokalypsis XIIII: Nemo poterat dicere canticum nisi illa centum et cetera. Canticorum 4: O quam pulchra est casta generatio cum claritate et cetera. Difficilis, rara devotaque, munda, quieta, 15 conscius, conciuis securaque, gloria, fructus. Hanc conmemorationem et distinctionem audiens [29v] tali ymaginacione pocius notari et memorie conmendare potest hoc modo.

De memoria ymaginis Uirginem locabimus in castro alto se excelso, cuius ascensus sit dif- 20 ficilius et hoc in memoriam difficultatis. Virgo constituetur sola in memoriam raritatis. Niueis vestimentis erit induta in memoriam mundicie virginalis. In throno sedebit uel in lecto in memoriam quietis. Ad orientem respiciet in memoriam deuotionis. Floribus et violis erit fulcita et stipata 25 in memoriam fructuositatis. Vexillum crucis triumphale habebit in manu in memoriam securitatis. Aues habebit circa se cum quibus ludet in memoriam angelice familiaritatis. Volumen Apokalypsis vel speculum habebit supra pectus in memoriam diuine reuelacionis. Cantabit egregie O quam gloriosum est regnum et cetera, in 30 memoriam gloriositatis. Has X proprietates huius ymaginis releges in corde tuo eo ordine, quo sunt proposite, et conferes cum illis X

1 Item] sexto  M1 5 Item] septimo  M1 6 nocturnos] noctis  M2 6 Item] octo  M1 9 Item] nono  M1 12 Item] decimo est  M1 18 potest hoc modo] om. M2 19 De memoria ymaginis] om. M2 22 raritatis] veritatis M1, M2 32 proposite] preposite M2

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Werken der Aufopferung für Gott als auch bei Werken der Barmherzigkeit für den Nächsten, weswegen ihr hundertfach Frucht zuteil wird, genauso wie im Gleichnis aus den Evangelien bei Mattheus 1419 und Markus 4. Weisheit 4: „Sie wird ihren  Lohn erhalten, wenn den heiligen Seelen vergolten wird.“ Ebenso ist sie furchtlos. Hohelied 3: „Ein jeder trägt das Schwert an seiner Hüfte zur Abwehr nächtlicher Schrecknisse.“ Ebenso ist sie vertraut mit den Engeln. Lukas 1: „Der Engel Gabriel ward gesandt zu einer Jungfrau“ und so weiter. Ebenso dazu bei Hieronymus: „Wohl wird der Engel zur Jungfrau gesandt, weil Jungfernschaft stets mit den Engeln verbunden ist.“ Ebenso besitzt sie Kenntnis verschiedener Geheimnisse. Daniel  1: „Gott aber verlieh diesen Jünglingen davon Kenntnis und Unterscheidungsvermögen in aller Schrift und Weisheit, dem Daniel aber die Gabe alle Visionen und Träume zu verstehen“. Ebenso ist sie ruhmreich bei Gott und den  Menschen. Offenbarung 14: „Niemand konnte das Lied singen, als jene hundert“ und so weiter. Hohelied 420: „O wie schön ist ein keusches Geschlecht in seiner Herrlichkeit“ und so weiter. Schwierig, selten, demütig, rein, ruhig,  Mitwisser,  Mitbürger, furchtlos, Ruhm und Frucht. Wenn man diese Einteilung und Vergegenwärtigung hört, kann man sie besser mit einem derartigen Bild niederschreiben und auf diese Weise dem Gedächtnis hinzufügen. Über das Bildgedächtnis Wir werden eine Jungfrau in einer Burg aufstellen, die sich hoch emporreckt. Deren Aufstieg soll überaus schwierig sein und das soll zur Erinnerung an die Schwierigkeit geschehen. Die Jungfrau wird einsam dargestellt, zur Erinnerung an die Seltenheit. Zur Erinnerung an die Reinheit der Jungfräulichkeit wird sie mit schneeweißen Gewändern bekleidet sein. Zur Erinnerung an die Ruhe wird sie auf einem Thron oder auf einer Liege verweilen. Zur Erinnerung an die Demut wird sie nach Osten blicken. Zur Erinnerung an die Fruchtbarkeit wird sie mit Blüten und Veilchen geschmückt und ist umringt von ihnen. Zur Erinnerung an die Furchtlosigkeit hält sie das Siegesbanner des Kreuzes in der Hand. Zur Erinnerung an den vertrauten Umgang mit den Engeln wird sie Vögel um sich haben, mit denen sie spielt. Zur Erinnerung an die göttliche Offenbarung wird sie das Buch der Offenbarung oder einen Spiegel vor der Brust tragen. Zur Erinnerung an die Rühmlichkeit wird sie vortrefflich „O wie ruhmreich ist das Reich“ und so weiter, singen. Wiederhole im Herzen diese zehn Eigenheiten dieses Bildes in der Reihenfolge, nach der sie vorgegeben wurden, und bringe sie

19 Nach moderner Zählung Mt 13. 20 Es handelt sich um ein Zitat aus dem Buch der Weisheit und nicht aus dem Hohelied.

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 Anon. De arte memorativa

commendacionibus et sic habebis numerum et ordinem commendationum virginitatis. Memoria parabolarum Nota, habebis eciam in libro memorie parabolam in descripcione huius ymaginis ad commendacionem uvrginitatis, vnde huiusmodi 5 artificio excogitacione ymaginum faciat inuenire [30r] multas parabolas elegantes ad propositum in sermonibus. Item in sermonibus te presente distinguere quis duodecim differentias gratiarum hoc modo.

Lc 1,63

cf. Apc 12,1 1 Cor 1,3 Heb 13,9 Rm 5,20 Prv 3,4 Ex 33,12 Dn 1,9 cf. Col 3,15 Prv 4,9 nicht ermittelt Est 15,17 2 Cor 12,9

De duodecim differentiis gratiarum 10 Iohannes est nomen eius; Luce  I. Ad laudem et gloriam Iohannis Baptiste cuius nomen est presagium gratie excellentis in ipso Iohanne, cum interpretatur ‚Dei gratia’ vel ‚in quo est gratia Dei’. Distinguemus hic XII differentias gratiarum que plenissime reperiuntur in ipso. Hec autem multiplicitas gratie attenditur secundum 15 diuersos effectus. Vnde gratia in ipso quantum ad XII effectus est tamquam corona XII stellarum. In capite mulieris parturientis est in memorie nascentis ecclesie; Apocalypsis XII. Nota ergo primo gratia remissionis peccatorum. Prime Corinthorum primo: Gratia et pax. Primo remissio 20 peccatorum et reconciliacio quoad Deum dicit glosa. Secundo infusionis virtutum. Hebrorum XIII: Optima est gratia sancta et cor. Item Romanorum 5: Vbi habundat delictum superhabundat et gratia. Acceptionis siue placentie diuine et humane. Prouerbie III Inuenies gratiam et disciplinam bonam coram Deo et hominibus. Exo- 25 dus  XXXIII: Inuenisti gratiam apud me. Danielis primo: Dedit gratiam Dominus danieli in conspectu principum. Item in Colossis III: Grati estote custodicionis a malo. Item Corinthorum 12: Sufficit tibi gratia mea. Prouerbie III: Dabit capiti tuo augmentum gratie. Prime Corinthorum primo: [30v] Deus exercitacionis bonorum 30 operum. Hesther  XV: Facies tua plena est gratiarum, et speciem dedit ei et super hec viri Dei statuentur et honeste conuersacionis.

3 Memoria parabolarum] om.  M2 6 artificio] artificium  M1 7 elegantes] elegantas  M2 8 quis] quis potest  M1 - 10 De duodecim differentiis gratiarum] om. M2 24 Acceptionis] tertio gratia acceptionis M1 27 Colossis] Coloris M2 28 Grati] gratis M1. M2 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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mit jenen zehn Werten zusammen und du wirst auf diese Art Anzahl und Reihenfolge der Werte festhalten, die der Jungfräulichkeit zu eigen sind.21 Das Gedächtnis der Gleichnisse Merke Dir, im Buch des Gedächtnisses wirst Du bei der Beschreibung dieses Bildes auch ein Gleichnis für die Werte haben, die der Jungfräulichkeit zu eigen sind, weil es bei dieser Kunst durch Ersinnen von Bildern derart geschieht, dass man bei Predigten viele geistvolle Gleichnisse zum Thema findet. Ebenso kannst Du bei Predigten in deiner Gegenwart auf diese Weise die zwölf unterschiedlichen Arten der Gnade unterscheiden. Über die zwölf unterschiedlichen Arten der Gnade „Johannes ist sein Name!“  Lukas 1. Zum  Lob und zum Ruhm von Johannes dem Täufer, dessen Name ein Vorzeichen für die besondere Gnade in Johannes selbst ist, weil man den Namen mit ‚Gnade Gottes’ oder ‚In ihm ist die Gnade Gottes’ übersetzt. Wir werden an dieser Stelle die zwölf unterschiedlichen Arten der Gnade unterscheiden, die man bei ihm überreichlich findet. Diese Vielfalt an Gnade nimmt man aber gemäß den unterschiedlichen Wirkungsweisen zur Kenntnis. Deshalb steht Gnade bei ihm insoweit für zwölf Wirkungsweisen, wie die Krone der Zwölf Gestirne auf dem Haupt der kreißenden Jungfrau zur Erinnerung dafür steht, dass die Kirche geboren wird. Offenbarung 12. Merke Dir als erstes die Gnade der Erlösung für Sünder. 1 Korinther 1: „Gnade und Frieden.“ Die Glosse sagt, „Zuerst kommt die Erlösung für Sünder und die Versöhnung mit Gott.“ Zweitens, die Gnade der Eingebung von Tugend. Hebräer 13: „Vorzüglich ist die heilige Gnade und das Herz.“22 Ebenso Römer 5: „Als aber die Sünde sich häufte, ward die Gnade überreichlich.“ Die Gnade der Angenommenseins und des Gefallens beim Menschen und bei Gott. Sprüche 3: „So wirst du Gnade und gute Lehren finden vor Gott und vor den Menschen.“ Exodus 33: „Du hast Gnade vor mir gefunden.“ Daniel 1: „Der Herr ließ Daniel Gnade vor dem Angesicht der Fürsten finden.“ Ebenso bei Kolosser 3: „Seid dankbar für die Bewahrung vor dem Bösen.“ Ebenso Korinther 12: „Es genügt dir meine Gnade.“ Sprüche 3: „Sie wird deinem Haupt eine Fülle von Gnade geben.“ 1. Korinther 1: „Der Gott der Ausführung guter Werke“.23 Esther 15: „Dein Angesicht ist voller Gnade.“ und das gibt ihm ein gutes Aussehen und so wird man sich Männer Gottes, die von auf-

21 commendatio: hier im rechtlichen Sinne ‚anvertrautes (Rechts-)Gut‘. 22 Ursprünglich lautet das Bibelzitat „Optimum est enim gratia stabilire cor“(‚Es ist gut das Herz durch die Gnade zu stärken‘). 23 Das Zitat stammt nicht aus dem ersten Korintherbrief.

164  Eccl 26,19

Deu 32,4 Prv 31,30 Eccl 24,25 2 Pet 3,18 nicht ermittelt Lc 4,22 Pv 22,1 nicht ermittelt

 Anon. De arte memorativa

Item virginalis incorruptionis. Ecclesiastici 26: Gratia super gratiam mulier sancta et pudica. Decora exposicione sancta mente pudica carne. Ad hoc nota, quod omnes sanctificati in vtero virgines permanserunt. Vnde autem ista specialiter intelliguntur de beata virgine  Maria. Huic gratia virginalis iuncta fuit, ut credimus. Gratia plenitudinis corporalis, quia est miraculose genita et sic nichil imperfectionis siue indecenter in se habere debuit. Quia Dei perfecta sunt opera, Deuteronomi 32. Fallit ergo in ipsa quod dicitur Prouerbie 31: Fallax gratia et cetera. In ipsa enim non fallax fuit, sed vallata, ut ita dicam per morem contemplacionis. Ecclesiastici 24: In me omnis gratia vite et veritatis. Et vite contemplatione que est visio veritatis. Et Petri vltimo: Crescite in gratia et cogitacione Domini nostri Iesu Christi. Iohannis 10: Doctrine et predicacionis gratia. Luce 4: Mirabantur omnes in verbis gratie. Prouerbie 22: Super argentum nunc in gratia bona. Item eterne remuneracionis. Iohannis sexto gratia Dei ad quam ordinantur omnes alie gratie et cetera. Gratia inmittit, infundat, dat, scit placere. Seruat et exercet et conuersatur honeste. [31r] Virgo videndo docet communi fama. Beatus hanc distinccionem audiens gratie. In beato Iohanne finge pulcherimum heremiculam in deserto habentem in capite suo sertum ex 12 distinccionibus florum prout distinguuntur in hac descripcione corone.

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Distinctiones florum Primula veris prima ponitur in descriptione corone in memoriam 25 gratie remissionis peccatorum. Hic namque flos nascitur in exitu hyemis. Similiter gratia demissionis in exitu de peccato. Crocus sequitur in memoriam gratie infusionis virtutum. Crocus enim dat colorem et saporem. Similiter virtutes ornant animam et dulcorant

1 Item] quarto  M1 6 Gratia] quinto gratia  M1 10 non fallax fuit non fallax sunt M2 17 Item] sexto M1 19 scit] scitque M1 21 audiens gratie] gratie audiens M1 24 Distinctiones florum] om. M2 25 corone] om. M1 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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richtigem  Lebenswandel sind, vorstellen. Ebenso die Gnade unberührter Jungfräulichkeit. Ecclesiasticus 26: „Die höchste Anmut ist eine heilige und züchtige Frau.“ Gemäß Auslegung ist sie anmutig wegen ihres heiligen Verstandes und wegen ihres keuschen Fleisches. Dazu merke dir, dass alle, die bereits im Mutterleib geheiligt waren, jungfräulich blieben. Deswegen erkennt man diese Dinge aber besonders bei der seligen Jungfrau Maria. Mit ihr – so glauben wir – wurde die Gnade der Jungfernschaft verknüpft. Die Gnade körperlicher Fülle [Schwangerschaft], weil sie auf wundersame Weise empfangen hat und so nichts Unvollkommenes oder Hässliches haben durfte. Denn „Gottes Werke sind vollkommen“, Deuteronomium 32,4. Nicht also erfüllt sich in ihr, was Sprüche 31 sagt: „Trügerisch ist die Gnade“ und so weiter. In ihr war sie nämlich nicht trügerisch, sondern sie ist – wie ich so sage – durch die Übung der Betrachtung geschützt. Ecclesiasticus 24: „In mir ist alle Gnade des Lebens und der Wahrheit“. Und die Gnade eines Lebens der inneren Einkehr, die ja das Schauen der Wahrheit bedeutet. Und im zweiten Petrusbrief: „Wachset in der Gnade und in der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus.“ Johannes 10: „Die Gnade der Lehre und der Predigt“.24 Lukas 4: „Alle verwunderten sich über die Worte der Gnade.“ Sprüche 22: „Über Silber [und Gold geht] die schöne Gnade.“25 Ebenso die Gnade ewigen Lohns. Johannes 6: „Die Gnade Gottes, für die jede andere Gnade bereitet ist“ und so weiter. Gnade wirkt ein, strömt hinein, gibt und weiß zu gefallen. Sie bewahrt, sie ruht nicht und sie bleibt ehrenhaft. Durch ihren Anblick belehrt die Jungfrau öffentlich mit ihrem guten Ruf. Selig ist, wer diese Einteilung der Gnade hört. Forme für den seligen Johannes einen sehr schönen Einsiedler in der Wüste, der auf seinem Haupt ein Blütengebinde aus zwölf unterschiedlichen Blumen trägt, so wie man sie bei dieser Beschreibung des Kranzes unterscheidet. Die Unterscheidung der Blumen Als erste wird bei der Beschreibung der Krone die Schlüsselblume zur Erinnerung an die Gnade der Erlösung der Sünder angeführt. Diese Blume sprießt nämlich zum Ende des Winters. Auf die gleiche Art dient die Gnade des Erlassens zum Ausgang aus der Sünde. Es folgt der Safran zur Erinnerung an die Gnade der Eingebung von Tugend. Der Safran gibt nämlich Farbe und Geschmack. Auf die

24 Die zitierte Sentenz ist weder biblisch, noch paraphrasiert sie Material des Johannesevangeliums, der Johannesbriefe oder der Offenbarung. Das Zitat stammt entweder aus einem Kommentar oder ist Teil einer apokryphen Johannesüberlieferung. 25 Der Bibelvers lautet eigentlich super argentum et aurum, gratia bona (‚Liebenswürdigkeit hilft weiter als Silber und Gold‘).

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Mal 4,2

Deut 33,6

 Anon. De arte memorativa

conscientiam remonendo amaritudinem peccati; et nemo nisi columpnietur super hoc, quod preordinaui gratiam remissionis peccatorum, gratie infusionis virtutum. Cum sit duplex opinio de ordine illorum, que simul sunt tempore iniusticie impii horum adinuicem. Hoc indubitanter verum est, quod magis est secundum rationem intelligenda gratia infusionis virtutum quam gratia remissionis peccatorum. Potest intelligi circumscripta gratia infusionis virtutum ita, quod homo diutissimus maneret in solis et puris naturalibus. Sed quod in homine lapsa sit gratia infusionis seu gratia remissionis, hoc non recipit intellectus. Rosa, quia acceptibilior est orbis floribus, ponitur in memoriam gratie accepcionis. Lauendula, quia ualet contra paralisim et habet confortare neruos, [31v] ponitur in memoriam gratie custodicionis a malo, ne homo dissoluatur per temptacionem a via veritatis et prosperitatis. Solsequium sequitur solis euntis iter, inclinatur enim semper ad solem et ideo ponitur in memoriam gratie exercitationis bonorum operum per quam homo est verus obediens Deo, qui est sol iusticie; Malachie 3, et prelatis suis et illustrioribus sideres. Feniculus, quia delectat oculos ratione viroris et eciam receptus in cibum et potum habet virtutem acuendi visum, ponitur in memoriam gratie honeste conuersacionis in cuius visione delectantur oculi intuentium et acuuntur per bonum exemplum.

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Lilium inter omnes flores candidos obtinet principatum, vnde flos lilii potest dici regina florum candidorum; et ideo ponitur in memoriam gratie virginalis incorrupcionis. Fiola est flos paruissimus 25 et redolentissimus odore mulcebri et ideo ponitur in memoriam gracie contemplacionis, que parua est per humilitatem, parua et minima munda, quia poma habet virida. Istam gratiam Deuteronomio XXXIII: Viuat Ruben, et non moriatur, et sit paruus in numero. 5 magis est secundum rationem] magis secundum rationem est M1 18 sideres] sidere M1 22 acuuntur] acuentur M2 26 memoriam] memoria M2 28 Deuteronomio XXXIII] 10 et 24 M1; Deuteronomio 10. xxiiiio corr. xxiiio M2 29 viuat] vina vidit M1; vina vidit corr. viuat M2 29 moriatur et sit] est sic M1; moriatur add. M2 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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gleiche Art schmückt Tugend die Seele und versüßt das Bewusstsein, indem sie an die Bitterkeit der Sünde erinnert. Und niemand wird an der Gnade der Eingebung von Tugend teilhaben, wenn er nicht über das erleuchtet wird, was ich zuvor dargestellt habe, nämlich die Gnade der Erlösung der Sünder. Obwohl es zweierlei Ansichten über die Reihefolge jener Dinge gibt, die dem Unfrommen zur Zeit des Unrechts gleichzeitig und wechselweise [miteinander verschränkt] geschehen, ist es unzweifelhaft richtig, dass die Gnade der Eingebung von Tugend der Vernunft nach deutlicher erkennbar ist als die Gnade der Erlösung der Sünder. Die beschriebene Gnade der Eingebung von Tugend kann man so begreifen, dass ein Mensch seit langer Zeit in natürlicher Einsamkeit und Reinheit verbleibt. Doch dass die Gnade der Eingebung vs. die Gnade der Erlösung in einem Menschen fließend sei, das nimmt die Vorstellung nicht auf. Die Rose setzt man zur Erinnerung an die Gnade des Angenommenseins, weil sie unter den Blumen des Erdkreises überaus wohlgefällig ist. Den Lavendel setzt man zur Erinnerung an die Gnade der Bewahrung vor dem Bösen, weil er gegen Lähmung wirkt und die Eigenschaft hat die Nerven zu beruhigen, so dass der  Mensch nicht durch die Versuchung vom Weg der Wahrheit und des Gedeihens abgebracht wird. Die Ringelblume26 folgt dem Weg der wandernden Sonne, sie neigt sich nämlich stets der Sonne zu, daher setzt man sie zur Erinnerung an die Gnade des Vollbringens guter Werke, durch die der Mensch Gott, der ja „die Sonne der Gerechtigkeit“ ist, Malachias 3, und den Prälaten und den vom Glanz Erleuchteten wahrhaftig gehorsam ist. Den Fenchel setzt man zur Erinnerung an die Gnade eines aufrechten Lebenswandels, bei dessen Anblick die Augen der Betrachter erfreut und vom guten Vorbild geschärft werden, weil der Fenchel die Augen mit dem Zustand der Kraft27 erfreut, und die Fähigkeit den Blick zu schärfen hat er auch, wenn er mit Essen und Trinken aufgenommen wird. Die Lilie nimmt unter allen weißen Blumen den ersten Platz ein, weshalb man die Lilienblüte auch Königin der Blumen nennen kann. Und daher setzt man sie für die Gnade der unberührten Jungfernschaft. Das Veilchen ist eine sehr kleine und überaus wohlriechende Blume mit besänftigendem Duft und deshalb setzt man es zur Erinnerung an die Gnade der inneren Einkehr. Es ist klein durch Demut, wenig und ganz einfach geschmückt, weil es grüne Früchte hat. Diese Gnade hat Deuteronomium 33: „Ruben lebe und sterbe nicht, und klein sei seine Schar.“28. So besitzt auch einer der im Rang gering ist, wegen der übergroßen

26 So bei Albertus Magnus: De vegetabilibus, VI, 451. 27 hier ratio = condicio. 28 Deut 33,6 vivat Ruben et non moriatur et sit parvus in numero.

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Eph 6,17

Prv 25,22

2 Cor 2,16

 Anon. De arte memorativa

Habet eciam contemplacio mulcebrem odorem et saporem ad modum viole per redundanciam diuine suauitatis. Flos glandioli ponitur in memoriam gratie predicationis, quia glandiolus factus est ad modum ensis et sicut gladium spiritus quod est verbum Dei, Ephe. 6, huius glandioli est verbi Dei flos, est predicacionis. Et nota quod glandiolus nascitur et nutritur [32r] in locis aquosis et humidis, similiter verbum Dei et predicacio locum habet in illis, qui sunt aquosi per deuocionem et compunctionem. Flamula nomen habet a flamma, et est vrentis nature et ideo ponitur in memoriam gratie communicationis seu beneficencie per quam maxime declaretur aliud amoris, per quam eciam accenditur ardor amoris ad proximum. Prouerbie 25: Prunas enim congregabis super caput eius. Flos vinee que fugat bufones odore suo ponitur in memoriam gratie bone fame siue laudis que delectat bonos et contristat malos et inuidos. 2 Corinthorum II: Aliis sumus odor mortis in morte, aliis uite in uita. Passa rosa dicitur quia transcendit rosam in venustate et ideo ponitur in memoriam eterne beatitudinis in qua est suma delectacio in conspectu sume venustatis, in qua eciam omnes sancti sumo decore venustantur. Habet nota, quod passa et rosa ita habet elegantem speciem, quod tum nullum habet odorem et hac bene conpetit eterne beatitudini, vbi nemo indiget odore fame seu alieni cuiuscumque mente et alterius oculus membrorum corpulentiam absconditur. Per hanc igitur ymaginem corone habes memoriam XII genera seu differentias gratiarum. Potes eciam habere per aliam parabolam predicabilem, ut dicas.

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Sequitur alia parabola predicabilis [32v] Quidam magnus Dominus volens tenere curiam suam in quadam precipua solempnitate et mandauit omnibus, qui erant in toto imperio suo, quod prepararent se adueniendum ad curiam suam, 30 ita quod nullus acciperetur cum honore, nisi haberet capellum de duodecim floribus. Et quicumque inveniretur habens pulcheriorem 1 contemplacio] contemplacionem  M1 12 enim] om.  M1 15 mortis] om. M1 18 in qua] in quo M2 20 Habet nota] Sed notandum M2 21 et hac bene] et hoc bene M1 27 Sequitur alia parabola predicabilis] om. M2 28 Quidam magnus Deus uolens] Quod quidam magnus Deus uoluit M2 30 prepararent] preparent M1 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Fülle göttlicher Süße nach Art des Veilchens den besänftigenden Duft und den feinen Geruch der inneren Einkehr. Die Blüte der Gladiole setzt man zur Erinnerung an die Gnade der Predigt, weil die Gladiole nach der Form des Schwertes geschaffen wurde und weil die Blüte der Gladiole die Blüte des Wortes Gottes ist, so wie „das Schwert des Geistes das Wort Gottes ist“, Epheser 6, ist sie die Blüte der Predigt. Und merke Dir, dass die Gladiole an wasserreichen und feuchten Orten wächst und gedeiht, so wie das Wort Gottes und die Predigt ihre Heimstatt bei denen haben, die durch Demut und Reue wasserreich sind.29 Der Brennende Hahnenfuß hat seinen Namen von der Flamme und ist von brennender Natur und daher setzt man ihn zur Erinnerung an die Gnade der Freigiebigkeit oder der Wohltätigkeit, durch die man die übrige Liebe am meisten offenbart und durch die man bereits das Feuer der Nächstenliebe entzünden kann. Sprüche 25: „Du wirst glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Die Weinblüte, die mit ihrem Duft die Kröten vertreibt, setzt man zur Erinnerung an die Gnade eines guten Rufes oder des Ruhmes, die die Guten erfreut und die Bösen und die Neider beschämt. 2. Korinther 2: „Den einen sind wir ein Geruch des Todes im Tode, den anderen ein Geruch des Lebens zum Leben.“ Die Pfingstrose heißt Pfingstrose, weil sie die Rose an Anmut übertrifft und daher setzt man sie zur Erinnerung an die ewige Seligkeit, in der man angesichts höchster Anmut höchsten Genuss hat und in der alle Heiligen vom größten Liebreiz geschmückt werden. Man muss wissen, dass ‚Pfingsten und Rose’ deswegen eine anmutige Erscheinung besitzt, weil sie ferner keinen Duft hat und so der ewigen Seligkeit gut ansteht, wo keiner Mangel am Duft des Ruhmes oder am Geist von irgendetwas anderem hat und das höhere Auge die Körperlichkeit der Glieder aus dem Blick verliert. Durch dieses Bild des Kranzes besitzt du also die Erinnerung an die zwölf Arten oder die unterschiedlichen Formen der Gnade. Du kannst sie auch durch ein anderes zur Predigt geeignetes Gleichnis erhalten, indem du das folgende erzählst. Es folgt ein anderes zur Predigt geeignetes Gleichnis Ein großer Herr wollte in außerordentlicher Festlichkeit Hof halten und befahl allen, die unter seiner Herrschaft standen, dass sie sich vorbereiten sollten, um zu seinem Hof zu kommen. Und zwar derart, dass er keinen in Ehren empfangen würde, wenn er nicht einen Mantel aus den zwölf Blumen tragen würde. Und bei wem auch immer man befinden würde, dass er einen überaus schönen Mantel

29 Im Hintergrund des Wassermotivs stehen Ioh 7,38 und Is 58,11.

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Mt 11,11 AH 19023

 Anon. De arte memorativa

capellum, haberet pretium et honorem tocius curie. Inter eos ergo, qui conuenerant, inventus est vnus habens sertum ex XII distinctionibus florum et adiudicatum est ei priuilegium honoris. Alii quidem habuerunt sertum ex vno genere florum, alii ex duobus uel pluribus, sed ille omni genere florum vernebat. Mattei  XI: Inter natos 5 mulierum non surrexit maior Iohanne Babtista. Vnde ympnus: Serta ter denis alios coronat. De octo beatitudinibus Item octo beatitudines potes memoriter tenere per parabolicam descripcionem ymaginum et locorum hoc modo. Quidam rex fecit sibi aulam pulcherimam, cuius parietes tali pictura decorauit. Superficies parietum distinguebatur octo intercolumpniis, quorum campi differebant in colore alter ab altero. In primo intercolumpnio, cuius campus erat blauus siue de lazurio, fecit depingi spiritus celestes scilicet sanctos angelos summo regi famulantes et sub ipso regnantes. In secundo intercolumpnio, cuius campus erat viridis, fecit depingi sanctos patriarchas, quorum in numero sunt XII et quibus facta est promissio terre optime. In tertio, cuius campus erat niger, fecit depingi Ysaiam, Ye[33r]remiam et alios prophetas cladem ciuitatis deplorantes. In quarto, cuius campus erat croceus proprie gelib, fecit depingi mensam apostolorum cum Christo discumbencium. In Quinto iterato, cuius campus erat roseus, fecit depingi sanctos martyres specialiter sanctum Laurencium cecos illuminantem et thesauros ecclesie pauperibus largientem et beatum stephanum cum ceteris martyribus. In sexto intercolumpnio, cuius campus erat aureus, fecit depingi sanctos doctores Gregorium et Augustinum et ceteros luce doctrine radiantes et Deum in scripturis contemplantes. In septimo intercolumnio, cuius campus erat candidus, fecit depingi chorum sanctarum virginum et innocencium ympnum Deo canentium ‚In iubilo’. In octavo intercolumpnio, cuius campus erat varii coloris, fecit depingi varios

6 Unde ympnus] Unde in hymno M1 8 De octo beatitudinibus] om. M2 15 scilicet] uidelicet M2 17 quorum in numero sunt XII et] om. M2 19 Ysaiam, Yeremiam et alios prophetas] Ysaiam et Ieremiam  M2 - 21 proprie gelib] om. M2 25 et beatum Stephanum cum ceteris martyribus] om. M2 27 Gregorium et] om. M2 28 intercolumnio] om. M1 29 chorum] horum M2 30 ympnum] hymnum M1 31 In iubilo] om. M2

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Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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habe, der sollte den Lohn und die Ehre des ganzen Hofes erhalten. Unter denen, die zusammen kamen, fand man einen, der ein Blütengebinde aus den zwölf unterschiedlichen Blumen trug und man erkannte ihm das Vorrecht der Ehre zu. Manche hatten freilich ein Gebinde von einer Blumenart, andere von zweien oder mehr, doch nur jener erblühte von allen Blumenarten. Matthäus 11: „Unter den von Weibern geborenen ist kein Größerer aufgestanden als Johannes der Täufer.“ Daher [lautet] der Hymnus: „Mit dreimal zehn Blütengebinden bekränzt er die Fremden.“

Über die acht Gnadengaben Ebenso kannst du auf folgende Weise auch die acht Gnadengaben durch eine gleichnishafte Beschreibung der Bilder und Örter in Erinnerung behalten: Ein König erbaute sich einen schönen Thronsaal, dessen Wände er mit Gemälden folgender Art verzierte: Die Oberfläche der Wände wurde in acht umrahmte Abschnitte30 unterteilt, deren Flächen sich in der Farbe eine von der anderen unterschieden. Im ersten Abschnitt, dessen Fläche blau oder von Lapislazuli war, ließ er die himmlischen Geister, das bedeutet natürlich die heiligen Engel abbilden, die dem höchsten König dienen und unter ihm herrschen. Im zweiten Abschnitt, dessen Fläche grün war, ließ er die heiligen Patriarchen abbilden, derer es zwölf an der Zahl gibt und denen das Versprechen auf das Gelobte Land gegeben wurde. Im dritten, dessen Fläche schwarz war, ließ er Jesaja ut Jeremias abbilden, die den Verlust der heiligen Stadt beweinten.31 Im vierten, dessen Fläche gelb wie die Eifersucht war, ließ er das Mahl der Jünger abbilden, die mit Christus zu Tisch saßen. Im fünften, dessen Fläche rot war, ließ er von neuem die heiligen Märtyrer abbilden, insbesondere den heiligen Laurentius, der die Blinden erleuchtet und den Schatz der Kirche an die Armen verteilt, und den seligen Stephan zusammen mit allen anderen Märtyrern. Im sechsten Abschnitt, dessen Fläche golden war, ließ er die heiligen Lehrer Gregor und Augustinus abbilden und andere, die vom Licht der Lehre strahlen und in ihren Schriften über Gott nachdachten. Im siebten Abschnitt, dessen Fläche weiß war, ließ er den Chor der heiligen Jungfrauen und der Unschuldigen abbilden, die Gott den Hymnus In iubilo sangen.32

30 intercolumnium: bezeichnet für gewöhnlich den Raum zwischen zwei Säulen. Hier sind umrahmte Wandflächen gemeint. 31 civitas: hier für Jerusalem. 32 Allein die Analecta Hymnica kennen 5 Hymnen die mit „In iubilo“ beginnen; vgl. Max Lütolf (Hg.): Analecta Hymnica  Medii Aevi. Register  I. Bern,  München 1978, Nr.  13320, 13324, 13325,

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 Anon. De arte memorativa

homines hostes suos fugientes et hostes a tergo eos insequentes. Et in conspectu fugitiuorum erat depicta regalis ciuitas firma et secura ad quam properabant certi quod regnum esset preparatum.

Apc 19,16 nicht ermittelt

Num 12,3 Mt 5,4 Prv 15,32

2 Cor 12,15

Rex iste est Christus Dominus rex regum et dominus dominancium; Apokalypsis XIX. Aula enim regis est sancta mater ecclesia. Primum intercolumpnium continet spiritus celestes in memoriam paupertatis spiritus, qui eis attribuitur. De hac require in ‚Summa de contemplacione‘ et in explanacione tercie diffinicionis, vbi notatur quadruplex humilitas in angelis. Istud intercolumpnium habet speciem lazurii in representacionem celi. Secundum intercolumpnium [33v] continens patriarchas et significat statum secunde beatitudinis, que est mansuetudo siue mititas, que appropriantur patriarchis, qui erant mitissimi in medio praue et peruerse generaconis. Numeri 12: Erat Moyses mitissimus super omnes homines ualet. Istis facta est promissio terre sancte quod proprie conpetit isti beatitudini. Dicitur enim beati mites quoniam ipsi possidenbunt terram. Expositione moraliter de possessione terre cordis Prouerbie 15: Qui animi acquiescit increpacionibus possessor est cordis. Istud intercolumpnium est coloris viridis in memoriam et figuram mititatis, que gratissima est sicut color viridis delectat oculos. Tertium intercolumpnium continet prophetas in memoriam beatitudinis luctus, quia isti ad litteram lugebant miserias populi sibi reuelatas, ut Yeremias in Trenis. Color huius intercolumpnii est niger in representacionem tristicie. Quartum intercolumpnium continet sanctos apostolos cum Christo discumbentes in memoriam beatitudinis, que hiis appropriatur scilicet esuries iusticie. His enim promittitur saturis et ipsi saturati sunt diuina presencia et ad litteram cum Domino et ipsum Dominum epulati sunt. Color huius intercolumpnii est crocus in significacionem gaudii, quia crocus habet letificari. Quintum intercolumpnium continet sanctos martyres, quibus appropriatur beatitudo misericordie, quia misericordissimi ipsi fuerunt dantes se ipsos pro salute animarum. 2 Corin-

1 et hostes] om.  M1 5 regis est sancta mater] om.  M2 11 Secundum intercolumpnium] dupl.  M1 12 mansuetudo siue mititas] mansuetudo uel mititas  M1 13 patriarchis] patriarchas  M2 14 Erat] om.  M1 15 ualet] et cetera M2 18 animi] anime M1 26 His] huic M1, M2 

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Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Im achten Abschnitt, dessen Fläche verschieden Farben hat, ließ er verschiedene Menschen abbilden, die vor den Feinden flohen und die Feinde, die sie von hinten verfolgten. Und in Sichtweite der Flüchtlinge war eine königliche Stadt abgebildet, fest und sicher, zu der sie in der Gewissheit33 eilten, dass dieses Reich für sie bereitet war. Dieser König ist Christus der Herr, der „König der Könige und Herr aller Herren.“ Offenbarung 19. Der Thronsaal des Königs ist freilich die heilige Mutter Kirche. Der erste Abschnitt enthält die himmlischen Geister zur Erinnerung an die Armut an Geist, der ihnen zugeteilt wird. Über diese Armut forsche in der Summa de contemplatione, in der Erklärung der dritten Bestimmung nach, wo eine vierfache Demut bei den Engeln beschrieben wird. Dieser Abschnitt hat zur Darstellung des Himmels das Aussehen von Lapislazuli. Der zweite Abschnitt enthält die Patriarchen und zeigt die Beschaffenheit der zweiten Gnadengabe. Sie ist die Milde oder die Saftmut, die man den Patriarchen zuspricht, die inmitten einer schlimmen und verdorbenen Menschheit überaus sanftmütig waren. „Moses war sanftmütiger als alle Menschen.“ Numeri 12. Den Propheten wurde ein Versprechen auf das Heilige Land gegeben, das dieser Gnadengabe eigentümlich zukommt. Es heißt nämlich: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.“ In der moralischen Auslegung des Besitzes steht das Land für die Einsicht. Sprüche 15: „Wer den Mahnungen der Seele nachgibt, erwirbt Einsicht.“ Dieser Abschnitt ist in grüner Farbe, zur Erinnerung und Darstellung der Sanftmut, die wohltuend ist so wie die Farbe Grün die Augen erfreut. Der dritte Abschnitt enthält Propheten zur Erinnerung an die Gnadengabe der Trauer, weil sie das Elend des Volkes, das ihnen enthüllt wurde, so wie Jeremias in seinen Klageliedern Buchstabe für Buchstabe betrauerten.34 Die Farbe dieser Fläche ist schwarz zur Darstellung der Traurigkeit. Der vierte Abschnitt enthält die heiligen Apostel, die mit Christus zu Tisch saßen, zur Erinnerung an die Gnadengabe, die ihnen zukommt, nämlich der Hunger nach Gerechtigkeit. Ihnen wird nämlich die Sättigung versprochen und sie wurden selbst von der göttlichen Gegenwart gesättigt und speisten im wörtlichen Sinn mit dem Herrn und aßen den Herrn selbst. Die Farbe dieses Abschnitts ist gelb, um die Freude anzuzeigen, weil es Gelb zu eigen ist, fröhlich zu machen. Der fünfte Abschnitt enthält die heiligen  Märtyrer, denen die Gnadengabe der

13326, 13327. 33 wörtl. „zu der sie eilten, die gewiss waren, dass […]“. 34 Treni = Lamentationes. Der Begriff Treni oder Threni ist vom griechischen Θρηνοι abgeleitet, der Bezeichnung der Klagelieder in der Septuaginta. „Buchstabe für Buchstabe“ ist hier wortwörtlich zu verstehen, denn die ersten vier Klagelieder haben (im hebräischen Original) eine ʻabecedarischeʼ Form. Bei dieser Form der Dichtung folgen die Anfangsbuchstaben der Verse der Reihenfolge des Alphabets.

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Prv 22, 11

Ps 83,3

2. Thim 3,12

 Anon. De arte memorativa

thorum 12: Libentissime impendam. [34r] Sextum intercolumpnium continet sanctos doctores in memoriam beatitudinis, que est mundicia cordis, quia istis reuelauit Dominus misteriorum et meritorum mundicie sue, ut ipsa mundicia cordis suggerebat eis veritatem doctrine. Prouerbie 22: Qui diligit cordis mundiciam et cetera. Hoc intercolumpnium est coloris aurei propter splendorem sapientie. Septimum intercolumpnium continet status sanctarum virginum et innocencium, quibus appropriatur sapientia beatitudo scilicet pacis; ipsi enim erant profligantes in se ipsis rebellionem carnis, vt possent dicere illud: Cor meum et caro mea euulsit in Domino et cetera. Istud intercolumpnium est candidum siue argenteum quia color est impermixtus. Octauum intercolumpnium representat octauam beatitudinem que est sustinencia persecucionum et hoc est probacio et consumpcio omnium precedencium beatitudinum propter quod dicitur redire ad caput conpetit etiam omni statui. Iuxta id ad Thimotheum tercio: Omnes qui pie volunt viuere in Christo persecucionem pacientur. In huius rei tipum hoc iterato varii est coloris, quia ista beatitudo correspondet omnibus precendentibus; et varios homines diuersarum scilicet condicionum continet, quia ista beatitudo conpetit aliquo modo omni statui. Et hec sunt primi octo circuli generaliter. [34v] Item alio modo possumus formare parabolam.

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Alia parabola Quidam conuentus erat religiosorum, qui erant omnes etates pueri- 25 lis et erant tante perfeccionis, quod quicumque orabant Dominum aderant angeli et coronas aureas eis imponentes. Ecce figura pauperitatis spiritus et premii correspondentes. Item in capitulo ipsorum erat columpna ex lapide precioso, cuius virtute mansuetabantur corda omnium, ita ut nulla audiebatur inter eos contradiccio. Ecce 30 figura mititatis. Item in pratis ipsorum erat fons limpidissimus in quo lauantes facies suas semper erant leti et ridentes. Ecce figura beatitudinis luctus. Item in claustro siue in studiis ipsorum erat speculum, vbi radiante sole omnia cognoscebant. 3 veritatem] virtutem  M1,  M2 8 status] statum  M1 11 illud] om.  M2 -  13 representat] reputat M2 17 Iuxta id ad] Iuxta istud M2 21–22 Et hec… generaliter] om. M2 24 Alia parabola] om. M2 28 ipsorum] illorum M2 30 ut] quod M2 30 eos] eam M2 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Barmherzigkeit zukommt, weil eben sie so überaus barmherzig waren, dass sie sich selbst für das Seelenheil hingaben. 2. Korinther 12: „Überaus gern will ich alles aufopfern.“ Der sechste Abschnitt enthält die heiligen Lehrer zur Erinnerung an ihre Gnadengabe; sie ist die Herzensreinheit, weil Gott diesen die Wahrheit über die Geheimnisse und über die Reinheit offenbarte, wie die Herzensreinheit ihnen selbst die Wahrheit der  Lehre eingab. Sprüche 22: „Wer Herzensreinheit liebt“ und so weiter. Dieser Abschnitt hat wegen des Glanzes der Weisheit eine goldene Farbe. Der siebte Abschnitt enthält den Stand der heiligen Jungfrauen und der Unschuldigen, denen durch die Weisheit eine Gnadengabe zukommt, nämlich die Gnadengabe des Friedens. Es sind nämlich gerade sie, die bei sich selbst die Auflehnung des Fleisches unterdrücken, sodass sie folgendes sagen könnten: „Mein Herz und mein Leib jubeln dem Herrn zu“ und so weiter. Dieser Abschnitt ist weiß oder silbern, denn diese Farbe ist unvermischt. Der achte Abschnitt steht für die achte Gnadengabe; sie ist das Erdulden von Verfolgung und das heißt die Prüfung und das Anwenden aller vorangegangenen Gnadengaben, deshalb sagt man zum Ursprung zurückzukehren betrifft auch jeden Stand. Demgemäß Timotheus 3: „Alle, die fromm leben wollen in Christus, werden Verfolgung erleiden.“ Bei der Abbildung dieser Sache gibt es wiederholt verschiedene Farben, weil diese Gnadengabe allen vorausgegangenen entspricht. Und das Bild enthält verschiedene Menschen, die freilich von unterschiedlicher Stellung sind, weil diese Gnadengabe auf irgendeine Art jeden Stand betrifft. Und das sind nun ganz allgemein die ersten acht der Gruppe. Auf andere Art können wir ebenso ein Gleichnis formen. Ein anderes Gleichnis Es gab einmal eine Gemeinschaft von Mönchen, die alle im Knabenalter35 waren und die von solcher Vollkommenheit waren, dass Engel anwesend waren, wenn alle zu Gott beteten, und ihnen goldene Kronen aufsetzten. Seht, ein Sinnbild der Armut an Geist und entsprechender Lohn! Ebenso stand in ihrem Kapitelsaal eine Säule aus kostbarem Stein, durch dessen Standhaftigkeit die Herzen aller gezähmt wurden, so dass man unter ihnen keine Widerworte hörte. Seht, ein Sinnbild der Sanftmut! Ebenso gab es auf ihren Wiesen eine sehr klare Quelle. Jene die sich in ihr das Gesicht wuschen waren stets heiter und lächelten. Seht, ein Sinnbild der Gnadengabe der Trauer! Ebenso gab es in ihrer Klause und ihren Schulen einen Spiegel, wo sie bei Sonnenschein alles erkannten. Seht, ein Sinnbild der

35 Die pueritia oder aetas puerilis, ist das zweite der 6 Lebensalter des Menschen und erstreckt sich vom 7. Bis zum 14. Lebensjahr (Isidor: Etymologiae XI, II, 3).

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 Anon. De arte memorativa

Ecce figura beatitudinis mundicie cordis. Item apud ipsos erat archa elimosinaria, que semper omnibus indigentibus erat aperta et hospitibus et peregrinis et numquam euacuebatur, sed semper plena inueniebatur. Ecce figura beatitudinis misericordie. Item tanta gratia erat in eis, quod ipsi pacificabant omnes homines discordes, ita quod aliqua guerra non poterat esse in terra. Vnde rex terre diligebat eos tamquam filios suos. Ecce figura beatitudinis pacis. Et ergo contra eos indignati sunt et eos trucidauerunt et diuersimode afflixerunt. Quos beatitudinis benignus in ciuitate in qua erat sedes regni transtulit et in sua basilica eos honorifice sepeliens totum regnum suum eorum cultui dedicauit. Ecce figura sustinencie persecucionis, cui promittitur et exponitur regnum celorum. Et sic de arte memorie, que constat ex locis et ymaginibus, ut dicit Tulius. Tot exempla inducta sunt, ut uide meipsum exercitarem et formam ostenderem qualicumque modo meminendi similitudines seu memoriales ymagines [35r] verborum et rerum habere potest. Et nota quod in hac facultate artificiose memorie scilicet inuencione ymaginum et locorum expediciores sunt theologi; qui inuenerunt rerum significaciones secundum earum proprietates, quam illi, qui tantum nouerunt corporales representaciones. Et magis est subtilis artificiosa et accomoda predicacioni mistica formacio ymaginum locorumque, quam superficialis, quantum ad hoc, quod singulis ymaginacionibus misticis poteris formare conuenientem parabolam, prout docuimus ibi in descripcione exemplorum superius positorum. Verumtamen magis formata ymago secundum corporalem speciem representacionem magis habet determinatam pro eo, quod omnis res significatiua secundum omnes suas proprietates. Multa potest significare prout ostensum est in tractatu huius opusculi. Sed res spirituales non possunt habere corporales figuras ipsas exprimentes. Ergo tantum recurrendum est ad proprietates rerum corporalium secundum quas habent significare; nec est incon­ueniens formare ymagines mixtas ex representacione specierum in significatione proprietatum, ymo neccesarium est hoc facere, quoniam oratio memorie tenenda est.

2 elimosinaria] elemosinaria  M1 2 indigentibus] om.  M1 8–9 contra eos… beatitudinis benignus] eos trucidauerant et indignati sunt contra eos quos benignus M1 

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Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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Gnadengabe der Herzensreinheit! Ebenso gab es bei ihnen einen Almosenkasten, der jederzeit für alle Bedürftigen zugänglich war, sowohl für Gäste als auch für Pilger und der niemals leer wurde sondern den man stets gefüllt vorfand. Seht, ein Sinnbild für die Gnadengabe der Barmherzigkeit! Ebenso herrschte unter ihnen so große Gnade, dass sie selbst alle streitenden Menschen versöhnten, so dass im Land kein Krieg möglich war. Deshalb liebte der König des Landes sie wie seine eigenen Söhne. Seht, das Sinnbild der Gnadengabe des Friedens! Und so empörte man sich gegen sie und metzelte sie nieder und richtete sie zugrunde. Er, der dieser Gnadengabe gewogen war, überführte sie in die Stadt, in der der König seinen Sitz hatte, und setzte sie in der Kirche der Stadt mit Ehren bei und weihte sein ganzes Reich ihrer Verehrung. Seht, ein Sinnbild für das Erdulden von Verfolgung! Dir wird das Himmelreich zugesagt und dargeboten! Und soweit zur Gedächtniskunst, die – wie Tulius sagt – aus Örtern und Bildern besteht. Alle diese Beispiele wurden eingeführt, damit du mich beobachtest, wie ich sie ausführe und Formen sehen lasse, auf welche Art und Weise man Ähnlichkeiten, an die man sich erinnern will, oder leicht zu merkende Bilder von Worten und Dingen erhalten kann. Und merke dir, dass bei dieser Fähigkeit des künstlichen Gedächtnisses, nämlich beim Erfinden von Bildern und Örtern, die Theologen überaus sicher sind. Sie finden Merkzeichen für Dinge gemäß deren Eigenheiten leichter, als jene, die nur die körperliche Abbildung kennen. Und die künstliche und für die Predigt geeignete geheimnisvolle Gestaltung von Bildern und Örtern ist insoweit dafür genauer als eine oberflächliche, weil du es beherrschen sollst für die einzelnen geheimnisvollen Bilder passende Gleichnisse zu formen, so wie ich es bei der Beschreibung der oben aufgeführten Beispiele daselbst gelehrt habe. Gleichwohl hat ein mehr nach der körperlichen Erscheinung geformtes Bild eine klarer bestimmte Abbildung für etwas, weil alle Dinge nach ihren Eigenheiten bezeichnet sind. Wie bei der Erörterung in diesem Werk gezeigt wurde, kann man so viele Dinge kennzeichnen. Doch geistige Dinge können keine körperliche Gestalt haben, die sie abbildet. Daher muss man Zuflucht zu den Eigenheiten der körperlichen Dinge nehmen, anhand derer man sie kennzeichnen kann. Und es ist überaus passend für die Kennzeichnung der Eigenheiten aus der Abbildung der äußeren Erscheinungen gemischte Bilder zu formen, ja es ist vielmehr notwendig das zu tun, wenn man eine Rede in Erinnerung halten muss. Und gemischte Dinge

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Iac 1,27

Rhetorica ad Herennium III, XXIII, 39

Rhetorica ad Herennium III, XXI, 35 Rhetorica ad Herennium III, XXII, 36

 Anon. De arte memorativa

Et negocia mixta sunt siue conposita ex corporalibus rebus siue spiritualibus. Verbi gratia, si volumus memorari illam auctoritatem: religio munda et immaculata apud Deum et patrem hec est. Pro illo, quod dicitur ‚religio’, formabimus kathenam auream circa collum alicuius. Pro eo, quod additur ‚munda et immaculata’ fingemus quod sit media aurea et media argentea. Pro eo, quod sedet ‚apud dominum Deum et patrem’, ymaginabimur ipsam kathenam ad celum [35v] attingentem. Pro illo, quod subiungitur ‚visitare pupillum et viduam et cetera’, constituemus hanc primam miserabiles visitantem et lectis infirmorum assistentem et conpatientem et egenis manum misericordie porrigentem vel alio aliquo. Pro eo, quod infertur ‚immaculata se custodire ab hoc ‘ fingemus se ipsum a sterquilinio pedes custodientem et oculos auertentem. Et sic tota oratio est expressa. Et tunc inquit Tulius: ne forte memoriam artificialem aut nimis difficilem aut parum vtilem arbitraris et ipsarum rerum memoria contentus sis, quod et vtiliores sint et plus habeant facilitatis, admonendus, quare memoriam verborum non reprobamus. Nam putamus oportere eos difficilioribus esse exercitatos. Nec nos hanc verborum memoriam inducimus, ut verborum memoriam meminisse possumus, sed ut hac exercitacione illa rerum memoria que pertinet ad vtilitatem assumetur et ab hac difficili consuetudine ac exercitacione sine labore ad illam facilitatem transire possumus. Item nota quod sicut dicit Tulius: faciles et vsitate res facile a memoria elabuntur, insignes autem aut noue diucius in animo manent. Solis enim ortum cursum et occasum nemo admiratur propterea, quia cottidie sunt. Et eclipses admirantur, quia raro accidunt. Et solis eclipsum magis admirantur quam lune propter hoc, quia crebriores sunt. Docet ergo se natura vulgari et vsitata re se non exercitari vel exsuscitari, sed nouitate insigni quodam [36r] negocio se commoueri. Imitatur ergo ars naturam; et quod ea desiderat inveniat et que ostenderit

8 subiungitur] subiungit  M1 10 infirmorum] infirum  M2 23 nota] om. M1 25 insignes autem aut noue] insignes aut noui M2 29 natura] om. M1 

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sind z.  B. entweder aus körperlichen Dingen oder aus geistlichen zusammengesetzt. Wenn wir uns jenes Lehrwortes erinnern wollen: „Ein Gottesdienst rein und makellos vor Gott und dem Vater ist dies“ werden wir für das, was ‚Gottesdienst’ benennt, an irgendjemandes Hals eine goldene Kette formen. Für das, was mit ‚rein und makellos’ hinzugefügt wird, werden wir uns vorstellen, dass die Kette halb golden und halb silbern ist. Für das, was ‚vor Gott dem Herrn und dem Vater’ bedeutet, werden wir uns vorstellen, dass diese Kette am Himmel befestigt ist. Für das, was man hinzufügt36, nämlich ‚die Waisen und die Witwen besuchen und so weiter’, werden wir jene festlegen, die als erste die Elenden besucht und an den Lagern der Kranken steht und mit ihnen leidet und den Armen oder Anderen die Hand zur Barmherzigkeit reicht. Für das, was in ‚sich unbefleckt bewahren durch Abwendung von dieser [Welt]’ dargeboten wird, formen wir uns selbst, wie wir unsere Füße vor einem Misthaufen bewahren und unsere Augen abwenden. Und so ist eine ganze Predigt ausgedrückt. Und alsdann sagt Tulius: „Damit du nicht etwa glaubst, das künstliche Gedächtnis sei allzu schwierig oder wenig nützlich und du mit der Erinnerung an Dinge [Dinggedächtnis] zufrieden bist, weil sie sowohl nützlicher als auch leichter sind, sollst du aufgeklärt werden, weshalb wir die Erinnerung an Wörter [Wortgedächtnis] nicht zurückweisen. Denn wir glauben, dass jene in schwierigeren Dingen geübt sein müssen. Und wir leiten nicht deswegen zur Erinnerung an Wörter an, damit wir uns an Worte erinnern können, sondern damit durch diese Übung die Erinnerung an Dinge, die ja zum Gebrauch dient, gestärkt wird und wir von diesem schwierigen Gebrauch und dieser beschwerlichen Übung ohne  Mühe zu jener leichten übergehen.“ Merke Dir ebenso das was Tulius in gleicher Weise sagt: „einfache und geläufige Dinge können leicht der Erinnerung entschlüpfen, aber auffällige und neue bleiben länger in Erinnerung. Aufgang, Lauf und Untergang der Sonne bewundert nämlich niemand, weil sie täglich geschehen. Aber Finsternisse bewundert man, weil sie selten geschehen. Und man bewundert eine Sonnenfinsternis deshalb mehr als eine Mondfinsternis, weil letztere häufiger vorkommen. Die Natur lehrt uns also, dass sie durch eine gemeine und gewöhnliche Sache nicht beschäftigt oder erregt wird, sondern dass sie von auffälligen und neuen Umständen bewegt wird. Die Kunst ahmt also die Natur nach. Und sie soll herausfinden, was die Natur verlangt, und was diese zeigt, dem soll sie folgen. Es gibt nämlich

36 Der vollständige Bibelvers lautet: Religio munda et immaculata apud Deum et Patrem, haec est: visitare pupillos et viduas in tribulatione eorum, et immaculatum se custodire ab hoc saeculo (‚Ein Gottesdienst rein und makellos vor Gott und dem Vater ist dies: die Waisen und die Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich unbefleckt bewahren durch Abwendung von dieser Welt‘).

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Rhetorica ad Herennium III, XXIII, 37

Sap 11,21

Boethius, De arithmetica I, 2

 Anon. De arte memorativa

sequatur. Nichil enim est quod natura extremum invenerit aut doctrina primum, quia rerum principia ab ingenio perfecta. Item et exitus perfectionis disciplina conparantur. Ymagines ergo nos in eo genere constituere oportebit, quod genus in memoria diutissime haberi potest. Id accidit, si quam maxime notatas res sic similitudi- 5 nes constituemus et non nec vagas sed aliquid agentes ponamus. Si egregiam pulcheritudinem aut vnicam turpitudinem eis attribuemus, si aliquam rem exornabimus aut si coronis aut veste purpurea quo nocior nobis sit similitudo; aut si aliquam rem deformabimus turpem, ut si cruentam aut sceno oblitam aut rubrica deli- 10 butam indicamus, quo magis insignita sit forma; aut si ridiculas res aliquas ymaginibus attribuemus. Nam ea res queque faciet, ut facilius meminisse poterimus. Nam quas res veras facile meminimus, easdem fictas et diligenter notatas meminisse non difficile est. Sed illud facere oportebit ut idemptidem primos quosque locos ymaginum 15 renouandarum causa celeriter animo percuramus. De artificio memorie ex parte rei, que inprimitur scilicet de formacione ymaginum et locorum de quibus Tulius premissam tradidit doctrinam, sufficiant ea, que dicta sunt. Ex parte disposicionis rei que imprimenda est ipsi memorie [36v] 20 habemus tres condiciones vtiles ad confirmandam seu conseruandam memoriam que sunt ordo, numerus et breuitas siue enumeracio, ordinacio et breuiacio. Signaculum ergo memorie est tenuitas numeri, ponderis et mensure. Sapientie  XI: Omnia in numero et cetera. Obseruatio itaque numeri est vnum remedium memorie con- 25 firmande. Sine numero enim omnia sunt confusa et incerta. Numerorum autem discrecio signat et imprimit res in noticia et mensura. Boecius in arismetrica: Omnia que a primeua rerum natura creata, numerorum videntur ratione formata. Hoc enim est principale in anima conditoris exemplar. Secunda disposicio rei imprimenda, que 30 valet ad consolidandam memoriam, est ordo. Sicut volens enim ad memoriam reducere omnes ciuitates et castella, que sunt in recta via vsque ad sanctum Iacobum, conputat ea iterato, ordinem pre-

3 disciplina] discipline M1 4 in memoria diutissime haberi potest] in memoriam haberi diutissime potest M2 6 mutas] emend. multas M1, M2 7 Si] scilicet M2; corr. si M1 10 rubrica] lubrica M2 12 faciet] faciat M1 23 memorie est tenuitas] merie et tenuitas M1 

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nichts, was die Natur zuletzt oder die Lehre zuerst erfunden hätte, denn die Elemente sind von Beginn an vollendet. Und gleichermaßen wird der Fortgang der Vollendung durch die Unterweisung erreicht. Es ist also notwendig Bilder für uns in der Art zugestalten, in der man sie am längsten in Erinnerung behalten kann. Das geschieht, wenn wir besonders bemerkenswerte Dinge als ebensolche Ähnlichkeiten einrichten und wenn wir nicht viele und keine stummen und leeren, sondern bewegte Bilder festlegen. Wenn wir ihnen auserlesene Schönheit oder einzigartige Hässlichkeit zuteilen, wenn wir etwa irgendeine Sache mit Kränzen oder Purpurstoffen schmücken, wodurch die Ähnlichkeit für uns kenntlicher wird oder wenn wir irgendeine hässliche Sache entstellen, indem wir sie blutig oder mit Kot37 besudelt oder mit roter Farbe beschmiert zeigen, wodurch das Gebilde kenntlicher wird. Oder wenn wir den Bildern irgendwelche lächerlichen Dinge beigeben. Denn jedes dieser Dinge wird bewirken, dass wir sie uns leichter merken können. Denn so leicht wir uns an reale Dinge erinnern, so ist es [auch] nicht schwer, sich an fiktive zu erinnern, wenn sie sorgfältig aufgezeichnet wurden. Doch um das zu tun, ist es notwendig, dass wir alle ersten Örter immer wieder im Geiste schnell wiederholen um die Bilder zu erneuern.“ Für die Kunstfertigkeit der Erinnerung aus der Sache heraus, die eingeprägt wird, das heißt für das Herausbilden von Bildern und Örter, über die Tulius die hier vorausgeschickte Lehre überliefert hat, sollen die Beispiele, die genannt wurden, genügen. Für die Einteilung aus der Sache heraus, die man der Erinnerung selbst einprägen muss, haben wir drei Bedingungen, die für das Befestigen und Bewahren der Erinnerung dienlich sind. Das sind Ordnung, Reihenfolge und Kürze oder Aufzählung, Anordnung und Abkürzung. Das Zeichen des Gedächtnisses ist also die Einhaltung von Zahl, Gewicht und Maß. Weisheit 11: „Alles nach Zahl“ und so weiter. Daher ist die Einhaltung der Zahl ein Hilfsmittel zur Befestigung der Erinnerung. Ohne Zahl sind nämlich alle Dinge verworren und ungewiss. Aber der Unterschied der Zahlen kennzeichnet Dinge und prägt sie in Begriff und Maß hinein. Boethius in De arithmetica: „Alle Dinge, die von den jugendlichen Elementen [der ersten Natur der Dinge] geschaffen wurden, scheinen durch das Verhältnis von Zahlen geformt zu sein. Das ist nämlich das ursprüngliche Abbild in der Seele des Schöpfers.“ Die zweite Einteilungsmöglichkeit für eine Sache, die man sich einprägen muss und die beim Sichern des Gedächtnisses hilft, ist die Reihenfolge. Zum Beispiel will sich nämlich jemand alle Städte und Burgen in Erinnerung rufen, die auf dem direkten Weg zum heiligen Jakob38 liegen, über-

37 sceno = caeno. 38 Gemeint ist der Jakobsweg nach Santiago de Compostela.

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Ambrosius: Enarratio in Psalmum CXVIII. Octon. IIII. (Viam iustitiarum insinua …)

 Anon. De arte memorativa

termitteret, ne memoriam suam et intellectum confunderet. Ita se eciam habeat in omnibus aliis, ordinis namque ignorancia conturbat negociorum naturam. Sicut dicit beatus Ambrosius. Si enim multa tibi proposita fuerint, ordine congruo attende et ordinem memorie tue imprime et ita nichil eorum que proposita sunt possunt memo- 5 riam tuam subterfugere. Ita si aliquis presbyter psalterium perlegeret et vnus psalmus uel plures desunt in psalterio. Ille, qui scit ordinem psalmorum, cicius et facilis cognoscit desertum, quam iste, qui ordinem ignorat. Natura ergo ordinis te facit memorari et intelligere gratis que pretermissa sunt. Et ignorato ordine memoria 10 et intellectus facile labentur. Quod, si sine ordine vel ordine minus congruo aliqua [37r] memoranda tibi proposita fuerint, tu ea in ordinem congruum, si potes, redige. Vel naturaliter inchoans a primo secundum ordinem nature vel existentiam vel inchoans a primo artem vel intencionem, que precon- 15 cipit rerum finem operandorum. Vnde que prima sunt in cogitacione alicuius artificis operis vltimo modo sunt in operacione.

De duplici ordine Quia est duplex ordo scilicet naturalis et artificialis et alio modo ordo conpositiuus et ordo resolutarius, vnde que prima sunt in com- 20 posicione, vltima sunt in resolucione. Ordo ergo naturalis siue ordo nature et ordo compositiuus seu composicionis idem sunt. Et ordo artificialis siue artis intencionis et ordo dignitatis et ordo resolutarius siue resolutiuus idem sunt. Tertia disposicio rei est mensura breuitatis. Si ergo mensura multitudo memorandorum tibi occurre- 25 ret uel tibi proposita fuerint, cautela est precipua. Ad radicalia principia seu ad radicalem seu ad orientalem diuisionem a qua tamquam riuuli a fonte cuncta particularia descendunt memoriter

14 artificialiter] emend. naturales  M1,  M2 15 a primo artem] emend. a primo artem M1, M2 18 De duplici ordine] om. M2 20 conpositiuus] conpotiuus M2 22 nature] naturale M1 22 compositiuus seu composicionis] conpotiuus siue conpositione M2 24 resolutiuus] resoluti M2 26 fuerint] fuerit M1 27 seu ad orientalem] seu orientalem M2 28 riuuli] riuoli M2 

Anon. Von der Kunst des Gedächtnisses (1. V. 15. Jh.) 

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schlägt er diese wiederholt und übermittelt dabei die Reihenfolge, damit er sein Gedächtnis und sein Denken nicht durcheinander bringt. Ebenso verhält es sich auch bei allen anderen Erinnerungen, denn „die Nichtbeachtung der Reihenfolge stört die natürliche Ordnung der Dinge“.39 So sagt es der selige Ambrosius. Wenn dir viel vorgelegt wurde, achte auf eine geeignete Reihenfolge und präge die Reihenfolge deinem Gedächtnis ein und so kann nichts von den Dingen, die vorgelegt sind, deinem Gedächtnis entfliehen. So ist es auch wenn ein Priester den Psalter läse und ein Psalm oder mehrere im Psalterium fehlen.40 Jener, der die Reihenfolge der Psalmen weiß, erkennt viel schneller und leichter das Fehlen als derjenige, der die Reihenfolge nicht kennt. Die Beschaffenheit der Reihenfolge bringt dich also dazu, dich zu erinnern und die Gnadengaben zu bedenken, die ausgelassen wurden. Und wenn man die Reihenfolge nicht beachtet hat, werden das Gedächtnis und die Kenntnis leicht verfallen. Darum bringe irgendetwas, an das du dich erinnern musst – wenn du kannst – in eine passende Reihenfolge, falls man es dir ohne Reihenfolge oder mit einer wenig geeigneten Reihenfolge vorgelegt hat. Man beginnt entweder gemäß der Natur beim ersten Ding – in der Reihenfolge der Beschaffenheit oder gemäß der Existenz – oder man beginnt gemäß der Kunst beim ersten gemäß der Wissenschaft oder der Absicht, die die Reihenfolge der Dinge vorgibt, mit denen man sich beschäftigen muss. Demnach sind die Dinge, die beim Nachdenken über das Werk irgendeines Künstlers als erste kommen, nach der zweiten Methode zu behandeln. Von der zweifachen Reihenfolge Weil es eine doppelte Reihenfolge gibt, nämlich eine natürliche und eine künstliche, oder auch eine kompositorische (verbindende) und eine dekompositorische (auflösende) Reihenfolge gibt, deshalb kommen die Dinge, die bei der Verbindung zuerst kommen, beim Auflösen zuletzt. Die natürliche (oder naturgemäße) Reihenfolge und die kompositorische Reihenfolge (oder Reihenfolge der Verbindung) sind dieselbe. Und die künstliche (bzw. der Absicht der Kunst folgende) und die dekompositorische (auflösende) Reihenfolge sind dieselbe. Die dritte Einteilungsmöglichkeit für eine Sache ist das Maß der Kürze. Falls dir eine vom Maß her große Menge an Merkgegenständen begegnete oder dir vorgelegt wird, gibt es ein besondere Hilfsmittel. [Richte deine Aufmerksamkeit] auf die ursprünglichen Quellen bzw. auf die grundlegende (oder ursprüngliche) Einteilung, von der alles Partikulare ausgeht wie Flüsse aus einer Quelle, und halte sie mit Sorgfalt fest.

39 Ambrosius: Ennaratio in Psalmum CXVIII. Octon IIII. In: Opera. Paris 1586, Sp. 1141. 40 psalterium bezeichnet sowohl die Gesamtheit der Psalmen (Psalter) als auch den Codex, der die Psalmen enthält (Psalterium).

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Hugo v. St. Viktor, Didascalicon de studio legendi III, 11 Hugo v. St. Viktor, Didascalicon de studio legendi III, 11

Augustinus, Enarrationes in Psalmos CXL, 3

 Anon. De arte memorativa

et cum diligencia retine. Nam fonte retento facile erit inde riuulos producere. Vnde qui sermonem auditum vvlt memoriter comprehendere principaliter imprimere cordi suo radicalem diuisionem thematis et principalem processum. Vnde Hugo de sancto Victore: Ingenium diuidendo inuestiganda inuenit et memoria colligendo custodit. Qui enim et considerat principium tractatus, cui tota veritas et significatiue inheret et innititur. Vnus fons et multi riuuli, tene fontem et totum habebis. Memoria enim hominis est et breuitate gaudet, et si in multa [37v] diuiditur sic minor in singulis. Sic ergo habemus tres condiciones ex parte rei imprimende ipsi memorie quorum exercitacio vtilis est ad memoriam confirmandam. Item vnum concurrit memorie aliquid imprimendum, qui est ipse modus imprimendi, qui consistit in repeticione. Ex parte enim modi imprimendi et vna clauis et vnum remedium memorie quidem est frequens repeticio. Per frequentes enim repeticiones, iteraciones seu recordaciones sunt in anima durabiles impressiones. Et disposicio sciencie fertur in habitum. Vnde Augustinus: Oportet sepius reminisci quod mundus cogit obliuisci. Sic ergo colliguntur ex premissis octo remedia seu claues memorie custodes, scilicet tres ex parte ipsius memorie, cui impressio facienda est, que sunt vacacio, mansuetudo et sobrietas, et vna ex parte rei imprimende, que est ymaginacio. Tres vero ex parte disposicionum ipsius rei imprimende, que sunt obseruacio numeri ponderis et mensure. Vnum scilicet octauum ex parte modi imprimende et hoc est frequens iteracio et repeticio siue recordacio. Et in istis octo consistit artificiosa memoria.

Si cupis esse memor, bis quatuor accipe claues. Esto vacans, mitis sis, sobrius atque benignus. Ordo sit et numero tibi constituatur ymago. Et quod concipit tua mens, meditare frequenter.

5 colligenda] colligendo  M1,  M2 8 hebes] om.  M1,  M2 9 minor] maior M1, M2 22 imprimende] emend. imprimenda M1, M2 

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Denn es wird leicht die Flüsse zu erzeugen, wenn man die Quelle festhält von der sie ausgehen. Wer demnach eine Predigt, die er gehört hat, im Gedächtnis behalten will, der muss seinem Herzen in erster Linie die grundlegende Einteilung des Themas und den prinzipiellen Fortgang einprägen. Daher sagt Hugo von St. Viktor: „Der Scharfsinn entdeckt und findet auf durch Unterteilung [Auseinanderlegung] das Gedächtnis bewahrt durch Zusammenführung.“41 Er beachtet nämlich auch den Ursprung der Erörterung, in dem bezeichnenderweise auch alle Wahrheit steckt bzw. von dem diese ausgeht. „Eine Quelle ist zugleich auch viele Flüsse, halte die Quelle fest und du wirst das ganze besitzen. Das Gedächtnis des Menschen ist nämlich und erfreut sich an der Kürze, und wenn man es in viele Dinge unterteilt, so wird es 42 in einzelnen Teilen.“ Auf diese Art besitzen wir drei Bedingungen aus der Sache selbst heraus, die man eben dem Gedächtnis einprägen muss. Deren Ausübung ist nützlich zur Festigung des Gedächtnisses. Ein weiteres, das einzuprägen ist, fällt mit dem Gedächtnis zusammen, es ist die Art des Einprägens selbst, die aus Wiederholen besteht. Bei dieser Art des Einprägens gibt es nämlich sowohl einen Schlüssel als auch ein Hilfsmittel zur Erinnerung, das ist freilich häufiges Wiederholen. Denn durch häufiges Wiederholen, Durchgehen oder Vergegenwärtigen entstehen im Geist dauerhafte Eindrücke. Und die Einteilung des Wissens soll gemäß der Beschaffenheit erfolgen. Daher sagt Augustinus: „Man muss sich sehr häufig auf das besinnen, was die Welt zu vergessen erzwingt.“ Auf diese Art gewinnt man also aus den oben genannten Dingen acht Hilfsmittel oder Schlüssel als Hüter der Erinnerung. Man gewinnt nämlich drei aus dem Gedächtnis selbst, bei dem die Einprägung geschehen soll. Das sind Freisein, Sanftmut und Nüchternheit. Und man gewinnt eines aus der Sache, die eingeprägt werden soll. Das ist die Vorstellung. Drei aber gewinnt man aus der Einteilung, der Sache selbst, die eingeprägt werden soll. Das sind die Beachtung von Zahl, Gewicht und Maß. Ein achtes gewinnt man freilich aus der Art des Einprägens und das ist häufiges Durchgehen, Wiederholen und Vergegenwärtigen. Und aus diesen acht besteht nun die künstliche Erinnerung. Wenn Du etwas im Gedächtnis behalten willst, ergreife die zwei mal vier Schlüssel. Mache dich frei, sei friedsam, nüchtern und gnädig. Ordnung herrsche und durch die Anordnung wird dir ein Bild geschaffen. Und was dein Verstand aufnimmt, durchdenke immer wieder!

41 Die Originalstelle lautet quod sicut ingenium dividendo investigat et invenit, ita memoria colligendo custodit. 42 Das Originalzitat lautet si in multa dividitur, fit minor in singulis.

Anon. De memoria artificiali secundum Parisienses (um 1445–1450) (Incipit: Attendentes nonnulli philosophie professores) Editorische Hinweise Druck: Rom: Stephanus Plannck, ca. 1480 (Rom, Bibl. ap. Vat., Inc. 307.12). Hss.: Berlin, SB,  Ms. theol. lat. qu. 223, 99r–105v; Berlin, SB,  Ms. lat. oct. 386, 5v–10r; Bethesda, National Library of Medicine, Ms. 31; Colmar, Bibl. consist., Ms. 277; Donaueschingen, Cod. 225, s. Stuttgart, LB; Erlangen, UB, Ms. 554, 105r–110v; Kassel, UB, 8o  Ms. med. 6, 124r (Fragment);  Lambach, Stiftsbibliothek 426a, 1r–8v;  Linz, Studienbibliothek, Adligat zu Ink. 160, 22r–27r1;   London, National  Library of  Medicine, cod. 516, 1r–5v;  Melk, Stiftsbibliothek 177 (olim 1819, olim 1681, olim L 34), 2r–7r (Exzerpt); München, BSB, Clm 4393, 7r–11r; München, BSB, Clm 5964, 86r–95r; München, BSB, Clm 6017, 34r–44v; München, BSB, Clm 16226, 234r–242r; München, BSB, Clm 18413, 68v–75r; München, BSB, Clm 18941, 43r–48r; München, BSB, Clm 24516, 37r–47v; München, BSB, Clm 24539, 83r–92r; Olomouc, SB, Cod.  M I 156, 259r–267v; Olomouc, SB, Cod.  M I 301, 121r–126r; Olomouc, SB, Cod. M I 309, 141a–142b (Fragment); Ottobeuren, Stiftsb., Ms.  o. 45, 166r–173v; Rom, Bibl. ap. Vat., Pal. lat. 884, 8r (Fragment; 8v–11v vacat)2; Salzburg, St. Peter, Cod. b. II. 42, 242r–245r; Salzburg, St. Peter, Cod. b. VI. 16, 347r–350v; Stuttgart, LB, Cod. HB XII 2, 1r–2r (Fragment); Stuttgart, LB, Cod. Donaueschingen 225, 107r–110r; Tübingen, UB, Mc 226, 75r–80r (Exzerpt; zu Melk, Stiftbibl. 177); Wien, ÖNB, Cod. 5254, 285r–288v; Wrocław, UB, Cod. IV O 9, 1r–10r (bricht ebenfalls wie I O 69 ab mit „herbam uel rosam“)3; Wrocław, UB, Cod. I O 19, 157r–166r; Wrocław, UB, Cod. I O 69, 102r–111v; Wrocław, UB, Cod. I Q 27, 252r–257r (mit deutschspr. Anhang); Würzburg, UB, Cod. M. ch. q. 2, 367v–371r; Zürich, ZB, Z V 703, 42v–49r. Der Traktat ist mit bisher 36 bekannten Handschriften der am breitesten überlieferte Traktat zur Ars memorativa. Gleichwohl blieb er bislang unediert. Die Textzeugen konzentrieren sich in signifikanter Weise im Süden des deutschsprachigen Raumes. Die Abschriften beruhen auf kompilatorischer Arbeit, die Schreiber

1 http://digi.landesbibliothek.at/viewer/image/Ink160/45/ 2 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_884/0019 3 http://www.bibliotekacyfrowa.pl/dlibra/docmetadata?id=54416 https://doi.org/10.1515/9783110575231-005

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 Anon. De memoria artificiali secundum Parisienses (um 1445–1450)

nahmen sich im Arrangement des Stoffs etliche Freiheiten. Eine solchermaßen gebrauchsfunktionale Überlieferungssituation ließ es nicht zu, sogenannte ‚Leit­ fehler‘ nach der klassischen Textkritik zu extrahieren. Um angesichts dieser Sachlage im Rahmen eines gerechtfertigten Arbeits­ aufwandes zu bleiben, wurden für die Edition nach Alter und Vollständigkeit fünf Handschriften ausgewählt, wobei zur Präsentation der wichtigsten Redak­ tion dieses Traktats die Handschrift Clm 6017 (Sigle M) – ungeachtet ihrer nicht immer guten Lesbarkeit ‒ als Leithandschrift fungiert. Sie enthält die elaborierteste Version des Textes und ist unter den datierbaren Handschriften die früheste (1445–1450). Der Text der zweiten Redaktion des Traktats, vertreten durch die Handschrift Clm 5964 (Sigle  M1; 1469–72), wird im Apparat dokumentiert. Die anderen datierbaren Handschriften sind in die Jahre 1463 (Clm 16226; Sigle M3), 1471 (Clm 24539; Sigle M4) und 1479 (Clm 4393; Sigle M2) einzuordnen. Die für die Edition herangezogenen Handschriften stammen aus Klöstern und Stiften in Ebersberg (München, Clm 5964, Clm 6017; Benediktinerkloster Ebersberg), Augs­ burg (Clm 4393, Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra Augsburg) und Passau (Clm 16226, Augustiner-Chorherrenstift St. Nikolaus Passau). Der Memoria-Faszikel der Handschrift Clm 24539 wurde 1471 in Straßburg von Petrus Fischer, einem Frankfurter Franziskaner, geschrieben. Die Kollationierung der Handschriften ergab, dass gemeinsame Lesarten vor allem zwischen Clm 5964 (M1) und Clm 16226 (M3) größte Übereinstimmungen ergeben, wobei die zweite Handschrift von der ersten abhängt. Die zweite Redaktion folgt ebenso wie die anderen Traktate der Leithandschrift zeitlich nach. Eine separate Position weist der Clm 4393 (M2) auf, die jüngste der datierbaren Handschriften, mit ihrem über weite Strecken ausgeprägten Exzerptcharak­ ter. Auch die Vorrede, die in allen anderen Handschriften zu finden ist, entfiel in Clm 4393 (Attendentes nonnulli philosophie professores…). Die Handschrift Clm 24539 (M4) geht stark kompilatorisch vor und weist volkssprachliche Einschübe sowie eine Vielzahl eigener Varianten auf. Möglicherweise ist hierfür eine weitere, unbekannte Vorlage anzusetzen. Clm 5964 (M1) und Clm 16226 (M3) bilden einen Überlieferungsstrang, der gegen Ende starke Übereinstimmungen mit Clm 24539 aufweist. Der jüngste Traktat Clm 4393 hat Sonderlesungen mit Clm 24539 gemeinsam. So scheinen die letztgenannten beide Redaktionen verwertet zu haben.

Anon. De memoria artificiali secundum Parisienses (um 1445–1450) 

Siglen München, BSB, Clm 6017 München, BSB, Clm 5964 München, BSB, Clm 4393 München, BSB, Clm 16226 München, BSB, Clm 24539

M M1 M2 M3 M4

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De memoria artificiali secundum Parisienses Attendentes nonnulli philosophie professores veritatis studio suspensi memorie prelibate humane, igitur satagentes impericie ac eruditati, quibus presidium conferre quoddam breve opus in hac arte multum potenter prelaboratum de arte memorativa intitulatum, prout nostri ingenii inbecillis tenuitas expostulat, dilucidanda 5 quadam brevitate decrevimus propalare. Si quid autem minus dictum extiterit, nostre insufficiencie imponatur petens ut pie indulgeatur. Cum autem memorie dignum quid iuvamentum fuerit, nobis non ascribatur, sed illi, in quo est omnis bonitas, qui assit in principio, continuat in medio, dirigat in termino, qui in 10 secula seculorum est benedictus.

L. Annaeus Seneca Rhetor, Controversiae I, 2

Hic dicturi sumus de arte mirifica, que a principio aggredienti quasi nauseam generare videtur; post modicam vero illius assueactionem mirabilia et quasi coram aliis impossibilia operari valet. Et hoc ipse Seneca attestatur dixisse in miraculum duo milia nominum et 15 ducentos versus eo ordine, quo dicta erant recto ordine et retrograde. Et cum sic est, quod per talem artem assuetam mirabilia et impossibilia operari possumus, merito igitur pro aggressu postu-

1–11 Attendentes… benedictus] om.  M2 2 satagentes] sat[h]agantes M, M3 3 eruditati] ruditati M1, M3 3 opus] opus prius M 4 potenter] competenter M1, M3 6–8 Si quid… indulgeatur] om. M4 6 minus] om. M 8 memorie… iuvamentum] humane nature istud ignotum M4 9 illi] illo M4 10 dirigat] dirigit M4 10 termino] terminacionem M1; terminum M3 11 seculorum] om. M4 11 benedictus] Amen add. M3, M4 12 dicturi] daturi M 12 mirifica] a philosophis inventa add. M3 12 a] in M2, M4 12 aggredienti] aggrediente M1; aggrediendi M4 13 generare] ingenerare M4 13 assueactionem] asuescionem M1 14 valet] om. M4 14 hoc] hec M2 15 dixisse in miraculum] quoniam in miraculum dixit M1, M3; qui in miraculum M2; mirabilia dixisse M4 16 quo dicta erant] qua dictam erant M; quo dicto erat M1; quo dicta erat M4 16 recto] verto M1 16 ordine] om. M4 17 sic est, quod] om. M2 17 assuetam] om. M2; consuetam M4 18 operari] coram aliis exercere M4 18 igitur pro aggressu] progressu M2 18 postulemus] illius postulemus M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern [Wir], einige Lehrende der Philosophie im Bemühen um die Wahrheit und Erforscher des bereits erwähnten menschlichen Gedächtnisses haben nunmehr, der Unerfahrenheit wie der Gelehrsamkeit Genüge leistend, zu deren Unterstützung ein recht kurzes Werk zusammengestellt, das eine sehr treffende Ausarbeitung dieser Kunst enthält und den Titel De arte memorativa trägt, um es – der schwachen Zartheit unseres Talents entsprechend  – gewissermaßen in erhellender Kürze zu verbreiten. Wenn aber irgendetwas ungenau ausgedrückt ist, möge es unserer Unzulänglichkeit angerechnet werden mit der Bitte um gütige Nachsicht. Es soll hingegen nicht uns zugeschrieben werden, wenn sich irgendetwas als angemessene Hilfe für das Gedächtnis erweist, sondern jenem, in dem alle Güte ist, der unser Beistand sei zu Beginn, Förderer in der Mitte und Lenker am Ende, der gepriesen ist in alle Ewigkeit. Wir werden hier über eine erstaunliche Kunst sprechen, die bei der ersten Annäherung gleichsam Übelkeit zu verursachen scheint; nach einer kleinen Eingewöhnung aber vermag der Anfänger Erstaunliches und vor Publikum beinahe Unmögliches zu vollbringen. Seneca bezeugt selbst, dass er auf wunderbare Weise zweitausend Namen und zweihundert Verse in der Reihenfolge wiedergeben konnte, in der sie [ihm] gesagt worden waren, in vorwärts- wie rückwärtslaufender Reihenfolge. Weil es sich so verhält, dass wir durch die Aneignung einer solchen Kunst Wunderbares und Unmögliches vollbringen können, lasst uns

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Thomas von Aquin, Summa Theologiae, IIa, IIae, q. 49, a. 1 ad 2

L. Annaeus Seneca Rhetor, Controversiae I, 2

 De memoria artificiali secundum Parisienses

lemus auxilium a summo opifici omnium scienciarum traditore, a quo tunc venit nobis bonum inicium, melius medium et optimus finis. Ipsa namque ars a patribus orthoducta preclari ingenii viris in omni sciencia et disciplina exercitati, insuper a pluribus in phisica 5 arte mediante, qua principia rerum et nature dinosci habent, ab expertis manifeste approbata. Unde dicit beatus Thomas secunda secunde q 49 articulo secundo in solucione secundi argumenti: [34v] Sicut prudencia aptitudinem quidem habet ex natura, sed eius tamen complementum est exercicio vel 10 gracia; Ex gracia sicud sancti apostoli habuerunt et alii sancti, sed autem ex exercicio sicut nos habemus. Ita eciam Tulius dicit in sua rhetorica, quod memoria non solum a natura perficitur, sed eciam habet plurimum artis. Similiter Seneca dicit, quod memoria naturalis est res ex omnibus anime partibus maxime delicata et fra- 15 gilis et multis defectibus subicitur. Sic simili modo propter comoditatem vite corporalis tam varia artificia inventa sunt. Et ubi deficit natura supplet artificium. Et in humanis actibus natura arte regitur et gubernatur. Et ob id inter eaturas corporeas sola natura humana utitur arte. 20 Nam primo propter cibum contra famem agricola arte terram

1 auxilium] divinum auxilium M3 1 opifici] opifice  M2 1 traditore] traditori M4 2 bonum inicium] om. M3 4 patribus] om.  M2 4 orthoducta] orthoducti  M1; ortoduxa M4; om.  M2 4 preclari] preibetur  M1 4–5 in omni… exercitati] inventa est videlicet Aristotele, Seneca et Thulio Nec non sancto Thoma  M2 5 et disciplina] om. M4 5–7 insuper… dicit] om.  M2 5 in] est M4 6 mediante] memorativa M4 6 nature] natura M3 7 dicit] om. M4 7 beatus] Sanctus  M2, M4 8 49] 9  M1; a add. sup. lin.  M2 8 secundo] quinto M1; primo M2 9 argumenti] articuli M3 9–14 Sicut… plurimum artis] om.  M2 10 sed] secundum  M1 10 tamen] om. M3 10 complementum] explementum M3 10 exercicio] ex exercicio M3 11 gracia] ex gracia  M1, M3, M4 11 sicud] solum  M1, M3 11 et alii sancti] om.  M1, M3 12 exercicio sicut] gracia et exercicio simul M1, M3 12 habemus] scienciam habemus M1, M3 14 plurimum artis] plurium artes M1 14 Similiter Seneca] Seneca In approbacionem et recommendacionem artis M2 15 naturalis] om. M 16 Sic simili modo] om. M2 16 propter] videmus quod propter M1, M3; Viderunt enim quod propter M2 17 sunt] essent M2 17 deficit] deficeret M2 18 supplet] suppleret M2 19 Et in] Et ut in M2 19 regitur et gubernatur] regeretur et gubernaretur M2 19–20 Et ob… arte] om. M1, M2, M3 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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also für das Vorhaben gebührenden Beistand suchen bei dem höchsten Schöpfer, dem Lehrer aller Wissenschaften, von dem wir alsdann einen guten Beginn, eine bessere Mitte und das beste Ende erlangen. Denn diese Kunst wurde von den [Kirchen-]Vätern gutgeheißen und ausdrücklich gebilligt, Männern von herausragendem Talent und in allem Wissen und aller Gelehrsamkeit geübt, und obendrein von vielen, die in der helfenden Kunst der Physik [i.  e. Naturlehre] erfahren sind, durch welche sie die Grundlagen der Dinge und der Natur erkennen. Daher sagt der heilige Thomas in der Summa Theologiae  IIa– IIae, q. 49, im zweiten Artikel in der Erklärung des zweiten Arguments: Wie die Klugheit gewiss von Natur aus eine dienliche Fähigkeit darstellt, und doch ihre Vollendung durch Übung oder Gnade geschieht (durch Gnade, wie sie die heiligen Apostel und andere Heilige erhalten haben, durch Übung aber, wie wir sie haben), so sagt auch Tullius in seiner Rhetorik,4 dass das Gedächtnis nicht allein durch die Natur vervollkommnet werde, sondern auch sehr viel an Kunst beanspruche. Ähnlich sagt Seneca, dass das natürliche Gedächtnis die unter allen Teilen der Seele zarteste und zerbrechlichste Sache sei und an vielen  Mängeln litte. So wurden in ähnlicher Weise zur größeren Bequemlichkeit des irdischen Lebens verschiedenste handwerkliche Künste erfunden. Wo die Natur nicht ausreicht, ergänzt die Kunst. Bei den menschlichen Tätigkeiten wird die Natur durch die Kunst geleitet und gelenkt. Deswegen bedient sich unter den irdischen Geschöpfen allein das menschliche Wesen dieser Kunst. Denn erstens besät der Bauer mit Kunst die

4 Die anonyme Rhetorica ad Herennium.

194  I Cor 3,6–8 Guigo I. prior Carthusiae, Consuetudines, cap. XLVII (PL 153, 729)

 De memoria artificiali secundum Parisienses

seminat et plantat et rigat, ut terra fructum aufferat, incrementum tamen deo dante; ob id dicitur pistor panem conficit, qui antequam ad usum hominis redigatur per diversa artificia granum transmittitur. Ob id venator, auceps, piscator retia reficiunt et tendunt et sic de aliis. Secundo pro amictu contra nuditatem alia adiu- 5 vant artificia ut lanifices serici. Tercio pro tegumento nature recte a sole et a pluvia fiunt edificia et ad hominum usum varium varia instrumenta. Quarto per scriptores libri materiales scribuntur tamquam memorialia nostre memorie labili; que natura non valet arte coaptantur. 10 Sicut ergo videmus, quod mediantibus temporalibus artificiis adiuvatur vita temporalis; sic potest adiuvari vita intellectualis arte memorativa. Et hoc condendo sibi artificium, in quo legere valet tamquam in libro mentali ea, que supra scripserit et de quibus quis voluerit recordari et cetera. Hoc autem artificium memorie sub celo 15 non est subtilius inter ea, que tam brevi tempore adipisci valeant. Nam commune [35r] est omnibus, applicabile et cuilibet eius capaci

1 et rigat] om. M2 1 ut] et M3 1 terra] om. M4 1 fructum] inde add. M4 1 aufferat] afferat  M2, M3 1 incrementum] om. M4 2 tamen deo dante] om. M3, M4 2 dicitur] om. M1, M2, M4 3 redigatur] redigitur M4 3 diversa] duodecim M, M4 3–5 Ob id… aliis] om. M2, M4 5 Secundo] Similiter M1, M3 5 pro amictu… nuditatem] pro tegimento nature M1, M3, M4; om. M2 5–7 alia… recte] om. M4 5–6 alia… serici om. M2 6 Tercio] Similiter M1, M2, M3 6–7 nature recte] nature M1, M3, M4; om. M2 7–8 et ad… Quarto] Tercio M4 7 hominum] humanum M2 8 varium] om. M1, M2, M3 8 instrumenta] Cum hoc lanifices serici add. M2 8 Quarto] et cum hoc M1, M3; Similiter M2 8 scriptores] adinventi scilicet scriptores qui M4 8–9 libri… scribuntur] materias libris impingunt et scribunt M4 9 scribuntur] om. M 9–10 tamquam… coaptantur] ut ea que mens humana non valet teneri mente quia vox audita perit et cetera M4; teneat librorum in marg. add. man. al. M4 9 memorialia] memoralia  M1,  M2 9 labili] Et illa add.  M2 10 coaptantur] coaptatur M3 11 mediantibus] om. M4 11 temporalibus] corporalibus  M1,  M2, M3; temporalia M4 11 artificiis] artificis M1; per artificia M4 11 adiuvatur] amatur M 12 temporalis] corporalis M1, M2, M3 12 potest adiuvari] adiuvatur M4 13 condendo] formando M3; capiendo M4 13 valet] valeat M4 14 que supra scripserit et] om. M1, M2, M3, M4 14 quis] om. M4 15–/4 Hoc autem… istud] om. M2 15 artificium memorie] artificio M1, M3, M4 16 subtilius] utile M, M4; utilius M4 16 inter ea] in terra M3 16 que] quod M4 16 valeant] valeat M1, M3, M4 17–/1 Nam commune… conveniens] Cuilibet enim est conveniens M1, M3, M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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Erde, ‚pflanzt und bewässert‘, damit er aus der Erde Frucht gewinne und Nahrung gegen den Hunger, wobei das Wachstum jedoch Gottes Gabe bleibt. Deswegen heißt es, dass ‚der Bäcker Brot herstellt‘, das, bevor es zum Nutzen des Menschen zubereitet wird, [vom] Korn [an] durch verschiedene Künste bearbeitet wird. Deswegen stellen der Jäger, der Vogelfänger, der Fischer ihre Netze her und spannen sie und so weiter. Zweitens zur Verhüllung der Blöße helfen andere Gewerbe wie [die der] Wollarbeiter und Tuchhändler. Drittens werden Gebäude errichtet zum Schutz der einfachen menschlichen Physis vor Sonne und Regen, und es entstehen zum mannigfachen Nutzen der Menschen verschiedene Werkzeuge. Viertens werden durch Schreiber reale Bücher (libri materiales) niedergeschrieben, gleichsam als Erinnerungswerke für unser anfälliges Gedächtnis; was die Natur nicht vermag, wird durch die Kunst ergänzt. So wie wir also sehen, dass mit der Hilfe der weltlichen Kunstfertigkeiten das weltliche  Leben unterstützt wird, so kann das intellektive  Leben durch die Gedächtniskunst unterstützt werden. Und dies [geschieht] durch die Anlegung eines künstlichen Systems, in dem man wie in einem mentalen Buch das zu lesen imstande ist, was man zuvor geschrieben hat und vergegenwärtigen wollte etc. Unter den Künsten, die in kurzer Zeit erlernt werden können, ist keine subtilere

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

conveniens religioso et seculari et omnibus artificibus sicud philosophis theologis iuristis confessoribus et predicatoribus. Nam quilibet eorum, qui ad suum spectant propositum seu officium, necesse habet recordari istud. Eciam artificium in quantum in se indifferens est ad bonum et ad 5 malum. Sed applicabile ad malum per eos, qui habent voluntatem malam scilicet ad ostensionem sui coram aliis in recitacione multorum verborum vel scriptorum lectorum aut auditorum. Et ad lucra terrena, avariciam et litigia et cetera. Applicabile vero ad bonum per eos, qui habent bonam voluntatem, quia mediante tali 10 memoria melius habent modo se posse recolligere et in se subsistere et ea, quarum delectantur, recordari videlicet predicaciones, evangelia, epistulas psalmos, capitula, allegaciones et cetera, que tunc voluerint. Unde propter conscienciosas ac eciam religiosas cogitacio mala est principium omnis peccati. Quia post 15 malam cogitacionem, nisi fugetur subito, consurgitur mala delectacio, quam nisi vi excuciatur sequitur ascensus in peccatum, qua data anima moritur, quamquam opus non sequatur.

Ps 38, 4

Ita cogitacio bona est principium omnis boni. Quia post cogitacionem bonam sequitur delectacio in bono postquam amor virtu- 20 tum sequitur [sequitur] et odium viciorum. Psalmus enim dicit: In meditacione mea exardescit ignis. In meditacione bona ignis sapien-

1 et seculari] quod seculari M4 1 et omnibus… sicud] videlicet M1, M3 2 philosophis] philosophis add. in marg. M4 2 predicatoribus] aliisque studentibus add. M1, M3 3 qui] que M1, M3; ea que M4 4 necesse] vero M4 4–18 Eciam… sequatur] om.  M2 5 Eciam] Item istud eciam  M1, M3 5 quantum in se] om. M4 6 applicabile] om. M4 7 sui] seu M4 7–8 in recitacione… auditorum] eciam recitando multa nomina lecta aut audita M4 8 vel scriptorum] om. M1, M3 9 avariciam] ad avariciam M3 9 litigia] ad litigiam M1; ad litigia M3 10 per eos] hiis M3 10 quia] quia ut M1, M3 11 melius… recolligere] articuli habent modum se recoligere M1; artificiali melius habent modum de recollectis M3; artificiali quis valde faciliter potest recolligere M4 11–12 et in… et ea] ea stabilire M3; ea M4 12 quarum] quorum M1, M3; de quibus M4 12 delectantur] delectant M1; delectatur M4 13 epistulas psalmos] om. M1, M3, M4 13 allegaciones] causas iuridicas add. M1; autoritates causas iuridicas et sic de singulis add. M3 14 que tunc voluerint] memorari add. M3; om. M4 14–18 Unde propter… sequatur] om. M1, M3, M4 19–/9 Ita cogitacio… adipisci] om. M1, M2, M3, M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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auf Erden als jene Gedächtniskunst. Denn sie ist für alle gleichermaßen anwendbar und passend für jeden Beliebigen, der sie beherrscht: Geistlichen wie Laien und allen Kunstmeistern, wie [auch] Philosophen, Theologen, Juristen, Beichtvätern und Predigern. Denn jeder von ihnen muss, wenn er auf sein Vorhaben oder sein Dienstgeschäft achtet, sich notwendigerweise an diese erinnern. Auch [ist zu betrachten], inwieweit die Kunst an sich indifferent ist gegenüber dem Guten und dem Bösen. Zum Bösen kann sie angewendet werden durch diejenigen, die einen bösen Willen haben, nämlich zur öffentlichen Zurschaustellung ihrer selbst bei der Wiedergabe einer Vielzahl von Wörtern oder gelesener oder gehörter Schriften. Und [desgleichen kann sie angewendet werden] zu weltlichem Nutzen, Habgier und Gerichtsstreiten und so weiter. Anwendbar aber zum Guten [ist sie] durch diejenigen, die eine gute Absicht haben, weil diese mit gestärktem Gedächtnis besser in der Lage sind, sich augenblicklich zu erinnern, und das, an was sie sich erfreuen, zu vergegenwärtigen und in sich zu bewahren, nämlich Predigten, Evangelien, Briefe, Psalmen, Kapitel, Zitate und anderes, was sie möchten. Daher [ist] sie nahe bei den Rechtschaffenen und auch bei Ordensleuten. Der böse Gedanke ist der Beginn aller Sünde, weil sich nach einem bösen Gedanken, wenn er nicht sogleich vertrieben würde, eine böse Verlockung erhebt, welcher – wird sie nicht mit Gewalt abgeschüttelt – ein Aufsteigen zur Sünde folgt, wodurch die Seele stirbt, obgleich die sündige Tat nicht folgt. Genauso ist der gute Gedanke der Beginn alles Guten. Weil nach dem guten Gedanken die Freude am Guten folgt, danach die Liebe zu den Tugenden und der Abscheu vor den Lastern. Denn der Psalm sagt: ‚In meiner Betrachtung entbrennt ein Feuer‘. In der guten Betrachtung entflammt das Feuer der Weisheit den Geist

198  cf. Prv 9, 1; Ps.-Bernhard von Clairvaux, Tractatus de interiori domo seu de conscientia aedificanda (PL 184, 511) Bernhard von Clairvaux, De consideratione libri quinque, V, 14 (PL 182, 806)

 De memoria artificiali secundum Parisienses

cie virtutum animam inflammans et confortans. In mala ignis concupiscencie inficiens, cecans et infirmans. Ideoque beatus Bernhardus in edificacionem consciencie bone vitam unam inter columpnas septem memoriam scilicet beneficiorum dei esse demonstrat. Instabilita enim memoria beneficiorum dei meditacione consequenter illuminatur. Intellectus, cogitacio et voluntas inflammatur amore dei et virtutum. Si vero memoria [35v] non fervetur, consequenter et intellectus rerum nec voluntas finem sue perfeccionis posset adipisci. Magna eciam pars servorum dei de hac labilitate memorie naturalis lamentatur, et inter multos pauci meditari reperiuntur, quia non habent modum stabiliendi memoriam; mediante ergo gracia artificium memorie ad meditacionem devotam et bonam, multiplex est adiutorium. Sine ergo gracia dei et bona voluntate omne artificium est inane, ficticium et ipsum habenti et materiale utenti periculosum  – sic et qualibet alia sciencia. Item nec huiusmodi artificium ut quidam imperiti putant, quod reddit hominem fantasticum, si sciverit ut utendo eo. Sed falsum est quoniam potest cum eo practicare vel dimittere quando vult et uti prout alia memoria naturali. Quin imo teste Tulio labilem memoriam iuvat naturaliter, egregias memorias magis confirmat. Nec tali artificio debemus uti continue in cottidiano studio, sed quandoque uti quandoque non, et maxime in actibus necessariis et talibus, quoad eius partes prin10–/2 Magna eciam… recordari et cetera] om. M2 10 dei] om. M3 10 naturalis] om. M, M4; bis M3 11 lamentatur] lamentantur M1, M4; lamentat M3 11 et] quia M1, M3, M4 11 inter multos pauci meditari] inter multos pauci medita[n] ti M1; meditare multa pauci M3 12 stabiliendi] stabiliendo M4 12 memoriam] naturalem add. M3, M4 12–16 mediante… sciencia] sicut enim [tunc M3] habetur per memoriam artificialem a philosophis inventa [inventam M3] M1, M3; om. M4 16–17 Item nec… artificium] Nec ista ars seu memoria artificialis est M4 17 quidam] quidem M4 17 putant… reddit] putant et dicunt quod reddat M1, M3 18 ut… Sed] et usus ea fuerit quod M4 18 eo] ea M1; hanc nobilissimam artem et utendo ea add. M3 18 falsum est] per Aristotelem et Tulium ac Senecam add. M1; per Aristotelem Senecam et Tulium qui sic inquiunt add. M3; per Tulium et Aristotelem add. M4 18 quoniam] homo add. M3 19 eo] ea M1, M3 19 et uti] om. M3 20 naturali] naturalis M4 20 Tulio] Tulio et aliis collaboratoribus huius artis dicunt quod add. M1, M3 21 magis] om. M3 21 confirmat] confortat M4 21 tali artificio] om. M4 21 debemus] debet M4 22 continue] frequenter M4 22 studio] nostro studio M3 22 uti] om. M4 23 et maxime] quia solum M4 23–/2 Et talibus… et cetera] de quibus quis subito debet recordari M4 

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Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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zu den Tugenden und stärkt ihn. In der schlechten wirkt das Feuer der Begierde vergiftend, blendend und schwächend. Daher zeigt der heilige Bernhard gemäß seiner Erbauung eines guten Gewissens, dass die Erinnerung, nämlich an die Wohltaten Gottes, eine von sieben Säulen sei. In der Tat wird eine gestärkte Erinnerung an die Wohltaten Gottes durch die Betrachtung auf angemessene Weise erleuchtet. Der Verstand, die Überlegung und der Wille werden entflammt durch die Liebe zu Gott und den Tugenden. Wenn aber das Gedächtnis nicht entzündet wird, würden folglich auch das Erkennen der Dinge (intellectus rerum) und der Wille das Ziel ihrer Vollendung verfehlen. Auch ein großer Teil der Diener Gottes klagt über diese Schwäche des natürlichen Gedächtnisses, und unter vielen werden wenige in der  Meditation angetroffen, weil sie keine Methode haben zur Stärkung ihres Gedächtnisses; mithilfe [göttlicher] Gnade [stellt] die Kunst des Gedächtnisses also für eine fromme und gute Meditation eine vielfältige Unterstützung [dar]. Folglich ist ohne die Gnade Gottes und einen guten Willen alle Kunst nichtig, eine Täuschung5 und für den, der sie besitzt und als weltliche Kunst gebraucht, gefährlich – so wie jede andere Wissenschaft. Ebenso ist diese Kunst nicht von der Art, dass sie den Menschen zum Fantasten macht, wenn er einmal erfahren hat, wie sie anzuwenden sei, wie es gewisse Unkundige glauben. Doch ist dies ein Irrtum, weil er damit umgehen oder, wenn er will, davon absehen und es wie ein zweites natürliches Gedächtnis verwenden kann. Ja vielmehr stützt die Kunst nach dem Zeugnis des Tullius ein schwaches Gedächtnis auf natürliche Weise und festigt wichtige Erinnerungen wirksamer. Eine solche Kunst dürfen wir nicht ständig in täglichem Studium verwenden, sondern nur gelegentlich, und besonders bei dringlichen Tätigkeiten

5 ficticium: ficticius, ‚durch Kunst gemacht‘ (dem Natürlichen entgegengesetzt).

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

cipales materiarum, quarum volumus habere ordinem debitum et quarum subito debemus recordari et cetera. Hec ars seu memoria artificialis a naturalibus habet originem; que res apprehendit et earum recordatur per locum et ordinem, unde et ob id per tales circumstancias ad memoriam et faciliorem et fir- 5 miorem notarii publici notant suos actus ac condunt sua instrumenta, viam itaque nature philosophi sectantes in Athenis Grecie invenientes viderunt enim sicud de paucis pauca loca recordabantur, sic possibile fieri de multis per multa arte coordinata. Postmodum a Seneca mirifice est commendata sicut superius dictum 10 est. Solus enim Seneca huius artis inventor eandem publicavit et Aristoteles eciam de ea scripsit brevibus tamen et obscuris verbis. In de memoria et reminiscencia invaluit cum sic dicit: Memoria autem duo salvant scilicet posicio sub ordine et frequens meditacio. Sed Tulius in tercio rethorice ibidem magis vigilavit eam pre 15 ceteris.  Magis manifeste notificavit, non tamen in tantum, quod aliquis absque docentis in presenti lucidius de hac arte, qua iuvatur memoria. Et brevia est dicendum.

1 ordinem] notificiam et ordinem M1; noticiam et ordinem M3 2 debemus] volumus seu debemus M3 3–11 Hec ars… dictum est] om. M2 3 que] qui M3 4 res apprehendit] videlicet naturales res apprehendent M1; videlicet naturales res apprehendunt M3 4 earum] subito add. M4 4 recordatur] recordantur  M1, M3 4 locum] loca M4 4–6 unde… firmiorem] Et propter hoc M4 5 et faciliorem et firmiorem] faciliorem devenire possumus M1, M3 6 notarii] propterea notarii M1, M3 6 condunt] faciunt M1, M3 7 viam] om. M4 7–8 sectantes… invenientes] sequebantur M1, M3 7 Grecie] graciam M4 8 sicud] quod M3, M4 8 pauca loca] locis pauce materie  M1, M3; in paucis locis materie M4 8 recordabantur] recordabant  M1, M4 9 per multa] locis per multas materias M1, M4; locis multas materias M3 9 coordinata] coordinari M3; coordinare M4 10 est commendata] recommendata M1, M3, M4 10 dictum est] patuit M4 11–18 Solus… dicendum] sq. M1; om. M, M4 13 In de] In M3 13 Memoria] id est naturalem add. sup. lin. M3 15–18 Sed Tulius… dicendum] om.  M2 15 magis] eo magis. M,  M1,  M2, M4 16 tantum] eam notificat add. M3 17 docentis] misterio ad usum sibi caperet propterea add. M3 18 memoria] mediante memoria naturalis M3 18 Et brevia] brevius M3 

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und solchen Dingen, bei deren Hauptinhaltsteilen wir eine bestimmte Ordnung haben wollen und derer wir uns rasch erinnern müssen etc. Der Ursprung dieser Kunst oder des künstlichen Gedächtnisses geht vom natürlichen aus; sie eignet sich die Dinge an und macht sie der Erinnerung zugänglich durch einen Ort und eine Ordnung. Bei solchen Gegebenheiten können wir daher zu einer sowohl leichteren als auch dauerhafteren Erinnerung gelangen, [wie ja auch] die öffentlichen Notare ihre Geschäfte aufzeichnen und ihre Urkunden gestalten, und so haben die Philosophen im griechischen Athen als Entdecker [der Kunst] gesehen, dem Weg der Natur folgend, dass wenige Örter wenige Dinge vergegenwärtigen und ebenso viele Örter viele Dinge vergegenwärtigen können, wenn sie künstlich koordiniert sind. Später hat Seneca sie bewundernswert angeordnet, wie oben erwähnt wurde. Allein nämlich Seneca, Erfinder dieser Kunst, hat sie publik gemacht. Auch Aristoteles schrieb über sie in knappen, doch undeutlichen Worten. In De memoria et reminiscentia trat sie stärker hervor, wo Aristoteles sich so äußert: „Zwei Dinge halten die Erinnerung fest, nämlich die Verwendung einer Ordnung und häufige Übung“. Tullius behandelte die Kunst ebenda, im dritten Buch seiner Rhetorik, gründlicher als die übrigen. Verständlicher machte er sie bekannt, doch nicht so sehr, dass jemand ohne die Hilfe von Lehrern augenblicklich deutlicher [informiert wäre] über die Kunst, durch die das Gedächtnis unterstützt wird. Wenige Worte müssen [daher] gesagt werden.

202  cf. Rhetorica ad Herennium, I, II, 3 Rhetorica ad Herennium, III, XVI, 28

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Hanc tamen artem Tulius, qui unus de inventoribus artis extat, in sua [36r] rethorica describendo extollens inter quinque eius partes. Pro quarto ipsam dignam duxit assumendam tamquam egrediens talibus verbis exorsus est: Nunc ad thezaurum inventorum atque omnium partium rethorice, memoriam, transeamus. Prima enim pars rethorice est invencio scilicet materie, de qua loquendum est et cetera. Secunda est disposicio materie per partes, ut puta quid in principio, quid in medio aut que in fine sermonis magis apte tractande sunt. Tercia pars est elocucio materie invente et iam disposite per colores rethoricos. Quarta est memoria iam dictorum tamquam thesaurum inventorum. Et quinta pars est pronunciacio omnium supra dictorum ornata in voce et gestis. Huius igitur preciose memorie subtilitates multe sunt. Prima quod per ipsam multa possunt subito mente retineri. Secunda quod occasio stabilitatis et vigilacio circa propositum cum mente faciat formacionem imaginum occupari. Tercia omnia, que sic studebimus, facit magis ordinate apprehendere et tamquam in libro mentali legere, ordine directo a principio usque in finem vel e converso ordine retrogrado, revertendo in principium eque faciliter. Et eciam in posterius quotaque sit unaqueque res in ordine. Quarta

1–9 Hanc tamen… et gestis] om. M2 1–2 Hanc tamen… extollens] Item Tulius in sua rethorica eam [manifeste M3] describit M1, M3 2 describendo extollens] describens excedens M4 2 inter] in M4 2 eius] om. M4 3 quarto] quarta M1, M3, M4 3 ipsam] parte M4 3–4 tamquam… exorsus est] ipsam memoriam artificialem dicens M4 3 tamquam] tamen  M1 4 egrediens] aggrediens  M1, M3 4 est] et M1 4–5 thezaurum… omnium] thesaurum inventum M4 5 partium] partem M3; om. 6–13 Prima… gestis] om. M4 6 scilicet] om. M3 8 partes] tres M3 9 apte] apta  M1 10 rethoricos] rethoricales  M1, 11 tamquam] om. M3 11 thesaurum] thesaurorum M3 11–13 Et quinta… gestis] in voce et in gestis et cetera M1, M3 14–/3 Huius… est ars] om. M2 14 memorie] memoria M1 14 subtilitates] utilitates M4 14 quod] om. M4 15 ipsam] scilicet memoriam artificialem add. M3 15 quod] ut M4 16 occasio… vigilacio] frequenter vigilando M4 16 stabilitatis] om. M1, M3 16 circa] certa M1 16–17 propositum… faciat] om. M4 17 occupari] ipsa res stabilis per talem occupacionem menti imprimitur M4 17 Tercia] utilitas add. M3 17 studebimus] studerimus M; studebis M3 18 facit] possumus M4 18 in] est  M1 19 converso] contra M4 20 revertendo] om.  M1, M3, M4 20 eque] ad que M3 21 eciam in] om. M3 21 posterius] posterum M4; scitur add. M1; scias add. M3 

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Tullius, der als einer der Erfinder der Ars hervorgetreten ist, rühmt diese Kunst in seiner Rhetorik, indem er sie unter den fünf Teilen der Rede darstellt. Er meinte, sie sei für den vierten Teil angemessen und einsetzbar, und gleichsam überleitend begann er mit solchen Worten: „Nun lasst uns zum Gedächtnis, dem Schatz der Erfindungen und [der Hüterin] aller Teile der Rhetorik übergehen“. Denn der erste Teil der Rhetorik ist das Finden des Stoffs, über den zu sprechen ist etc. Der zweite Teil ist das Anordnen und Verteilen des Stoffs, wie zum Beispiel [die Entscheidung darüber], was am Anfang, in der Mitte oder am Ende der Rede passender zu behandeln wäre. Der dritte Teil ist die Ausschmückung des gefundenen und so verteilten Stoffes mittels der rhetorischen Ausgestaltung. Der vierte ist das Memorieren des schon Vorbereiteten, gleichsam ein Schatz der Erfindungen. Der fünfte Teil ist der Vortrag alles oben Benannten, ausgestaltet durch Stimme und Gestik. Es gibt nun aber viele Feinheiten dieses kostbaren Gedächtnisses. Die erste [ist], dass hierdurch vieles sofort im Geist gespeichert werden kann. Die zweite, dass die Gelegenheit zur Festigung und das geistige Kreisen um das Thema bewirkt, dass man Bilder kreiert. Die dritte bewirkt, dass wir alles, um was wir uns so bemühen, geordneter erfassen und gleichsam in einem mentalen Buch lesen können, in gerader Reihenfolge vom Beginn bis zum Ende oder umgekehrt, indem wir zum Beginn zurückkehren, was ebenso leicht ist. Auch für später [wissen wir],

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Rhetorica ad Herennium, III, XXIV, 40

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utilitas est, quod consequenter de sciencia dicendarum quis existens magis certus, magis expedite, secure et audaciter pronuncciare. Vel eciam ideo adinventa est ars. Nam sunt nonnulli, qui aliquid studendo leviter acquirunt, illud tamen leve acquisitum diuturne retinere non possunt, quia labilis memorie sunt. Sed per presentem artem et doctrinam non solum aliquid leviter acquirimus, verum eciam illud leve acquisitum diuturne retinemus et in perpetuum [36v], si volumus, retinere possumus. Nam eciam sunt plerique qui alias in materiis bene essent usitati, quod easdem extenderent et multiplicarent quam diu placent se solis existentibus; in facie vero populi, si   unicam oracionem recto ordine pronuncciare deberent, certe non possent, quia timore percussi facti sunt velud muti. Sed presenti arte imbuti omni timore secluso et audacia informati non solum, quod studuimus clam et occulte, verum eciam palam et manifeste hoc idem pronuncciare possumus. Venerabilis igitur rethor et moralis Tulius ad hoc utilissimum opus. Et ne quis diffidat pre multiplicitate occupacionum id posse capere animat nos et confortat in sua rethorica dicens: Non enim sicud a ceteris studiis abducimur occupacione aggravata, ita ab hac re nos [numquam] potest causa abducere aliqua. Cum enim memorie

1–2 est, quod… existens] quia ea que studebimus cum ista arte M4 1 consequenter] frequenter M3 1 dicendarum] dicendorum M1, M3 2 certus… audaciter] secure certe et audaciter M4 2 expedite] om.  M1, M3 3 pronuncciare] potest add. M3; possumus add. M4 3 adinventa] inventa  M1, M4 3 ars] presentis imaginacionis add.  M1, M3, M4 5 acquisitum] om. M 5 labilis] labiles M4 6–7 non solum aliquid] om. M3 7 leve] om. M3 8 retinemus] retinere possumus M4 8 volumus] voluimus  M1; voluerimus M3 8 retinere possumus] om. M4 9 Nam eciam] Etiam alio modo inventa est ars ista idcirco Quia  M2 9 essent] sunt  M2 10 extenderent] extendent  M1 10 diu] diuturne  M2 11 placent] placeret  M1,  M2, M3 11–12 unicam… ordine] aliquam materiam  M2 11 unicam] unam M4 12 certe] certi M3 12 possent] possunt  M1, M4 13 presenti arte] per nobilissimam artem M3 14 secluso] seclusi  M1 15 occulte] occulto M4 15 hoc idem] om. M4 17 moralis] ac facundissimus orator add. M2 17 utilissimum] nobilissimum M3 17 opus] opus edidit M2 18 Et] ut M4 18 diffidat] diffidet M1; dividet M3 18 multiplicitate] multitudine  M2; multiplicacione M3; multiplicitati M4 18 occupacionum] occupacione M4 18 posse] non posse M3, M4 19–20 dicens… ceteris] om. M4 20 abducimur] abducuntur  M1; abducemur M4 20 occupacione] om. M3 20 aggravata] aggravati[i]  M1; om. M3 20 ab hac re] ob hanc racionem M4 21 nos] bis M 21 potest] debet M1, M2, M3; potu[…] corr. in marg. M4 

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das wievielte ein jedes Ding in der Reihe ist. Der vierte Nutzen ist, dass derjenige, der auftritt, um passend über mitteilungswürdige Kenntnisse [zu sprechen], sicherer, freier, ruhiger und kühner vortragen [kann]. Auch deswegen wurde die Kunst erfunden. Denn es gibt einige Personen, die sich etwas im Studium leicht aneignen, jenes leicht Erworbene jedoch nicht lange bewahren können, weil sie schwachen Gedächtnisses sind. Doch durch die vorliegende Kunst und  Lehre eignen wir uns etwas nicht nur leicht an, sondern bewahren jenes leicht Erworbene auch langdauernd und wir können es, wenn wir wollen, für immer behalten. Es gibt auch nicht wenige, die sonst in den Inhalten [so] gut geübt sind, dass sie dieselben erweitern und vermehren nach Belieben, wenn sie allein sind; im Angesicht der Menge aber, wenn sie eine einzige Rede in richtiger Ordnung vortragen müssten, sind sie dazu zweifellos außerstande, weil sie durch ihre Furchtsamkeit gehemmt und beinahe stumm geworden sind. Aber mit der vorliegenden Kunst gewappnet können wir, weil alle Furchtsamkeit in Schranken gehalten ist und wir von Kühnheit geleitet sind, das, um was wir uns bemüht haben, nicht nur heimlich und im Verborgenen, sondern auch öffentlich und klar vortragen. Der ehrwürdige Rhetor und Moralphilosoph Tullius [schrieb] dazu ein überaus nützliches Werk. Er ermutigt und bestärkt uns in seiner Rhetorik, damit niemand an der Aneignung [der Kunst] verzweifelt wegen der Vielzahl der Aufgaben, indem er sagt: „Von dieser Sache kann uns kein Grund abhalten wie bei den übrigen Studien, von denen wir durch eine gewichtige Beschäftigung abgehalten werden.

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

aliquid tradere velimus et tunc maxime cum aliquo exercicio maiori vel negocio retinemur. Quare cum sit tam utile facile reminisci non te fallat quanto labore et quanto opere sit appetendum hec illi. Et quamquam plures sint, qui sciunt aliquid de hoc secreto artificio, tamen aut nolunt sciri, quod sciunt, aut quia non ita perfecte sciant 5 quod publicare audeant, aut quia maioribus negociis occupentur, aut quia propter fatigiosam preparacionem tam multiplicium figurarum aliqui obmittant.

L. Annaeus Seneca Rhetor, Controversiae I, 2

Et his de causis hoc nobile artificium a quam pluribus ignoratur et latet quasi deperditum. Item superius dictum est per Senecam 10 quod memoria naturalis est [37r] res ex omnibus anime partibus maxime delicata et fragilis et multis subicitur defectibus. Ex quo nunc sic est, quod natura humana est ita fragilis et defectibus subicitur multis. Igitur conveniens est querere artes in expulsionem defectuum et nature sublevacionem. Hinc est quod ipsi philosophi 15 voluerunt subvenire humane fragilitati et auxiliari et perfeccius acquirere scienciam posse fieri non estimaverunt, nisi ipsa naturalis memoria certis sublevaminibus instrumentalibus iuxta positis adiuvaretur.

1 et tunc] om.  M2 1 maxime] utique  M1,  M2, M3 2 vel negocio retinemur] facere debemus et sic eciam [om.  M2] eo [ea  M2] diucius retinemus  M1,  M2, M3; retinetur M4 2 sit] fit M 2 facile] om. M3 3 sit] fit M 3 hec illi] hec ille M1, M2, M3; om. M4 4 plures sint] plures et multi sunt M2 5 tamen aut] quia M2 5 sciri] sciri tales M2; scire M4 5 sciunt] sciant M1, M3; quod eam sciunt  M2 5 sciant] sciunt  M2, M4 6 audeant] audent  M2 6 negociis] occupacionibus M4 6 occupentur] occupantur  M1,  M2 7 preparacionem] om. M4 7 figurarum] et signorum add. M3 8 aliqui] aliquid M2, M4 8 obmittant] obmittunt M3, M4 9 his] hic M; ex his M2 9 nobile] notabile M1 9 artificium] aut tam nobilis ars M2 9 quam] om. M3; quod M4 10 latet] latat M; iacet M1; latet M2, M3, M4 10 deperditum] perditum M3 10–14 Item superius… multis] om. M1, M2, M3 11 naturalis] om. M 13 nunc sic est, quod] igitur M4 14 in expulsionem] in expulsione M1, M2; ad expulsionem M3 15 sublevacionem] sublevacione M1, M2 16 voluerunt] volebant M2 17 nisi] aut M4 18 certis] ceteris M1, M2, M3 18 sublevaminibus] sublevacionibus M1; suple nominibus ut vid. M4 18 iuxta positis] om. M1, M2, M3; infra positis M4 - 19 adiuvaretur] adiuveretur M1; adiuvetur M3; adiuventur M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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Denn der Zeitpunkt, wo wir dem Gedächtnis irgendetwas anvertrauen möchten, ist [meistens] gerade dann, wenn wir durch irgendeine wichtigere Übung oder ein Geschäft zurückgehalten werden. Deshalb täusche dich nicht [darüber hinweg], mit wieviel Mühe und Arbeit man nach dem Erinnern streben muss, obwohl es so nützlich und leicht [zu] sein [scheint].“ Obgleich es mehrere Kundige gibt, die etwas über diese geheime Kunst wissen, möchten sie dennoch nicht, dass sich das Wissen verbreitet, das sie besitzen, oder [sie möchten es nicht], weil sie es nicht so perfekt beherrschen, dass sie es zu veröffentlichen wagen, oder weil sie mit wichtigeren Geschäften befasst sind, oder weil sie wegen der mühevollen Vorbereitung so vielfältiger Figuren [= mnemotechnischer Figuren oder Modelle] aufgeben. Aus diesen Gründen ist die edle Kunst bei äußerst vielen Menschen unbekannt und liegt verborgen, als sei sie ausgelöscht. Ferner wurde oben nach Seneca gesagt, dass das natürliche Gedächtnis die unter allen Teilen der Seele zarteste und zerbrechlichste Sache sei und an vielen Mängeln litte. Dies verhält sich nun deshalb so, weil die menschliche Natur so sehr zerbrechlich und vielen Mängeln unterworfen ist. Demnach ist es angebracht, die Künste wissen zu wollen zur Milderung der Mängel und zur Unterstützung der Natur. Daher wollten die Philosophen ihrerseits der menschlichen Hinfälligkeit mit gutem Grund beistehen und zu Hilfe kommen, und sie waren der Ansicht, dass die Aneignung von Wissen vollkommener nicht geschehen könne, als wenn das natürliche Gedächtnis selbst unterstützt würde durch zuverlässige und griffbereite Hilfsmittel.

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

Ideo non depereat gracia dei mediante pro modulo meo ac eciam multorum predecessorum †directis† studio, decrevi vocalem eius declaracionem hanc eciam artem scripto liberaliter communicare. Tandem insinuo quod propter huic arti detractores veritatis reprimendos, ne presumant calumpniari rem bonam 5 veram et utilissimam, que a tot et a tantis viris autenticis approbata et recommendata est – quin imo et sui utilitate se ipsam coram expertis demonstrat – et amatores bonitatis confortandos ad eius studium. Recommendacione prologus in longum est positus. Item memoria artificiosa est firma rerum vel verborum in animo 10 retencio. Tulius Item Tulius sic describit artem presentem: Ex imaginibus et locis ars memorativa constare videtur perfecta. Item Aristotiles, summus

1–4 Ideo… communicare] om. M1, M2, M3 1–4 ac eciam… communicare] naturalem enim deliberacionem huius artis decrevi liberaliter connectari M4 4 Tandem] Ideo M2 4 quod… arti] propter huius artis M1, M3, M4; quatenus huius artis M2 5 veritatis] om. M2 5 reprimendos] reprimendis M1; om. M2 5 ne] nullatenus  M2 5 presumant] presummat  M1 5 calumpniari] calumpniare M4 6 veram] om. M2 6 que a tot et a tantis] ab huiusmodi M2 6 autenticis] autoricis M 6 approbata] approbatam M2; probata M4 7 recommendata est] recommendatam M2; recommendata et M4 7 quin imo… se ipsam] Quam sapienciam  M1; cum hoc se ipsam  M2; quoniam seipsam M3; quin imo utilitas ipsa M4 8 expertis] nobis experte M4 8 demonstrat] Unde metrista Porcis si dantur gemme scio quod maculantur add. M3; Item dicit tulius in quarto offio rethorice quod memoria in quails sciencia sit necessaria Hoc animi a natura procedit quasi ymaginibus quam litteris sepe rerum memoria continere nec voce magna legendis est sed mumure potius mendi dando nocte magis quam die memoria confortare quia prodest selencium memorie add. M4 8–11 et amatores… retencio] om. M4 8 amatores] amoris M 8 confortandos] per hoc confortando  M2; convertandos M3 9 recommendacione… positus] propterea recommendacio prologi pro [in M3] longum [prologum M3] est posita M1, M3; allicit et confortat M2 10–11 Item memoria… retencio] Item naturalis memoria sic describitur M1, M3; om. M2 12–13 Tulius… locis] Item secundum Tulium sic describitur Est ex locis et imaginibus M1; Thulius autem magis lucide describit artem presentem Et dicit Ex imaginibus et locis M2; Item secundum Tulium sic describitur ars memorativa Ex locis et imaginibus M3; Et ergo secundum Tulium memoria artificialis sic distinguitur Ex locis et imaginibus M4 13 Item] om. M2 14–/2 Aristotiles… dicens] secundum Aristotelem sic describitur M1, M3; Aristoteles sic distinguitur M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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Deswegen möge [die Kunst] durch Gottes Gnade nicht zugrunde gehen, soweit es mein bescheidenes Vermögen und auch die Mühe vieler Vorgänger […] zulassen. Ich habe beschlossen, diese Kunst und ihre mündliche Verkündung durch Schrift reichlich zu verbreiten. Schließlich empfehle ich, dass in Anbetracht dieser Kunst die Verleumder der Wahrheit zurückzudrängen sind, damit sie es nicht wagen, an einer guten, wahren und sehr nützlichen Sache zu mäkeln, die von so vielen und so bedeutenden, glaubwürdigen  Männern anerkannt und empfohlen wurde  – die sich ja vielmehr selbst durch ihre Nützlichkeit vor den Kundigen anbietet –, und dass die Freunde der Redlichkeit zu ihrem Studium zu ermutigen sind. Durch [unsere] Empfehlung wurde der Prolog erweitert. [Also] ist das künstliche Gedächtnis das sichere Bewahren von Dingen und Worten im Geist. Tullius Auch beschreibt Tullius die vorliegende Kunst so: Die vollkommene Kunst des Gedächtnisses scheint aus Bildern und Örtern zu bestehen. Aristoteles wiederum,

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

princeps philosophorum, totam artem memorie in obscuris verbis in ‚de memoria et reminscenciaʻ implicavit dicens:  Memoriam autem duo salvant scilicet posicio sub ordinem et frequens meditacio; quorum verborum in magis planum intellectum infra declarabitur. Et hoc idem tercio rethorice lacius [37v] deducit 5 dicens: Memoria duplex est scilicet naturalis et artificialis. Naturalis est quedam vis anime sine magna concitacione et preteritorum recordativa. Item nota quod ex ista diffinicione, videlicet memorie naturalis, sequitur quod, quem querit natura, capit preter illam artem videlicet memorativam artificialem hoc capit sine 10 magna concitacione vel consideracione et capit hoc valde confuse et indistincte. Sed per presentem artem scilicet memorativam artificialem capit cum magna consideracione debito ordine similiter et distincte. Et sic natura melius retinet rem sic captam quam captam primo modo. 15 Artificialis autem memoria stat ex imaginibus et locis perfecta. Item ex parte memorie, cui facienda est impressio, debent esse tres circumstancie, scilicet vacacio mansuetudo et sobrietas. Item vacacio ne memoria distrahatur. Mansuetudo ne turbetur. Sobrietas

1–3 totam… scilicet] In libro de Memoria et reminiscencia brevibus et obscuris verbis de hac igitur arte Qua memoria naturalis suffragatur loquitur Et artem sic describit  M2 3 duo] om.  M1, M3, M4 3 salvant] salvam  M1 3 ordinem] ordine M1, M2, M3, M4 4–5 quorum… artificialis] al. M1 [89v]; Ibidem tangit duo principalia artis Videlicet loca et imagines et loca in hoc ubi dicit posicio sub ordine Quia ponere aliquid ad ordinem presupponit locum Quo ponatur loco In hoc autem quod dicit frequens meditacio subintelligit imagines Quia meditare est ad se imagines et intellectum earum capere M2; ambo enim concordant in diffinicionibus suis in hoc quod dicit Tulius ex locis et Aristoteles dicit posicio sub ordine concordant nam ponere [ad add. M4] ordinem presupponit locum Secundo dicit Tulius ex imaginibus et Aristoteles frequens meditacio iterum concordant Nam meditari [meditare M4] est ad se imagines vel intellectus rerum capere [incorporare M4] et imagines secundum Tulium non sunt aliud nisi intellectus materie [nature M4] vel [om. M4] materiarum [om. M4] M3, M4 7–16 Naturalis… perfecta] om. M2, M4 7 Naturalis] om. M1, M3 7 vis] impressio M3 7 anime] anime que M1, M3 7 et] est M1, M3 8–17 Item nota… perfecta] om.  M1; Sed memoria artificialis sic describitur est firma rerum vel verborum in anima retencio M3 17–/3 Item ex parte… intemperanciam] sq. M1; hab. M1, M2, M3 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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der höchste Fürst der Philosophen, hüllte die ganze Kunst des Gedächtnisses in De memoria et reminiscentia in dunkle Worte, indem er sagte: „Zwei Dinge halten die Erinnerung fest, nämlich die Verwendung einer Ordnung und häufige Übung“; zum besseren Verständnis dieser Worte wird unten eine Erklärung folgen. Dasselbe führt er [i.  e. Tullius] im dritten Buch der Rhetorik weiter aus, indem er sagt: „Das Gedächtnis ist doppelt, nämlich natürlich und künstlich“. Das natürliche Gedächtnis ist gewissermaßen eine Fähigkeit der Seele, die von heftiger Bewegung unberührt bleibt und Vergangenes bewahrt. Ebenso merke, dass aus dieser Definition des natürlichen Gedächtnisses folgt, dass man das, was man durch die Natur und ohne jene Kunst (nämlich des künstlichen Gedächtnisses) erwirbt, ohne heftige Bewegung oder ohne Bedacht auffasst, und zwar fasst man es sehr verwirrt und ungeordnet. Aber durch die vorliegende Kunst des künstlichen Gedächtnisses eignet man es sich mit besonderem Bedacht an, ebenso in einer gebührenden Ordnung sowie in gebührender Unterscheidung. Auf diese Weise bewahrt die Natur eine Sache, die so aufgefasst wurde, besser als diejenige, welche auf erste Weise aufgefasst wurde. Das künstliche Gedächtnis aber besteht aus Bildern und Örtern. Ebenso müssen vonseiten eines Gedächtnisses, dem ein Eindruck eingeprägt werden soll, drei Umstände vorliegen, nämlich Muße, Sanftmut und Nüchternheit. Muße, damit das Gedächtnis nicht zerstreut wird. Sanftmut, damit es nicht verwirrt wird.

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

ne suffocetur. Item ne distrahatur vis racionalis per nimiam occupacionem extraneam, ne vis irascibilis turbetur per impacienciam, ne suffocetur vis concupiscibilis per intemperanciam.

Rhetorica ad Herennium, III, XVI, 29. Cf.Aristoteles, De memoria et reminiscentia, 452 a 10  ff.

Item nota quod duo sunt principalia impedimenta memorie naturalis, sicut eciam ex adinventoribus artis memorative sufficienter patuit. Primum impedimentum est confusio ordinis. Secundum debilitas impressionis. Quantum ad primum videlicet confusionem ordinis clarum est: Nam si quis memoranda confuse indeterminate et indistincte conprehendat, non potest clare memorari, quia intellecta non posuit sub ordine. Et patet quod ordo requiritur ad memoriam. Quia ex ordine eciam perfeccio venit, ex eo eciam venit unitas. Nam ordo est multorum in uno collecto; Modo unitas cicius imaginatur quam pluralitas. Nam ubi multitudo ibi confusio. Nam in inordinacione est confusio, modo talis cito non est memoralis. Inde est quod ordo requiritur ad memoriam. Et hoc tangit Aristotiles cum dicit: Posicio sub ordine et frequens meditacio salvant memoriam Et hoc eciam vult Tulius dicens: ex locis memoria iuvatur vel ibidem a locis videntur reminisci et recordari. Ex istis dictis sequitur quod primo debet considerare [38r] unum tantum et non multa simul et semel, quia qui multa intelligit et

4–15 Item nota… ad memoriam] Item secundum Tulium sciendum est quod sunt duo impedimenta que principaliter impediunt memoriam naturalem scilicet confusio ordinis quoniam memoriam impediat satis notum est Nam sicut scripture que sunt inveterate et involute sic quod oculus non potest clare apprehendere distinccionem aut discrecionem litterarum sic quod non possunt bene legi oculo corporali Sic pari modo si quis memorando confuse comprehenderit et indistincta ea non poterit bene retinere M4 4 Item nota quod] om. M2 4 principalia] om. M2 4–7 memorie… impressionis] que impediunt memoriam naturalem scilicet [videlicet M2] confusio ordinis et debilitas impressionis M1, M2, M3 7 ad] om. M2 7 primum videlicet] om. M1, M2, M3 8 si quis memoranda] ille qui materiam suam M2 8 indeterminate et] seu M2 9 conprehendat] memorie commendaverit [recommendaverit M3] M1, M2, M3 9–15 clare… ad memoriam] om. M1; tamdiu retinere sicut illa que fiunt cum bona distinctione Unde Aristoteles omnis multitudo sine ordine et distinctione est inimica memorie M2; illa diu retinere M3 15–/4 Et hoc… ordinem] om.  M1,  M2, M3, M4 19 quod primo] bis a.correc. M 

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Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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Nüchternheit, damit es nicht erstickt wird. Desgleichen auch, damit die rationale Kraft nicht zerstreut wird durch zu große äußere Beschäftigung, damit das Vermögen des zornmütigen Strebens nicht verwirrt wird durch Ungeduld, damit das Vermögen des sinnlichen Begehrens nicht erstickt wird durch Unmäßigkeit.6 Ebenso merke, dass zwei grundlegende Hindernisse für das natürliche Gedächtnis existieren, wie es auch die Erfinder der Mnemotechnik hinlänglich deutlich machten. Das erste Hindernis ist die Verwirrung der Ordnung. Das zweite die Schwäche des Eindrucks. Das erste, nämlich die Verwirrung der Ordnung, ist unmittelbar klar: Denn wenn jemand das zu Erinnernde verwirrt, ohne Grenze und ohne Unterschied zusammenfasst, kann er sich nicht deutlich erinnern, weil er das Aufgefasste nicht unter einer Ordnung anlegte. Es ist offenbar, dass eine Ordnung für das Gedächtnis erforderlich ist. Weil aus der Ordnung auch Vollkommenheit erwächst, folgt daraus auch Einheit. Denn die Ordnung ist eine Sammlung vieler Dinge; durch die [mnemotechnische] Methode wird die Einheit leichter abgebildet als die Vielheit. Denn wo Vielfalt ist, da liegt Verwirrung vor. Denn in der Unordnung liegt Verwirrung, und eine solche ist nicht geeignet zum schnellen Erinnern. Von daher kommt es, dass für das Gedächtnis eine Ordnung erforderlich ist. Dies berührt Aristoteles, wenn er sagt: „Die Verwendung einer Ordnung und die häufige Übung festigen die Erinnerung“. Dies will auch Tullius, indem er sagt: „Das Gedächtnis wird durch Örter gestützt“, oder ebenda: „Von den Örtern her scheinen das Erinnern und das Vergegenwärtigen [unterstützt zu werden]“. Aus diesen Worten folgt, dass man zuerst nur eine Sache erwägen soll, und nicht viele Sachen zugleich und auf einmal, weil einer, der vieles merkt und

6 Item ne … intemperanciam: die Dreiteilung entspricht der platonischen Aufteilung der Seelenkräfte (Platon: Timaios, 69b–72d; Staat 434d–441e), die in der Patristik und der mittelalterlichen Theologie weiterwirkt; auch Thomas von Aquin (†1274) und Jean Gerson (†1429) greifen auf sie zurück.

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

considerat, actu nichil intelligi intelligit eo quod intellectus se solum ad unum actum convertit. Postea tunc considerat secundum, postea tercium, postea quartum et sic deinceps et sic patet quod considera debet ponere sibi ordinem.   Sic eciam ad secundum videlicet ad debilitatem impressionis iterum clarum est. 5 Nam si quis debiliter memoranda et superficialiter imprimat, non potest illa diu retinere igitur et cetera.

4 considera] considerata M 4–7 Sic eciam… igitur et cetera] Quod eciam debilis impressio memoriam impediat patet hoc Nam sicut imagines obscuris coloribus picte non possunt sufficienter sustentare visum hominis Sic et in proposito si quis debiliter imprimit memorando non bene poterit retinere videmus enim quod clavi qui debiliter infiguntur de facili extrahuntur Volentes ergo philosophi humane fragilitati in hac parte aliqualiter suffragari Iuxta duo genera impedimentorum invenerunt duo genera remediorum scilicet loca et imagines loca ad formandum ordinem et distinccionem Sed imagines ad faciendum firmam et fortem impressionem Ex quo aparet quod ars memorandi secundum imaginacionem Tulii consistit in locis et imaginibus et in debito situ imaginum M4 4–5 Sic eciam… videlicet] Sed quo M1, M3; Similiter quantum  M2 5 impressionis] impressionem M 5 iterum clarum est] etiam claret M2 6–7 si quis… igitur et cetera] illa que debiliter et superficialiter imprimuntur eciam de facile [facili M3] removentur sic eciam in proposito dum [cum M3] homo aliquid [aliqua M3] studet superficialiter non potest illa ita diu retinere sicut ista que fiunt [cum add. M3] bona impressione Idcirco [contra add. M3] illa duo genera morborum invenerunt philosophi duo genera medicinarum videlicet loca et imagines. Loca ad faciendum ordinem et distinccionem, imagines vero ad faciendam formam et notabilem impressionem M1, M3; Quia ille qui aliquid debiliter et superficialiter memorie commendaverit non potest illa tam diu[turne] retinere Sicut illa que fiunt cum bona impressione M2 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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erwägt, bei seinem Tun erkennt, dass nichts verstanden wurde, da der Verstand sich nur einem Abschnitt zuwendet. Später dann erwägt er den zweiten, hernach den dritten, dann den vierten und so der Reihe nach weiter, und so ist offensichtlich, dass der betrachtende Vorgang sich eine Ordnung setzen muss. So ist der Fall auch bei dem zweiten Hindernis, nämlich der Schwäche des Eindrucks, wiederum klar. Denn wenn jemand [sich] das zu Erinnernde schwach und oberflächlich einprägt, kann er es nicht lange bewahren etc.

216  Thomas von Aquin, Summa Theologiae, IIa- IIae, q. 49, a. 1 ad 2/ Rhetorica ad Herennium III, XXII, 35–36

 De memoria artificiali secundum Parisienses

Item nota quod quattuor sunt, per que homo proficit in bene memorando. Quorum primum est ut eorum que vult memorari quasdam similitudines assumat convenientes nec tamen animo consuetas, quia hec que sunt inconsueta magis miramur. Et sic in eis animus magis et vehemencius detinetur. Ex quo fit quod 5 eorum que in puericia vidimus magis miramur. Ideo autem necessario est huiusmodi similitudinum vel imaginum adinvencio; quia †intencio† simplices facilius ex animo elabuntur nisi quibus­ dam similitudinibus corporalibus quasi alligantur. Quia humana cogitacio potencior est circa sensibilia et sic ars memorativa ponitur 10 in parte sensitiva, quia inducit hominem in sensum et cogitacionem nature.

1–12 Item… nature] al. M1 [92r]; Item fabricando imagines per virtutem fantasticam videlicet novum, magnum, rarum, ridiculosum, inauditum, inmensum, delectabile, activum, passivum, flebile, mirabile seu miraculosum quia secundum quod fuerit accio mirabilior de tanto erit memoria recencior Similiter quod pro imaginibus debemus nobis abstrahere similitudines rerum et debent nobis esse ita rare et hoc docet nos ipsa natura Nam secundum naturam quanto res animum minus commoverit de tanto cicius labitur a memoria et e contra quanto forcius tanto diucius permanebit memoria impressa. Res autem parve usitate quottidie non multum commovent animum. Nam ea que quottidie videmus non curamus ut solis ortum non miramur sed eclipsim solis. Et sic de aliis. Res autem nove et miraculose multum commovent animum M3 1–5 Item… detinetur] Item de imaginibus sciendum est quod imago in proposito non est aliud nisi quoddam simile per quod homo potest devenire in noticiam eius cuius memoriam vult habere Nam sicut dicimus imaginem similem aliquo modo rei cuius intendimus memorari sicut esset homo asinus vel equus vel hiis simile M4 1–2 Item… memorando] Ibidem ponit [Thomas von Aquin] quattuor principalia per que homo proficit aut proficere potest in bene memorando M2 2–12 Quorum… nature] Secundum est quod quasdam similitudines assumunt convenientes seu correspondentes Unde Thulius ex imaginibus et locis ars memorativa constare videtur perfecta  M2 5–6 Ex quo… miramur] Primo quod omnis imago debet esse mirabilis disposicionis ut timorosa aut ridiculosa vel alia notabili passione effecta Racio quia ea que sunt communia et volgata modicum movent nostram imaginacionem et per consequens eciam vehemencius imprimitur quia quod est mirabiliosum est delectabile ut vult Philosophus primo rethorice M4 6–12 Ideo… nature] om. M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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Ebenso merke, dass es vier Faktoren gibt, die Fortschritte im sicheren Erinnern bewirken. Deren erster ist, dass man gewisse passende Ähnlichkeiten der Dinge findet, an die man sich erinnern will – doch nicht dem Geist geläufige, weil wir uns über das, was ungewohnt ist, mehr verwundern. So ist der Geist bei ihnen mehr und stärker beschäftigt. Daraus ergibt sich, dass uns Dinge, die wir in der Kindheit gesehen haben, mehr erstaunen. Das Auffinden aber derartiger Ähnlichkeiten oder Bilder ist deshalb notwendig, weil […] einfache [Dinge] leichter dem Geist entgleiten, wenn sie nicht durch gewisse körperliche Ähnlichkeiten gleichsam gefesselt werden. Denn die menschliche Vorstellung ist besser, wenn es um sinnliche Dinge geht, und so wird die Gedächtniskunst im sensitiven Bereich angesiedelt, weil sie den Menschen zur Wahrnehmung und Vorstellung der Natur leitet.

218  Thomas von Aquin, Summa Theologiae, IIa-IIae, q. 49, a.1 ad 2 Aristoteles, De memoria et reminiscentia, 452 a 10  ff.

 De memoria artificiali secundum Parisienses

Secundo oportet quod ea, que homo memoriter vult retinere, in sua consideracione ordinate disponat, ut ex uno memorato faciliter ad aliud procedatur. Unde philosophus dicit in De memoria et reminiscencia: A locis videntur reminisci et recordari. Causa autem est quia velociter ab uno in aliud veniunt. Tercio oportet ut homo 5 sollicitudinem apponat animi ea, que vult memorari, ex quo est quid magis fuerit impressum anima eo minus elabitur Unde et philosophus dicit in sua rethorica quod sollicitudo conservat integras sillabarum figuras. Quarto oportet quod ea aliquando meditemur, que volumus memorari et diu in memoria tenere. [38v] Unde 10 philosophus dicit in De memoria quod meditaciones memoriam salvant, quia in eodem libro dicitur: Quia consuetudo est quasi altera natura. Ideoque propius accedendo ad artem nostram dicendum est de modo, quo memoria iuvatur. Primo dicendum est de sumpcione 15 locorum. Secundo de imaginibus substanciarum. Tercio de imaginibus accidencium. Quarto de imaginibus proposicionum. Quinto

1–13 Secundo… natura] om. M1, M3, M4 1–5 Secundo… veniunt] Primum est quod eorum que homo memoriter vult retinere oportet quod sua consideracione ordinate disponat ut ex uno memorato faciliter ad aliud procedatur Unde philosophus A locis videntur reminisci et recordari Quia velociter de uno loco in aliud veniunt M2 5–9 Tercio… figuras] Tercium quod sollicitudinem apponat et affectum adhibeat ad ea que vult memorari Unde philosophus dicit Sollicitudo enim conservat integras sillabarum figuras M2 6 ea, que vult] bis a.correc. M; ante add. homini M 9–13 Quarto… natura] Quartum ut homo talia que mediante arte preconcipit frequenter meditetur Id est aliquando ad memoriam revocet Unde philosophus Meditaciones enim memoriam salvant Quia lectio lecta placet et bis repetita placebit Cum hoc ex actibus frequenter reiteratis generatur habitus Qui non potest ablari (?) Id est a memoria recedere M2 14–/3 Ideoque… diccionum] Item propius [proprius M3] accedendo ad artem nostram Primo dicendum est de sumpcione locorum Secundo de imaginibus [substanciarum add. M3] Tercio de imaginibus accidencium Quarto de imaginibus proposicionum Quinto de imaginibus argumentorum Sexto de imaginibus oracionum in propria forma verborum Septimo de imaginibus ignorum dictionum Octavo de negociis sine causis M1, M3; Quia itaque sicut supra tactum est tota ars memorandi fundatur super loca et imagines Idcirco de hiis per ordinem est videndum Primo dicendum est de separacione locorum Secundo de imaginibus substanciarum Tercio de imaginibus accidencium Quarto de imaginibus proposicionum Quinto de imaginibus argumentorum oracionum in propria forma verborum Sexto de imaginibus ignotarum diccionum M4; om. M2 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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Zweitens ist es nötig, dass ein Mensch dasjenige, was er im Gedächtnis bewahren will, in seiner Betrachtung geordnet verteilt, damit er vom einen Erinnerungsinhalt leicht zum anderen fortschreitet. Daher sagt der Philosoph [i.  e. Aristoteles] in De memoria et reminiscentia: „Von den Örtern her scheinen das Erinnern und das Vergegenwärtigen [unterstützt zu werden]“. Der Grund aber ist, weil man [auf diese Weise] schnell vom einen zum anderen gelangt. Drittens ist es nötig, dass der Mensch seine geistige Sorgfalt auf das richtet, an was er sich erinnern will, folglich entgleitet desto weniger, was der Seele intensiver eingeprägt wurde. Daher sagt auch Aristoteles in seiner Rhetorik, dass Sorgfalt [im Einprägen] die unversehrte Bewahrung der Silbengestalten gewährleistet. Viertens ist es nötig, dass wir das zuweilen überdenken, an was wir uns erinnern und lange im Gedächtnis behalten möchten. Daher sagt Aristoteles in De memoria, dass Übungen das Gedächtnis erhalten, weil es im selben Buch heißt: „Denn die Gewohnheit ist gleichwie eine zweite Natur“. Deswegen muss man, wenn wir uns unserer Kunst weiter nähern, über die Methode sprechen, mit der man das Gedächtnis stützen kann. Zuerst ist über die Wahl der Örter zu sprechen. Zweitens über die Bilder für Substanzen. Drittens über die Bilder für Akzidenzien. Viertens über die Bilder für Themen. Fünftens

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de imaginibus argumentorum. Sexto de imaginibus collacionum. Septimo de imaginibus oracionum in propria forma. Octavo de imaginibus ignotarum diccionum. Quantum ad primum: Si quis velit sumere loca apta ad memorandum, hoc contigit multis modis. Primo sumendo domum realem habentem cameras locatas in 5 ordine et consideratis quinque locis in qualibet camera – videlicet iuxta quattuor angulos et iuxta ianuam – cum appropriatis signis, ut firmiter idola locorum in suo ordine cerebro imprimuntur. Et sic talia loca in qualicumque distancia tamquam presencia apparebunt. Item quod ita quinque loca in qualibet camera aduc 10 multiplicantur, si alia quinque videlicet sic imaginando, quod ista omnia loca camerarum, videlicet per media parietum, transeat una valanga vel unum aliud dividens. Et sic erunt in qualibet camera decem loca, quia inferius quinque et superius eciam quinque vide-

3–7 Quantum… imprimuntur] al. M1 [90r–91r]; Item loca In hac arte sunt duplicia scilicet maiora et minora Loca maiora sunt habitaciones Sed minora sunt ista loca que conservantur in habitacionibus Et sic quilibet locus maior in quinque loca multiplicatur M2; Et est notandum quod loca in hac arte sunt duplicia scilicet maiora et minora. Maiora sunt habitaciones, minora sunt parietes qui [que M4] conservantur [observantur M4] in habitacionibus et in istis locis videlicet maioribus fit inscripcio materie seu [om. M4] materiarum [om. M4] M3, M4; Item primo notandum quod loca non sint nimis parva et quod non sint nimis magna nec nimis distancia sed mediocra Racio horum potest subtiliter consideranti add. M4 9–10 Et sic … apparebunt] om. M1, M2, M3, M4 10–/3 Item quod… multiplicacione] Item [om. M3] secunda multiplicacio [regula est de multiplicacione M3] locorum [que add. M3] habet se [fieri M3] per unam [om. M3] divisionem [om. M3] phalange [phalangam M3] vel alterius instrumenti dividens loca priora videlicet [scilicet M3] comoda per media parietum videlicet quod una phalanga transeat per medium habitacionis Et sic inferius videlicet [om. M3] infra falangam erunt quinque et supra falangam eciam quinque [et sic add. M3] erunt in una habitacione decem loca [minora add. M3] ad que fit applicacio materie et [om. M3] sic similiter [simili modo M3] est [om. M3] in [de M3] aliis comodis M1, M3; Secunda multiplicacio habet se per unam phalangam dividens loca parietum per medium habitacionis Et sic inferius erunt quinque Et superius quinque Et expeditis illis inferioribus locis cum suis auctoritatibus Aut aliis materiis Transeundum est ad primam habitacionem ad superiora loca Deinde ad secundam ad superiorem et sic de aliis ut vidistis ostendere vobis declarative et exemplariter M2; Item secunda multiplicacio locorum habet se per unam divisionem falange vel alterius instrumenti dividens loca priora videlicet comoda per media parietum videlicet quod una falanga eciam habeat quinque loca et sic erunt in una habitacione decem loca ad que fit applicacio materie et sic consimili modo in aliis comodis M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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über die Bilder für Beweisführungen. Sechstens über die Bilder für Ansprachen. Siebtens über die Bilder für Gebete in besonderer Gestalt. Achtens über die Bilder für unbekannte Wörter. Was das erste betrifft: Wenn jemand Örter verwenden möchte, die zum Erinnern geeignet sind, erreicht man dies auf verschiedene Art [und zwar] zuerst, indem man ein reales Haus nimmt mit seinen Zimmern, die in eine Reihenfolge gebracht sind, und indem man fünf Örter in jedem Zimmer auswählt  – nämlich bei den vier Ecken und bei der Tür  – einschließlich der ihnen zugewiesenen Zeichen, damit die visuell vorgestellten Örter in ihrer Reihenfolge dem Gehirn stabil eingeprägt werden. So werden uns solche Örter, wie auch immer ihr Abstand beschaffen ist, gleichsam gegenwärtig vor Augen stehen. Ebenso können die fünf Örter in jedem Zimmer auf die folgende Weise vervielfältigt werden, indem andere fünf [dazukommen] mithilfe der Vorstellung, dass eine Stange (phalanga) alle diese Örter in den Zimmern durchbohrt, nämlich durch die Mitte der Wände, oder etwas anderes Trennendes. So werden in jedem belie-

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licet super valangam. Et talibus locis potest uti unusquisque practicans, quia omnia ista loca sunt capacia rerum memorandarum, et tantum de secunda multiplicacione.

cf. Rhetorica ad Herennium, III, XIX, 31/ Thomas von Aquin, Summa Theologiae, IIa- IIae, q. 49, a.1 ad 2

Sed quantum ad terciam multiplicacionem: Imaginandus [39r] est unus vir cum quinque membris et locandus est ad quemlibet locum unus, et sic erunt in uno comodo viginti quinque loca. Et primus locus in primo viro erit in dextro pede. Secundus in dextra manu. Tercius in corpore. Quartus in sinistra manu. Quintus in sinistro pede. Et simili modo in secundo loco camere et sic convenienter de aliis. Et ad talia loca virorum sunt imaginande imagines recte, sicut ad primam videlicet ad parietes. Et ista multiplicacio est subtilis et prerequirit prius agnum usum in arte. Vero quia ista loca virorum non sunt ita capacia rerum memorandarum sicut et priora. Sed tamen denique sunt utilia illi qui in arte aliquo modo sunt usitati. Quia prius dictum est per Tulium quod sollicitudo et consuetudo conservant integras sillabarum figuras, et similiter prius per philosophum in De memoria et reminiscencia quod meditaciones memoriam salvant, et dicit eciam ibidem quod consuetudo est altera natura, sic eciam est cum istis locis virorum; ut quando unus bene usitatus est in eis et memorie sue bene commendavit, tunc uni ita cita occurrunt sicut precedencia. Sed tamen magis laboriosa et quod non sunt ita capacia rerum memorandarum sicut parietes propterea servandus est modus predictus. Item nota quod loca in

1–15 Sed quantum… usitati] om. M1, M2, M3; Item si vis casus diccionum locare imaginetur homo corpulentus cuius statura sit divisa per cingulum ita quod superior pars significet numerum singularem inferior numerum pluralem et primus casus locetur super caput eius ut nominativus Genetivus in gutture Dativus in sinistra manu Accusativus in pectore Vocaticus in dextera manu Ablativus in iunctura dextere manus formando imagines non nimis potenciores ex dictis et locando eas secundum ordinem in singulari supra cingulum in plurali infra cingulum Item de applicacione autoritatum et allegacionum quod hoc fit supra membrum alicuius imaginis procedendo secundum certum ordinem et in tali imagine ita quod materia principalis locetur supra caput et prima allegacio seu autoritas sibi in humerum sinistrum et tercius locus in manu sinistra quartus locus in iuctura pedis sinistra quintus supra pedem sinistrum sextus supra pedem dextrum septimus in iunctura dextre pedis octavus in manu dextra Nonus locus super humerum dextrum decimus in pectore M4 16–/5 Quia prius… materiarum] om. M1, M2, M3, M4 

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bigen Zimmer zehn Örter sein, weil unten fünf [sind] und oben auch fünf, nämlich über der Stange. Solche Örter kann jeder Praktizierende gebrauchen, weil alle diese Örter aufnahmefähig sind für Erinnerungsinhalte, und so viel [genügt] zur zweiten Art der Vervielfältigung. Aber was die dritte Art der Vervielfältigung betrifft: Man muss sich einen Mann vorstellen mit fünf Gliedern, und ein Mann ist an einen jeden Ort zu setzen, und so werden in einem Zimmer fünfundzwanzig Örter sein. Der erste Ort im ersten Mann wird im rechten Fuß sein. Der zweite in der rechten Hand. Der dritte im Rumpf. Der vierte in der linken Hand. Der fünfte im linken Fuß. Desgleichen im zweiten Ort des Zimmers und so entsprechend bei den anderen. Bei solchen Örtern mit Figuren sind die Bilder auf rechte Weise zu imaginieren, wie zum Beispiel beim ersten, nämlich bei den Wänden. Diese Art der Vervielfältigung ist subtil und erfordert zuvor große Übung in der Kunst. Aber obwohl diese Örter mit Figuren nicht so aufnahmefähig sind für Erinnerungsinhalte wie die früheren, sind sie letztlich doch nützlich für diejenigen, die in der Kunst in irgendeiner Weise schon geübt sind. W[ie] zuvor durch Tullius gesagt wurde, dass Sorgfalt [im Einprägen] und Übung die unversehrte Bewahrung der Silbengestalten gewährleisten, und ähnlich zuvor durch Aristoteles in De memoria et reminiscentia, dass Übungen das Gedächtnis bewahren, wo er auch sagt, dass die Gewohnheit eine zweite Natur sei, so verhält es sich auch bei diesen Örtern mit Figuren; sobald einmal einer recht geübt ist in diesen Örtern und sie seinem Gedächtnis verlässlich anvertraut hat, dann kommen sie ihm so schnell in den Sinn, als seien sie gegenwärtig. Aber doch sind sie mühsamer und deswegen – weil sie nicht so aufnahmefähig für die Erinnerungsinhalte sind wie zum Beispiel Wände – ist die zuvor genannte Methode einzuhalten.

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hac arte debent in tantum esse incorporata notabili memorie, ut idem scit quottus locus a principio, quottus a medio aut quottus a fine recto ordine et retrograde. Qua loca prestant memorabilium ordinem, ut si tunc in his titubaret tunc in tota arte confundentur [39v], quia ista loca sunt fundamenta materiarum. 5

Item loca in hac arte eciam non debent esse nimis lucida, ne imagines splendore prefulgeant, ut patet de potencia visiva, quia obiectum nimis luminosum execat et exter[i]at visum. Et similiter non debent esse nimis tenebrosa, ne imagines obscurentur; propterea eciam non debent poni imagines ad angulos, quia magis 10 obscure starent quam in medietatibus. Simile ibi non potest fieri applicacio scripture sicut in medietatibus. Item nota sicut dictum est de tenebrositate. Si aliquod comodum esset ita tenebrosum, tunc imaginator imaginari debet quod habeat duas fenestras et ipsum esse ita luminosum sicut et reliqua comoda. 15 Item nota quare loca debent distingui per quinariam numerum et non per quaternariam sicut Tulius ponit et aliqui alie metriste. Quia quinarius numerus est aptissimus numerus ad numerandum; tum quia quem quis habere vult repente et cito potest invenire nume-

6–15 Item loca… comoda] om. M1, M2, M3; Item secunda regula quod loca non debent esse nimis lucida nec debent esse nimis obscura seu tenebrosa nec rotunda seu circulati sed bene distincta M4 16–/6 Item nota… locorum] cf. M1 [90v/91r]; Et ideo fit multiplicacio in quinque loca quia numerus quinarius est aptissimus numerus ad numerandum cum quia locum quem quis habere vult repente et cito potest invenire numerando a locis maioribus precedentibus Et eciam Ideo fit inscripcio materiarum in parietibus quia materie magis visibiles sunt in parietibus quam in angulis et modus Parisiensium levior et facilior est modo Tulii qui ponit per quatuor angulos et tam in disposicione locorum quam in applicacione materie quia Tulius tantum unam ponit applicacionem videlicet quoad intellectum Et modus iste prerequirit valde litteratos M3; Item ideo fit multiplicacio in quinque loca quia quinarius numerus est optimus numerus ad numerandum quia locum quem quis habere vult repente et cito potest invenire numerando comoda precedencia Eciam quia imagines magis illo modo sunt visibiles quam in angulis Et similiter in eis melius potest fieri applicacio quam in modo Tulii qui ponit quattuor angulos et Tulius tantum unam applicacionem ponit verbis quoad intellectum et iste modus prerequirit valde litteratos et intelligentes Si tamen placet alicui possit plura sumere quam quinque immo tot quot posset signa differencialia ibidem considerare melius tamen est contentare in quinque propter confusionem evitandam M4; om. M2 

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Ebenso merke, dass Örter in dieser Kunst soweit mit einer denkwürdigen Erinnerung verbunden sein müssen, dass der Betreffende weiß, der wievielte Ort es vom Beginn her ist, der wievielte von der Mitte und der wievielte vom Ende, in vorwärtsgehender und rückwärtsgehender Reihenfolge. Die Örter gewährleisten insofern die Reihenfolge des Erinnerungswürdigen, so dass, wenn einer von ihnen unsicher wäre, sie dann den ganzen Erinnerungsakt durcheinanderbrächten, weil diese Örter als die Grundlagen für die Inhalte dienen. Ebenso dürfen die Örter in dieser Kunst nicht allzu hell sein, damit die Bilder nicht durch ihren Glanz zu stark hervorleuchten, wie es deutlich wird am Sehvermögen, weil ein allzu lichtvoller Gegenstand den Gesichtssinn blendet und erschlägt. Auf ähnliche Weise dürfen sie nicht allzu finster sein, damit die Bilder nicht verdunkelt werden; deswegen dürfen die Bilder auch nicht in die Nähe der Zimmerecken gesetzt werden, weil sie [dort] mehr im Dunkel stünden als in der Mitte. Ebenso kann dort keine Anfügung einer Schrift stattfinden wie in der Mitte. Ebenso merke, w[as] zur Dunkelheit gesagt wurde. Wenn irgendein Zimmer so finster wäre, dann muss der Imaginierende sich vorstellen, dass es zwei Fenster hätte und dass es so hell sei wie auch die übrigen Zimmer. Ebenso merke, warum die Örter durch die Fünfzahl bestimmt sein müssen und nicht durch die Vierzahl, wie es Tullius ansetzt und einige andere Autoren. [Einmal], weil die Fünfzahl die geeignetste Zahl zum Zählen ist; dann, weil man einen Ort schnell finden kann, [wenn] man ihn augenblicklich haben will, indem

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rando loca precedencia per quinariam; tum eciam circa ipsam minus errare contingit eo, quod in quolibet comodo quinque numeri distincti inveniantur videlicet medietates, iuxta quattuor angulos et iuxta ianuam. Propterea levior est modus iste quam Tulii, qui distinguit habitaciones per quattuor angulos, et sic levior est modus tam 5 in applicacione materie quam in distinccione locorum. Item notandum quod debitus ordo locorum debet sum[m]i a sinistris versus dextram eundo conformis [40r] mocionis ut motus firmamenti ab oriente in occidentem procedentem. Et hoc fit ideo ut homo in pronuncciacione fit eque pronus recto ordine et retrograde 10 pronunciare. Eciam sinister locus magis conformis est visui eo quod in introitu visus magis inclinat se ad sinistram partem quam ad dextram. Item nota quod loca in hac arte habent se sicut cera in qua scribitur; et scriptum deletur cera permanente. Sicut eciam imagines rerum imaginantur ad loca et eciam delentur locis perma­ 15 nentibus.

7 Item notandum… sumi] Et primus locus in qualibet habitacione semper sit [fit  M2, M3]  M1,  M2, M3, M4 8 dextram] dextram manum  M2 8 ut motus] Motui ipsius M2 9 procedentem] procedente M1, M3; procedentem sicut vidistis Et ad illa loca fit applicacio materie M2; om. M4 9–13 Et hoc… ad dextram] al. M1 [90v]; Sed autem retrograde procedendo tunc oportet quod incipiatur ab ultimam [ultima M4] habitacionem [habitacione M4] Ut [et M4] iste locus qui fuit [est M4] ultimus recto ordine ille erit primus [retrograde et sic de singulis habitacionibus add. M4] retrograde procedendo M3, M4; om. M2 13–16 Item nota… permanentibus] Primo igitur [est M4] sciendum quod loca prerequiruntur in hac arte que [quia M3; om. M4] habent se tamquam fundamentum, deficiente isto deficient et omnia alia, et habent se sicut papirum ad scripturam vel aliquid [aliquod M4] aliud in quo scribitur quia in ista loca fit inscripcio materie et habent se sicut cera in qua [quo M3] scribitur et scriptum iterum deletur cera permanente et sic in locis istis [eciam add. M3, M4] materie delebuntur adhuc locis permanentibus ut [om. M4] iterum [om. M4] patebit [patet M3; om. M4] in [om. M4] practica [om. M4] M1, M3, M4; Et loca in hac arte comparantur bappiro aut aliquo alio in quo scribitur Quia in hiis locis fit inscripcio materie aut materiarum per imaginum affixionem seu applicacionem Et loca dant ordinem materie Cum hoc memoria naturalis per ea reflectitur sicut vidistis M2 

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man die vorhergehenden Örter mithilfe der Fünfzahl abzählt; ferner irrt man bei ihr auch weniger, weil in jedem Zimmer fünf gesonderte Zahlen gefunden werden, nämlich in der Mitte, bei den vier Ecken und bei der Tür. Deswegen ist die Methode leichter als die des Tullius, der die Wohnungen mittels der vier Ecken unterscheidet, und so ist die Methode leichter sowohl in der Anfügung des Inhalts als auch in der Unterscheidung der Örter. Ebenso ist es zu bemerken, dass die gebührende Reihenfolge der Örter von der linken Seite ausgehen muss, indem sie nach rechts läuft und von einer ähnlichen Bewegung ist, wie es die Bewegung des vom Osten in den Westen vor­ rückenden Himmels ist. Dies geschieht deshalb, damit der Mensch in der Rede gleichermaßen geneigt ist, in gerader wie rückläufiger Reihenfolge vorzutragen. Auch ist der auf der linken Seite befindliche Ort dem Sehen deswegen zuträglicher, weil sich beim Hineingehen der Blick mehr der linken Seite zuwendet als der rechten. Merke ebenso, dass die Örter in dieser Kunst sich verhalten wie Wachs, auf das geschrieben wird, wobei die Schrift gelöscht wird und das Wachs erhalten bleibt. So werden auch die Bilder für die Dinge an den Örtern vorgestellt

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Videlicet quod unus vult subtilare ingenium suum tunc imaginator debet imaginari quod ibi sit unus pannus rubeus, qui tegit omnia loca per omnia comoda, et sic materie delentur et comoda renovantur mediante colore rubeo; et ad istum colorem sunt imaginande imagines materiarum sicut ad priora. Et iterum aduc vellet 5 ponere imagines, tunc potest imaginari unum alium colorem videlicet nigrum, viridum et sic de aliis coloribus. Secundus modus est sumere loca ficta hic ut memorator constituet in mente sua per suam imaginacionem unum claustrum aut castrum aut domum diversis cameris ad instar domus realis iuxta diversitatem effectorum talibus cameris accomodatorum, ut per primam partam ubi intratur ibi sit habitacio ianitoris, post istam domus hospitum, post istam scuba, post istam camera †donum†. Et sic communiter ad libitum imaginantis et in qualibet camera imaginantur [40v] quinque res distincte sicud et in aliis cameris realibus videlicet iuxta quattuor angulos et iuxta ianuam; et quamvis ille modus sit laboriosus, et tamen est utile iuvenibus personis et istis, qui aliquo modo in arte sunt usitati. Quia Tulius in sua arte memorativa semper utebatur talibus locis fictis ubi dicit loca esse duplicia, scilicet vera et ficta; vera ut distinguendo domum per habitaciones et habitaciones per quattuor angulos. Et dicunt aliqui et capiunt loca ficta, de quorum numero eius †sive†. Sed tum est sciendum quod primus modus, videlicet in locis realibus, utilior et levior est quam iste cum locis fictis, propterea servandus est primus modus primis practicantibus, et qui in arte adhuc non sunt usitati. Quia natura nos magis iuvatur cum rebus in veritate et in re existentibus quam fictis; quia loca ficta non possunt imprimere ita fortiter species et cogitaciones ipsi

1–7 Videlicet… coloribus] Item [om. M3] delectio [Alia regula M3] materie [de delecione materiarum et M3] habet se per colores diversos videlicet quando posite sunt superius et inferius materie et [om. M3] per omnes habitaciones tunc imaginator imaginari debet quod ibi sit unus albus pannus tractus [pertractus M3] per omnes parietes habitacionum [habitaciones parietum M3] et sicut [sint M3, M4] omnes renovate [per istam albedinem add. M3] tunc ad istum pannum seu albedinem sunt imaginande materie recte [certe M3] sicut prius et sic de aliis pannis et coloribus [et ista regula valet ad materias non permansivas add. M3] M1, M3, M4; om. M2 8–/2 Secundus modus… primus modus] om. M1, M2, M3, M4 

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und wieder gelöscht, während die Örter selbst bleiben. Freilich, wenn einer seine Erfindungsfähigkeit verfeinern will, dann muss der Imaginierende sich vorstellen, dass dort ein rotes Tuch sei, das alle Örter in allen Zimmern bedeckt, [damit] die Inhalte gelöscht sind und die Zimmer mittels der roten Farbe neugestaltet werden; und auf dieser Farbe sind die Bilder für die Inhalte vorzustellen wie bei den früheren [Zimmern]. Wollte man abermals noch Bilder setzen, dann kann man sich eine andere Farbe vorstellen, nämlich Schwarz, Grün und so [ist es] auch mit anderen Farben. Die zweite Methode ist diese, erfundene Örter zu nehmen, so dass der Erinnernde mithilfe seiner Vorstellungskraft in seinem Geist ein Kloster oder eine Festung einrichtet oder ein Haus mit verschiedenen Zimmern, ganz wie ein reales Haus und [gestaltet] gemäß der verschiedenen, jeweils für solche Zimmer angepassten Ausführungen, so dass dort im Bereich des ersten Teils, wo man eintritt, die Wohnung des Pförtners sei, nach diesem das Gästehaus, nach diesem der Wachtposten,7 nach diesem das Zimmer […]. Und so insgesamt weiter nach Belieben des Imaginierenden, in jedem Zimmer werden fünf gesonderte Dinge abgebildet wie auch in den anderen realen Zimmern, nämlich bei den vier Ecken und bei der Tür; mag diese Methode auch mühevoll sein, so ist sie doch nützlich für junge Personen und für die, welche in irgendeiner Weise in der Kunst geübt sind. Tullius benutzte in seiner Gedächtniskunst immer solche Örter, die erfunden sind, wo er sagt, die Örter seien doppelt, nämlich wirklich und erfunden; die wirklichen wie zum Beispiel, wenn man das Haus in Wohnungen unterteilt und die Wohnungen in vier Ecken. Manche benennen und nehmen erfundene Örter, über deren Zahl […]. Aber dann muss man wissen, dass die erste Methode, nämlich mit realen Örtern, nützlicher und leichter ist als diese mit erfundenen Örtern. Deswegen ist die erste Methode von Anfängern zu beobachten und von denen, die in der Kunst noch nicht geübt sind. [Der Grund liegt darin], weil unsere Natur mehr von Dingen unterstützt wird, die in Wahrheit vorliegen und die tatsächlich existieren, als von erfundenen, und weil die erfundenen Örter die Vorstellungen

7 scuba: cf. scubiae, excubiae, ‚Wache, Wachtposten‘.

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memorie sicut loca sensibilia. Ergo loca sensibilia plus valent quam ficta; propterea servandus est primus modus. Quantum ad secundum: Si vis memorari substancias, pone ipsas realiter vel tuam imaginacionem omne in loco aliquid mirabile agere ad denominationem loci vel aliquid pati ab eodem mirabili 5 et ridiculoso. Et quantum fuerit mirabilior tanto de tanto memoria recentior. In propriis tamen nominibus hoc habet difficulta­ tem, nisi homo verum insignem ex officio, dignitate pulchritudine, monstruositate [41r] vel sibi notissimum ex spirituali conversacione patuerit. Et in substanciis spiritualibus oportet semper habere 10 recursum ad aliquid mirabile, quod operibus talium substanciarum appropriatur ut per seraphin, qui ardet in amore, ponetur candela ardens, pro cherubin liber plenus litteris aureis ex quo ut cherubin dicitur a plenitudine sciencie, pro throno sceptrum iudicis et sic de aliis. 15

3–7 Quantum… recentior] cf. M1 [92v], cf. M3 [239v]; om. M2, M4 7–10 In propriis… patuerit] Item nota [om. M4] de propriis nominibus consideranda sunt signa sanctorum si [ut M3] cognoverit [om. M3] [vt add. M4] pro Petro [ponam add. M3] clavem pro Paulo gladium [gladius M3] pro Katherina rotam pro Barbara turrim et sic de aliis Si autem sibi non occurrunt talia signa [tunc add. M3, M4] sibi [om. M4] unus ponat unum sibi [om. M3] notum isto nomine vocatum Si autem sibi [om. M4] non occurrerit [occurrit M3, M4] aliquis sibi [om. M3] notus [om. M3] isto nomine tunc potest ponere secundum [om. M3] quartam [tertiam M4] applicacionem videlicet secundum scripturam Et ista de propriis nominibus sufficiunt M1, M3, M4; Notandum est quod propria nomina habent quadruplicem noticiam Prima noticia habet se per signa certa que cognoscuntur in ecclesia Sicut Petrus per clavem Paulus per gladium Katharina per rotam Dorothea per sportam et cetera Secunda noticia habet se per aliquem sibi notum nomine sic vocatum ut Rudolphus aut Ruopertus. Tercia noticia habet se ad sonum aut vocem ut Berchtoldus Possum ponere pro noticia quoad sonum unum ursum. Quarta noticia Ista se habet quoad scripturas videlicet quando nulla aliarum occurrit Tunc locat unam littera Aut duas secundum quod incipit istud nomen ut ibi Berchtoldus Unum magnum B.E.R. Et quando memor erit illarum trium litterarum tunc occurrit sibi Berchtoldus. Nomina autem artificiorum cognoscuntur per instrumenta quibus mediantibus operatur ut aurifabrum per calicem Sutorem per calceum et fabrum per Babatum et sic de aliis M2 

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und Überlegungen dem Gedächtnis selbst nicht so stark einprägen können wie die sinnlichen Örter. Folglich leisten die sinnlichen Örter mehr als die erfundenen; deshalb ist die erste Methode zu beobachten. Was das Zweite betrifft: Wenn du dich an Substanzen erinnern willst, setze sie in realer Gestalt oder dein Vorstellungsbild an einen Ort, wo sie zur Bezeichnung des Ortes etwas Sonderbares tun, oder wo sie diesen sonderbaren und lächerlichen Akt über sich ergehen lassen. Je sonderbarer dies sein wird, desto frischer bleibt die Erinnerung. Doch bei Eigennamen tritt eine Schwierigkeit auf, wenn man nicht eine Person wahrhaft ausgezeichnet [machte] durch ihr Amt, ihre Würde, ihre Schönheit, ihre Scheußlichkeit, oder einem eine aus geistigem Umgang sehr vertraute Person vor Augen stünde. Auch bei den geistigen Substanzen muss man immer eine Bezugnahme auf etwas Sonderbares haben, damit es den Werken solcher Substanzen angepasst wird wie zum Beispiel im Fall des Seraphs, der in Liebe brennt: für ihn wird eine brennende Lampe gesetzt. Für den Cherub ein Buch voller goldener Buchstaben. In diesem Beispiel ist der Cherub nach der Fülle des Wissens benannt. Für den Thron [wird] der Stab eines Richters [genommen] und so weiter.

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sprichwörtliche Wendung (anonym)

Mt 7,6

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Sed talis modus est applicacione materie gravis est rudibus et non intelligentibus. Eo quod non possunt sibi formare tales imagines, propterea adhuc dandus est alter modus et alia applicacio materie per quem modum unusquisque rudium potest informari in duobus diebus cum artis practicacione. Quam Tulius et aliqui alii memoriste non posuerunt, videlicet practicando hanc artem memorativam in omnibus quattuor facultatibus. Sed tamen in facultate arcium maior est difficultas primis practicantibus quam in aliis, eo quod artes sunt de terminis, Et alie tres facultates sunt de rebus videlicet Ius canonicum medicina et theologia. Et secundum tales cicius sunt formande imagines quam secundum artes. Et sic patet quod maiori exercicio et labore oportet hominem hanc artem in artibus practicare. Et istud est quod amplius movetur ad artis nauseam quam ad perfeccionem acquirendam. Quam prima facie non possunt huius artis perfeccionem habere, nisi habuerint prius aliquem usum in arte. Sic eciam hoc patet de conpilacione philosophie dicens: Omnibus in rebus gravis est incepcio prima. [41v] Propterea thezaurus huius artis non debet omnibus indigentibus communicari, quia non perpenditur ab omnibus fructus eius et utilitas que vel qui sequitur ex ea. Sic eciam alias dicit: scriptura Nolite proicere margaritas inter porcos. Nam per artem presentem exilis scolaris posset sumere laudem magni doctoris. Nam staret bene doctorem aliquam mate-

1–16 Sed talis… usum in arte] Item nota quod maiori exercicio oportet hominem hanc artem in artibus practicare quam in aliis tribus facultatibus videlicet [in add. M3] iure canonico medicina [et in add. M3] Theologia quia artes sunt de terminis alie autem tres facultates sunt de rebus et secundum tales cicius formande sunt imagines quam secundum artes Et sic magis oritur nausea artis memorative in artibus quam in aliis tribus [om. M3] facultatibus M1, M3; Item nota quod maiori exercicio oportet hominem hanc artem practicare in artibus et in factis terminabilibus que sunt de terminis et signis quam in aliis scienciis que sunt de rebus videlicet de iure canonico medicina et theologia quia secundum res citius formande sunt imagines quam secundum artes et sic magis oritur nausia artis memorativa in artibus quam in aliis rebus seu facultatibus M4; om. M2 17–/2 Sic eciam… pronunciare] om. M2 17–18 Sic eciam… prima] Ut dicit Aristoteles M4; om. M1, M3 18 thezaurus huius artis] om. M1, M3, M4 19 communicari] communicare M4 19 perpenditur] perpendatur M1 20 vel qui] illis M4 21–22 Sic eciam… porcos] om. M1, M3, M4 22 Nam… exilis] Nam staret bene quod ex illis [exilis M3, M4] M1, M3, M4 23 Nam staret] et stat M3; Nec staret M4 

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Doch ist eine solche Methode hinsichtlich der Einfügung des Inhalts schwierig für Unerfahrene und Unverständige. Weil diese keine entsprechenden Bilder gestalten können, muss man noch eine andere Methode und eine andere Art der inhaltlichen Einfügung angeben, durch die ein jeder Ungeübte in zwei Tagen unterrichtet werden kann, wenn eine praktische Anwendung der Kunst erfolgt. Diese Anwendung haben Tullius und einige andere Mnemotechniker nicht angeführt, nämlich die Ausübung der mnemotechnischen Kunst in allen vier Fakultäten.8 Doch ist in der Fakultät der Artes die Schwierigkeit für die Anfänger größer als in anderen Fakultäten, weil die Artes sich mit Begriffen befassen, und die anderen drei Fakultäten mit Dingen, nämlich das kanonische Recht, die Medizin und die Theologie. Für solche sind Bilder leichter hervorzubringen als für die Artes. So ist es klar, dass ein Mensch diese Kunst in den Artes mit mehr Übung und Mühe ausüben muss. Das ist der Grund, weshalb er mehr zum Abscheu vor der Kunst veranlasst wird als dazu, ihre Vollkommenheit zu erreichen. Solche Personen können Vollkommenheit in der Kunst bei erster Einsichtnahme nicht erwarten, wenn sie nicht vorher etwas Übung in der Kunst erworben haben. So erhellt dies auch aus einer Kompilation der Philosophie, lautend: „Bei allen Dingen ist der erste Anfang schwer‘. Deshalb darf der Schatz dieser Kunst nicht allen Interessenten mitgeteilt werden, weil nicht von allen der Ertrag und die Nützlichkeit, die aus ihr folgen, [richtig] eingeschätzt werden. So sagt die Schrift auch an anderer Stelle: ‚Werft die Perlen nicht vor die Säue“. Denn durch die vorliegende Kunst wäre ein unbedeutender Scholar in der  Lage, den Ruf eines großen Gelehrten zu erlangen. Denn es könnte gut sein, dass ein Gelehrter irgendeinen Inhalt sto-

8 quattuor facultatibus: im Anschluss an das Modell der Pariser Universität übliche Einteilung in mittelalterlichen Universitäten; das Artesstudium wird als Vorbereitung auf einen höheren Studiengang (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) durchlaufen.

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riam cespitando narrare, scolarem vero per magisterium artis illam prompte exterius, recto ordine et retrograde, pronunciare. Et forte ideo Aristoteles hanc artem in obscuris tradidit verbis dicens:  Memoriam aut duo salvant scilicet posicio sub ordine et frequens meditacio ut prius declaratum est superius. In hoc quod 5 dicit Aristoteles posicio sub ordine tangit unum in diffinicione Tulii, qui dicit ex locis et cetera. Nam ponere ad ordinem hoc presupponit locum. Recto dicit: frequens meditacio. Et Tulius dicit: ex imaginibus. Nam meditare est ad se imagines et intellectus rerum capere. Et concordat diffinicio Aristotelis cum diffini- 10 cione Tulii, quamvis Aristoteles magis obscure posuit diffinicionem suam. Iterum nota de applicacione materie secundum artem presentem que fit ad loca predicta[m] videlicet minora que habentur in comodis. Et ista applicacio habet se tripliciter videlicet secun- 15 dum intellectum effectum, sonum vocem, scripturam.

1 cespitando] cespitare aut cespitando M4 1 artis] artis huius  M1, M3 2 prompte] promptem  M1 3–4 Aristoteles… dicens] sim.  M1 [95r], M3 [241v]; summus princeps philosophorum totam artem memorativam in de memoria et reminiscencia brevibus et obscuris verbis explicat dicens M4 4 aut] autem M1, M4 5–7 ut prius… ex locis et cetera] om. M1, M3, M4 5–12 In hoc… diffinicionem suam] om.  M2 7–8 Nam ponere… locum] In qua diffinicione tangit loca [et imagines loca add. M4] quia ponere ad [om. M3] ordinem [ponere M] presupponit [supponit M4] loca [locum et M3; locum M4] imagines M1, M3, M4 8–10 Recto… capere] In hoc quod dicit frequens meditacio quia meditare est ad se imagines et intellectus rerum capere et [similiter M4] cetera [om. M4] M1, M4; om. M3 10–12 Et concordat… diffinicionem suam] om. M1, M3, M4 13–16 Iterum nota… scripturam] Quarta [om. M4] regula [om. M4] Et [Nunc videndum est M4] pro [de M4] secundo [illo M4] principali videlicet de applicacione materie est [ubi M4] notandum [nota M4] quod applicacio habet se quadrupliciter [equaliter M4] in arte videlicet quoad intellectum secundo quoad sonum tercio quoad [per M3] scripturam quarto per capita dictionum et illorum [illarum M4] convenienciam quam habent ad alias dictiones significativas M1, M3, M4 13–15 Iterum nota… comodis] om. M2 15–16 Et ista… scripturam] Et notandum est quod ibi tres sunt noticie omnium materiarum per quas cognoscuntur materie M2 

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ckend9 wiedergibt, der Scholar aber durch die Lehre der Kunst diesen Inhalt ohne Zaudern, vorwärts und rückwärts, auswendig vorträgt. Vielleicht übermittelte Aristoteles die Kunst deshalb in dunklen Worten, indem er sagt: „Zwei Dinge halten die Erinnerung fest, nämlich die Verwendung einer Ordnung und häufige Übung“, wie schon weiter oben erläutert. Dadurch, dass Aristoteles dabei die Verwendung einer Ordnung erwähnt, berührt er einen Punkt aus der Definition des Tullius, der sagt: aus Örtern und so weiter. Denn das Aufstellen nach einer Ordnung setzt einen Ort voraus. Auf rechte Weise sagt er: eine häufige Übung. Und Tullius sagt: aus Bildern. Denn das Üben beinhaltet, sich auf Bilder und die Vorstellung der Dinge zu besinnen. Die Definition des Aristoteles stimmt mit der des Tullius überein, obwohl Aristoteles seine Definition weniger verständlich fasste. Beachte abermals, was die kunstgemäße Anfügung des Inhalts betrifft, die vorgenannten Örter, nämlich die kleineren, die sich in den Zimmern befinden. Diese Anfügung verhält sich dreifach, nämlich gemäß einer hervorgerufenen Vorstellung, gemäß einem Klang oder Wort und gemäß der Schrift. Ein Beispiel für das

9 cespitare: Ausdruck für ein auf unebenem Gelände strauchelndes Pferd (cf. caespes, ‚Rasenstück, Boden‘).

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

Exemplum primi, ubi secundum intellectum est; formandus imago ut impotencia pro potencia: imaginandus est unus potens vir videlicet miles vel abbas vel virum alium potentem [42r]. Exemplum secundi quoad sonum: imaginandus est unus qui potat.

1–3 Exemplum… potentem] Prima noticia est per quam quis potest sibi formare imaginem Est quoad intellectum et sensum materie. Sic quod secundum eundem intellectum aut sensum materie sumat sibi unam imaginem Sicut ibi Beatus venter Arbor bona Honora medicum Deus resistit superbis et cetera prout scitis M2 1 ubi secundum] quoad intellectum vel [ut M3] ubi [ibi M3] secundum  M1, M3, M4 1 formandus] formanda  M1, M3; formanda est M4 2 impotencia pro potencia] pro [om. M3, M4] potencia pro ista materia  M1, M3, M4 2–3 potens vir… potentem] dux vel princeps vel [om. M3] miles et [aut M4] sic [unus M4] de aliis [om. M4] potentibus vel sapiencia pro ista dictione potest imaginari unus civium de consilio vel unum [unus M3; om. M4] canum [canus M3] hominem [homo vel talis et sic de aliis M3] quia in talibus presumitur sapiencia M1, M3, M4 3–4 Exemplum secundi… potat] Exemplum secundi quoad [om. M3] sonum [om. M3] ut [Et ibi M3] liberi arbitrii [ut Esdras add. M3] pro isto [primo M3] potest [possum M3] imaginari [unus imaginare M4] unam arborem cum libris vel unum hominem qui est [esset M3] liber proprie [sicut M4] frey [Erfurt Meidburgnis M4] M1, M3, M4; Secunda noticia habet se quoad sonum aut vocem per quem sonum aut vocem format sibi imaginem per quam venit ita bene ad noticiam que aut qualis sit materia recte sicut per intellectum Exempli gracia ut ibi Ars imitatur naturam in quantum potest Vel illa Ignorancia inest homini ex vicio Vel ibi volenti proficere nihil est difficile Vel ibi ab humana natura deviat qui scienciam et intelligenciam non desiderat Vel ibi imber et cetera M2 

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Erste, wo die Anfügung gemäß einer Vorstellung geschieht; zu gestalten ist ein Bild, wie zum Beispiel ‚Ohnmacht‘ (impotentia) für ‚Macht‘ (potentia): Man muss sich einen mächtigen (potens)  Mann vorstellen, nämlich einen Ritter oder Abt oder einen anderen mächtigen  Mann. Ein Beispiel für das Zweite, hinsichtlich

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Exemplum tercii quoad scripturam sicut scriptum est cum creta et magna scriptura et postea tercii et, quando tunc volueris habere memoriam iscius diccionis, tunc primo recordabis quod ibi sit poscriptum cum magna creta et postea tercii, et sic incidit tibi quod debet vocari potencia et sic de aliis. Terminis significatis vel 5 per quas vel per quos non potest fieri applicacio secundum istas

1–/2 Exemplum tercii… declaratum est] Exemplum tercii [om. M3] quoad scripturam ut Bertoldus [Nicodemus M4] possum imaginari [imaginare M4] quod [pro M3] ista diccio [diccione quod ista diccio M3] sit divisa in duas silabas [om. M3] et iste sint scripte cum magna creta [cera M3] vel robrica in [om. M3] suo [om. M3] loco [om. M3] et primo stat Ber [Nico M4] scriptum et postea tol [demus M4] et quando tunc [om. M3] vult habere memoriam istius tunc primo recordatur quod ibi sit Ber [Nico M4] et postea tol [demus M4] Et [om. M3] sic [tunc M3; om. M4] incidit sibi quod [om. M3] debet [ista M3] vocari [diccio M3] Bertoldus [Nicodemus Sic eciam dicendum est de h[…] Bertoldus quod dividatur in duas sillabas quod primo stat Ber secundo tolt et sic incidit sibi Bertoldus M4] et sic [Sic etiam est M4] de aliis [om. M4] terminis non significativis ubi non potest haberi intellectus aut [nec M3; ut M4] sonus tunc unus potest sibi imaginari [imaginare M4] scripturam sicut iam [om. M4] declaratum est M1, M3, M4; Tercia noticia est per quam formantur imagines Et per quam quis poterit venire ad noticiam quod scire poterit qualiter vocatur materia Ista habet se per scripturam Et illa noticia habet se tamquam medium In aliis duabus superioribus Quia quando superiores noticie non occurrunt ad formandum sibi ex hiis imagines tunc locat noticiam scripture per unam litteram aut duas Exempli gracia ut ibi ab humana natura deviat et cetera Pro noticia scripture possumus locare unum magnum A et unum magnum B et ita magnum quod locus fix posset capere Vel ibi Benedicite imber unum magnum I et M et quando habuero memoriam illarum litterarum Tunc occurrit michi imber Et hiis noticiis quoad scripturam Noticia scripture fieri debet Quando alie due haberi non possunt videlicet noticia intellectus vel sonus aut vocis M2 

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eines Wortes: Man muss sich einen Menschen vorstellen, der trinkt (potat). Ein Beispiel für das Dritte, hinsichtlich der Schrift: Wie zum Beispiel, wenn geschrieben ist, mit Kreide und in großer Schrift: ‚et postea tercii‘, und du die Erinnerung an diesen Ausdruck wieder aufrufen möchtest, dann wirst du dich zuerst daran erinnern, dass dort mit großer Kreide nachgesetzt ist ‚et postea tercii‘, und so fällt dir ein, dass es heißen muss potencia und so weiter. Wenn Begriffe ange-

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duas applicaciones, videlicet intellectum ad sonum, tunc applica[ta] secundum scripturam sicut iam declaratum est.

Item nota quod in ista consistit tota ars memorativa et huius artis subtilitas et aliis multiplicacionibus verborum dimissis que possunt elici ex dictis autorum predictorum. Primo quod debita disposi- 5 cio secundum debitum ordinem videlicet quod scitur quod sit primum comodum in ordine, quod secundum, quod tercium, quod

2 declaratum est] Eciam fuerat dictum per [uel per M4] capita dictionum id [om. M3] est [om. M3] per inicium et illorum [uel add. M4] convenienciam quam habent ad alias dictiones significativas Exemplum ut in [om. M3] potencia incipit se a [transit ad M4] po et potare eciam a [transit ad M4] po et sic quoad inicium [q. i. om. M4] posset [possem M3; M4] ponere [intelligi M4] unum qui potaret [portaretur M4] et quando tunc [om. M4] istius haberet [haberem M3] memoriam tunc [michi add. M3] occurreret sibi [inicium M3; sibi inicium istius silicet M4] in [om. M3; M4] casu [om. M3; M4] potencia Et sic [om. M3; M4] applicacio [talis applicatio generaliter fit in istis materiis […] bene scilicet note sit quam solum latet inicium propter s[…]uare ordinem ut communiter sit in versibus prime partis et applicatio radd. M4] habet se quadrupliciter Et sic habetur intencio Aristotelis et Tulii Quia Tulius dicit ex imaginibus et locis ars memorativa constare videtur perfecta loca in hac [om. M3] arte [memorativa add. M3] dant ordinem materie Sed [si M4] imagines ducunt eum [ipsum M3; nos M4] in [ad M3] cognicionem materie [seu materiarum add. M3] videlicet [scilicet M4] quod ipse scit [quod scimus M4] de qua re est ipsa [om. M4] materia vel qualiter vocatur add. M1, M3;M4 3–/9 Item nota… retrograde] om. M2 3 Item nota quod] Et M4 3 ista] isto M1, M3 3–5 tota… autorum] virtus tocius artis memorative M4 4 possunt] possent M3 5 predictorum] per quam [quem M4] unusquisque rudium potest informari [informare M4] in quatuor vel in [om. M3] quinque horis ut [quem modum artis iscius aliqui alii memoriste non posuerunt M4] patebit [om. M4] in [om. M4] eius [om. M4] declaracione [om. M4] add. M1, M3, M4 5–/9 Primo… retrograde] Item prima [tercia M4] regula [quod add. M4] istorum locorum maiorum debet fieri debita [disposicio et add. M3] distinctio [disposicio M4] secundum debitum ordinem videlicet quod scitur que sit habitacio prima que secunda que tercia que quarta [que quarta om. M4] et sic de aliis usque ad ultimam. Sic simili modo quod sciat habitaciones retrograde numerare que ultima que penultima [que ultima que penultima om. M4] que [sit add. M4] circa penultimam et sic de singulis usque ad primam. Et oportet quod ideo fiat ordo debitus quia si unam habitacionem obmitteret tunc obmitteret istam materiam que esset in ista habitacione et sic fieret error [Item quod iste habitaciones per primam multiplicacionem multiplicantur in quinque loca add. M4] propterea oportet quod fiat debita disposicio et debitus ordo [propterea… ordo om. M4] et cetera [et cetera om. M3, M4] M1, M3, M4 

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geben wurden, oder [andere Inhalte], durch die keine Anfügung gemäß diesen beiden Arten der Anfügung geschehen kann, nämlich gemäß einer Vorstellung nach einem Wort, dann nimm eine Anfügung gemäß der Schrift vor, wie es schon erklärt wurde. Ebenso merke, dass darauf die ganze Ars memorativa mit ihrer Subtilität beruht, wenn man andere Möglichkeiten der Vervielfältigung von Wörtern weglässt, die bei den genannten Autoren ausfindig gemacht werden können. Erstens, dass eine gebührende Anordnung gemäß der gebührenden Reihenfolge [vorliegt], nämlich dass man weiß, welches das erste Zimmer in der Reihenfolge ist, welches das

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quartum et sic deinceps usque ad ultimum; et sic similiter retrograde, quod scitur quod est ultimum quod penultimum et sic de singulis usque ad primum. Secundo quod scitur quod quodlibet comodum multiplicatur in quinque loca et hoc per primam multiplicacionem, videlicet quod primus locus recto ordine semper sit a 5 sinistris, et quod ianua dividet duo loca, et sic similiter retrograde procedendo. Iste locus, qui fuit ultimus recto ordine, iste erit primus retrograde et sic per omnia comodo procedendo. Sed semper capiendo ultimum locum pro primo retrograde. Item nota quod locus in perpetuo est disposicio imaginativa 10 per quam memoria naturalis reflectitur. Item nota de quotto locorum quando queritur de quotto, tunc consideranda [42v] sunt solum comoda, ut quando queritur a principio, tunc consideranda sunt solum comoda precedencia. Si autem queritur de quotto a fine, tunc considerande sunt solum comoda sequencia. Exemplum 15 primi quando queritur primus locus in quarto comodo quottus locus a principio, tria comoda precedunt et in istis sunt quindecim loca – et inquisitum est de primo loco in quarto comodo – et erit sedecimus a principio. Si autem queritur a fine, videlicet primus

10–/6 Item nota… querendis] om. M2 10–11 Item nota… reflectitur] om. M1, M3, M4; Nunc dicendum erit de locis et locus in proposito sic describitur Est disposicio imaginaria per quam memoria naturalis reflectitur M2 11–16 Item nota de quotto… Exemplum primi] Tercia regula quando quiritur [queritur M3] de quotto locorum minorum sive de materiis a principio tunc considerande sunt tantum habitaciones [precedentes add. M3] ut exempli gracia M1, M3; Item notandum quando queritur de quoto locorum minorum tunc considerande sunt tot habitaciones quot precedunt et quot sequuntur Si queritur de quoto a principio idest a primo loco alicuius habitacionis tunc considerande sunt habitaciones precedentes ut exempli gracia M4 16 quando] Si M1, M3, M4 16 quarto comodo] quarta comoda M4 17 locus] om. M1, M3, M4 17 tria comoda] Tres habitaciones M1, M3, M4 18 loca] om. M1, M3, M4 18 inquisitum] quesitum M1, M3; quesita M4 18 primo loco] primo M1; prima M4 18 quarto comodo] quarta comoda M4 18 et] igitur M1, M3, M4 19–/6 primus locus… querendis] octava comoda sequuntur et in istis sunt loca et in isto loco in quo quesitum est eciam sunt quinque et sic primus locus in quarta comoda erit 41mus [quadragesimus primus] locus et sic de aliis comodis querentis M4 

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zweite, welches das dritte, welches das vierte und so weiter bis zum letzten; und ebenso rückwärtsgehend, dass man weiß, welches das letzte ist, welches das vorletzte und so mit den einzelnen Zimmern weiter bis zum ersten. Zweitens, dass man weiß, dass jedes Zimmer sich auf fünf Örter erweitert, und dies mittels der ersten Vervielfältigung, nämlich dass der erste Ort in gerader Reihenfolge immer auf der linken Seite ist und dass eine Tür zwei Örter teilt, und so gleicherweise, wenn man rückwärts vorgeht. Dieser Ort, der der letzte war in gerader Reihenfolge, wird rückwärtsgehend der erste sein, und so ist es beim Fortschreiten durch alle Zimmer. Aber immer in der Weise, dass man den letzten Ort rückwärtsgehend für den ersten nimmt. Ebenso merke, dass der ‚Ortʻ fortwährend eine imaginative Anordnung darstellt, durch die das natürliche Gedächtnis sich widerspiegelt. Ebenso sei aufmerksam in Betreff der Abfolge der Örter, wenn nach dem wievielten Ort gefragt wird, dann sind allein die Zimmer zu prüfen, wenn zum Beispiel gefragt wird nach dem Beginn, dann sind allein die [in der Reihenfolge] vorangehenden Zimmer zu beachten. Wenn aber gefragt wird nach dem wievielten Ort vom Ende her, dann sind allein die folgenden Zimmer zu beachten. Ein Beispiel für den ersten Fall, wenn nach dem ersten Ort im vierten Zimmer gefragt wird, der wievielte Ort es vom Beginn [sei], dann gehen drei Zimmer voraus und in diesen sind fünfzehn Örter – gefragt wurde nach dem ersten Ort im vierten Zimmer –, so dass es der sechzehnte vom Beginn sein wird. Wenn aber vom Ende her gefragt wird –

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locus in quarto comodo quottus locus a fine, consideranda sunt solum loca sequencia dicto commodo secuntur et in istis sunt quadraginta loca; et quesitum fuit de primo loco in quarto comodo, et ibi eciam sunt quinque loca, et sic primus locus erit quadragesimus quintus a fine, et sic consequenter de aliis locis queren- 5 dis. Secunda multiplicacio locorum est, quod quodlibet comodum multiplicatur in decem loca, videlicet per divisionem phalange vel alterius instrumenti, dividens ista loca priora per media parietum. Et sic fiunt decem loca in una habitacione videlicet inferius quinque 10 et superius eciam quinque. Tercia multiplicacio fit per unum virum vel per eius membra sicut superius sufficienter declaratum est. Item nota imago in proposito nichil aliud est quam quedam similitudo mente, per quam homo faciliter devenire potest ad noticiam rei actualis, cuius vult memorari. Item nota quoad 15 secundum principale videlicet ad applicacionem materie, quia ista habet se in arte triplicter videlicet secundum intellectum effectum vocem vel sonum [43r] vel scripturam ut supra. Item post hoc 1 comodo] comoda M 1 locus] est M1; om. M3 1–2 consideranda… commodo] octo comoda M1; octo camare M3 2 secuntur] sequuntur M1 3–4 et quesitum… et ibi] et in isto comodo in [de M3] quo quesitum est M1, M3 4 loca] om. M1, M3 4 locus] locus in quarto comodo M1, M3 5 a fine] locus M1; locus a fine M3 5–6 et sic… querendis] Et sic simili modo querendum [om. M3] est [om. M3] de aliis comodis [querendis M3]  M1, M3 7–11 Secunda… eciam quinque] cf. supra M [38v], M1 [92r], M2 [9v], M3 [239r–239v], M4 [87v] 11–15 Tercia… memorari] cf. supra p. 47; cf. M4 [91r]; om. M1, M3 11–13 Tercia… declaratum est] Tercia multiplicacio habet se per unum virum aut viros sibi notos Sicut vidistis et ita multiplicacio habet se per membra viri Sicut vidistis in practica et declaracione vobis facta M2 13–15 Item nota imago… memorari] In proposito est quedam similitudo in mente per quam homo feliciter devenire poterit ad noticiam rei actualem Cuius tunc vult habere memoriam  M2 15–18 Item nota quoad… supra] cf. supra p. 71; cf. M1 [91r], M3 [238v], M4 [87r]; om. M2 18–/2 Item post… digitorum] Item regula non impedicionis habet se per menbra digitorum M1; Regula per quam quis non potest impediri per accessum Aut per strepitum seu ga[…] tacionem Ista regula habet se per membra digitorum sicut vidistis ad oculum M2; Alia regula non impedicionis que habet se per membra digitorum M3; Item regula non impedicionis ut aliquis non impediatur in ordine dicendorum tunc debet cum vno digito tene locum in mebris digitorum ut si aliquis accederet predicatorem in modo sermonis || committendo sibi aliquam memoriam faciendo tunc esset in materia sexte habitacionis tangit cum pollice Et in sinistra manu debet primo incipi et in vna manu ponuntur sex [6] loca et tunc eundo ad manum secundam […] M4 

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nämlich der erste Ort im vierten Zimmer, der wievielte Ort es vom Ende her sei –, sind allein die folgenden Örter zu beachten, sie folgen dem genannten Zimmer, und in diesen sind vierzig Örter; gefragt wurde nach dem ersten Ort im vierten Zimmer, und auch dort sind fünf Örter, und so wird der erste Ort der fünfundvierzigste vom Ende her sein, und entsprechend [betreibe man] die Suche nach anderen Örtern. Die zweite Vervielfältigung der Örter besteht darin, dass jedes Zimmer sich auf zehn Örter erweitert, nämlich mittels der teilenden Stange oder eines anderen Werkzeugs, das diese früheren Örter durch die Mitte der Wände teilt. So entstehen zehn Örter in einer Wohnstätte, nämlich unten fünf und oben auch fünf. Die dritte Vervielfältigung geschieht durch einen Mann oder durch dessen Glieder, sowie es oben hinlänglich erklärt wurde. Ebenso merke, dass ein Bild bei dem Vorhaben nichts anderes ist als eine gewisse mentale Ähnlichkeit, durch die ein Mensch leicht zur Kenntnis der wirklichen Sache gelangen kann, an die er sich erinnern will. Ebenso merke hinsichtlich des zweiten Hauptpunktes, nämlich der Anfügung des Inhalts, dass diese sich in der Kunst dreifach verhält – nämlich gemäß einer bewirkten Vorstellung, einem Klang oder Wort oder der Schrift, wie oben behandelt. Daraus folgt, dass keiner in der Rede oder in einem anderen Inhalt ins

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sequitur quod nullus potest impediri in sermone vel alia materia, et hoc habetur in membris digitorum. Item postea sequitur de numero, qui habet se per talia instrumenta et non per significacionem scripture videlicet digitorum et articulorum. Item post hoc sequuntur de delecione materie videlicet 5 †delendum marn† per colores diversos. Et iste est modus artis memorative superficialiter et effective collectus, per quem uniusquis­que rudium potest informari et lucidiorem estimacionem ponere; et ista sufficiant de arte. Quantum ad tercium: Si vis memorari accidencia, ex quo talia non 10 habent propriam noticiam sed eorum noticia a substancia dependet, pro memoria eorum agendum est et eodem modo quo agunt rethores, qui numquam vel raro rem nominant proprio nomine, sed nomine subiecti sui, in quo est excellencia, ut longum dicunt gigancium, breve dictum pigweum; vel unus respiciat modum pre- 15 cedentem, secundum quem practicabit videlicet quod tibi incidit secundum effectum sonum vel scripturam. Item si diceret aliquis: quomodo debemus nobis abstrahere similitudines rerum compositarum sicut autoritatum vel causarum?

3–9 Item postea… de arte] om.  M2 3–5 Item postea… articulorum] Item de quotto sive postulacionibus materiarum iste fit per digitos et articulos et hoc summendo pro ipsis realia instrumenta ex quo res magis movent [commovent M3] animam quam scriptura M1, M3; cum aliqui tamen ponere solent quottum per scripturas sed primus modus melior add. M3; Item de quotu siue de postillacionibus materie seu allegacionibus ista fit per digitos articulos arismetricales ut pro unitate hastam pro dualitate falcem pro tercio caudam porci et sic de aliis Potest imaginari unus et sic talis quotus potest sibi poni ad manus et hoc sumendo pro ipsis realia instrumenta ex quo res magis movent animum quam scripture et ille figure debent sic formari videlicet in hiis metris Vnum dat finger sichel duo significabit Schwinzagel dat tria worstbogel quattuor tibi signat Reiffstab dat quinque widder dat tibi sex Septem dat sparr kette octo Novem quod dat kuͤ le finger cum ringgel decem tibi significabit M4 5–6 Item post… diversos] cf. supra p. 57; cf. M1 [92r–92v], M3 [239v], M4 [87v] 6–9 Et iste… de arte] om. M1, M3, M4 10–17 Quantum ad tercium… scripturam] om. M2, M4 10 Quantum ad tercium] Item nota M1; Alia regula de accidentibus M3 10 memorari] locare M1, M3 11 a substancia] in substancia M3 12–17 pro memoria… vel scripturam] videlicet pro iusticia possum ponere gladium que [quia M3] reddat [reddit M3] unicuique quod suum est pro longitudine possum ponere aliquid gigancium [gigantum M3] vel pro brevi ponam pigwem et sic de aliis M1, M3 18–/9 Item si… exemplariter] sq. M1; hab. M1, M3 

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Stocken geraten kann, und dies hält man mittels der Fingerglieder fest. Desgleichen wird ein Abschnitt über die Zahl folgen, die durch solche Werkzeuge (nämlich der Finger und Gelenke) erinnert wird und nicht durch eine schriftliche Bezeichnung. Ebenso folgen danach Abschnitte über die Löschung von Inhalten, nämlich […] durch verschiedene Farben. Dies ist eine elementare, aber wirksame Zusammenstellung der mnemotechnischen Methodik, durch die jeder Unkundige unterrichtet werden und eine klarere Einschätzung anstellen kann; und dies soll über die Kunst genügen. Was das Dritte betrifft: Wenn du dich an Akzidenzien erinnern willst, weil sie ja keinen eigenen Begriff haben, sondern weil ihr Begriff von den Substanzen abhängt, so muss man, will man sie erinnern, auf dieselbe Weise vorgehen wie Redner. Diese nennen niemals oder selten eine Sache mit eigenem Namen, sondern in übertragener Weise [metaphorisch], wobei etwas Hervorstechendes benannt wird, wie sie zum Beispiel zu etwas Langem ‚riesenhaft‘ sagen, zu etwas Kleinem ‚zwergenhaft‘;10 oder einer könnte die vorhergehende  Methode beachten und wird ihr gemäß handeln, nämlich dass [ihm] die Sache nach dem bewirkten Klang oder der Schrift einfällt. Ebenso, wenn irgendjemand sagte: Auf welche Weise sollen wir die Ähnlichkeiten zusammengesetzter Dinge ableiten,

10 pigweum: cf. gr. πυγμαῖος (‚eine Faust lang‘).

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Lc 11,27 Thomas von Aquin, Summa theologiae, Ia-IIae, q.1 a.2 Mt 7,17 Sir 38,1 Dt 5,20 I Pt 5,5 cf. Mt 25,13/ Mt 26,41

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Respondetur quod similitudines talium summuntur racione sensuum totalium. Ita quod sensus totalis alicuius autoritatis applicare potest per aliquod novum ridiculosum et cetera. Ut beatus venter qui te portavit, Omns motus extendit se ad aliquem terminum, Arbor bona facit bonos fructus, Honora medicum propter nec- 5 cessitatem, Non loqueris contra proximum tuum malum nec falsum testimonium, Superbis deus resistit, Vigilate et orate quia nescitis diem neque horam. Et simili modo in proposicionibus et in argumentis ut patet exemplariter. Quantum ad quartum: Si vis memorari proposiciones, suffi- 10 cit rem ponere principalem vel noticiam, de qua fit talis proposicio obiectivaliter attribuendo ei actum impertatum per capitulam eiusdem proposicionis et quod eundem actum vel effectum exerceat in suo loco, videlicet per aliquid materiale, ut in exemplo azinus per medium celi volat: Imaginandus est azinus et quod 15 habeat alas et extendit eas [43v], quasi vellet volare. Quando tunc imaginaberis loco eum huiusmodi tunc veniet tibi ista proposicio: Azinus per medium celi volat.

4 Omns] omnes M1 10–18 Quantum ad quartum… volat] om. M2 10 Quantum ad quartum… proposiciones] Et simili modo in proposicionibus et in argumentis ut patet exemplariter Item si vis proposiciones locare M1; Si vis proposiciones locare M3, M4 10 sufficit] tibi add. M3 11 noticiam] nociorem M1, M3, M4 11 fit] est  M1, M3, M4 12 obiectivaliter] abiectivaliter  M1; adiectivaliter M3 12 ei] om. M1 12 6 impertatum] importatum M4 12 capitulam] copulam M3 13–14 et quod… materiale] ut leo mirabiliter respicit pro imagine istius [ipsius M3] ponendus est leo et [in M3] loco suo hinc inde se [om. M3] respiciens et quando hinc [tunc M3] memoraberis loco cum huiusmodi similitudine tunc incidit tibi illa proposicio leo mirabiliter respicit M1, M3; ut leo mirabiliter respicit hominem et quando tunc memoraberis locum huius similitudinis tunc incidit tibi ipsa proposicio leo mirabiliter respicit M4 14 ut in exemplo] Exemplum secundi M1, M3, M4 15 azinus] in loco suo add. M3, M4 16 extendit] extendens M1, M3, M4 16 volare] Exemplum tercii Bibe mecum de [om. M3] bona [bonam M3; bono M4] cervisia [cervisiam M3; vino M4] ponendus est unus in loco suo habentem vitrum cum cervisia [vino M4] et unus [vni M4] alteri indicat [porrigens M3; indicans M4] sicut [quod M4] secum [sibi M3] deberet [daret M3] bibere add. M1, M3, M4 16–17 Quando tunc… volat] om. M1, M3, M4 

Von der Kunst des Gedächtnisses nach den Parisern 

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wie Autoritäten oder Rechtssachen? Es lautet die Antwort, dass die Ähnlichkeiten solcher Dinge im Sinne ihrer gesamten Bedeutung genommen werden. So, dass der gesamte Sinn irgendeiner Autorität angeschlossen werden kann durch etwas Neues, Lächerliches und so weiter. Wie zum Beispiel „Der selige Leib, der dich trug“, „Jede Bewegung ist auf irgendein Ziel gerichtet“, „Der gute Baum bringt gute Früchte hervor“, „Ehre den Arzt wegen des Nutzens“, „Du sollst nichts Übles gegen deinen Nächsten reden und kein falsches Zeugnis geben“, „Den Hochmütigen stellt sich Gott entgegen“, „Wachet und betet, weil ihr weder Tag noch Stunde kennt“. Auf ähnliche Weise [soll man verfahren] bei den Themen und den Beweisführungen, wie es beispielhaft vor Augen liegt. Was das Vierte betrifft: Wenn du dich an Themen erinnern willst, genügt es, die in einem solchen Thema verhandelte Hauptsache oder den Begriff zu setzen, indem man ihm – nach dem Kapitel desselben Themas – eine Handlung auf anschauliche Weise zuteilt, [so] dass [die Figur] dieselbe Handlung oder Ausführung an ihrem Ort betreibt, nämlich mittels etwas Materiellem, wie im Beispiel ‚Ein Esel fliegt mitten durch den Himmel‘: Man muss sich einen Esel vorstellen, der Flügel habe und sie spreizt, als wolle er fliegen; wenn du ihn dir derartig am Ort vorstellst, dann wird dir dieses Thema einfallen: ‚Ein Esel fliegt mitten durch den Himmel‘.

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Quantum ad quintum: De imaginibus argumentorum. Si vis memorare argumenta, ex qua tota vis consistit in medio, sufficit ponere memoriam medii vel unius extremitatis supposito cum memorato habitudinem consequencialem noscat. Et volo autem argumenta ut sic arguendo: Omne currens habet pedes et iste est 5 currens ergo habet pedes; ponendo unum currentem longitudinem pedum habentem, vel sic arguendo: Quecumque peperit habet lac et mulier peperit ergo mulier habet lac, capiendo unam mulierem lactando puerum in loco suo.

Quantum ad sextum: Si vis sermonem collacionem vel aliam 10 historiam memorari, dividit talem in proposiciones seu articulos; sentenciatim dividetur.  Locabis quemlibet articulum in suo loco, sicut in proposicionibus, videlicet secundum effectum vel sonum materie. Similiter habetur una talis regula in sermonibus et collacionibus aliis materiis conexis: videlicet quocienscumque aliqua 15 materia proponatur plura complectens, ipsa prius dividenda est in eius partes principales particulare subdividentur in

1–9 Quantum ad quintum… loco suo] om.  M2 1–2 Quantum ad quintum… argumenta] Item si vis argumenta locare  M1, M3, M4 2 qua] quo  M1, M3, M4 2 vis] ars M4 3 supposito cum memorato] posito quod memorator  M1, M4; posito quod mediator M3 4 volo autem argumenta] valorem argumenti M1, M3, M4 5 pedes] pro imagine add. M1, M3, M4 6 longitudinem pedum] longiorem pedem M1; longum pedem M3 7 habentem] in loco suo quando tunc memoraberis locus [locum M3, M4] cum [om. M4] huiusmodi [signo add. M3; huius imagine M4] tunc incidit tibi illud argumentum de cursu add.  M1, M3, M4 7 arguendo] om. M4 7 Quecumque] Quodcumque M1 8 et] om. M 8 capiendo] ponendo M1, M3, M4 9 lactando] lactantem M1, M3, M4 9 suo] et sic de aliis argumentis add. M3; et sic habes argumentum de lacte et sic de aliis M4 10–/3 Quantum ad sextum… sufficiunt] om. M2   10 Quantum ad sextum] Item M1, M3, M4 10 collacionem] fabulam add. M4 10 aliam] om. M1 11 dividit] divide M1, M3, M4 12 dividetur] et deinde M1, M3, M4 13–/1 sicut in… tres partes] om. M1, M3 

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Was das Fünfte betrifft: Über Bilder für Beweisführungen. Wenn du Beweisführungen in Erinnerung bringen willst, bei denen die ganze Begründungskraft auf dem Mittelsatz beruht, genügt es, die Erinnerung an das Mittlere zu setzen oder an eines der äußeren Begriffe, weil man durch die Hinzufügung des Erinnerten die logische Gestalt wieder erkennt; ich will dagegen Beweisführungen [angeben] mit beispielsweise folgender Argumentation: ‚Alles, was läuft, besitzt Füße, und dieser läuft, also hat er Füße‘;11 [dies geschieht] indem man einen  Laufenden setzt mit großgewachsenen Füßen, oder [wenn] das Argument so lautet: ‚Welche Frau auch immer geboren hat, besitzt Milch, und die Frau hat geboren, also hat sie Milch‘, [dies geschieht] indem man eine Frau nimmt, die ein Kind an ihrem Ort stillt. Was das Sechste betrifft: Wenn man sich an eine Predigt, eine Ansprache oder eine andere geistliche Lesung erinnern will, teilt man sie in Themen oder Abschnitte und sie wird nach Sätzen eingeteilt. Du wirst einen jeden Abschnitt an seinen Ort setzen, wie bei den Themen, nämlich gemäß der Handlung oder der wörtlichen Darstellung des Inhalts. Eine solche Regel verhält sich ähnlich in Predigten und Ansprachen, die mit anderen Inhalten verknüpft werden: Nämlich so oft immer irgendein Inhalt, der mehrere Dinge umfasst, vorgesetzt werden mag, muss man den Inhalt selbst zuerst in seine Hauptteile zerlegen, die wiederum in je drei Teile

11 Häufig verwendete Eröffnungssätze von Beispiel-Syllogismen, in späterer Zeit vorzugsweise zur kritischen Diskussion über deren Wahrheitsfähigkeit verwendet. Vgl. Johannes Duns Scotus: Opera omnia. London: D. Newman, 1673, Dialectica, Caput III, § 2: Sedes Differentiae Fallaciarum in Dictione, S. 184.

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

tres partes, si ipse practicans alias habundans non fuerit in materia. Si autem habundans fuerit, sufficit sibi divisio parcium principalium; et ista de sermone sufficiunt. Quantum ad septimum: Si vis memorari oraciones [44r] in propria forma verborum, quod est multum difficile et modice utilitatis, 5 et fit tamen hoc modo quod pro qualibet diccione ponatur imago ex similitudine rei vel vocis. Ultimo volens quod dicciones ignotas, hebraicas significamenta, legum capitula aut decretorum, debet tales vel talia dividere in silabas et pro quelibet silaba ponere rem notam a tali silaba in vulgari vel latino incipiente videli- 10 cet secundum intellectum vel sonum vel scripturam. Quod magis videtur convenire hoc locabis et conservent tibi ignotas dicciones, quas voluisti numerari.

1–3 si ipse… sufficiunt] Et hoc si [ipse add. M3] practicans habundans fuerit in materia sufficit sibi divisio parcium principalium si autem habundans non fuerit [in materiis add. M3] tunc oportet quod quemlibet [quelibet M3] pars principalis adhuc dividatur in minores partes et sic de aliis Vel sic potest se habere in sermonibus et historiis primo diligenter sermo debet distingui in sua membra principalia Et tunc primum membrum principale ad locum primum prime camare ponere debet [om. M3] et patet [primam M3] divisionem eiusdem primi membri ponere ad secundum locum principalem secunde camare et pariformiter de aliis et ad alia loca superflua [superflue M3] camerarum et applicacionem autoritatum earundem parcium ista [istam M3] ponere potes ad loca superiorum [superiora M3] vel inferiorum [virum M3] sicut tunc tibi magis videbitur convenire ut patebit melius in practica Et ista de sermonibus sufficiunt M1, M3; Et hoc si ipse practicans habundans fuerit in materia vel exercitatus sufficit sibi divisio parcium principalium Si autem habundans non fuerit tunc oportet quod quelibet pars principalis adhuc dividatur in […]ores et ergo aliquis volens aliquam materiam addiscere et memorie commendare non simul materiam debet incorporare sed debet eam dividere in partes In primo vnam partem distare post hoc sistando ad vatigacionem aliquam aut recreationem interponendo et post residium partem repetendo et ista de sermone sufficiunt M4 4–13 Quantum ad septimum… numerari] om. M2 4 Quantum ad septimum] Item M1, M3, M4 4 memorari… verborum] oracionem in propria forma verborum ponere M1, M3, M4 5 est multum] tamen valde M3 6 fit] sic M; fit M1, M3, M4 6 pro qualibet diccione] per quamlibet dictionem M1 7–13 Ultimo… numerari] videlicet [iuxta applicacionem M3; vel M4] intellectus vel sonus vel per caput [diccionum vel add. M3] eiusdem dictionis vel per scripturam M1, M3, M4 8 significamenta] sicikata (?) M

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zu gliedern sind, wenn der Ausführende sonst seinen Stoff nicht zu weitläufig anlegte. Wenn er es aber [tat], genügt für ihn eine Unterteilung in die Hauptteile; dies reicht zum Thema Predigt. Was das Siebte betrifft: Wenn du dich an Gebete in ihrem Wortlaut erinnern willst, was sehr schwierig und nur von geringer Nützlichkeit ist, geschieht es doch auf diese Weise, dass für jeden Ausdruck ein Bild gesetzt wird nach der Ähnlichkeit der Sache oder des Wortes. Zuletzt muss man – wenn es gewünscht wird, unbekannte Ausdrücke, hebräische Zeichen, die Abschnitte der Gesetze des kanonischen Rechts [ins Gedächtnis zu rufen] – solche oder solches in Silben aufteilen und für jede Silbe eine bekannte Sache setzen, die mit einer solchen Silbe beginnt in der Volkssprache oder in Latein, nämlich gemäß einer Vorstellung oder einem Wort oder der Schrift; was passender scheint, das wirst du setzen, und sie sollen die dir unbekannten Ausdrücke bewahren, die du aufgeführt haben wolltest.

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Similiter in psalterio et versibus prime partis et aliis textualibus: Imaginandum est principium ad unum locum videlicet cum intellectu, sono vel scriptura iscius versus sicut melius patuit in practicacione artis. Nam stat bene unum plures versus scire vel diffiniciones exterius, sed tamen ordinem nescit. Propterea necesse est ut imaginatur principium secundum huius artis informacionem videlicet quod nuncium cuiuslibet locat ad suum locum cum sua habitudine videlicet intellectu sono vel scriptura, et sic tunc habetur ordo versuum. propterea propter utilitatem et subtilitatem artis ipse Aristoteles summus philosophorum princeps artem istam descripsit brevibus verbis dicens:  Memoriam autem duo salvant scilicet posicio sub ordine et frequens meditacio. Item si vis aliqua preponere coram rege preside vel principe et cetera aut aliquo consiliario, debes omnes articulos notare et quemlibet seorsum ponere ad locum per similitudinem. Et sic secure poteris exprimere mentis conceptum sine confusione articulorum, quod tamen valde difficulter fieri potest memoria naturali. Cum illa, que mediante memoria naturali exprimuntur, semper cum timore fiunt et times, quod ista non obmitteres, et aliquando racione timoris aliquid obmittitur videlicet prelatorum. Et sic unusquisque memorista omnia facta sua, que mediante arte fieri disposuit, potest exprimere cum audacia et absque omni timore et confusione, precise sicut sibi preconcepit Et sic sufficit ponere tantum in arte articulos et partes principales cause vel causarum et non est necessarium omnium verborum fundare memoriam, quia multi multa

1–12 Similiter… meditacio] om.  M2 1 Similiter in psalterio et versibus] Item si [vis add. M4] versus psalterii vel [bis M3] diffiniciones vel versu M1, M3, M4 1–9 et aliis textualibus… subtilitatem artis] vel alterius textualis locare tunc sufficit [tibi add. M3] ponere primum [principium uel M4] inicium secundum applicaciones predictas scilicet [quia M3] intellectum [om. M3; sonum add. M4] quod [om. M3] tantum inicium debet [habet M4] locari Et hoc fit ideo quia contingit aliquando unum [uel add. M4] plures versus vel diffiniciones scire exterius ordinem tamen nescit Et sic necessarium est quod inicium uniuscuiusque locat [in loco suo add. M3] et tantum de versibus M1, M3, M4 10–12 ipse Aristoteles… meditacio] Et forte ideo Aristoteles summus princeps philosophorum totam artem memorativam in de memoria et reminiscencia brevibus et obscuris verbis implicavit dicens Memoriam autem duo salvant scilicet posicio sub ordine et frequens meditacio cf. M1 [95r], M3 [241v], M4 [91v] 13–/2 Item si vis… ornatus] sq. M1; hab. M1, M3; om. M4 

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Ähnlich im Psalter und in Versen des ersten Teils und in anderen Textsorten: Der Beginn ist an einem Ort abzubilden, nämlich mit einer Vorstellung, einem Wort oder der Schrift dieses Verses, je nachdem wie es erhellender wäre bei der Ausübung der Kunst. Denn es kann gut sein, dass einer mehrere Verse oder Definitionen auswendig weiß, aber doch die Reihenfolge nicht kennt; deshalb ist es notwendig, dass er sich den Beginn nach der mnemotechnischen Anleitung vorstellt, nämlich dass er den Anfang eines jeden an seinen Ort setzt samt seiner Gestalt, nämlich durch eine Vorstellung, ein Wort oder die Schrift; so hat man dann die Reihenfolge der Verse. Wegen der Nützlichkeit und Feinheit der Kunst hat Aristoteles, der höchste Fürst der Philosophen, diese Kunst in knappen Worten beschrieben, indem er sagte: „Zwei Dinge halten die Erinnerung fest, nämlich die Verwendung einer Ordnung und häufige Übung“. Ebenso, wenn du irgendetwas vor einem König, Statthalter oder Fürsten oder irgendeinem Ratgeber und so weiter mitteilen willst. Du musst alle Abschnitte kenntlich machen und jeden gesondert an den Ort setzen mit Hilfe der Ähnlichkeit. So wirst du die geistige Idee sicher ausdrücken können ohne eine Verwirrung der Abschnitte, was doch ein natürliches Gedächtnis nur schwer bewerkstelligen kann. Weil das, was man mittels des natürlichen Gedächtnisses in Worte fasst, immer mit Besorgnis und Angst vor Auslassungen vorgetragen wird, [deshalb] übergeht man manchmal einen Teil des Vorbereiteten durch furchtsames Verhalten. So kann ein jeder, der die Gedächtniskunst praktiziert, alle seine Angelegenheiten, die er mittels der Kunst zum Vortrag zusammengestellt hat, mit Kühnheit ausdrücken und ohne alle Furcht und Verwirrung, genau wie er es sich zuvor vorgestellt hat; also genügt es, in der Kunst allein Abschnitte und Hauptteile des Sachverhalts oder der Sachverhalte zu setzen, und es ist nicht notwendig, wort-

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 De memoria artificiali secundum Parisienses

preponunt. Interdum quo ad multitudinem verborum non racione necessitatis, sed gratia ornatus. Si per eam patet quod omnia a fine ordinantur et disponuntur secundum finem. Quia patet finis cultelli est scindere, ergo cultellus extreme acuitur in illum finem [44v] et similiter finis calcei est 5 pedem tegere ergo extreme ordinatur in hunc finem. Similiter ex fine videbimus ea, que in finem sunt ordinanda, et finis necessitat ea sic fieri et non aliter. Sic eciam ars memorativa ordinatur in finem videlicet ordinis et materie cognicionis (in finem ordinis) ut per locorum disposicionem fient ex imaginibus et locis perfecta. Et 10 ut ex uno memorato faciliter ad aliud procedere possumus. Qui tunc finis ducit nos ad cognicionem materie; et ista de memoria artificiali hic sufficiunt. Quis vero huius artis inventor extat deo notus, qui gubernator et scienciarum infusor Christus extat, qui equalis patri in essencia, 15 qui cum spiritu sancto una cum sancta virgine ceterisque sanctis nobis in scienciarum iuvamine deique caritatis augmentum sit, benedictus in secula seculorum. Amen. 3–13 Si… sufficiunt] om. M2 3 Si] Et sic similiter M1, M3; om. M4 3 eam] eum M1, M3, M4 3 quod] om. M3 3 omnia] in hac arte add. M4 3 a fine] ad finem M4 4 finem] et finis necessitat ea sic fieri et non aliter add.  M1, M3, M4 4 Quia patet] Quia finis calcii est pedem tegere ergo ordinatur ad [in M4] hunc finem Et M1, M3, M4 4 cultellus] om. M1, M3, M4 5 extreme] extrema M4 5 acuitur] acuntur M3; acuuntur M4 6–8 Similiter… non aliter] om. M1, M3, M4 8 Sic eciam ars memorativa] Et sic finis artis memorative M1, M3, M4 9 videlicet] om.  M1, M3, M4 9 ut] om.  M1, M4; et M3 10 per] om. M3 10–12 fient… materie] In finem autem [om. M4] materie cognicionis per imaginum posicionem  M1, M3, M4 12 memoria artificiali] arte memorativa M1, M4; arte quem mediante iuvatur memoria naturali M3 13 hic] om. M1, M3 13 sufficiunt] Frater Johannes Matichofer presbiter et canonicus regularis monasterii sancti Nicolai episcopi Extra muros Patis Sub anno domini 1463 add. M3 14–18 Quis vero… Amen] add. man. al. M 14 extat] existit  M2 14 notus] notus est  M2 14 gubernator] iubernat M4 14 et] est M1 15 Christus] Christo M1 15 extat] existit M3 15 patri] om. M4 16 sancta] beata M1, M3, M4; castissima M2 16 virgine] virgine Maria M2 17 nobis] nos  M2; om. M4 17 scienciarum] sanctorum M3 17 iuvamine] iuvamen  M2; nomine M3 17 augmentum] infundit add. M3 17 sit] est M1, M4 18 Amen] finit ars mirifica feliciter 1479 add.  M2; finitum Argentorati sub anno domini 1471 secunda feria octavas penthecostes in tercio anno tempore mei studii add. M4 

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wörtlich alles zu erfassen, weil viele Leute vorher [umfassende Vorbereitungen] anlegen. Zuweilen [geschieht dies], was die Wortfülle angeht, nicht um der Notwendigkeit, sondern um des Schmuckes willen. So ist es auch durch sie [die Kunst] unverkennbar, dass alles vom Ziel her geordnet und dem Ziel entsprechend eingerichtet wird. Weil das Ziel eines  Messers offenkundig das Schneiden ist, wird das Messer folglich sehr scharf geschliffen zu diesem Zweck. Auf ähnliche Weise ist es das Ziel des Schuhs, den Fuß zu bedecken, also wird er äußerst gut zu diesem Zweck eingerichtet. Ähnlich werden wir aus dem Ziel das ersehen, was für den Endzweck eingerichtet werden muss, und das Ziel bedingt, dass dies so geschieht und nicht anders. So ist auch die Ars memorativa für ein Ziel eingerichtet, nämlich das der Ordnung und der Vorstellung des geordneten Inhalts, damit durch die räumliche Anordnung aus Bildern und Örtern Vollkommenes entsteht, und damit wir von einem Gedächtnisinhalt leicht zum anderen fortschreiten können. Dieses Ziel führt uns dann zur Erkenntnis des Inhalts; dies genügt hier über das künstliche Gedächtnis. Wer aber als Erfinder dieser Kunst hervortritt, ist dem göttlichen Lenker bekannt und Christus, wirkend als Eingießer des Wissens, welcher dem Vater im Wesen gleich ist, der mit dem heiligen Geist und mit der heiligen Jungfrau und den übrigen Heiligen uns in den Wissenschaften helfe und Gottes Barmherzigkeit vermehre. [Er sei] gepriesen in alle Ewigkeit. Amen.

Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule Editorische Hinweise Hss.: Foligno, Bibl. Com., C 38, 1r–8r; Genova, Bibl. universitaria,  Ms. A III 26;  London, British  Library, Add. mss. 10438, 2r–18r;  London, Victoria and Albert Museum, KRP.A.22., 1r–30v (30 Bll.); London, Wellcome Hist. Med. Lib., Ms. 502, 1r–16v; Mailand, Bibl.ambr., Cod. lat. T. 78 sup, 2r–21v; Palermo, Bibl. Com., Cod. 2 Qq D 140 (nicht numerierte Seiten); Paris, BN, Lat. 8750, 9r–29v (1434) 1; Parma, Bibl. Pal., Cod. Pal. 746, 47r–73v; Rimini, Bibl. Gambalunghiana, Ms. 22, 54v–63v; Rom, Bibl. ap., Cod. Vat. lat. 5347, 109r–118v; Rom, Bibl. ap., Cod. Vat. lat. 6896, 54r–69v; Rom, Bibl.naz., Cod. Gesuitico 973 (3102), 59r–70v; Treviso, Bibl. comunale, Ms. 47, 54r–64v; Treviso, Bibl. com., Ms. 143; Venedig, Bibl. naz. marc., Lat. VI, 159 (3567), 10r–25r; Venedig, Bibl. naz. marc., Lat. XIV, 179 (4488), 176r–184v; Venedig, Bibl. naz. marc.,  Lat. VI, 274, 15r–34r; Venedig, Bibl. naz. marc., Lat. X, 226, 53r–66r. Editionen von Teilen bzw. des ganzen Traktats liegen vor in: Paolo Rossi: Clavis universalis. Arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz. Bologna 1983 [Saggi 244], S. 43–45 (Teiled.) und Guglielmo Zappacosta: Studi e ricerche sull’ umanesimo italiano. Bergamo (etc.) 1972, S. 35–55. Die vorliegende Edition basiert auf der Edition von Zappacosta, die ausschließlich die römische und venezianische Überlieferung heranzieht. Diese wurde durch Auswertung zweier weiterer Textzeugen ergänzt. Es handelt sich um die Handschriften KRP.A.22 (1r–30v) des Victoria and Albert Museums London (Sigle L) sowie Cod. Pal. 746 (47r–73v) der Biblioteca Palatina Parma (Sigle P). Diese Handschriften wurden bislang von der Forschung nicht berücksichtigt, sind aber nachweislich in den Gebrauchszusammenhang der Gonzaga zu stellen2. Beide Manuskripte zeigen große Übereinstimmungen und gegenüber dem von Zappacosta edierten Text weitgehend analoge Abweichungen; lediglich an zwei Stellen weicht die Textreihenfolge offensichtlich vom römisch-venezianischen Bestand ab. P bringt dabei wiederholt zusätzliche Beispiele und Anweisungen, die in den laufenden Text oder in Marginalien eingegangen sind. Solche Zusätze aus P (bzw. aus P und L) werden in der Regel im kritischen Apparat dokumentiert,

1 http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b90677617/f14 2 Vgl. Angelika Kemper: The Art of Memory as cultural transfer. An Italian treatise of the 15th century and its adoption. http://sas-space.sas.ac.uk/6183/. 2015, S. 1-18, hier S. 5. https://doi.org/10.1515/9783110575231-006

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im edierten Text finden sie nur dann Berücksichtigung, wenn eine Ergänzung dem Sinn nach notwendig erschien. Für weitere Lesarten aus den Manuskripten L und P, die an Stelle des von Zappcosta vorgelegten Textes bevorzugt wurden, findet der Leser einen Vermerk im kritischen Apparat. Auf die Wiedergabe des Variantenapparates von Zappacosta konnte wegen dessen anderweitiger Verfügbarkeit und aus Platzgründen verzichtet werden. Die Handschrift P enthält eine sicher durchgeführte Interpunktion, auf die in der Texteinrichtung immer wieder zurückgegriffen werden konnte. Doch musste einer dem deutschen Übersetzungs­ text stärker entsprechenden Zeichensetzung der Vorzug gegeben werden, um das Leseverständnis zu verbessern. Die in den Text eingefügte Foliierung orientiert sich an der von Zappacosta gegebenen Zählung. Im Abschnitt, der die 100 Örter-Liste enthält, weicht der Variantenapparat insofern von den ansonsten verfolgten Einrichtungsprinzipien ab, als dieser die Varianten nicht der Reihenfolge des Begriffsrasters nach verzeichnet, sondern gemäß der Zusammengehörigkeit der Begriffe, die in den einzelnen Handschriften an jeweils unterschiedlicher Position der Liste erscheinen. Somit bleiben die Sinnzusammenhänge erhalten, wird eine eingehendere Beleuchtung des Wortschatzes möglich, die dann auch die Plausibilität der Übersetzung untermauern kann. Siglen z Edition: Zappacosta Parma, Bibl. Pal., Cod. Pal. 746, 47r–73v P London, Victoria and Albert Museum, KRP.A.22, 1r–30v L

Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule Ad illustrissimum Principem et Armorum Ducem invictissimum dominum Iohanem Franciscum Marchionem Mantue etc., artificialis memorie regule per Iacobum Ragonam Vincentinum. Iussu tuo Princeps illustrissime artificialis memorie regulas, quo ordine superioribus diebus una illas exercuimus, hunc in 5 librum reduxi tuoque nomini dedicavi. Imitatus non modo sententias verum etiam plerumque verba ipsa  M. Tullii Ciceronis et aliorum nonnullorum dignissimorum philosophorum, qui accuratissime hac de arte scripserunt. Quibus si erit tue celsitudini abunde satisfactum beatum profecto me sensero quum nihil cupiam magis 10 quam illustrissime dominationi tue, cui tantum debeo quantum valeo multis tuis in me collatis beneficiis, quoquo modo obsequi et servire. Si vero hec minus composita quam tuam deceret excellentiam videntur, non animi mei voluntatem et tibi serviendi desiderium, sed ingenii mei ruditatem et inertiam potius accusa. 15 Vale decus principum et iube feliciterque lege. Ex Vincentia quarto Kal. Novembres 1434.

Preceptore Cicerone ac etiam teste Sancto Thoma de Aquino artificialis memoria, Princeps illustrissime, duobus perficitur, locis videlicet et imaginibus.  Locos enim necessarios consideraverant esse 20 ad res seriatim pronuntiandas et diu memoriter tenendas. Unde Sanctus Thomas: oportet, inquit, ut ea, que quis memoriter vult tenere, [54v] ordinata consideratione disponat, ut uno memorato

1 Ad illustrissimum… 1434] om.  P 1–3 Ad illustrissimum… Vincentinum] Illustrissimo Principi et Armorum Duci felicissimo domino Ioanni Francesco de Gonzaga Marchioni Mantue et cetera Iacobus Ragona felicitatem L 5 una] simul L 5 in librum] om. L 6 dedicavi] dicavi L 7 ipsa] ipsa et L 9 celsitudini] excellentie L 9 abunde] sufficienter L 11 illustrissime… valeo] tue celsitudini L 13 minus] minus debite L 13 composita] composite L 14 videntur] videretur  L 14 et tibi] ne summum tibi L 16 et iube] om.  L 16–17 quarto… Novembres] tertio Non. Septembres  L 18 ac] et  P 19 Princeps illustrissime] om. P 19 videlicet] scilicet P 20 consideraverant] considerarunt P, L 23 ordinata] illa ordinata P, L 23 uno] ex uno P, L 

Jacobus Ragona Vicentinus: Artificialis memorie regule An den durchlauchtigsten Grafen und Waffenführer, den unbesiegbarsten Herrn Gianfrancesco,3 Markgraf von Mantua etc. Die Regeln des künstlichen Gedächtnisses, aufgezeichnet durch Iacobus Ragona Vincentinus. Auf dein Geheiß, durchlauchtigster Fürst, habe ich die Regeln des künstlichen Gedächtnisses nach der Ordnung, in welcher wir sie in den vergangenen Tagen zusammen betrieben haben, in diesem Buch gesammelt und ich habe es deinem Namen gewidmet. Nicht nur den Sinn, sondern auch den Wortlaut gerade  M. Tullius Ciceros und einiger anderer der würdigsten Philosophen nahm ich mir zum Vorbild, die in größter Ausführlichkeit über diese Kunst geschrieben haben. Wenn deine Hoheit durch diese vollauf zufrieden gestellt wird, kann ich mich wahrhaftig glücklich schätzen, weil ich nichts mehr wünsche, als deiner durchlauchtigsten Herrschaft auf jede Weise zu huldigen und nach meinem Vermögen zu dienen, der ich so sehr verpflichtet bin durch die vielen Wohltaten, die du mir gewährt hast. Wenn dies aber weniger wohlgefügt zu sein scheint, als es sich für deine Exzellenz schickte, dann tadle nicht meinen willigen Geist und mein Verlangen, dir zu dienen, sondern eher die Rohheit und Ungeschicktheit meiner Begabung. Lebe wohl, du Zierde der Fürsten, gebiete und entscheide mit Glück. Vicenza, den 29. Oktober 1434. Nach der Lehre Ciceros und auch nach dem Zeugnis des Heiligen Thomas von Aquin beruht das künstliche Gedächtnis, durchlauchtigster Fürst, auf zwei Elementen, nämlich Örtern und Bildern. Denn sie waren der Ansicht, dass die Örter notwendig seien, um Inhalte der Reihe nach aufsagen zu können und lange im Gedächtnis zu behalten. So sagt der Heilige Thomas: Es ist nötig, dass jemand das, was er auswendig behalten möchte, in systematischer Anordnung verteile, damit

3 Gianfrancesco I. Gonzaga (1395–1444), seit 1433 Markgraf von Mantua.

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 Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule

facile ad aliud procedatur. Aristotiles etiam inquit in libro, quem De memoria inscripsit, a locis reminiscimur. Necessarii ergo sunt loci, ut in illis imagines adaptentur, ut statim infra patebit. Sed imagines sumimus ad confirmandas intentiones. Unde allegatus Thomas: oportet, ait, ut eorum, que vult homo memorari, quasdam assumat similitudines convenientes. Differunt vero loci ab imaginibus nisi in hoc, quod loci sunt non anguli, ut existimant aliqui, sed imagines fixe supra quibus sicut supra carta alie pinguntur imagines delebiles sicut littere; unde loci sunt sicuti materia. Imagines vero sicuti forma. Differunt ergo sicut fixum et non fixum. Consumitur autem ars ista centum locis quantum expedit pro integritate ipsius. Sed si tue libuerit celsitudini, poteris alios sibi locos invenire faciliter per horum similitudinem. Sed oportet omnino non modo bona, verum optima diligentia et studio locos ipsos notare et firmiter menti habere, ita ut modo recto et retrogrado et iuxta computationem numerorum illos proinde recitare queas, aliter autem frustra temptarentur omnia. Expedit etiam, ut in locis servetur modus, ne sit inter illos distantia nimis brevis vel nimium remota, sed moderata ut puta sex vel octo aut decem pedum vel circa, iuxta magnitudinem camere. Ne sit in illis nimia claritas vel obscuritas, sed lux mediocris; et est ratio, quia nimium remota vel angusta, [e] nimium clara vel [55r] obscura causant moram inquisitioni imaginative virtutis vel ex consequenti memoriam retardant dispersione rerum, que representande sunt, aut earum nimia conculcatione, sicut oculus legentis tedio affligitur, si litere sunt valde distincte et male composite aut nimis conculcate. Loci vero quantitas non est adeo sumenda, ut non videatur esse capax imaginum, quia violentia aborret cogitatio, ut, si velles pro loco sumere foramen ubi aranea suas contexit telas et in illo velles equum collocare, non videretur modo aliquo posse equum capere. Sed ipsorum locorum quantitas sumenda est,

3 infra] om. P, L 4 confirmandas] confirmandum P, L 6 vero] ergo P 7 existimant] exstimant leg. z; existimant P,  L 8 supra quibus] super quibus P, L 8 supra carta] super carta P, L 8 delebiles] debiles P, L 12 tue libuerit celsitudini] tibi libuerit P 12 poteris] poterit eadem L 12 sibi] tibi P 12 faciliter] facile z 14 et studio] om. P, L 15 recto] recte L 15 iuxta computationem] iusta quotationem P; iuxta quotationem L 16 proinde] prompte P, L 17 Expedit] Locorum conditiones inscr.  P 19 iuxta] secundum P,  L 20 Ne] nec P,  L 23 dispersione] dispositione  L 26 sumenda] sumenda modica P, L 28 sumere] assumere P 

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man, ist eine Sache erinnert, leicht zur nächsten fortschreitet. Aristoteles sagt auch im Buch, das er Über das Gedächtnis4 betitelte, wir erinnerten uns durch die Örter. Die Örter sind also notwendig, um in ihnen Bilder anzubringen, wie es gleich unten erklärt wird. Die Bilder aber nehmen wir, um die Aufmerksamkeit zu stärken. Daher berufen wir uns auf Thomas: Es ist nötig, sagt er, dass ein Mensch gewisse passende Ähnlichkeiten dessen heranziehe, an was er sich erinnern will [54v]. Es unterscheiden sich aber die Örter von den Bildern nur dadurch, dass die Örter keine Winkel sind, wie manche meinen, sondern feste Bilder, über denen – gleichsam wie auf einem Blatt Papier – andere, wieder tilgbare Bilder gezeichnet werden können wie beispielsweise Buchstaben; daher sind die Örter wie der Stoff. Die Bilder aber sind wie die Form. Sie unterscheiden sich folglich wie Festes und Nicht-Festes. Diese Kunst aber besteht aus hundert Örtern, wieviel zu ihrer Vollständigkeit erforderlich ist. Doch wenn es deiner Hoheit beliebte, wirst du für dich leicht andere Örter finden können mithilfe der Ähnlichkeit. Es ist allerdings nötig, nicht nur mit großer, sondern mit größter Sorgfalt und größtem Eifer diese Örter mental aufzuzeichnen und im Geist festzuhalten, so dass du sie sowohl vorwärts als rückwärts und gemäß ihrer Reihenfolge vortragen kannst, sonst aber würde alles vergebens versucht. Es nützt auch, wenn in den Örtern ein  Maß gewahrt wird, damit zwischen ihnen der Abstand nicht zu klein oder groß ist, sondern gemäßigt, wie zum Beispiel ungefähr sechs oder acht oder zehn Fuß,5 der Größe des Raumes angemessen. Es herrsche in ihnen nicht zu große Helligkeit oder Dunkelheit, sondern eine mäßige Beleuchtung; dies liegt darin begründet, dass allzu Entferntes oder Enges und zu Helles oder [55r] Dunkles die Suche des sinnlich vorstellenden Vermögens verzögert oder in der Folge das Gedächtnis behindert durch die Zerstreutheit oder große Gedrängtheit der Dinge, die zu vergegenwärtigen sind, so wie das Auge des Lesers überdrüssig wird, wenn die Buchstaben stark abgeteilt oder ungenau gebildet oder zu sehr zusammengedrängt sind. Aber die Größe des Ortes darf nicht so gewählt werden, dass sie für die Aufnahme der Bilder untauglich scheint, weil das Denken vor Unangemessenheit zurückscheut, wie zum Beispiel ein Ort, für den du einen Gang mit Spinnenweben nehmen und dorthin ein Pferd setzen wolltest, offensichtlich auf keine Weise das Pferd fassen könnte.  Man muss aber für diese Örter eine solche Größe nehmen, wie du es

4 De memoria: Traktat aus den aristotelischen ‚Parva Naturaliaʻ (Περὶ μνήμης καὶ ἀναμνήσεως) 5 Fuß: Maßeinheit für Handwerk, Bauwesen und Feldvermessung.

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 Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule

ut statim inferius distincte notatum invenies. Oportet etiam, ne loci sint in loco nimium usitato sicut sunt platee et ecclesie, quoniam nimia consuetudo aut aliarum rerum representatio causat perturbationem et non claram imaginis representationem ostendit, sed confusam, quod est maximopere cavendum, quia si in foro locum 5 constitueres et in eo rei cuiuspiam simulacrum locares, cum de loco simulacroque velles recordari, aditus reditus meatusque frequens et crebra gentis migratio conturbarent cogitationem tuam. Studebis ergo habere domum, que rebus mobilibus libera sit et vacua omnino, et cave, ne assumas cellas fratrum propter nimiam illarum 10 similitudinem nec ostia domorum pro locis, quia cum nulla vel parva ibi sit differentia, ideo esset confusio. Habeas ergo domum, in qua sint inter cameras, salas, coquinas, scalas viginti, et quanto in ipsis locis erit dissimilitudo maior tanto utilior. Nec sint camere iste et relique eccessive magne vel parve 15 et in earum qualibet facies quinque locos iuxta distantiam dictam superius, scilicet sex aut octo vel decem pedum, [55v] et incipe taliter, ut a dextris semper ambulando vel a sinistris – quocumque altero istorum modorum ex aptitudine domus tibi comodius fuerit – non oporteat te retrocedere, sed sicut in re domus procedit, ita con- 20 tinuentur loci tui per ordinem domus, ut sit facilior impressio ex ordine naturali. Loci, ut predixi, non sint anguli, sed quedam fixe imagines in angulis situate. Oportet te denuo ordinare locos tuos in angulis dicte domus per obiecta realia multiplicantia realiter per species ad organa sensuum, ut fiat maior impressio ac fixior 25 locorum memoria; talia obiecta, que loci dicuntur, debent esse per

1 inferius… invenies] indistincte notatum invenies P; infra videbis  L 2 quoniam] quia  P 3—4 representatio… ostendit] representationem ostendunt  L 3 causat] causant  P 4 imaginis] imaginum  P 6 constitueres] constituerem  L 8 crebra] creba z 8 migratio] nugatio P,  L 8 conturbarent] conturbaret P; perturbaret  L 10 assumas] assumas aliquo pacto P; sumas aliquo pacto  L 12 sit] adsit  L 12 esset] hab.  L 13 coquinas] om.  L 14 scalas] add. in marg. P 14 ipsis] dictis P, L 15 et relique] alie P; om. L 15 vel] vel nimis  L 16 locos] loca  L 16 dictam superius] prius datam P; dictam prius  L 17 pedum] pedum secundum magnitudinem camere vel sale add. P, L 18 semper] om. P, L 21 loci tui] loca tua P, L 22 Loci] Loca P, L 22 sint] sunt P, L 22 anguli] anguli domus P, L 23 denuo] de novo P, L 23 locos tuos] loca tua P, L 24 dicte domus] camere P, L 24 realia] bis P 26 loci] loca P, L 

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bald weiter unten genau beschrieben finden wirst. Es gehört sich auch, dass die Örter sich nicht an einem allzu frequentierten Platz befinden, wie Straßen oder Kirchen, weil die zu große Belebtheit oder die Vorstellung anderer Dinge Verwirrung stiftet und keine klare Vergegenwärtigung des Bildes bietet, sondern eine verworrene, wovor man sich in höchstem Maße hüten muss. Wenn du nämlich einen Ort auf dem Marktplatz setztest und in ihm das Abbild irgendeiner Sache loziertest, würden, wenn du dich an den Ort und das Abbild erinnern wolltest, das häufige Ankommen und Weggehen und das Strömen sowie das zahlreiche Umherwandern der Leute deine Vorstellung stören. Du wirst dich also bemühen, ein Haus zu haben, das von beweglicher Habe frei und gänzlich leer ist. Und hüte dich, für die Örter die Zellen von Ordensbrüdern zu nehmen, wegen ihrer zu großen Ähnlichkeit, oder die Eingänge von Häusern, weil so, wenn dort keine oder nur eine geringe Verschiedenheit wäre, Verwirrung entstünde. Du sollst also ein Haus haben, in dem zwischen Räumen, Sälen, Küchen und Treppen zwanzig Örter sind, und je größer die Unähnlichkeit bei diesen Örtern ist, desto nützlicher ist sie. Und diese Räume und die übrigen sollen nicht übermäßig groß oder klein sein, und in jedem von ihnen wirst du fünf Örter bilden gemäß dem oben erwähnten Abstand, nämlich sechs oder acht oder zehn Fuß [55v]. Und beginne auf solche Weise, dass du, indem du das Haus immer von rechts betrittst oder von links – welche Art auch immer dir nach der Beschaffenheit des Hauses günstiger erscheinen mag –, nicht zurückgehen sollst, sondern wie sich das Haus in Wirklichkeit verteilt, so werden sich deine Örter nach der Ordnung des Hauses aneinanderreihen, damit die Einprägung durch eine natürliche Ordnung erleichtert werde. Die Örter seien, wie ich vorhin bemerkte, keine Winkel, sondern gewissermaßen feste Bilder, die in die Winkel gesetzt wurden. Es ist nötig, dass du deine Örter in den Winkeln des genannten Hauses abermals ordnest mittels dinglicher Gegenstände, die durch ihre Erscheinung in der Tat verstärkend wirken auf die Sinneswerkzeuge, damit der Eindruck tiefer werde und die Erinnerung an die

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se inmutantia visus et res tibi familiares et domestice. Accipe igitur locos infra scriptos, qui satis experientia approbati sunt et utiles, et eos ordinabis, ut dicetur infra. [1] Paternostri Verçe Formaio Pan [5] Pesse Allio Pome Scuffia Caldari de aqua senta [10] Tavolo dabacho Speroni Martello Spechio Pelle pellosa [15] Ressega Corno Brunzin Bagile Can [20] Cera

1 inmutantia] immutativa P,  L 2 locos] loca P,  L 2 scriptos, qui] scripta que P, L 2 approbati] approbata P; probata L 2 utiles] utilia P, L 3 eos] ea P, L 4–/16 Paternostri… [100] Corvo] numeri sequuntur 1–17, 35–67, 18–34, 68– 100 in z; 1–27, 55–77, 28–54, 78–100 in P, L 8 Pesse] Capuzo P 12 Caldari de aqua senta] Figaro P; Fige L 18 Ressega] Siega P, L 20 Brunzin] Brondin P; id est ramin. add. sup. lin. P 21 Bagile] Bacin P, L 

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Örter fester; so beschaffene Gegenstände, die Örter genannt werden, müssen für sich in der Erscheinung jeweils unveränderlich6 sein, und die Dinge müssen dir vertraut und persönlich sein. Nimm also die unten niedergeschriebenen Örter, die durch Erfahrung genügend erprobt und nützlich sind, und du wirst sie ordnen, wie es unten gesagt wird. Rosenkränze Wirsingkohl7 Käse Brot8 [5] Fisch9 Knoblauch Apfel Haube10 Kessel mit Weihwasser11 [10] Rechentafel12 Sporen Hammer Spiegel Haariges Fell [15] Säge13 Horn Krug14 Schüssel15 Hund16 [20] Wachs

6 inmutantia visus: dem Sinn nach übersetzt. 7 Verçe: ital. verze, ‚Welschkohl, Wirsing’. 8 Pan: vgl. ital. pane, ‚Brot’. 9 Pesse: vgl. ital. pésce, ‚Fisch’; Capuzo (P): ital. cappuccino, ‚Kappe, Mönchskappe’. 10 Scuffia: vgl. ital. cùffia, ‚Haube‘; auch ‚Kartätsche‘, Sack mit Steinkugeln, Begriff d. Artillerie. 11 Aqua senta: ital. Nebenform von A. sancta; Figaro (P): venet. figaro, ‚Feigenbaum‘; Fige (L): venet. fica, ‚Leber‘; vgl. fegato, figato, ‚Leber‘. 12 Lies: d’abacho, ital. abacho, ‚Abakus’. 13 Ressega: ital. resega, sega, siega, ‚Säge‘; lat. serra; Siega (P, L): ital., ‚Säge‘. 14 Brunzin: vgl. bronzinum oder bronzinus, ‚Schüssel, Krug‘ sowie ital. bronzino, ‚Gefäß aus Bronze‘; Ramin (P): ital. ramino, ‚Kupfergefäß, Kupferkessel‘. 15 Bagile: ital. bacile, ‚Waschbecken, Schüssel’; Bacin (P, L): ital. bacin, ‚Waschbecken’. 16 Can: vgl. ital. cane, venet. can, ‚Hund’; vel Cani (P, L): ital. ‚oder Hunde‘.

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Candeliero Pala Calexe Tirabolo [25] Croxe Quadreli Talieri Toalia Fenochio [30] Stopa [56r] Scudele Bolçe Mortaro Forfexe [35] Morete Calze Saco Pianele Granare [40] Caldarin Tascha

1 Candeliero] Candelieri  P 2 Pala] Palla  P 4 Tirabolo] Toribolo P; Teribolo L 6 Quadreli] Piere P; Prede L 7 Talieri] Taieri P; Taglieri L 8 Toalia] Toaia P; Touaglia L 9 Fenochio] Fenochi P 11 Scudele] Scutele P 12 Bolçe] Bolze L 15 Morete] Molete de fogo P; Molete L 16 Calze] Calce P, L 17 Saco] Sacho P,  L 18 Pianele] Çopei P; Schione  L 19 Granare] Scove P; Zocholi L 20 Caldarin] Sechielo P; Sechio L 21 Tascha] Tascha P, L 

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Kerzenhalter Schippe17 Kutsche18 Weihrauchfass19 [25] Kreuz20 Ziegelsteine21 Schneidebretter Tischtuch22 Fenchel [30] Werg23 [56r] Kleine Schüsseln Reisetasche24 Mörser Schere [35] Mohrin25 Strümpfe Sack Pantoffeln26 Kornspeicher27 [40] Kleiner Kessel28 Tasche29

17 Pala: ital. ‚Schaufel, Schippe‘. 18 Calexe: ital. calesse, ‚leichte Kutsche‘. 19 Tirabolo: ital. toribolo, ‚Thuribulum’, ‚Weihrauchfass’. 20 Croxe: ital. croce, cruce ‚Kreuz’. 21 Quadreli: ital. quadrello, ‚vierkantiges Eisen, Bolzen‘; ‚viereckiger Ziegelstein‘; Piere (P): ital. pietra, venet. piera, ‚Stein‘; Prede (L): Fehllesung? 22 Toalia: ital. ‚Tischtuch, Altartuch‘. 23 Stopa: ital. stoppa, ‚Werg‘. 24 Bolçe: ital. bòlgia, ‚Reisetasche,-sack‘. 25 Morete: ital. moretta, ‚Mohrenmädchen; Mohrin‘; vgl. lat. moreta, ‚schwarzes Tuch‘; Molete (P, L): ital. molette, pl., ‚kleine Feuerzange‘; M. de fogo (P): ital. fuoco, foco, ‚M. für das Feuer‘. 26 Pianele: ital. pianèlla, ‚Halbschuh, Hausschuh‘; auch flache ‚Sturmhaube‘ (lat. planula); Zocholi (L, Variante zu Granare, Nr. 39): ital. zoccolo, ‚Holzpantoffel‘; Çope[l]i (P) [vgl. Zoppelli (N), Zopeli (M1) in z]: [Fehllesung?]; venet. zopa, ital. zolla (Erdscholle); Schione (L): ital. schiona, ‚Ring aus Metall‘; ‚großer, massiver Ring‘, ‚Tür-Ring‘. 27 Granare: lat. granaria, ital. granaro, granaio, ‚Kornspeicher‘, ‚Vorratsbehälter, -grube‘; Scove (P): ital. scopa, scova, ‚Besen‘; vgl. ital. granata, ‚Besen‘. 28 Sechiclo (P): Fehllesung ital. sechielo, wie ital. piletta, ‚kleines Becken mit Weihwasser‘; secchietto, ‚Behältnis, Eimer, Vase‘; Sechio (L): ital. secchio, ‚Melkeimer, -kübel‘. 29 Tascha: tasca oder taschia, ‚Beutel, Tasche‘.

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Orinale  Lanterna Cortelli [45] Libro Cirela Testo Piola  Manara [50] Ove Lana Botesin Zuparelo Camisia [55] Statoa Braçali Banchili Pelle rossa Tavolacio [60] Archo Chaze Roche Concha

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1 Orinale] Orinale P,  L 2 Lanterna] Lanterne  P 3 Cortelli] Corteliera P; Corteli  L 5 Cirela] Cigignola P,  L 7 Piola] Piagna P,  L 8 Manara] Daldora  P 9 Ove] Ovi  P 11 Botesin] Botexin P; Baril  L 12 Zuparelo] Çupon P; Zupon  L 13 Camisia] Camisa P,  L 14 Statoa] Statua de cera P; Statua L 15 Braçali] Brazali P, L 16 Banchili] Banchal P; Banchale L 18 Tavolacio] Tavoliero P, L 20 Chaze] Caçze P; Cacce L 22 Concha] Concha da malte P 

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Urinal Laterne Messer30 [45] Buch Flaschenzug31 Tontopf32 Hobel33 Beil34 [50] Schaf Wolle Kleines Fass35 Gewand36 Untergewand [55] Statue37 Armspange38 Kleine Bänke39 Rotes Leder Tartsche40 [60] Bogen Tiegel41 Felsen Muschel

30 Cortelli: curtellus, ital. coltello, ‚kleines Messer, Dolch‘. 31 Cirela: ital. girella, cirela, ‚Rädchen, Rolle, Scheibe‘; ‚Winde‘; insbes. ‚Rolle‘ des Flaschenzugs; auch ‚Spielsteine‘ des Damespiels; Cigignola (P, L): ital. cicognola, ‚Heber; Flaschenzug‘. 32 Testo: ital. ‚Blumentopf’. 33 Piola: ital. pialla, ‚Hobel’; vgl. ital. piolla, ‚Lärche’; Piagna (P, L): ital. piagna, ‚Hobel’. 34 Manara: lat. mannaria, ital. manaia, ‚doppelschneidiges Beil, Henkersbeil‘; Daldora (P): ital. daldura, ‚Henkersbeil‘. 35 Botesin, Botexin: ital. botticino, ‚kleines Fass‘ zur Aufbewahrung edler Weine; Baril (L): ital. barile, ‚kleine hölzerne Tonne‘ zur Aufbewahrung von Wein. 36 Zuparelo: vgl. zuparellus (von zuppa), ‚Gewand, Mantel, Joppe‘; ital. giubba, ‚Wams‘; Çupon (P), Zupon (L): ital. giubbone, ‚Mannesrock, Wams‘. 37 Statua de cera (P): ital. ‚Wachsfigur‘. 38 Braçali: vgl. mlat. brazalis, ‚Armspange‘; span. brazal, ‚Armbinde‘. 39 Banchili: vgl. banchus, ‚Sitzbank, Verkaufsstand, Tisch‘. 40 Tavolacio: ital. tavolaccio, ‚Schlafbank, Pritsche‘; ‚hölzerner Schild, Tartsche‘; Tavoliero (P, L): ital. ‚Schach-, Spielbrett‘. 41 Chaze: Pl. von ital. cazza, ‚Tiegel‘.

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Dopiero [65] Mioli Urzo Crivello Bereta Campanelo [70] Statera Graterola Fiori Spargolo Clistero [75] Orilugio Fiascho Forzela Centure Penarolo [80] Polastro Penne Cavedon Trepie Padella

1 Dopiero] Dopieto P 3 Urzo] Pitaro P; Pitarro L 5 Bereta] Liuto P, L 6 Campanelo] Campanelle P; Campanella L 7 Statera] Stadera P; Stadiera L 8 Graterola] Grata caso P,  L 9 Fiori] Folo  L 10 Spargolo] Spergolo de aqua sancta P; Spergolo  L 11 Clistero] Cristiero P,  L 12 Orilugio] Orelogium P; Horilogio  L 13 Fiascho] Fiasco P,  L 14 Forzela] Forzella P,  L 17 Polastro] Gallo P 21 Padella] Fresora L 

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Fackel42 [65] Becher43 Wasserkrug44 Sieb Barett45 Klingel [70] Waage Reibe46 Blumen47 Weihwasserwedel48 Klistier [75] Uhr49 Flasche50 Kleine Gabel Gürtel Federbüchse51 [80] Masthähnchen52 Schreibfedern Feuerbock53 Dreifuß54 Pfanne55

42 Dopiero: vgl. doplerium, ‚Fackel‘; ital. doppiero, ‚Doppelleuchter, Fackel‘. 43 Mioli: vgl. miolium, ital. miolo, ‚Becher‘. 44 Urzo: lat. urceus, ‚Wasserkrug, Flasche‘; Pitaro, Pitarro (P, L): ital. pitale, ‚Nachttopf‘, ‚zweihenkeliges Gefäß‘, ‚Blumenvase‘. 45 Liuto (P, L): ital. ‚Laute‘. 46 Graterola: ital. grattarola, grattacio, grattugia, ‚Reibe‘; neulat. paraphrasiert mit tyrocnestis, ‚Käsereibe‘; frz. esgrugeoir – Grata caso (P, L): ital. ‚Fragegitter‘(?); vgl. ital. graticola, ‚Beichtgitter‘. 47 Folo (L): venet. ‚Blasebalg‘. 48 Spargolo: ital. spargolo (da aqua benedetta); lat. spargillum, ‚Weihwasserwedel‘. 49 Orilugio: ital. orologio, ‚Uhr‘. 50 Fiascho: ital. fiasco, ‚dickbauchige, enghalsige, strohumflochtene Weinflasche‘. 51 Penarolo: ital. pennaruolo, pennaiòlo, ‚Federbüchse, Pennal’. 52 Gallo (P): ital. ‚Hahn‘. 53 Cavedon: lat. cavaedium; mlat. cavedonus, ital. cavedon, cavedone, ‚Vorsaal, Hof‘ innerhalb des Hauses; auch ‚schützender Erdwall, Damm‘; ‚Aufschüttung‘; hier in der Bedeutung ‚Feuerbock‘ im Kamin, ital. paraphrasiert mit alare. 54 Trepie: vgl. ital. treppiede, ‚Dreifuß‘. 55 Fresora (L): venez. fresora, frissora, ‚Bratpfanne‘.

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[85] Carne Pignata Coppi Lucerna  Mensura [90] Coffaneto Aqua Zucharo Chiave Scatolla [95] Pal de ferro Sognagli Borsa Galina Gabia [100] Corvo [56v] Subicio nunc exemplum sive modum locandi dictas res per cameras, salas, scalas et cetera. Pone ergo in introitu prime camere unam filciam paternoster appensam, ut illam bene videre possis. Deinde pone per distantiam sex pedum – vel plus aut minus ut supra iuxta camere magnitudinem – puta in uno angulo ipsius camere unum pedem caulium et in alia distantia similiter appone caseum unum vel plures appensum sive appensos aut supra unum tripode et in alia distantia consimili pone duos aut tres panes et in alia piscem vel pisces et sic habes in prima camera quinque locos. Et ita intrabis cameram immediate sequentem eundo semper ad manum dexteram sive levam, ut supra dictum est, et procedas sicut in prima. Ac domum ita facies ordinate usque ad vigesimam cameram

2 Pignata] Ola  P 5 Mensura] Quartaruola P; Quartarolo  L 6 Coffaneto] Coffaniera P; Coffaneta  L 12 Sognagli] Sonay P; Sonagi  L 13 Borsa] Borse P,  L 14 Galina] Sallaruolo P; Salarole  L 16 Corvo] hab. P; Corno z, L; vide num. 16 17 Subicio] praticha inscr. P 18 scalas] om. P, L 19 filciam] silvam z 19 paternoster] paternostri L 20 per distantiam] in distantia P, L 20 aut minus] om. P 22 similiter] simili P, L 23 supra unum] super uno P, L 23 in alia distantia] alia distantia  L 24 piscem vel pisces] capucium P; piscem L 25 locos] loca P, L 26 sequentem] subsequentem P, L 27 levam] sinistram P, L 27–28 ut supra… facies ordinate] ut supra dixi et in ea facies ut in prima et demum sic ordinate procedas P, L 

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[85] Fleisch Kochtopf56 Dachziegel57 Lampe Maß58 [90] Kästchen59 Wasser Zucker Schlüssel Schachtel [95] Schaufel aus Eisen60 Schellen61 Geldbeutel Henne62 Käfig [100] Rabe [56v] Ich füge nun ein Beispiel an oder eine Regel, wie die genannten Dinge in den Räumen, Sälen, Treppen und so weiter zu lozieren sind. Setze also an den Eingang des ersten Raumes eine aufgehängte Rosenkranzkette, damit du sie gut sehen kannst. Dann setze, wie oben beschrieben, im Abstand von sechs Fuß – oder auch mehr oder weniger, der Größe des Raumes entsprechend – zum Beispiel in eine Ecke dieses Zimmers einen Kohlstrunk und in einem fast ebensolchen Abstand lege einen Käse oder mehrere, die aufgehängt sind oder sich über einem Dreifuß befinden. Und in einem ganz ähnlichem Abstand setze zwei oder drei Brote, und mit Abstand wieder einen Fisch oder Fische, und so hast du im ersten Zimmer fünf Örter.63 Und so wirst du das unmittelbar folgende Zimmer betreten, indem du stets nach rechts oder links gehst, wie es gesagt wurde, und du sollst so wie im ersten Zimmer fortfahren. Und so wirst du das Haus geordnet bilden bis zum

56 Pignata: ital. pignatta, ‚Kochtopf’; Ola (P): ital. olla, ‚Topf’. 57 Coppi: venez. coppi, m. pl. ‚gewölbte Dachziegel‘; vgl. ital. coppo, ‚Ölkrug‘. 58 Mensura: ital. misura, ‚Maß‘; Quartaruola (P): ital. ‚Viertelscheffel‘; Quartarolo (L): ital. Flüssigkeitsmaß, Viertelteil eines barile. 59 Coffaneto: ital. cofanetto, Dim. von cofano, ‚kleiner Koffer, Kasten‘; ‚Schatulle‘. 60 Pal de ferro: ital. pala di ferro, ‚Schaufel‘, ‚Schippe‘ mit eisernem Blatt zum Graben. 61 Sognagli: ital. sonàglio, pl. –gli, ‚Schellen, Glöckchen‘. 62 Galina: ital. gallina, ‚Henne‘; leicht zu verwechseln: ital. salina, saliera, ‚Salznapf, -fass‘; Sallaruolo (P), Salarole (L): ital. ‚Salzgefäß‘ aus Holz, Zinn oder Silber. 63 Zu den genannten Dingen (Rosenkranz, Kohl, Käse, Brot, Fisch) vgl. die 100-Örter-Liste, hier Nr. 1–5 (f. 55v–56r).

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ordinando locos eo modo sive ordine quo supra, apponendoque quinque pro camera, ut est dictum.

cf. Rhetorica ad Herennium, III, XXII, 36

Sed adverte bene, quod opus est omnino, ut post illam dictam locationem signetur omnis quinarius aliqua nota vel numero, ut supra positum est, ante quemlibet eorum, aut aliter, si melius tibi videretur; modo scias quis locus est octavus et quis trigesimus et sic de omnibus aliis. Et hoc modo faciliter scies quotationem omnium locorum. Videat ergo tua excellentia diligenter dictos locos corporeis oculis et quibus in partibus camere appositi sunt, ita ut quandocunque illos ante oculos habere videaris et qualiter et quomodo situati sunt. Et da operam, ut prompte et ordinate eos recitare queas, quod totum unius diei spatio leviter facere poteris, si attente operam [57r] dare volueris. Et cum hoc bene notaveris, iam habebis partem de locis, que est principium et fundamentum totius artis. Imagines sunt nisi res collocande. Ad faciendum autem imagines supra locis est notandum, quod aut volueris notare rem animatam vel inanimatam, notam vel ignotam sicut essent nomina ebrea greca vel arabica. Preterea nota, quod res qualiscunque sit semper locanda est cum motu aut ridiculoso aut admirativo, crudeli aut fetido vel alio modo insueto; et est ratio, quia ridiculosa admirativa crudelia et cetera fortius mutant sensus et melius excitant, eo quia circa talia animus multum advertit et consequenter melius reminiscitur.

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Accipe primo regulam, que est de nominibus notis animatis; et si 25 tibi ad recitandum dabitur nomen notum, ut esset exempli

1 ordinando… quo supra] et ordinabis loca eo ordine quo suprascripta sunt P, L 4 signetur] signes P, L 4 omnis quinarius] omnem quinarium P; omne quinario  L 6 octavus] quintus P,  L 6 trigesimus] vigesimus nonus et quis septuagesimus tercius et quis tercius decimus P, L 8 locorum] aliorum locorum P, L 8 Videat ergo tua excellentia] Videas ergo P, L 8 diligenter] bona cum diligentia P,  L 8 dictos locos] dicta loca P,  L 9 appositi] apposita P,  L 10 quandocunque] quecunque  L 10 illos] illa P,  L 11 situati] situata P, L 11 eos] ea P, L 13 hoc] hec P, L 16 sunt] non sunt P, L 17 supra] super P, L 19 res] res et L 21 fetido] foedo P, L 21 alio] om. L 22 mutant] movent et mutant P 23 consequenter] consequens L 25 primo] primam L 25 notis] cognitis P 26 ad recitandum] om. P, L 26 notum] notum animatum P, L 

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zwanzigsten Zimmer, indem du die Örter auf diese Weise anordnest oder in der oben beschriebenen Ordnung, wobei du fünf Örter je Zimmer hinzufügst, wie es gesagt wurde. Aber merke gut, dass es durchaus notwendig ist, nach dieser Lozierung jede Fünfergruppe vorn mit irgendeinem  Merkmal oder einer Zahl zu bezeichnen, wie es oben bemerkt wurde, oder auf andere Weise, wenn es dir besser erschiene; nur sollst du wissen, welcher Ort der achte ist und welcher der dreißigste und so weiter. Und auf diese Weise wirst du leicht die Aufteilung aller Örter wissen. Es möge also deine Hoheit die genannten Örter aufmerksam mit körperlichen Augen ansehen und zugleich bemerken, in welchen Teilen des Raumes sie angelegt sind, so dass du sie jederzeit gleichsam vor Augen hast, und wie beschaffen und auf welche Weise sie eingerichtet wurden. Und gib dir Mühe, dass du die Örter schnell und geordnet aufsagen kannst; das alles wirst du im Verlauf eines Tages leicht erreichen können, wenn du dich aufmerksam [57r] bemüht haben wirst. Und wenn du dir dies gut eingeprägt hast, wirst du schon den Abschnitt über die Örter kennen, welcher der Anfang und die Grundlage der ganzen Kunst ist. Die Bilder sind ausschließlich Dinge, die anzuordnen sind. Aber bei der Schaffung der Bilder ist über den Örtern zu markieren, dass du entweder eine belebte oder unbelebte Sache, eine bekannte oder unbekannte Sache bezeichnen wolltest, wie es zum Beispiel hebräische, griechische oder arabische Namen wären. Außerdem merke, dass das Ding, wie beschaffen es auch immer sei, immer in einer Bewegung zu lozieren ist oder verbunden mit etwas  Lächerlichem oder Verwunderlichem, Grausamem oder Ekelhaftem oder auf andere Weise Ungewöhnlichem; die Begründung liegt darin, dass Lächerliches, Verwunderliches, Grausames und so weiter stärker die Sinne bewegt und sie besser erregt, denn der Geist ist bei solchem sehr aufmerksam und erinnert sich folglich besser. Vernimm zuerst die Regel, die von den Namen bekannter, belebter Dinge handelt; wenn dir ein bekannter Name zum Wiederholen vorgelegt wird, wie es zum Bei-

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causa Lodovicus, debes mente tua accipere unum Lodovicum, qui tibi sit familiaris et si esse poterit sit aliquo gradu insignis, et eum ponas in tuo primo loco scilicet ad paternoster non otiosum sed in motu ridiculoso vel alio ut supra. Verbi gratia fac, quod iste Lodovicus cum illis paternoster velit sibi ligare nasum vel aurem aut illos 5 veraciter mordeat vel dilaniet aut alio modo, qui tue fantasie melior videatur, et sic habebis perfectam huius nominis Lodovici locationem; quo facto, si dabitur tibi aliud nomen ut puta Martinus, statim unum accipe  Martinum tibi notum modo dicto et illum ponas in secundo loco scilicet ad caules et illas masticet vel dilaniet aut alio 10 modo [57v] sicut melius videbitur et sic ultra procedas collocando singulatim similia nomina. Similiter quoque locabis animalia et aves nota et notas, animata et animatas, ut sunt boves, equi, canes, austures, accipitres et cetera.

Sed si ad recitandum daretur tibi res inanimata nota, ut esset unum 15 biretum aut una clamis et cetera, semper menti habeas ponere rem animatam, que talem inanimatam moveat aliquo motu aut ridiculoso vel insueto, ut esset in sublime illud biretum proicere et illud apte super caput recipere aut in eo mingere vel aliter et alio motu tue fantasie convenienti; et est ratio, quia imagines formande sunt, 20 ut supra dictum est, et collocande cum aliquo motu, sed inanimata ex se mortua iaceret et de facili non recordaretur, ergo et cetera. Et ne forte accideret error in hoc, quia recitando prius forte occurreret res animata quam inanimata, ponerem, si esset homo, qui talem

1 mente tua] in mente tua P, L 1 accipere] recipere P; Accipe in mente unum Lodovicum de tristioribus vel magis egregiis vel tibi proximum aut bene notum ex illis quos noscis vocari Lodovici, si plures sunt tibi noti et pone eum et cetera add. in marg.  P 2 familiaris] multum familiaris P,  L 3 ponas] pone P; ponere  L 3 paternoster] paternostri  L 6 vel dilaniet] om. P,  L 7 huius] huiusmodi  L 8 nomen] nomen notum animatum P,  L 9 ponas] ponam z 10 loco] loco tuo P, L  13 nota… animatas] notas animatas  L 13 equi] equos L 14 et cetera] et similia P; om. L 15 ad] om. L 16 menti habeas ponere] pones P,  L 17 talem] talem rem  L 19 super] supra P,  L 19 recipere] accipere  P 19–20 et alio… convenienti] sicut tue fantasie videbitur convenire L 20 quia] nam L 24 inanimata] inanimatam P 

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spiel Lodovicus wäre, musst du in deinem Geist einen Lodovicus nehmen, der dir bekannt ist und der sich möglichst durch irgendeinen Rang auszeichnet. Du sollst ihn in deinen ersten Ort setzen, nämlich zum Rosenkranz, und zwar nicht untätig, sondern in einer lächerlichen oder anderen Bewegung begriffen, wie oben beschrieben. Zum Beispiel bewirke, dass dieser Lodovicus sich mit jenen Rosenkränzen die Nase oder das Ohr festbinden will oder sie in der Tat beiße oder zerreiße oder auf eine andere Weise behandle, die für deine gedankliche Vorstellung günstiger scheint, und so wirst du eine vollkommene  Lozierung dieses Namens ‚Lodovicus‘ haben; nimm danach, wenn dir ein anderer Name wie zum Beispiel Martinus vorgelegt wird, sogleich einen dir bekannten Martinus auf beschriebene Weise und setze ihn in den zweiten Ort, nämlich zum Kohl, und diesen soll er nach Belieben kauen oder zerreißen oder auf andere Weise behandeln [57v], und so sollst du weiter fortschreiten, indem du ähnliche Namen einzeln an ihren Platz setzt. Auf ähnliche Weise wirst du auch bekannte und belebte Tiere und Vögel lozieren, wie es Rinder, Pferde, Hunde, Sperber, Habichte und andere sind. Wenn dir zum Memorieren eine unbelebte, bekannte Sache vorgelegt würde, wie es ein Barett oder ein Umhang und so weiter wären, dann sollst du immer anstreben, eine belebte Sache zu setzen, die eine solche unbelebte Sache verändere durch irgendeine lächerliche oder ungewöhnliche Bewegung, wie es zum Beispiel wäre, jenes Barett in die Höhe zu werfen und es geschickt mit dem Kopf aufzufangen oder hineinzuurinieren, oder anders und in einer anderen Bewegung, die deiner Vorstellungskraft zusagt; die Begründung liegt darin, dass die Bilder nach obiger Beschreibung zu formen und in irgendeine Bewegung zu versetzen sind, ein unbelebtes und von sich aus totes Bild aber würde ruhen und wäre nicht leicht zu erinnern und so weiter. Und damit nicht vielleicht ein Irrtum hierbei auftritt, weil dir beim Vortragen zufällig eher die belebte als die unbelebte Sache vor

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inanimatam rem moveret, qui esset semper sine capillis et sine aliqua re in capite; et si esset animal, ut puta bos, qui talem inanimatam rem moveret, ponerem, qui haberet cornua mutilata; si foret equus, haberet auriculam etiam mutilatam vel fissam. Credo tamen, quod solum naturalis memoria huic preberet auxilium, ita quod 5 homo faciliter recordaretur sine predictis.

Si vero volueris in uno loco plures imagines simul collocare, oportet, quod accurate notes ordinem situandi eas in loco illo, ut recte scias memorari eo [58r] ordine quo illas locaveris, ne loco prime tertiam recitares imaginem, quod esset ridiculum et confusio magna. Et hoc 10 apprime per triplicem ordinem facere poteris, videlicet per ordinem terre, per ordinem mense et per ordinem loci. Ordo terre est servare situm elementorum, ut id quod est magis prope terram sit primum et quod super ponetur illi sit secundum et sic ultra ascendendo ut libuerit. Et est pulcher modus, modo scias, ut apposite imagines 15 inter se agant aliquid ridiculosum vel crudele et cetera, ut exempli gratia si volueris ista nomina locare per dictum ordinem: Antonio Paulo Francesco Nicolo, ponerem unum Antonium in terra resupinum, deinde ponerem super eo Paulum, qui violenter vellet ei testiculos succidere, postea ponerem quendam Franciscum, qui dictum 20 Paulum fuste sive bastono super caput percuteret, et demum ponerem Nicolaum, qui vellet dictos rixantes dividere, et sic clare

1 sine capillis et] om. P 2 capite] id est quod esset tonsus deinde manibus moveret illam rem add. P, L 3 qui haberet] quod haberet P, L 3–4 si foret… fissam] si equus auriculam etiam mutilatam vel scissam P; si equus auriculam esset mutilatam vel scissa L 5 ita] et L; om. P 6 sine predictis] om. P, L 7 collocare] locare  P 8 quod accurate] ut diligenter P,  L 11 videlicet] scilicet L; om.  P 12 servare] salvare P,  L 13 primum] propium  L 14 ponetur] ponitur P; est L 15 scias] habeas menti P, L 15–16 apposite… agant] imagines quas appones faciant inter se P; imagines quas apponas faciant inter se L 16–/1 ut exempli… locationem] om. P, L 

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Augen käme, würde ich es so setzen: Wäre es ein Mensch, der eine solche unbelebte Sache bewegte, soll er immer ohne Haare sein und ohne irgendeine Sache auf dem Kopf; und wenn es ein Tier wäre, wie zum Beispiel ein Rind, das eine solche unbelebte Sache bewegte, würde ich ein Rind setzen, das gestutzte Hörner hätte; wenn es ein Pferd wäre, hätte es auch ein verstümmeltes oder gespaltenes Ohr. Doch glaube ich, dass das natürliche Gedächtnis allein für diesen Zweck ausreichend Unterstützung leistete, so dass ein Mensch sich leicht ohne die vorherigen Ratschläge erinnerte. Falls du aber an einem Ort mehrere Bilder zugleich niederlegen wolltest, ist es nötig, dass du sorgfältig die Reihenfolge bemerkst, mit der sie an diesen Ort zu stellen sind, damit du dich an jene [58r] Ordnung recht zu erinnern weißt, mit der du die Bilder loziert hast, und nicht am Ort des ersten das dritte Bild aufsagtest, was lächerlich wäre und große Verwirrung stiftete. Und dies wirst du vor allem mithilfe einer dreifachen Ordnung tun können, nämlich nach der Ordnung der ‚Erde‘, der Ordnung des ‚Tisches‘ und der Ordnung des ‚Ortes‘. Die Ordnung der ‚Erde‘ ist es, die Lage der Elemente zu wahren, so dass das, was eher nahe der Erde ist, das Erste sei und das, was darüber gesetzt wird, das Zweite und so nach Belieben weiter aufsteigend. Es ist auch eine schöne Art und Weise, nur sollst du wissen, dass die hingesetzten Bilder miteinander etwas Lächerliches oder Grausames tun sollen und so weiter. Wenn du zum Beispiel diese Namen nach der genannten Ordnung lozieren wolltest: Antonio Paulo Francesco Nicolo, würde ich einen Antonius auf dem Rücken liegend auf die Erde setzen, dann würde ich über ihn Paulus setzen, der diesem gewaltsam die Hoden abschneiden wollte, danach würde ich einen gewissen Franciscus setzen, der dem genannten Paulus mit einem Stock oder Stab auf den Kopf drösche, und zuletzt würde ich Nicolaus setzen, der jene genannten Streithähne trennen wollte, und so hast du deutlich

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habes dictorum nominum locationem. Ordo loci est ponere iuxta murum verbi gratia Franciscum, qui erectus stet, aut si volueris poteris imaginari unum banchum prope murum, super quo ipse sedeat, et post ipsum Franciscum pone Albertum aut alium sicut daretur tibi ad recitandum, et habeas cordi quod omnes iste 5 imagines aliquid operentur, ut puta quod dictus Franciscus sedendo vel stando se exerceat circa locum, ad quem ponetur, ut essent caules. Deinde eundo versus caseum locabis Albertum, qui etiam faciat aliquid impedimentum aut iocosum ipsi Francisco, et sic successive dicto ordine pones alia nomina vel alias res que tibi ad reci- 10 tandum darentur. Ordo [58v] vero mense est imaginari unam mensam in medio duorum banchorum. Unum sit iuxta murum alterum extra, in quo bancho ab extra poteris, si expediens erit, locare tres vel quatuor aut plures imagines sicut in bancho, quod pones prope murum. 15

Sed adverte, quod si non darentur tibi ultra 300 nomina – ita quod locando illa videlicet pro uno quoque loco tria – discurres omnes locos tuos facillime et sine aliqua confusione; sed si ultra 300 darentur, servabis modos predictos et sequentem. Verbi gratia, si volueris collocare ista: Piero Zuane Martin Nicolo Baptista Aluise 20 per istum ordinem mense, imagineris unam mensam bene preparatam ad locum suum et prope murum in capite banchi pones Petrum cum aliquo motu ut puta ciatum pugno destruentem; deinde iuxta Petrum super eodem bancho pones Iohanem, qui ipsu Petrum brachio percutiat; tertio ponas consequentem  Martinum in fine 25 2 erectus] om. P,  L 3 imaginari] imaginare P, L; scilicet imaginari add. sup. lin. P 3 unum banchum] unam bancham P, L; scilicet que sit iuxta murum add. sup. lin. P; Et cave ne ponas in illo scano sive bancha ultra tres videlicet primus ut sedeat in capite banche circa locum se exercentem secundus in medio tercius in fine predicte banche quia ultra tres insultaret confusio add. in marg. P 3 prope murum] om. P, L 3 super quo] super qua P, L 4 pone] pones P, L 5 daretur] dabitur P, L  5 cordi] menti P, L 7 essent caules] esset ad caules L 9 aliquid] aliquid aut P,  L 10 dicto ordine] om. P,  L 14 locare] collocare P,  L 14 vel quatuor] om. P, L 16 tibi] tibi ad recitandum P, L 17 discurres] corr. supra lin. P; discurreres L 17 omnes locos tuos] omnia loca tua P, L 19 sequentem] sequentes P, L 20 volueris] voles P, L 24 pones] ponas P, L 25 consequentem] consequenter P, L 

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die Lozierung der genannten Namen. Die Ordnung des ‚Ortes‘ ist es, dicht neben eine Mauer zum Beispiel Franciscus zu setzen, der aufrecht stünde, oder wenn du wolltest, wirst du dir eine Bank neben der Mauer vorstellen können, auf der derselbe sitze, und nach Franciscus selbst setze Albertus oder einen anderen, so wie es dir zum Memorieren vorgelegt würde, und es soll dir am Herzen liegen, dass alle diese Bilder etwas verrichten, wie zum Beispiel, dass der genannte Franciscus im Sitzen oder Stehen sich beschäftigte am Ort, an den er gesetzt wird, wie es zum Beispiel der Kohl wäre. Dann wirst du Albertus, sich auf den Käse zubewegend, lozieren, der auch für Franciscus hinderlich sein oder etwas Lächerliches mit diesem vollführen soll, und so wirst du später in der genannten Ordnung andere Namen einsetzen oder andere Dinge, die dir zum Memorieren vorgelegt würden. Die Ordnung [58v] des ‚Tisches‘ aber ist es, sich einen Tisch vorzustellen in der Mitte zweier Bänke. Eine Bank sei nahe bei einer Mauer, die andere abseits, und auf diese außen stehende Bank wirst du, wenn es nützlich sein wird, drei oder vier oder mehr Bilder lozieren können, wie auf der Bank, die du neben die Mauer setzt. Aber gib acht, dass du, wenn dir nicht mehr als dreihundert Namen vorgelegt würden  – so dass selbstverständlich beim  Lozieren an einem jeden Ort drei Namen wären –, alle deine Örter sehr leicht durchlaufen kannst und ohne irgendeine Verwirrung; aber wenn dir mehr als dreihundert vorgelegt würden, wirst du die oben genannten Regeln und die folgende beachten. Wenn du beispielsweise dies festhalten wolltest: Piero Zuane Martin Nicolo Baptista Aluise, und zwar nach der Ordnung des Tisches, sollst du dir einen wohl bereiteten Tisch vorstellen an seinem Ort. Nahe der Mauer, an die Kopfseite der Bank, wirst du Petrus setzen, der in irgendeiner Bewegung begriffen ist und zum Beispiel mit der Faust einen Becher64 zerschlägt; dann wirst du neben Petrus auf derselben Bank Johannes setzen, der diesen65 Petrus mit dem Arm verwundet; drittens sollst du Martinus,

64 ciatum: vgl. cyathus, ‚Becher’. 65 ipsum: im Mlat. auch als Demonstrativpronomen verwendet.

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banchi; quarto pones in principio alterius banchi extra mensam Nicolaum, deinde cum aliquo motu pone Baptistam et sic habes dictam locationem. Et si sic feceris, quot nomina volueris clarissimo ordine recitabis et experientia docebit. Sed cavendum est diligenter, ne tria priora nomina posita in primo bancho prope murum se exer- 5 ceant cum aliis alterius banchi ad extra. Nam propter talem colligantiam resultaret confusio in ordine recitandi, quod est vitandum summopere.

Si volueris insuper nomina incognita vel ignotas res collocare, alterum istorum trium modorum servare [59r] debes vel per viam 10 similitudinis vel per divisionem sillabarum vel per fantasiam. Per similitudinem autem sic est faciendum, ut unum inveniatur aliquid notum, quod aliquo modo conveniat cum illo ignoto sive incognito, ut si volueris recordari huius nominis ‚Chaimʻ, qui fuit homo frater Abel, pones unum chadinum ligneum in loco tuo et 15 per talem similitudinem recordaberis de illo nomine. Et sic de similibus uniuscuiusque huiusmodi similitudinibus tuo poteris uti commodo. Per divisionem autem sillabarum est dividere nomen ignotum sive incognitum per suas sillabas et accipere postmodum tot nomina 20 nota quot sunt ille sillabe, ita ut cuilibet sillabe nominis ignoti correspondeat nomen notum cuiuslibet sillabe in primo, ut si voluero

1 pones] ponas P,  L 1 alterius] om. P,  L 2 pone] om. P,  L 2 Baptistam] et demum Aluisium add. P,  L 2–3 et sic… locationem] om. P,  L 3–4 quot… recitabis] clarissimo ordine quo situasti recitabis P,  L 4 cavendum est] cave P, L 5 tria priora nomina posita] tres priores qui erunt P, L 5 bancho] positi add. P, L 6 ad] de P, L 9 Si volueris] Si quis voluerit P, L 9 ignotas] incognitas P, L 9 collocare] locare L 10 trium] om. L 10 debes] debet P, L - 11 divisionem] dictionem P 12 unum] videlicet L 14 recordari] P, L; om. z 14 nominis] Aliud exemplum ut si volo recordari huius nominis ignoti arabici rob ponam suctum aliquem in loco meo et ille significabit rob quia in medicina rob significat suctum add. in marg. P 15–18 et per talem… commodo] et ita unusquisque huiusmodi similitudinibus [similitudinem suo L] utatur comodo P, L 19 divisionem] dictionem P 21 nota] om. L 22 in primo] id est pro qualibet sillaba accipe unam rem notam habentem primam sillabam consimilem illi sicut si vellem locare hoc nomen abias ponam in aqua bilantias super quibus sit assis et patet locatio intelligenti per ordinem littere add. in marg. P 

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der folgt, ans Ende der Bank setzen; viertens wirst du an den Anfang der anderen Bank abseits des Tisches Nicolaus setzen, nachher setze Baptista in irgendeiner Bewegung, und so hast du die genannte Lozierung. Und wenn du es so eingerichtet hast, wirst du in der klarsten Ordnung beliebig viele Namen aus dem Kopf aufsagen; die Erfahrung wird es dich lehren. Aber man muss sich sorgsam hüten, dass sich nicht die drei früheren Namen, die auf die erste Bank nächst der Mauer gesetzt wurden, mit den anderen, die auf der anderen Bank an der Außenseite sind, beschäftigen. Denn aus einer solchen Verbindung würde eine Verwirrung in der Reihenfolge des Vortrags entstehen, was unbedingt zu vermeiden ist. Wenn du überdies unbekannte Namen oder fremde Dinge aufstellen wolltest, musst du eine dieser drei Regeln beachten [59r] und entweder mithilfe der Ähnlichkeit oder der Silbenteilung oder der Vorstellungskraft vorgehen. Mithilfe der Ähnlichkeit aber ist so vorzugehen, dass etwas Bekanntes gefunden wird, das auf irgendeine Weise mit jenem Fremden oder Unbekannten übereinstimme. Wenn du zum Beispiel jenen Namen ‚Chaim‘ [memorieren] wolltest, der ein Mensch und Bruder Abels war, wirst du eine kleine hölzerne Hütte66 (chadinus) an deinen Ort setzen und durch eine solche Ähnlichkeit wirst du dich an jenen Namen erinnern. So wirst bequem derartige Ähnlichkeiten nutzen können, durch das, was einem jeden Namen ähnlich ist. Mithilfe der Silbenteilung aber ist der fremde oder unbekannte Name in seine Silben aufzuteilen, woraufhin so viele bekannte Namen zu nehmen sind, wie es Silben gibt, so dass einer jeden Silbe des fremden Namens ein bekannter Name entspricht mit jeder Anfangssilbe. Wenn ich zum Beispiel diesen Namen ‚Abraam‘

66 chadinum: wohl wie chadena oder chabena, ‚kleine Hütte‘.

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locare istud nomen ‚Abraamʻ, accipiam primo pro ‚aʻ agnum, pro ‚braʻ bracham, quam ponam super capite ipsius agni. Tertio pro ‚amʻ ponam Ambrosium, qui dictam bracham velit accipere de capite illius agni vel quod aliquid aliud de ea facere velit, et sic habes istud nomen ‚Abraamʻ compositum ex dictis tribus sillabis. Et erit iste ‚ordo terreʻ, quia prima imago erit agnum, qui erit in terra; secunda imago erit bracha super capite agni; tertia Ambrosius qui superior erit. Et isto modo firmissime collocabis omne nomen licet barbarum et inauditum. Et credat mihi tua illustrissima dominatio, si frequenter eadem circa hanc regulam se exercebit, plurimum proficiet in faciliter recitando et cetera res ignotas et nomina incognita et inusitata, quod consequenter tue celsitudini multis in rebus poterit adiumento [59v] esse et etiam relique alie regule nostre propter istius exercitium faciliores videbuntur et erunt. Per fantasiam vero volo unum exemplum subicere, quo alias ego inter cetera usus sum. Nam cum esset mihi datum hoc nomen ‚Malafaza Noraduʻ, et ego illico accepi unum nobilem, quem vocare solitus eram Malafaza, quia profecto visui meo habet faciem horrendam, et illum ad locum meum posui, deinde posui unam eius nurum ante eum per ordinem loci, que illi annum ostendebat, et facillime recordatus sum huius nominis  Malafaza Noradu. Sed firmior et verior est regula per divisionem sillabarum nec posset quis errare aliquo pacto, nisi prorsus esset a se alienus. Alie due regule etiam prosunt;nam naturalis memoria adiuvatur multum etiam, si habemus tantum unius nominis vel rei principium.

3 pro am ponam] accipiam pro am P,  L 3 dictam] om.  P 4 quod] om. P,  L 4 aliud] om.  L 4 velit] om.  P 5 sillabis] om.  L 6 agnum] agnus P, L 7–8 secunda imago… superior erit] deinde habebit bracham in eius capite et superior erit Ambrosius qui vult illam accipere P,  L 9 credat] crede P,  L 9 tua illustrissima dominatio] om. P,  L 10 eadem] quis P,  L 11–12 et cetera… inusitata] circa nomina incognita P; nomina incognita L 12 tue celsitudini] om. P, L 13 poterit] sibi add. P, L 15 vero… subicere] etiam subiciam unum exemplum P; vero subiciam etiam unum exemplum L 16 inter cetera] om. P,  L 16 cum esset… nomen] datum fuit mihi hoc nomen inter aliqua P, L 20 nurum] quam cognosco add. P, L 20 ante… loci] om. P, L 21 facillime] facile tunc L 21 huius] huiusmodi L 22 divisionem] dictionem P 24 regule] om. P, L 24 adiuvatur] adiuvat P, L  25 principium] principium que res vel quod nomen sit nobis solum [semel L] dictum P, L

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künftig lozieren will, werde ich zuerst für ‚a‘ ein  Lamm (agnus) nehmen, für ‚bra‘ eine Hose (bracha67), die ich über den Kopf dieses Lammes setzen werde. Drittens werde ich für ‚am‘ Ambrosius setzen, der die benannte Hose vom Kopf jenes Lammes wegnehmen oder etwas anderes mit ihr machen will, und so hast du diesen Namen ‚Abraam‘, zusammengesetzt aus den genannten drei Silben. Und diese Ordnung wird eine ‚Ordnung der Erde‘ sein, weil das erste Bild ein Lamm68 sein wird, das auf der Erde ist; das zweite Bild wird eine Hose sein über dem Kopf des Lammes; das dritte Ambrosius, der weiter oben befindlich ist. Und auf diese Weise wirst du mit größter Sicherheit jeden Namen, mag er auch ausländisch und unbekannt sein, an seinen Platz stellen. Und deine durchlauchtigste Herrschaft möge mir glauben, wenn sie sich häufig in dieser Regel üben wird, dann wird sie sehr große Fortschritte machen im leichten Vortragen [und so weiter] von fremden Dingen und unbekannten und ungebräuchlichen Namen, was deiner Hoheit in vielen Dingen hilfreich [59v] sein wird. Auch unsere restlichen Regeln werden durch deine Übung leichter scheinen und auch leichter sein. Zur leichteren Vorstellung aber will ich ein Beispiel anfügen, das ich sonst schon, unter anderem, gebraucht habe. Denn wenn mir dieser Name ‚Malafaza Noradu‘ vorgelegt würde, und ich sogleich einen Adligen vermerkte, den ich Malafaza zu rufen gewohnt war, weil er in der Tat in meinen Augen ein schreckliches Gesicht (mala facies) hat, und ich jenen an meinen Ort setzte, dann setzte ich mittels der Ordnung des Ortes eine Frau vor ihn, die seine Schwiegertochter ist (nurus) und die ihm den Anus69 zeigte, und sehr leicht habe ich mich an diesen Namen, Malafaza Noradu, erinnert. Aber sicherer und treffender ist die Regel, mittels der Silbenteilung vorzugehen, und niemand könnte auf irgendeine Weise irren, wenn er nicht sich selbst ganz und gar fremd wäre. Die zwei anderen Regeln nützen ebenfalls; denn das natürliche Gedächtnis wird auch sehr unterstützt, wenn wir nur den Anfang eines Namens oder einer Sache haben.

67 bracha: Nbf. von braca, ‚Hose‘. 68 agnum: hier als Neutrum verwendet. 69 anus: NF annus; evtl. auch agnus, ‚Lamm‘.

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Nota insuper sequens alphabetum, quod multis modis nobis esse poterit utile, ut si ad recitandum darentur nomina incognita, que desinerent in ‚bʻ vel in ‚dʻ aut in ‚tsʻ vel in ‚stʻ et similia, aut si darentur nomina composita multis liquidis consonantibus ac mutis, quod esset difficile invenire per suprascriptos modos; presens alphabe- 5 tum erit nobis adiumento cum celeritate, id est componere poterimus ex figuris ipsius alphabeti omne nomen. Istud est alphabetum: pro ‚aʻ pone sextum apertum, pro ‚bʻ azalinum ferri, pro ‚cʻ ferrum ab equo, pro ‚dʻ circulum a taberna cum suo bastono, pro ‚eʻ arcum cum sagitta, pro ‚fʻ falciam, pro ‚gʻ lumagam, pro ‚hʻ roncolam sive 10 ronchonum, pro ‚iʻ ceriolum vel candelotum; ‚kʻ non est necesse; pro ‚lʻ [60r] uncinum ferri, cum quo hauritur aqua de puteis, pro ‚mʻ furcam trium digitorum, pro ‚nʻ furconum duorum, pro ‚oʻ patenam a calice, pro ‚pʻ unum pedem argenti de his, qui offeruntur beate Virgini vel alicui Sancto, pro ‚qʻ pastoralem episcopi, pro ‚rʻ rampi- 15 num ferri, pro ‚sʻ bozolanum, pro ‚tʻ ferulam, pro ‚vʻ staffetam a tamborino, pro ‚xʻ forficem a sartore, pro ‚zʻ bursam. Sequitur nunc alia regula, que mihi utilis et pulcherrima videtur ad recitandum aut quatuor aut quinque aut sex vel octo nomina aut decem aut plura, que consulto ab aliquo multiplicarentur usque ad 20 centum, ducentum vel tercentum vices et plus sicut illi placeret, ut

2 recitandum] nobis add. P 2 que desinerent] desinentia P, L 3 in ts vel in st] in is vel in st z 3 similia] similibus P, L 3 aut] vel etiam P, L 3 darentur] daretur  P 4 nomina composita] unum nomen sillabicatum P,  L 4 multis… mutis] ex multis liquidis et consonantibus et mutis P, L 5 difficile] plerumque difficile P, L 5 suprascriptos] dictos P, L 6 id est] om. L 7 ipsius alphabeti] suis P, L 8 pone †sextum apertum†] accipere sextum carpentarium P; pones sextum  L 8 ferri] om.  P 10 sagitta] tensum add. P,  L 10 falciam] cadenatium P 12 ferri] ferreum L; om. P 12 puteis] puteo L 13 duorum] digitorum add. P 13 patenam a calice] patena calicis argenti P; patenam calicis L 14 argenti] sive cere add.  P 14 de his, qui offeruntur] qui offertur P; qui offeritur  L 15 pastoralem] pastorale P,  L 15 episcopi] om.  L 15 rampinum ferri] una messora ad metendum furmentum P 16 staffetam] stafeta P 17 forficem a sartore] forfices a sutore P; forficem sartoris L 17 bursam] billam L  19 aut quatuor aut] videlicet P, L 19 nomina] om. P, L 20 plura] vel pauciora nomina P, L 20 consulto] subito P 21 vel tercentum] om. P, L 

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Merke noch überdies das folgende Alphabet, das uns auf viele Weisen wird nützen können, wenn man etwa zum Memorieren unbekannte Namen vorlegte, die auf ‚b‘ oder auf ‚d‘ oder auf ‚is‘ oder auf ‚st‘ und ähnliches endeten, oder aus vielen Konsonanten – Liquida und Muta – zusammengesetzte Namen, was durch die oben genannten Verfahren schwierig zu bewerkstelligen wäre. Das vorliegende Alphabet wird uns mit Leichtigkeit unterstützen, das heißt, wir werden aus den Formen dieses Alphabets den ganzen Namen zusammensetzen können. Dies ist das Alphabet: für ‚a‘ setze einen aufgerichteten Zirkel,70 für ‚b‘ ein kleines Beil aus Eisen,71 für ‚c‘ ein Hufeisen, für ‚d‘ den Kranz eines Wirtshauses mit seinem Stock,72 für ‚e‘ einen Bogen mit Pfeil, für ‚f‘ eine Sichel,73 für ‚g‘ eine Schnecke,74 für ‚h‘ eine Lanze,75 für ‚i‘ eine kleine Wachskerze76 oder Fackel;77 ‚k‘ ist nicht notwendig; für ‚l‘ [60r] ein Eisenhaken, mit dem Wasser aus Gräben geschöpft wird, für ‚m‘ eine dreizackige Gabel, für ‚n‘ eine mit zwei Zacken,78 für ‚o‘ eine Schale von einem Messkelch, für ‚p‘ einen Fuß aus Silber von der Art der Weihegaben, die der seligen Jungfrau oder irgendeinem Heiligen geopfert werden, für ‚q‘ den Stab eines Bischofs, für ‚r‘ einen Haken aus Eisen, für ‚s‘ ein Maß für Flüssigkeiten,79 für ‚t‘ ein Hirtenstab, für ‚v‘ die Halterung eines Tamburins, für ‚x‘ die Schere eines Flickschneiders, für ‚z‘ eine Geldbörse. Es folgt nun eine andere Regel, die mir nützlich und sehr schön zu sein scheint, um entweder vier oder fünf oder sechs oder acht Namen oder zehn oder mehr vorzutragen, die absichtlich von irgendjemandem bis auf hundert, zweihundert oder dreihundert wechselnde Namen erhöht würden und mehr, gleichwie es

70 seste: pl. ital. ‚Zirkel‘; sesto, sesta, tosk. ‚Zirkel‘; gr. Συστον. 71 azalinum: (von azarum oder azzaium, ‚Stahl‘); vgl. den in Italien belegten mlat. Ausdruck azza, ‚Beil, Streitaxt‘. 72 circulum: gemeint ist wohl ein Gasthausschild; Tavernen sind seit dem frühen MA durch grün belaubte Äste, Kränze und Reifen gekennzeichnet, seit dem 12./13. Jh. werden in Städten Hauswappen und -namen verwendet 73 falciam: falx, ‚Sichel‘; vgl. ital. falce, ‚Sichel‘. 74 lumagam: limax, ‚Schnecke‘; vgl. ital. lumaca, ‚Schnecke‘. 75 roncolam sive ronchonum: vgl. ronco und ronchonus, ‚sichelförmige Lanze‘. 76 ceriolum: vgl. cerilolus oder cereolus, ‚kleine Wachskerze‘. 77 candelotum: vgl. candelottus, ‚Kerze, Fackel‘. 78 furconum: furco = furca, ‚Gabel, Forkel‘. 79 bozolanum: vgl. bozola, ein Flüssigkeitsmaß.

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esset verbi gratia: Francisco Martin Antonio Nicolo Piero et cetera sic procedendo. Nota, quod replicando ita multoties esset tue excellentie difficillimum et pene impossibile tot Franciscos Martinos et alios invenire, qui tibi noti forent. Sed utere modo isto et facillime et tercenta et quatercenta et plura nomina recitabis. Nam in proposito reperies unum Franciscum tibi notum et eius capiti impones unum biretum, sicut est biretum Serenissimi domini ducis Venetiarum, sive coronam imperatoriam; deinde unum Petrum tibi familiarem et capiti suo pones unam mitram papalem. Successive comperies unum Antonium et in eius manibus pones unam pulchram confecteriam vel aliud excellens et pulchrum. Et sic facies de aliis omnibus apponendo unicuique nomini quando primo tibi dabitur, ut [60v] modo dixi, aliquid differens et sit magnificum. Et ita procedendo, quotiens tibi nominabitur istud nomen Franciscus, si poteris habere alium Franciscum, conferes propter nomen, apponendo tamen eius capiti simile biretum, ut posuisti primo. Et si non reperires alium Franciscum, tunc accipies aliquem, nec obstabit si alio nomine nuncuparetur, modo illius capiti apponas illud insigne, quod posuisti dicto Francisco et cetera. Et ex tali insigni clare intelliges, quod Franciscum representabit, et sic facies de aliis omnibus et prompte ac faciliter et nomina et res et quidquid volueris sepius replicatum recitabis.

Nunc videbis aliam regulam, scilicet recitandi ludum cartarum, que multis in rebus poterit tue dominationi usui et utilitati esse. Primo

1 Francisco… Piero] add. alia nomina P, L 2 ita] ista L 2 tue excellentie] tibi P, L 4 forent] essent P, L 5 et quatercenta] om. P, L 5 in proposito reperies] reperias P, L 6 impones] imponas P, L 7 sicut est… Venetiarum] marchionatus P, L 9 pones] ponas L 9 comperies] comperias P; reperias L 10 pones] pone P,  L 10 pulchram] om.  L 11 vel aliud… pulchrum] om. P,  L 11 aliis omnibus] singulis P,  L 12 apponendo] et ponendo  L 13 ut modo dixi] om. P, L 13 sit] sit pulcrum vel P, L 14 istud nomen] om. P, L 15 conferes] confert P; conferret L 16 reperires] inveniris P; invenires L 17 alium] aliquem alium P, L 17 aliquem] P, L; primum quod tibi occurret menti z 18 illius capiti] ei in capite P, L 19 et cetera] om. P, L 23 Nunc videbis] Suscipe nunc P; Suscipe modo L 23 que] que regula P, L 24 tue dominationi] tibi P, L 24 Primo] Sed primo P, L 

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jenem gefiele, wie zum Beispiel: Francisco Martin Antonio Nicolo Piero und so weiter fortlaufend. Merke, dass es also auch durch vielmaliges Wiederholen für deine Hoheit sehr schwierig und beinahe unmöglich wäre, so viele Leute mit dem Namen Franciscus und Martinus und anderen zu finden, die dir bekannt wären. Aber wende diese Methode an, und sehr leicht wirst du sowohl dreihundert als auch vierhundert und mehr Namen vortragen. Denn in der Vorstellung80 wirst du einen dir bekannten Franciscus finden und auf dessen Kopf wirst du ein Barett setzen, wie es das Barett des durchlauchtigsten Herrn und Dogen Venedigs ist, oder eine kaiserliche Krone; dann einen dir vertrauten Petrus, und auf dessen Kopf wirst du eine päpstliche Mitra setzen. Später wirst du eines Antoniusʼ innewerden und in dessen Hände wirst du ein schönes Zuckerwerk81 legen oder etwas anderes Vorzügliches und Schönes. Und so wirst du mit allen anderen vorgehen, indem du einem jeden Namen, sobald er dir vorgelegt wird – wie [60v] ich eben sagte –, etwas Unterscheidendes beigibst, und es soll etwas Prachtvolles sein. Und so wirst du im weiteren Voranschreiten, sooft dir der Name Franciscus genannt wird, einen anderen Franciscus, sofern du einen heranziehen kannst, neben den Namen setzen, doch indem du auf seinen Kopf ein ähnliches Barett setzt, wie du es zuerst verwendet hast. Wenn du keinen anderen Franciscus findest, dann nimm irgendeine Person, und es ist nicht hinderlich, wenn sie einen anderen Namen hätte. Du sollst nur auf den Kopf jenes Kennzeichen setzen, das du dem genannten Franciscus beigelegt hast und so weiter. Durch ein solches Kennzeichen wirst du deutlich merken, dass es Franciscus repräsentiert, und so wirst du in allen anderen Fällen vorgehen. Schnell und leicht wirst du sowohl Namen als auch Dinge und was immer du wolltest aus dem Kopf vortragen, wenn sie recht häufig wiederholt wurden. Nun wirst du eine andere Regel ins Auge fassen, nämlich die, ein Kartenspiel zu memorieren, was deiner Herrschaft in vielerlei Hinsicht künftig nützlich und

80 proposito: propositum hier übersetzt wie propositio, ‚Vorstellung‘. 81 confecteria: vgl. confecturae, ‚Zuckerwerk, Marmelade‘.

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expedit, sicut ipse ludus cartarum partitus est in partes quatuor, videlicet danari, coppe, spade et bastoni, ita tibi invenias personas quatuor, que conveniant egregie cum dictis ludis, id est pro ludo denariorum eliges tibi aliquem, qui multum divitiarum habeat, aut aliquem alium, qui pecuniis multis abundet, ut esset gratia exempli pro magno divite Cosmas de Medicis aut alius huiusmodi, si Cosmam non agnosceres; pro ludo vero spate aliquem famosum magistrum artis dimicandi de spata; pro ludo autem coppe aliquem famose bibentem vel insignem ebrium; pro ludo bastoni accipies aliquem magnum hominem, cui ponas unum magnum bastonum in manibus, et ita similiter appones, super [61r] dorso suprascripti divitis, pro ludo denariorum multos sachetos pecuniis plenos, illi vero, quem posueris pro ludo spate, pone unum magnum ensem evaginatum in manibus, temulento vero sive illi ebrio pones unum copeletum aureatum in eius manibus vino plenum, ita quod super natet. Dabo modo exemplum de uno ludo et ut de uno dico, de aliis omnibus ita dico. Si dabitur ergo tibi pro prima carta ‚li otto denariʻ, tu statim accipies illum, qui tibi serviet pro ipso ludo, id est illum divitem, et eum portabis ad primum locum, scilicet ad paternoster. Et in eius manibus pones unam scuffiam, cum qua ille se exercebit in dicto loco mingendo in illa aut eam dilaniando vel aliud aliquid faciendo, et sic habebis locationem huius carte ‚li otto denariʻ primo loco, quia sicut supra vidisti ille tibi significat ludum denariorum, deinde illa scuffia est octavus locus et per hoc facillime recordaberis de ista prima carta, videlicet ‚li otto denariʻ.

1 cartarum] om. P, L 4 eliges tibi] comperias P, L 4 multum divitiarum] multos denarios L 5 aut… abundet] aut aliquem capsorem qui pecuniis multum habundet P; om. L 5–6 gratia… magno divite] om. P, L 7 si… agnosceres] si Cosmam non cognosceres P; om. L 7 aliquem famosum] unum P, L 9 famose] famosum P,  L 10 ponas unum magnum] impones [pones L] unum longum P, L 11 ita] om. P, L 11 appones] pones L 11 suprascripti] dicti P, L 12 multos] multis P 12 sachetos] sachos P, L 12 pecuniis] denariorum L 13 pone] pones P,  L 14 in manibus] om. P,  L 15 aureatum] deauratum P; auratum  L 15 super natet] supernatet vasi P,  L 18 serviet] servit  P 19 portabis ad primum locum] apponas primo loco P; appones primo loco L 20 cum qua] et fac quod cum ea P, L 21 exercebit] exerceat P, L 21–22 in dicto loco… faciendo] ad dictum locum P, L 22 locationem huius carte] om. P, L 25 facillime] faciliter P, L 25 li] deli P; om. L 

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zuträglich sein kann. Zuerst ist es dienlich, dass du dir, so wie das Kartenspiel in vier Abteilungen unterteilt ist – nämlich Denare, Becher, Schwerter und Stäbe82 –, vier Personen erfindest. Diese sollen vorzüglich zu den genannten Spielen passen, das heißt, für das Spiel der Denare wirst du dir jemanden auswählen, der viele Reichtümer besäße, oder jemand anderen, der Geld in Fülle hätte, wie es zum Beispiel Cosmas deʼ Medici83 als ein reicher Großer wäre oder ein anderer von dieser Art, falls du Cosmas nicht kenntest; für das Spiel des Schwertes aber irgendeinen berühmten Lehrmeister in der Kunst des Schwertkampfes; für das Spiel des Bechers dagegen irgendeinen Trinker, der viel von sich reden macht, oder einen notorischen Trinker; für das Spiel des Stabes wirst du irgendeinen großen Menschen nehmen, dem du einen großen Stab in die Hände geben sollst. So wirst du ihnen auf ähnliche Weise etwas zugeben, auf [61r] dem Rücken des genannten Reichen, für das Spiel der Denare viele mit Geld gefüllte Säckchen, jenem aber, den du für das Spiel des Schwertes gesetzt hast, gib ein großes gezogenes Schwert in die Hände, dem Berauschten aber oder Betrunkenen wirst du ein vergoldetes Becherchen84 in seine Hände geben, voll mit Wein, so dass er überdies schwanke. Ich werde sogleich ein Beispiel geben für ein Spiel; wie ich ein Spiel beschreibe, so [sind] auch alle anderen. Wenn dir also für die erste Karte ‚die85 acht Denare‘ gegeben werden, wirst du sogleich die Person nehmen, die dir für dieses Spiel dienen wird, das heißt, jenen Reichen, und du wirst ihn zum ersten Ort befördern, nämlich zum Rosenkranz. Und in seine Hände wirst du eine Haube setzen, mit der jener sich betätigen wird am genannten Ort, indem er in sie hineinuriniert oder sie zerreißt oder etwas anderes macht. So wirst du die Lozierung dieser Karte ‚die acht Denare‘ am ersten Ort haben, weil jener dir, wie du oben gesehen hast, das Spiel der Denare anzeigt, ferner ist die Haube der achte Ort, und dadurch wirst du dich sehr leicht an die erste Karte erinnern, nämlich ‚die acht Denare‘.

82 Beschrieben wird eine italienisch-spanische Blattversion; zu den genannten vier Symbolen vgl. die sog. Trionfikarten, die im 15. Jh. im Umfeld der Herzöge von Mailand und Ferrara aufkommen und als Vorform der Tarotkarten gelten, sowie die sog. Trappolierkarten, ein nach dem Kartenspiel Trappola benanntes und im Italien des 16. Jhs. belegtes Blatt (überliefert durch: Girolamo Cardano: De ludo Aleae, 1526). 83 Cosimo deʼ Medici (1389–1464), genannt il Vecchio; Politiker, Bankier und Mäzen. 84 copeletum: copelletus, Diminutiv zu cupa, ‚Becher, Kübel‘. 85 li: vgl. den bestimmten Artikel im Italienischen gli.

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Et si sequeretur ‚rex denariorumʻ pro secunda carta, tunc portabis illum divitem ad secundum locum, id est ad caules, in quo loco se exercebit. Et capiti eius impones coronam auream et propter istam coronam serviet tibi pro rege denariorum. Si vero tertia carta esset ‚el cavalcante de denariʻ, tunc ipsummet divitem locabis in tertio loco, videlicet ad caseum, supra uno equo et aliquid faciat ad ipsum locum. Deinde si sequeretur ‚el picol de denariʻ, tunc etiam ipsum divitem situabis in quarto loco et eum pones flexis genibus cum aliquo motu et huncmet modum servabis de omnibus aliis figuris aliorum ludorum, videlicet regi coronam, equestri equum, pedestrem pones genibus [61v] flexis. Si vero post hec darentur ‚li sette bastoniʻ, tunc locabis illum magnum tibi significantem ludum bastonorum in loco locando et super suo bastono appones quatuor aut sex poma appensa et sic habebis ‚li sette bastoniʻ, quia primo ille magnus homo denotat tibi ludum bastonorum et poma significant tibi septimum locum; et sic patet locatio dicte carte, videlicet de ‚li sette bastoniʻ. Si postmodum sequeretur ‚le cinque coppeʻ, tunc illum ebrium cum suo copeleto vino pleno situabis in loco situando et super ipso copeleto pones unum vel duo pisces, et quod iste ebrius, cum velit illum piscem bucca accipere, irriget sibi barbam et nasum in vino copeleti et cura, quod etiam aliquid agat ad locum, ad quem apponetur. Si

1 Et si] Sed si casu P; Sed si a casu  L 2 id est ad caules] om. P,  L 2 loco] om. P,  L 4 esset] occurreret P,  L 5 cavalcante] cavallo  L 6 supra] super P, L 6 faciat ad ipsum locum] operetur in ipso loco P, L 7 Deinde si sequeretur] Si tibi daretur P, L 7 el picol] el soto P; el pizolo L 8 situabis] sit nobis z 8 quarto loco] illo loco ad quem sorte veniret P; illo loco ad quem sorte venerit L 8 cum aliquo motu] ad illum locum aliquid operantem P, L 10 coronam] in capite add. P,  L 12 sette] cinque P,  L 13 bastonorum] bastoni  L 14 bastono… appensa] bastone pones unum vel duos caputios appensum vel appensos dicto bastoni P; bastone pones unum vel duos lucios aut tenchas sive alios pisces appensos dicto bastono  L 15 sette] cinque P,  L 16 poma significant] caputius est P; piscis est L 16 tibi] om. P, L 16 septimum locum] quintus locus P, L 16–17 sic patet… carte] per hoc recordaberis optime P, L 17 sette] cinque P,  L 17 Si postmodum] Esse poterit quod postea P, 18 sequeretur] sequerentur L 18 cinque] sette P, L 19 et super… pisces] et circumquaque ipsum copoletum et in ipso copoleto appones de pomis P, L 20 cum velit] volendo P, L 20 illum piscem] de illis pomis P, L 22 cura, quod] om. P, L 22–/2 ad locum… in ipso loco] hab. P, L; locandum cum aliquo motu z 

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Und wenn ein ‚König der Denare‘ als die zweite Karte folgte, dann wirst du jenen Reichen an den zweiten Ort befördern, das heißt, zum Kohl, an welchem Ort er sich betätigen wird. Und seinem Kopf wirst du eine goldene Krone aufsetzen, und wegen dieser Krone wird er als ‚König der Denare‘ dienlich sein. Wenn aber die dritte Karte ‚der Reiter der Denare‘ wäre, dann wirst du eben diesen Reichen auf einem Pferd in den dritten Ort lozieren, nämlich zum Käse, und er soll an diesem Ort etwas tun. Wenn dann ‚die Pike86 der Denare‘ folgte, sollst du diesen Reichen an den vierten Ort setzen, und du wirst ihn mit gebeugten Knien in irgendeiner Bewegung zeigen. Und eben diese Art und Weise wirst du auch bei allen anderen Figuren der anderen Spiele anwenden, nämlich die Krone für den König, das Pferd für den Reiter, und den Fußsoldaten wirst du mit gebeugten Knien [61v] setzen. Wenn dir aber nachher ‚die sieben Stäbe‘ gegeben würden, dann wirst du jenen großen Menschen, der das Spiel der Stäbe anzeigt, an den betreffenden Ort versetzen und über seinem Stab wirst du vier oder sechs aufgehängte Äpfel beifügen. So wirst du ‚die sieben Stäbe‘ haben, weil zuerst jener große Mensch dir das Spiel der Stäbe kenntlich macht und die Äpfel dir den siebten Ort bezeichnen; und so liegt die Lozierung der genannten Karte offen, nämlich die ‚der sieben Stäbe‘. Wenn in der Folge ‚die fünf Becher‘ folgten, dann wirst du jenen Betrunkenen mit seinem kleinen, weingefüllten Becher an den einzurichtenden Ort setzen. Über dieses Becherchen wirst du einen oder zwei Fische platzieren, wobei dieser Betrunkene in der Absicht, mit dem Mund nach dem Fisch zu schnappen, sich den Bart und die Nase mit dem Wein des kleinen Bechers begießen soll, und sorge dafür, dass

86 el picol: vgl. mlat. pica und pico, ‚Hacke‘; vgl. auch die Kartenfarbe Pik im Kartenspiel.

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postea dabitur ‚le tre spadeʻ, tunc denotantem tibi ludum de spata portabis ad locum convenientem aliquid facientem in ipso loco et super eius ense affiges unum caseum, et quia caseus est tertius locus et ille significat tibi ludum de spata, illico recordaberis de ‚le tre spadeʻ. Et ita  – servato ordine dicto singula singulis, ut est 5 dictum, conformando – optime poteris ludum sive ludos cartarum recitare. Et est alius modus locandi dictum ludum cartarum, videlicet ut accipias pro uno unum pecudem, et pro duobus unum leporem, pro tribus cervum, pro quatuor canem, pro quinque bovem, pro sex equum, pro septem ursum, pro octo leonem, pro novem hominem, pro decem asinum. Et quando volueris collocare, pone decem bastones, pones asinum oneratum lignis in loco, ubi situari debet. Si octo spadas, situabis leonem cum ense in corpore vel alio modo, prout tue fantasie melius conveniet et occurret. Si sex denarios, situabis equum oneratum denariis, et significabit tibi ‚li sei denariʻ et sic de singulis. Hec erit alia regula, qua poteris omnes numeros locare et menti habere. Sed scire debes, quod numeri non interpretantur per figuras arithmeticas nec eo ordine, secundum quem in hac parte considerantur, sed loci sunt significantes numerum, ita quod unusquisque locus numerum illum importat, cuius est in ordine; [62r] verbi gratia paternoster unitatem importat, caules binarium, caseus ternarium, et sic successive usque ad centum. Preterea est notandum, ut integre omnem numerum locare ac recitare queas, quod expedit, ut penes dictas imagines habeas certas figuras, que tibi serviant pro quatuor nullis, quorum suffragio poterit tua celsitudo locare et menti habere et decem milia et decies centum milia et demum quantocunque alium numerum, qui scribi possit. Erit ergo una scarpa pro uno ‚Oʻ, id est pro una nulla; unus

3 affiges] affigas  P 4 significat] significabit  L 7–17 Et est alius… de singulis] hab.  P 16 sei] sie P,  L 18–19 Hec erit… scire] Sequitur nunc regula de modo locandi omnes numeros, pro quo scire P,  L 19 interpretantur] importantur P, L 20 quem] quod P, L 21 loci] loca P, L 21 significantes] significantia P, L 22 cuius] cuius ipse P, L 24 caseus… successive] canis decimum nonum numerum significat et sic de omnibus aliis P,  L 25 locare ac] om. P, L 26–30 expedit… Erit ergo] om. P, L 30 scarpa] carpa L 30 pro uno] serviet [servit L] tibi pro una P, L 30 id est pro una nulla] om. P, L 

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er auch etwas verrichte [am Ort, an den er gesetzt wird. Wenn später ‚die drei Schwerter‘ gegeben werden, dann wirst du den, der dir das Spiel des Schwertes bezeichnet, an den passenden Ort bringen, und er soll an dem Ort etwas tun], und über seinem Schwert wirst du einen Käse befestigen, und weil der Käse der dritte Ort ist und jener dir das Spiel des Schwertes anzeigt, wirst du dich sogleich an ‚die drei Schwerter‘ erinnern. So wirst du – unter Wahrung der beschriebenen Ordnung, indem wie gesagt die einzelnen Dinge entsprechend angepasst wurden – am besten ein oder mehrere Kartenspiele memorieren können. [Es gibt eine andere Methode, das genannte Kartenspiel zu lozieren, so dass du nämlich für eins ein Schaf nimmst und für zwei einen Hasen, für drei einen Hirsch, für vier einen Hund, für fünf ein Rind, für sechs ein Pferd, für sieben einen Bären, für acht einen Löwen, für neun einen Menschen, für zehn einen Esel. Und wenn du hintennach zehn Stäbe anordnen wolltest, wirst du einen mit Holz beladenen Esel an den Ort setzen, wohin er platziert werden soll. Wenn acht Schwerter, wirst du einen Löwen hinsetzen mit einem Schwert im Leib, oder auf andere Weise, so wie es deiner Vorstellung besser zusagen und vor Augen treten wird. Wenn sechs Denare, wirst du ein mit Denaren beladenes Pferd hinsetzen, und es wird dir ‚die sechs87 Denare‘ bezeichnen und so weiter]. Dies wird die andere Regel sein, mit der du alle Zahlen lozieren und künftig im Gedächtnis behalten kannst. Aber wissen musst du, dass die Zahlen nicht erklärt werden durch arithmetische Figuren und nicht durch eine Reihenfolge, entlang der man sie in dieser Beziehung betrachtet, sondern die Örter bezeichnen die Zahl, so dass ein jeder Ort die Zahl einführt, für die er in der Reihenfolge steht; [62r] zum Beispiel führt der Rosenkranz die Zahl eins ein, der Kohl die Zahl zwei, der Käse die Zahl drei und so nacheinander weiter bis hundert. Außerdem ist zu bemerken, dass es nützt, um die ganze Zahl unvermindert lozieren und vortragen zu können, dass du bei den genannten Bildern bestimmte Figuren hast, die dir als vier Nullen dienen. Durch deren Unterstützung kann deine Hoheit künftig sowohl zehntausend als auch zehnmal hunderttausend und schließlich eine beliebig große andere Zahl, die notierbar wäre, lozieren und im Gedächtnis behalten. Es wird also eine Sandale für ‚O‘ stehen, das heißt für eine Null; eine

87 sie: offenbar verschrieben für ital. sei, ‚sechs‘.

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pedillus ligneus sive unus zocculus pro ‚OOʻ; unum parvum stivaletum pro ‚OOOʻ; unum stivale magnum pro quatuor nullis et sic cum dictis nullis et dictis imaginibus, ut modo dixi, poterit tua illustrissima dominatio omnem numerum formare et de eo reminisci. Aut ergo numerus locandus erit infra centum aut supra; si infra, ut exempli causa 45, pones tunc in loco situando librum unum apertum, et quia liber discurrendo per locos nostros est ad numerum 45, illico representabit tibi dictum numerum. Si vero volueris recordari de isto numero 25, tunc pones unam crucem dicta ratione et ita servabis de omnibus aliis numeris usque ad centum. Sed si supra centum, ut esset 172, poteris duobus modis istum numerum locare. Verum si daretur aliquis numerus locare, primo modo, si accipies unum bronzinum sive raminum, quod est in locis nostris ad numerum 17 et super eo pones unum pedem sive russum caulinum, que sunt pro secundo loco, compones dictum numerum 172 [62v] et erit iste ordo terre, quia primo pones bronzinum et postmodum pones super eo caules et sic plane habebis dictam locationem. Si iuxta arithmeticam normam combinentur alio modo, etiam posses dictum numerum locare; poneres verbi gratia unam filziam paternoster per dictum ordinem, que significat unitatem, et super eam

1 pedillus… zocculus] zocholus ligneus  L 2–4 cum dictis nullis… dominatio] cum istis nullis poteris P,  L 5 supra] ultra centum P,  L 5 ut] ut esset P, L 6 pones tunc] tunc librum situabis L; Accipe librum et situabis P 6 unum apertum… illico] et quia sicut plane scis, liber est locus quandragesimus quintus, ideo P,  L 8 dictum] illum P,  L 8 vero volueris] velles P,  L 9 pones unam… numeris] pones crucem et sic de aliis P, L 10–11 Sed si… locare] P, L; om. z 12 Verum… accipies] accipies ergo L; Accipe ergo P 13 sive raminum] om. P 13 in locis] pro loco P, L 13 nostris ad numerum] om. P, L 14 unum pedem… caulinum] caules P,  L 15–16 compones… iste ordo] et ipsas figuras collocabis per ordinem P, L 16 primo… bronzinum] videlicet pones prius bronzinum in terra P, L 16 postmodum pones] om. P, L 17 plane… locationem] sic patet locatio predicti numeri 172 P, L 20 per dictum ordinem] om. P, L – 5 eam] ea P, L 20 eam] ea P, L - 

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hölzerne Sohle88 oder ein kleiner niedriger Schuh für ‚OO‘; ein kleiner Stiefel89 für ‚OOO‘; ein großer Stiefel für vier Nullen. So wird mit den genannten Nullen und den genannten Bildern, wie ich eben sagte, deine durchlauchtigste Herrschaft die ganze Zahl bilden und sich an sie erinnern können. Und es wird also die zu lozierende Zahl kleiner oder größer als hundert sein; wenn kleiner, wie beispielsweise fünfundvierzig, dann wirst du an den einzurichtenden Ort ein offenes Buch setzen, und weil das Buch im Durchgang durch unsere Örter bei der Zahl fünfundvierzig steht, wird es dir sogleich die genannte Zahl vergegenwärtigen. Wenn du dich aber an die Zahl fünfundzwanzig erinnern wolltest, dann wirst du ein Kreuz auf genannte Weise setzen, und diese wirst du so bei allen anderen Zahlen bis hundert wahren. [Aber wenn über hundert , wie es 172 wäre, wirst du diese Zahl auf zwei Arten lozieren können]. Wenn aber irgendeine Zahl zum  Lozieren vorgelegt würde, ist es auf die erste Weise , wenn du einen Krug oder Kupfergefäß nehmen wirst, der in unseren Örtern bei Nummer siebzehn steht. Darüber wirst du einen Kohlstrunk setzen oder roten Kohl, die für den zweiten Ort stehen, und du wirst die genannte Zahl hundertzweiundsiebzig zusammensetzen. [62v] Dies wird eine Ordnung der Erde sein, weil du zuerst einen Krug setzen wirst, danach über diesen den Kohl, und so wirst du die genannte Lozierung klar zur Verfügung haben. Wenn sie gemäß der arithmetischen Regel auf andere Weise kombiniert würden, könntest du die genannte Zahl auch lozieren; du könntest beispielsweise mittels der benannten Ordnung eine Rosenkranzkette setzen, die die Zahl eins bezeichnet, und über

88 pedillus: vgl. griech. πέδιλον, ‚Sohle, Schuh‘. 89 stivaletum: vgl. ital. stivaletto, ‚niedriger Stiefel, Halbstiefel‘.

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poneres aliquos flores, qui sunt per locos nostros ad numerum 72, et sic habebis dicti numeri aliam locationem, et iste modus secundus magis placet, quia primo habes per paternoster, que unitatem importat, unum centenarum; deinde per flores, quia 72 significant, habes etiam numerum integrum. Et sic magis conve- 5 nienter iuxta fantasiam meam tales numeros servato isto ordine situabis. Si vero ultra mille volueris numeros collocare, ut esset 2425, tunc servato ordine terre vel loci, sed terre magis placet. Pones unum turibulum sive turicrema in loco locando et super illos pone unam crucem et sic habebis claram dicti numeri locationem.

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Similiter quandoque locabis 1460, quia pones in loco situando unam pellem pilosam significantem numerum 14, cui super pones unum arcum significantem numerum 60; et sic habebis dictum numerum 1460. Et hoc poterimus omnem propositum nobis numerum recitare. Ut autem praticemus regullas, de quibus mentio supra facta 15 est, ponam exemplum de omnibus singulatim. Et primo si voluerimus locare istum numerum 1000, id est mille, ponemus coruum unum et super eo ponemus unam scarpam et sic habebis locatum dictum numerum, quia sicut nosti coruus nobis [63r] significat centum et una scarpa denotat unam ‚Oʻ, id est unam 20 nullam, et ita habes dictam locationem. Si vero volueris locare istum alium numerum videlicet 10.000, tunc ponemus dictum coruum et unum pedillum ligneum servato dicto ordine et habebis dictum numerum; similiterque facies, si volueris locare centum mille, id est 100.000; situabis dictum coruum in loco locando et super illo pones 25 unum parvum stivaletum, quod significat nobis tres nullas, et sic

1 qui sunt… ad] per ordinem terre ut predictum [supra dictum P] est et tu scis quod flores representant L, P 2 dicti numeri aliam locationem] numerum modo [ante L] dictum scilicet 172 P, L 3 placet] placeret P, L 3–4 per … importat] pro paternoster P, L 4–5 deinde… habes etiam] et pro floribus P, L; 17 leg. z 5 integrum] integrum 72 P, L 6 iuxta… numeros] dictum numerum et similes P, L 7–/6 Si vero… quod est] et hoc modo proportionabiliter facies in aliis ordinem terre semper servando. Est ergo P, L 11 1460] 1960 z 12 14] 19 z 14 1460] 1960 z 18 coruum] cornum z 19 coruus] cornus z 22 coruum] cornum z 25 coruum] cornum z 

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ihr könntest du einige Blumen platzieren, die nach unseren Örtern bei der Zahl zweiundsiebzig stehen, und so wirst du eine andere  Lozierung der genannten Zahl besitzen. Diese zweite Art und Weise wird für besser befunden, weil du zunächst durch die Rosenkranzkette, welche die Zahl eins einführt, eine Hundertzahl90 hast; dann hast du durch die Blumen, weil sie zweiundsiebzig bezeichnen, auch die ganze Zahl. Auf diese Weise wirst du, wenn die Ordnung gewahrt bleibt, solche Zahlen angemessener nach meiner Vorstellung einrichten. Wenn du aber jenseits der Tausend Zahlen anlegen wolltest, wie es 2425 wäre, dann unter Wahrung der Ordnung der Erde oder des Ortes, wobei die Ordnung der Erde für besser befunden wird. Du wirst ein Weihrauchfass oder weihrauchbrennende Gefäße91 an den betreffenden Ort setzen, über jene bringe ein Kreuz an, und so wirst du eine deutliche Lozierung der genannten Zahl besitzen. Ähnlich ist es, wenn du 1460 lozieren wirst, da du an den einzurichtenden Ort ein haariges Fell setzen wirst, das die Zahl 14 anzeigt. Über dieses wirst du einen Bogen setzen, der die Zahl sechzig92 bezeichnet; und so wirst du die genannte Zahl 1460 haben. Und dadurch werden wir die ganze Zahl, die wir uns vorgenommen haben, memorieren können. Damit wir aber die Regeln erfüllen, welche oben erwähnt wurden, will ich für alle einzeln ein Beispiel aufführen. Wenn wir zuerst diese Zahl 1000, das ist tausend, lozieren wollten, werden wir einen Raben setzen und darüber eine Sandale, und so wirst du die genannte lozierte Zahl haben. Denn der Rabe, wie du weißt, bezeichnet uns [63r] hundert, und eine Sandale zeigt ein ‚O‘ an, das heißt, eine Null, und so hast du die genannte Lozierung. Wenn du aber diese andere Zahl, nämlich 10.000, lozieren wolltest, dann werden wir den besagten Raben und eine hölzerne Sohle setzen – unter Wahrung der beschriebenen Ordnung –, und du wirst die genannte Zahl haben; und ähnlich wirst du vorgehen, wenn du hunderttausend, das ist 100.000, lozieren wolltest; du wirst den genannten Raben an den betreffenden Ort stellen und darüber wirst du einen kleinen Stiefel setzen, der uns drei Nullen bezeichnet,

90 centenarum: vgl. ital. centinaio, ‚das Hundert‘. 91 turicrema: hier als Neutr. Pl. aufgefasst; vgl. turicremus, ‚von Weihrauch brennend‘. 92 Archo: Nr. 43 der 100-Örter-Liste.

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patet locatio dicti numeri. Et ita etiam locare poterimus unum millionum, id est 1.000.000, ponendo dictum coruum et super eo unum magnum stivale, quod nobis significat quatuor nullas, et sic habemus dictam locationem et habebimus omnem aliam, volume[s] quecunque sit, servatis dictis regulis et ordinibus; et sic mani- 5 feste colligitur, quod est convenientia quedam et differentia inter modum collocandi numeros et modum designandi per figuras aritmeticas. Differentia est, quod numeri signantur per ordinem loci. Conveniunt vero in hoc, quia, sicut artimetica littera prima quantum ad ordinem scribendi maiorem numerum importat, et sic 10 figura localis prima quantum ad ordinem terre maiorem numerum importat. Conclusive ex predictis colligitur, quod poterimus omnem numerum locare et de eo reminisci. Sed si tales imagines aliquo modo moverentur, esset iudicio meo utilissimum.

Sequitur nunc alia regula, que erit nobis usui ad locandum nomina 15 graduata ac etiam civitatum nomina nec non provincias, civitates, [63v] castra, rochas, rura, domos. Et primo dicemus de nominibus graduatis, id est alicuius dignitatis; que nomina si quis situare voluerit, notare debet, que insignia proprie conveniant dignitatibus, et formare postea imagines suo congruo numero, ut si volueri- 20 mus recordari de aliquo imperatore, tunc capiti illius, qui nobis nomen representabit imperatoris, ponemus coronam imperialem, si de rege, ponemus coronam regiam; si de duce, ponemus unum biretum sicut est biretum serenissimi domini ducis Venetiarum; si de marchione, ponemus unum biretum marchionatus in capite aut 25 unum astandardum in manu; si de cardinale, capellum; si de milite, calcaria aureata; si de doctore iuris civilis, capucium rubeum varo 2 coruum] cornum z 7 collocandi] locandi  L 8–9 quod… loci] quia numeri locantur per ordinem terre [semper servando add. P] et modus designandi per figuras arismetricas [aritmeticas P] designantur per ordinem loci L, P 11 terre] scribendi P 12 Conclusive] et sic P, L 12 predictis] predicti L 12–13 poterimus… reminisci] faciliter collocare poteris unumquemque numerum etiam ultra mille, verbi gratia 2413. Accipe turicrema sive turibulum, et illi superpone speculum, et sic patet locatio intelligenti, et ita ordine isto servato quemlibet numerum situabis add. P, L 13–14 Sed si… utilissimum] Sed nota diligenter quod iste imagines aliquo modo moveantur quia nisi fieret aliquis [aliquos P] motus de illis periculum esset ut de aliquibus earum oblivisceremur L, P 15–/20 Sequitur nunc… verbi gratia] om. P, L 

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und so liegt die Lozierung der genannten Zahl offen zutage. Und so werden wir auch eine Million lozieren können, das ist 1.000.000, indem wir den genannten Raben setzen und darüber einen großen Stiefel, der uns vier Nullen bezeichnet, und so haben wir die genannte Lozierung. Und wir werden jede andere Lozierung zur Verfügung haben, wie groß auch immer ihr Ausmaß93 sei, wenn die genannten Regeln und Ordnungen eingehalten wurden; und so ergibt sich deutlich, dass eine gewisse Übereinstimmung und ein gewisser Unterschied besteht zwischen dem Vorgehen, Zahlen zu setzen, und dem, sie durch arithmetische Figuren zu bezeichnen. Der Unterschied liegt darin, dass die Zahlen durch die Ordnung des Ortes bezeichnet werden. Ihre Übereinstimmung liegt aber darin, dass so, wie das erste arithmetische Zeichen zumindest hinsichtlich der Ordnung des Schreibens eine größere Zahl einführt, so führt auch die erste Figur des Ortes zumindest hinsichtlich der Ordnung der Erde eine größere Zahl ein. Kurz, es ergibt sich aus dem Vorhergehenden, dass wir die ganze Zahl lozieren und uns an sie erinnern können. Aber wenn solche Bilder auf irgendeine Weise bewegt würden, wäre es nach meinem Urteil am nützlichsten. Es folgt nun eine andere Regel, die uns brauchbar sein wird beim Lozieren von akademischen Titeln und auch von Städtenamen, ebenso beim Lozieren der Namen von Ländern, Städten [63v], Militärlagern, Befestigungen sowie Flur- und Hausnamen. Und zuerst werden wir über die Namen akademischer Titel sprechen, das heißt solcher, die den Rang einer Person [bezeichnen]; wenn jemand diese Namen platzieren wollte, muss er die Attribute kennzeichnen, die den Würden eigentümlich zukommen, und später Bilder schaffen in Übereinstimmung mit ihrer Anzahl. Wenn wir uns zum Beispiel irgendeinen Kaiser merken wollten, dann werden wir dem Kopf dessen, der uns den Namen des Kaisers vergegenwärtigt, eine Kaiserkrone aufsetzen, wenn einen König, dann werden wir ihm eine Königskrone aufsetzen; wenn einen Herzog, werden wir ihm ein Barett aufsetzen, wie es das Barett des durchlauchtigsten Herrn und Dogen Venedigs ist; wenn einen Markgrafen, werden wir ihm ein Barett einer Markgrafschaft auf den Kopf setzen oder eine Standarte in die Hand geben; wenn einen Kardinal, dann einen Kardinalshut; wenn einen Soldaten, geschmücktes Schuhwerk;94 wenn einen Doktor des bür-

93 volume[s]: vgl. ital. volume. 94 calcaria: hier wie calcearium oder calciarium, ‚Schuhwerk‘.

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suffultum; si de doctore iuris canonici, ponerem capucium pavonacium vel nigrum etiam varo suffultum, ut sit aliqua inter ipsos differentia et unus ab alio dignosci possit. Si de medico, ponerem in eius manibus urinale, et si esset doctor, capucium ponerem blavum vel alterius coloris, qui suffultus sit sindone aut viridi vel rubri, et 5 sic de omnibus aliis dignitatibus secundum proprietatem insignium magis convenientium. Simili quoque modo faciemus, ut memoriam habeamus de nominibus civitatum. Ponemus verbi gratia aliquid, quod egregie conveniat cum nomine illius civitatis aut in nomine, ut esset pro Mantua manteletum sive follem non magnum, quia, ut vides, convenit multum in litteris. Et ita dico de Feraria, ponerem [64r] fereriam, qua utuntur, qui de uno loco ad alium equitant pro ferando equos suos, si opus esset. Si non inveniremus aliquid, quod in nomine conveniret, est ponendum aliquid egregium, quo talis civitas abundet vel famosa sit, ut pro Venetiis ponerem ducatum vel aliud notabile, pro Bononia taffetatum et sic de omnibus aliis secundum fantasiam tue celsitudinis vel eius, qui vellet huiusmodi civitatum nomina menti retinere. Si voluerit ergo quis totum istud collocare, ut subiciamus unum exemplum, verbi gratia, ‚Zuan­fran­ces­co Marchese de Mantoaʻ, et non haberet tue persone vel effigiei cognitionem, poneret unum Iohannem Franciscum sibi notum cum uno bireto marchionatus in capite vel uno astandardo in manu, ut supra facta fuit mentio; deinde poneret unum manteletum sive follem in manibus, cum quo in loco locato sufflaret vel aliquid aliud faceret, et sic clare habebit totum hoc predictum, videlicet ‚Zuanfrances­co Marchese de Mantoaʻ; et sic de singulis fieri poterit, servatis regulis et modis supra dictis.

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Restat, ut describamus modum collocandi regiones, civitates, castra, rochas, rura, domos. Una tina ergo tibi regionem significa- 30 bit, una veges tibi unam civitatem denotabit, unum dolium sive

20–/3 Zuanfrancesco… denotabunt] om. P, L 

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gerlichen Rechts, eine rote Kapuze, die mit Pelz verstärkt ist; wenn einen Doktor des kanonischen Rechts, würde ich eine violette oder schwarze Kapuze, die auch mit Pelz verstärkt ist, nehmen, damit zwischen ihnen irgendein Unterschied und der eine vom anderen zu trennen sei. Wenn einen Arzt, würde ich in seine Hände ein Urinal setzen, wenn es ein Doktor wäre, würde ich eine blaue oder andersfarbige Kapuze nehmen, die mit grünem oder rotem95 Musselin verstärkt wäre. Und so verfahre man mit allen anderen Würden, gemäß der Eigenheit ihrer Attribute, die ihnen vornehmlich zukommen. Auf ähnliche Weise werden wir auch verfahren, um die Erinnerung an Städtenamen zu behalten. Wir werden zum Beispiel etwas setzen, das hervorragend zum Namen jener Stadt passt oder was im Namen selbst liegt, wie es für Mantua ein kurzer Mantel wäre oder ein lederner Schlauch, der nicht groß ist, weil sie, wie du siehst, zum großen Teil in den Buchstaben übereinstimmen. Und so nenne ich hier auch Ferrara, ich würde [64r] einen Eimer (fereriam) setzen, den die Leute verwenden, welche von einem Ort zum anderen reiten, um – wenn nötig ‒ ihre Pferde zu beschlagen. Wenn wir nichts fänden, was mit dem Namen übereinstimmte, dann ist etwas Herausragendes zu setzen, das die Stadt im Überfluss besitzt oder durch das sie berühmt ist, so dass ich für Venedig einen Dukaten96 setzen würde oder irgendetwas Auffälliges, für Bologna Taft, und so ist es mit allen anderen Städten gemäß der Vorstellung deiner Hoheit oder dessen, der Städtenamen dieser Art im Gedächtnis bewahren wollte. Wenn also jemand dies alles anordnen wollte, damit wir nun ein Beispiel anfügen, etwa ‚Zuanfrancesco97 Markgraf von Mantua‘, und keine Kenntnis deiner Person oder eines Bildes von dir hätte, würde er einen ihm bekannten Iohannes Franciscus mit dem Barett einer Markgrafschaft auf dem Kopf oder mit einer Standarte in der Hand setzen, wie es oben erwähnt wurde; dann würde er ihm einen kurzen Mantel oder einen Schlauch in die Hand geben, den er an diesem betreffenden Ort aufbliese oder mit dem er etwas anderes machte, und so wird er deutlich alles Vorhergenannte haben, nämlich ‚Zuanfrancesco Markgraf von  Mantua‘; und so wird es in den einzelnen Fällen geschehen können, wenn die oben genannten Regeln und Methoden gewahrt werden. Es steht noch aus, dass wir die Art und Weise beschreiben, Gebiete, Städte, Militärlager, Befestigungen,  Länder- und Häusernamen an ihren Platz zu setzen. Ein Bottich also wird dir ein Gebiet bezeichnen, ein Weinfass wird dir eine Stadt

95 rubri: hier wie rubra. 96 ducatum: gemeint ist die Zechine, eine venezianische Goldmünze, die seit dem 13. Jh. in Umlauf ist. 97 Zuan: eine regional übliche Namensform; die Handschriften aus Parma und London zeigen den Namen Ioannes Franciscus (siehe unten S. 314).

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unum mastellum designabit unum castrum, una ficula unam rocham, unum catinum ligneum unam villam significabit, una scutella unam domum, due scutelle duas domos denotabunt. [64v] Post regulas scriptas supra sequitur regula collocandi partitas debitorum, circa quas multa consideranda sunt, et quia necessarium 5 est, ut apponatur dies, mensis, annus, nomen debitoris et cuius patris et nomen progeniei ac ipsius pondus et mensura et numerus denariorum ac etiam differentia, que est si partita diceret dare debet aut debet habere. Et si diceret Petrus filium  Martini aut Petrus quondam Martini, que omnia ponemus per diversas partes corporis 10 debitoris et ipsius patris, servato semper uno ordine, ut evitetur confusio. Consequenter visum est, quantum pro virili mea effici poterit, predicta tue celsitudini ordinate declarare. Et primo iuxta regulam archimistarum ponemus pro die dominica aurum, 15 id est aliquid auri, pro die  Lune aliquid argenti, pro die  Martis ponemus ferrum, pro die Mercurii argentum vivum, pro die Iovis stagnum, pro die Veneris ramum, pro die Sabbati plumbum. Ita etiam, quia menses sunt 12, oportet, ut unicuique eorum proprie respondeat determinata imago non per similitudinem, sed per con- 20 tingentiam rerum de tali mense nascentium sive usitatarum aut propriarum. Imago autem representans mensem Ianuarii erit res nigra sive carbones, quia de tali mense arbores vitesque denigrate sunt nec ullam habent viriditatem. Pro mense Februarii ponemus pectines ferreos, cum quibus sanctus Blasius, cuius festus celebra- 25 tur in principio dicti mensis Februarii, crudeliter trucidatus fuit. Pro mense vero Martii ponemus peziam [65r] fetidam sive aliquid

4 regulas… supra] predicta P, L 4 collocandi] locandi P, L 5 circa quas] ubi sciendum est quod P,  L 6–14 nomen debitoris… ordinate declarare] consequenter visum est ista [ita L] declarare ordinate, ut nulla confusio interveniat P, L 15 dominica] dominico P, L 16 id est aliquid auri] om. P, L 16 aliquid argenti] argentum P, L 17 ponemus] om. P, L 18 Ita] Similiter P, L 19 eorum] om. P, L 22 propriarum] approprietarum P, L 24 ullam] nullam L 24 mense Februarii] Februario P,  L 25 festus] festum P,  L 26 dicti mensis] om. P, L 26 crudeliter trucidatus] crudeliter cruciatus L; martirizatus P 27 ponemus… fetidum] petiam fetidam L; aliquam peciam vel rem fetidam P 

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kenntlich machen, eine Kufe oder eine Wanne wird ein  Militärlager andeuten, eine kleine Feige eine Befestigung, ein hölzerner Napf wird ein Landhaus bezeichnen, eine Schale ein Haus, zwei Schalen werden zwei Häuser kenntlich machen. [64v] Nach den oben beschriebenen Regeln folgt nun die Regel, die Zeichen für Schuldner aufzustellen, bei denen man vieles erwägen muss, auch weil es notwendig ist, dass der Tag hinzugesetzt wird, der Monat, das Jahr, der Name des Schuldners und der seines Vaters und der seiner Familie sowie das Gewicht 98 und das Maß und die Anzahl der Denare sowie auch der Unterschied, der darin besteht, ob das Zeichen wiedergibt, dass er Schuldner oder Gläubiger sei. Und wenn es hieße: ‚Petrus, Sohn Martins‘ oder ‚Petrus, einst zu Martin gehörend‘, werden wir dies alles auf den verschiedenen Körperteilen des Schuldners und seines Vaters anlegen, wobei immer eine Ordnung zu wahren ist, damit Verwirrung vermieden wird. Es schien gut und passend, deiner Hoheit, soweit es mit meiner Kraft bewirkt werden kann, die Vorschriften geordnet zu erläutern. Und zuerst werden wir gemäß der Regel der Alchimisten für den Sonntag Gold setzen, das heißt, etwas aus Gold, für den Montag etwas aus Silber, für den Dienstag werden wir Eisen setzen, für den Mittwoch Quecksilber, für den Donnerstag Zinn, für den Freitag Erz, für den Samstag Blei. So muss das festgelegte Bild auch, weil es zwölf Monate gibt, einem jeden Monat speziell entsprechen, nicht durch eine Ähnlichkeit, sondern nach der Berührungsbeziehung zu den Dingen, die in einem solchen Monat erscheinen oder üblich oder ihm eigen sind. Das Bild aber, das den Monat Januar vergegenwärtigt, wird ein schwarzes Ding sein oder Kohlen, weil die Bäume und Weinstöcke in einem solchen  Monat schwarz geworden sind und kein Grün zeigen. Für den  Monat Februar werden wir Kämme aus Eisen setzen, mit denen der Heilige Blasius, dessen Fest am Beginn des genannten Monats Februar gefeiert wird, grausam hingeschlachtet wurde. Für den Monat März werden wir allerdings ein übelriechendes Stück [65r] oder etwas anderes, das übel riecht, setzen.99 Für

98 ipsius: hier unklar. 99 Wohl zu verstehen als Wortspiel mit marcidus, ‚morsch, welk‘.

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fetidum. Pro mense Aprilis ponemus multas ovorum testudines, quia communiter festum pasche resurrectionis domini nostril Iesu Christi de ipso mense celebratur et quasi omnes ex consuetudine multa ova consumunt. Pro mense Maii ponemus flores, quia de eo mense flores abundant. Pro mense Iunii cerasa, quia de eo mense habemus cerasa multa. Pro mense Iulii spicas frumenti, quia de ipso mense messis frumenti completa est et habemus multas spicas frumenti. Pro mense Augusti agrestum, quia de eo mense uve adhuc sunt agrestes. Pro mense Septembris ponemus uvas nigras maturas, quia tunc temporis uve denigrate et mature facte sunt. Pro mense Octobris ponemus cordonem, quo utuntur fratres Sancti Francisci, quia in principio ipsius mensis celebratur festum sancti Francisci. Pro mense vero Novembris ponemus anchonam, supra qua picti sunt multi sancti, quia prima die ipsius mensis est commemoratio omnium sanctorum. Pro mense autem Decembris ponemus stizonum ignitum aut carbones accensos, quia illo mense apud nos est maximum frigus. Veniamus nunc ad exempum, quo audito clarius et melius intelligemus hanc regulam, que propter ipsius multas partes ceteris aliis difficilior est. Ista erit una pratica gratia exempli: 1434 di luni 12 di marzo Francesco di Lorenzo da Folegni de dare per sachi 15 de lana

1 mense Aprilis ponemus] Pro Aprile P; Pro Aprili L 1 multas] om. P, L 2–3 resurrectionis… Christi] om. P,  L 3 ipso mense] mense Aprilis P,  L 4 ponemus… abundant] flores P, L 5 mense Iunii… multa] Iunio ceresa P, L 6 Pro mense Iulii spicas frumenti] Iulio spicas furmenti  P 8 mense Augusti] Augusto P,  L 8–9 quia… agrestes] om. P,  L 9–10 Pro mense Septembris… facte sunt] Pro mense Septembris uvas nigras maturas L; Pro September uuas maturas  P 10–12 Pro mense Octobris… Francisci] Pro Octobre cordonem sancti Francisci P, L 12–13 quia in… Francisci] om. L 12 celebratur] fit P 14 supra qua… sancti] sanctorum P,  L 14 ipsius mensis] Novembris P,  L 14 est] fit P, L 16 stizonum… accensos] ligna ignita sive accensa P, L 16–17 quia… apud nos] quia in istis partibus convenienter eo tempore est P, L 17 frigus] Deinde consideranda sunt etiam ista videlicet nomen debitoris et eius patris et nomen progeniei ac res pro qua fit debitum et ipsius pondus vel mensura et differentia que est si partita dicet dare debet aut debet habere et si dicet Petrus filius Martini aut Petrus quondam Martini et ista omnia ponemus per diversas partes corporis et ipsius Petri et ipsius Martini servato semper uno ordine ut evitemus confusionem add. P, L 19–20 que propter… difficilior est] om. P, L 20 erit] est P, L 20 12 di] 11 P, L 20 de dare] die dare P, L 

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den Monat April werden wir viele Eierschalen setzen, weil im Allgemeinen das Osterfest, die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, in diesem Monat gefeiert wird und gleichsam alle aus Gewohnheit viele Eier verzehren. Für den Monat Mai werden wir Blumen setzen, weil dieser Monat Blumen im Überfluss spendet. Für den  Monat Juni Kirschen, weil wir in diesem  Monat viele Kirschen haben. Für den Monat Juli Getreideähren, weil in diesem Monat die Getreideernte eingebracht ist und wir viele Ähren von Getreide haben. Für den Monat August Saft,100 weil in diesem Monat die Trauben noch unreif sind. Für den Monat September werden wir dunkle, reife Trauben setzen, weil zu dieser Zeit die Trauben gedunkelt und reif geworden sind. Für den Monat Oktober werden wir einen Gürtel setzen, den die Brüder des Heiligen Franziskus verwenden, weil zu Beginn dieses  Monats das Fest des Heiligen Franziskus gefeiert wird. Für den Monat November allerdings werden wir ein Bild setzen, auf das viele Heilige gemalt sind, weil der erste Tag dieses Monats der Erinnerung an alle Heiligen gewidmet ist. Für den Monat Dezember aber werden wir ein brennendes Holzscheit101 oder glühende Kohlen setzen, weil in diesem Monat bei uns große Kälte herrscht. Lasst uns nun zu einem Beispiel kommen; wir werden, nachdem wir es gehört haben, diese Regel deutlicher und besser verstehen, die wegen ihrer vielen Teile schwieriger als alle anderen ist. Dies wird als praktisches Beispiel dienen: 1434, am Montag, den 12. März, muss Francesco di Lorenzo aus Folegni für fünfzehn

100 agrestum: wie agresta, ‚Saft aus unreifen Weintrauben oder Oliven‘. 101 stizonum: vgl. ital stizzo oder tizzo (aus lat. titio), ‚brennendes Holzstück, Holzscheit‘.

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a rason de ducati 5 et centenaro pexa livre 1543 monta ducati 136, l. 3, s. O, pizoli 8. Tu statim accipies mente tua unum Franciscum tibi notum et eum portabis ad locum locandum et ante [65v] eum situabis unum Laurentium etiam tibi notum familiarem et sit inter illos distantia tanta quanta verisimiliter unus verus sachus lane stare potest et ante ipsum  Laurentium pones duas aut tres aves, que folege nuncupantur, et nota, quod in capite debitoris semper ponas millesimum ut in proposito. In capite dicti Francisci pones unam pellem pilosam et super ipsa pelle pones unam forbicem et, ut novit tua excellentia secundum ordinem nostrum, pellis est locus 14 et forfex est 34. Et iste quatuor figure, videlicet 14 et 34, simul faciunt summam istam, videlicet 1434, iuxta regulam nostram superius tactam, ubi dictum est de numeris. Pones deinde aliquid argenti super spatula dextra dicti Francisci et significabit diem lune, ut vidisti supra in presenti regula. Postea pones super sinistra spatula dicti Francisci unum martellum et significat 12; deinde sub ipso martello pones unam peziam fetidam aut aliquid marcidum ad denotandum et denotabit mensem Martii, et sic hactenus habemus totum hoc, videlicet ‚1434 di luni 12 Marzo Francesco di Lorenzo di Folegniʻ. Sequitur modo de dare; hoc semper intelligetur. Sed si diceret de haver, tunc in ore dicti Francisci pones aliquid viride ut puta herbam, et denotabit, quod debebit habere. Nota insuper dif-

1 1543] hab. P; 2543 z; 1547 L 2 Tu statim] scilicet ponas duos tibi notos per ordinem loci add. in marg. P 3 situabis] pones P, L 4 familiarem] om. P 5 quanta] quod P, L 5 verus] om. P, L 6 potest] possit P; posset L 6–/3 et ante… situasti] om. P, L 

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Säcke Wolle, geeignet für Satinstoff,102 fünf Dukaten geben, für den Zentner103 von gekrempelter Wolle 2543 Lire, als Summe104 hundertsechsunddreißig Dukaten, drei Lire, null Soldi, acht Pizoli.105 Du wirst sogleich in deinem Geist einen Franciscus nehmen, der dir bekannt ist, und du wirst ihn an den betreffenden Ort bringen. Und vor ihm [65v] wirst du einen  Laurentius aufstellen, der dir ebenfalls bekannt und vertraut ist, und es soll zwischen ihnen ein so großer Abstand sein, dass dort wahrscheinlich ein gehöriger Sack Wolle stehen kann. Und vor diesen Laurentius wirst du zwei oder drei Vögel setzen, die ‚Folege‘106 genannt werden, und merke, dass du auf den Kopf des Schuldners immer die Tausenderzahl setzen sollst, wie in der Vorschrift. Auf den Kopf des besagten Franciscus wirst du ein haariges Fell setzen und über jenes Fell eine Schere, und wie deine Hoheit gemäß unserer Ordnung weiß, ist das Fell der Ort Nummer vierzehn und die Schere ist Nummer vierunddreißig. Und diese vier Zahlzeichen, nämlich 14 und 34, ergeben zusammen diese Summe, nämlich 1434, gemäß unserer oben benannten Regel, wo über Zahlen gesprochen wurde. Du wirst dann einen Gegenstand aus Silber über die rechte Schulter des besagten Franciscus setzen, und er wird den Montag bezeichnen, wie du oben in der eben genannten Regel gesehen hast. Später wirst du über die linke Schulter des besagten Franciscus einen Hammer setzen, und er bezeichnet die 12; dann wirst du unter diesen Hammer ein übelriechendes Stück oder etwas Welkes zur Kennzeichnung setzen, und es wird den Monat März bezeichnen, und auf diese Weise haben wir bis jetzt schon dies alles, nämlich ‚1434, Montag den zwölften März, Francesco di Lorenzo aus Folegni‘. Es folgt jetzt der Abschnitt über das Soll; dies wird man immer verstehen. Wenn aber über das Haben107 gesprochen würde, dann wirst du in den Mund des genannten Franciscus etwas Grünes wie zum Beispiel ein Kraut setzen, und es

102 rason: vgl. ital. raso, ‚Satin’. 103 centenaro: wohl wie centenarium, ‚Zentner‘. 104 monta: vgl. im mal. Ital. die Verwendung des Begriffs mónta, ‚Betrag, Summe‘. 105 Vgl. ital. pìzolo, Münze mit reduziertem Wert bzw. Gewicht. 106 folege: vgl. fulica, ‚Blässhuhn‘. 107 haver: vgl. ital. avere, ‚haben‘.

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ferentiam, que est si dixerit aliquis: ‚Franciscus filius Laurentiiʻ aut ‚quondam Laurentiiʻ; si dicet ‚Franciscus Laurentiiʻ, facies, ut supra situasti; si vero diceret ‚quondam  Laurentiiʻ, tunc in ore ipsius Laurentii pones unum gladium evaginatum et significabit, quod ipse Laurentius mortuus erit. [66r] 5

Sequitur nunc ‚per 15 sachi de lanaʻ; tunc imaginaberis unum sachum lana plenum, quem portabis mente tua ad dictum locum et eum pones inter dictum Franciscum et  Laurentium. Et super ipso sacho pones unam resegam, que tibi denotabit, quod erunt sachi 15, quia resega est 15 locus noster. ‚A rason de ducati 5 et 10 centenaroʻ, istud verbum ‚a rasonʻ etiam subintelligetur, sed talem

3 si vero diceret quondam Laurentii] sed si diceret fo de Lorenzo P, L 3 tunc] tu P, L 4 pones] poneres P 4 evaginatum] om. P, L 4 significabit] significaret tibi P, L 5 erit] esset P, L; et ante ipsum Laurentium pones [pone L] duas aut tres aves, que folege nuncupantur, et semper in capite debitoris, ut [id L] est in proposito Francisci pones milium [millesimum L], secundum quod dabitur tibi partita, verbi gratia, 1434. Tu pones unam pellem pillosam super caput [capite L] dicti Francisci, et super ipsam pellem [ipsa pelle L] pones unam forcipem [forpicem L], et tu scis secundum ordinem numerum [nostrum L], pellis est quartus decimus [locus add. L] et forfex [forpex L] est tricesimus quartus et 14 et 34 faciunt istum numerum videlicet 1434 secundum regulam tactam superius [ubi dictum est L] de numeris. Deinde pones diem videlicet die lune [di luni L] et pones aliquid argenti super spala [spatula L] dextra dicti Francisci et significabit tibi [om. L] diem lune, ut supra vidisti, et super sinistra pones numerum dierum [et mensem, ut in proposito L] videlicet [om. L] di [die L] 11 Marzo pones duo calcaria, et super illis unam peciam marciam, aut aliquid fetidum, et sic hactenus habes 1434 di [die L] 11 Marzo Francesco de Lorenzo di Folegni [Folengi L]. Nunc sequitur die [de L] dare, hoc semper intelligitur. Sed si diceret de avere, tunc in ore dicti Francesci poneres aliquid viride, ut puta herbam, et denotabit quod debet habere add. P, L 6 Sequitur nunc] Sequitur modo L; Procede ulterius P 6–8 imaginaberis… et eum] om. P, L 8 Laurentium] unum sachum lane add. P, L 9–10 que tibi… locus noster] que est locus quintus decimus et intelliges quod erunt sachi 15 P, L 11 subintelligetur] subintelligitur P, L 

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wird kenntlich machen, dass er etwas erhalten soll. Merke obendrein den Unterschied, der besteht, wenn jemand sagte: ‚Franciscus, der Sohn des Laurentius‘ oder ‚einst zu  Laurentius gehörig‘; wenn er sagen wird ‚Franciscus, der Sohn des Laurentius‘, wirst du so vorgehen, wie du es oben eingerichtet hast; wenn man aber sagen würde ‚einst zu Laurentius gehörig‘, dann wirst du in den Mund dieses Laurentius ein gezogenes Schwert setzen, und es wird bezeichnen, dass dieser Laurentius tot ist. [66r] Es folgt nun ‚für fünfzehn Sack Wolle‘; dann wirst du dir einen mit Wolle gefüllten Sack vorstellen, den du in deinem Geist zum genannten Ort bringen und zwischen die besagten Franciscus und Laurentius setzen wirst. Und über diesen Sack wirst du eine Säge setzen, die dir bezeichnen wird, dass es 15 Säcke sein werden, weil die Säge unser fünfzehnter Ort ist. ‚Für Satinstoff von fünf Dukaten und der Zentner‘; dieser Ausdruck ‚für Satinstoff‘ wird auch nebenbei mitzuverstehen

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 Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule

numerum denariorum semper pones in manu dextra dicti Laurentii, id est patris debitoris, et in proposito appones unum piscem, quia quintus locus. Et fac, quod iste piscis sit supra manum, ut intelligemus differentiam inter ducatos aureos et libras et soldos et parvulos denarios, quia ducati semper ponendi sunt supra manum, libra immediate sub manu, soldi successive sub libris et parvuli denarii ponantur gradatim sub ipsis soldis. Sequitur modo ‚et centenaroʻ. Pones unum centenarium lapideum parvum super capite dicti  Laurentii; si diceret ‚el miaroʻ pones unum mazium milii, et si esset similiter aliqua mensura, ut esset sextarius aut bazolarium. Ita servabis ‚pexa l. 1543ʻ; pone in manu sinistra dicti Laurentii unam bilanciam, que significabit pexa; deinde pones unam resegam et unum ferale sive lanternam ad ipsam stateram per ordinem terre et habebis libras 1543, quia resega est 15 et lanterna est ad numerum 43 sundum regulam nostram. ‚Monta (hoc etiam intelligitur semper) ducatos 136ʻ; pones modo et semper talem numerum super manu dicti debitoris, id est ipsius Francisci, id est pone in proposito unam filciam paternoster et super [66v] ipsa filcia pones unum par caligarum et sic supra manum, ut est dictum, quia ducatos significant ad differentiam predictam. Deinde postmodum pone in manu sinistra dicti Francisci, id est immediate

1 denariorum] a ducatis 5  P 1 semper] om.  L 2–3 id est… quintus locus] id est unum caputium, qui est quintus locus P; id est unum piscem, quia quintus locus L 3 iste piscis] om. P, L 4 intelligemus] intelligamus P, L 4 differentiam] quod sit differentia P 4 aureos] om. P, L 5 denarios] om. P, L 5–7 quia ducati… ipsis soldis] Si essent libre poneres statim sub manu et si essent [sequerentur L] soldi tunc sub figura denontante [denotantem L] numerum librarum, appendens [appenderes L] figuram denotante [denotantem L] soldos, deinde gradatim poneres denarios parvulos [de parvulis L] P,  L 7 Sequitur modo] om. P, L 8 lapideum… capite] in capite P, L 9 pones] poneres P, L 10–11 et si esset… bazolarium] super capud [capite L] dicti Laurentii, et sic de singulis P, L 11 Ita servabis] om. P, L 11 1543] 1543 hab. P, L; 2543 z 11 pone] pones P 13 stateram] balantiam P; bilantiam L 14 1543] 1543 hab. P, L; 2543 z 14–15 quia resega… regulam nostram] om. P,  L 14 15] 25 z 16 etiam] est  L 16 et semper talem numerum] om. P, L 17 dicti debitoris… proposito] dextra dicti Francisci P,  L 19 ipsa filcia] ipsis paternostris P; ipsis paternoster L 19 pones] om. P, L 19 sic] sint P; sit L 19 manum] ut supra L, add. in marg. P 19–/6 ut est… predictam] ad differentiam librarum et soldorum P, L; soldorum p. corr. P 21 postmodum pone] pones P, L 21 immediate] om. P, L 

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sein, eine solche Zahl von Denaren aber wirst du immer in die rechte Hand des genannten Laurentius setzen, welcher der Vater des Schuldners ist, und in der Vorstellung wirst du einen Fisch ergänzen, weil es der fünfte Ort ist. Und bewirke, dass dieser Fisch über der Hand ist, damit wir den Unterschied zwischen Golddukaten,  Lire, Soldi und kleinen Denaren verstehen, da Dukaten immer über der Hand zu setzen sind, Lire direkt unter die Hand, Soldi nacheinander unter die Lire, und die kleinen Dukaten sollen nach und nach unter diese Soldi gesetzt werden. Es folgt jetzt ‚der Zentner‘. Du wirst einen kleinen Zentner aus Steinen über den Kopf des genannten  Laurentius setzen; wenn er ‚el miaro‘108 sagte, wirst du ein Bündel109 Hirse setzen, auch wenn es auf ähnliche Art irgendeine andere  Maßeinheit wäre, wie der Sextarius110 oder das Bazolarium.111 So wirst du ‚gekrempelte Wolle 1543 Lire‘ behalten; setze in die linke Hand des genannten  Laurentius eine Waage, die die gekrempelte Wolle bezeichnen wird; dann wirst du eine Säge und eine Lampe oder Laterne bei dieser Waage setzen, nach der Ordnung der Erde, und du wirst 1543  Lire haben, weil die Säge 15 ist und die Lampe gemäß unserer Regel bei Nummer 43 steht. ‚Summe (auch dies wird immer verstanden) hundertsechsunddreißig Dukaten‘; du wirst jetzt und immer eine solche Zahl über die Hand des genannten Schuldners setzen, also des Franciscus selbst, das heißt: Setze in deine Vorstellung eine Rosenkranzkette und über [66v] diese Kette wirst du ein Paar Stiefel setzen und zwar über die Hand, wie es gesagt wurde, weil sie entsprechend der oben erwähnten Unterscheidung die Dukaten bezeichnen. Dann setze später in die linke Hand des genannten Francis-

108 el miaro: evtl. zu verstehen wie ital. migliaio, ‚das Tausend‘. 109 mazium: vgl. ital. mazzo, ‚Bündel‘. 110 sextarius: entspricht ca. 0,5 Liter. 111 bazolarium: möglicherweise abgeleitet von batiola, Diminut. von batus, hebr. Maß für Flüssigkeiten, nach Isid. Etym. 16,26,12 fünfzig sextarii umfassend.

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sub manum, unum caseum, qui tibi significabit libras tres; deinde ipso caseo appensam pones unam scarpam, que, ut supra facta est mentio, tibi denotat unam nullam, id est unam ‚Oʻ; deinde ipsi scarpe gradatim alligabis unam scuffiam, que est octavus locus, et significabit octo denarios per ea, que supra dicta sunt, et sic 5 habebis totam partitam, et ita poterit tua illustrissima domi natio multas partitas collocare, servato semper uno ordine circa huiusmodi locationes. Si quis monstram equestrem aut pedestrem, capitula, ambasciatas, predicationes et huiusmodi reportare vel recitare voluerit per artifi- 10 ciosam memoriam, oportet, ut viam similitudinis servet; ut si exempli gratia locare volueris totum istud: ‚Francesco de Piero da Mantoa homo dʼarme sur un cavallo cervato coma e gambe negre balzan dal pie signistro de drieʻ; statim accipies mente tua unum

1 manum] manu P,  L 1 caseum] caputeum  P 1 qui] et P,  L 1 tibi] om.  L 2 ipso] ipsi P,  L 2–6 que, ut supra… partitam] significabit tibi sed O, deinde scufiam ipsi scarpe, et significabit tibi pizoli 8, et sic habes totam praticham P; et deinde scuffiam ipsi scarpe et sic habes totam partitam L 6–8 et ita… locationes] om. P, L; Non pretermittam etiam [describere add. L] modum locandi nomina graduata scilicet alicuius dignitatis, que nomina siquis situare voluerit notare debet, que Insignia proprie conveniant dignitatibus, et formare imaginem suam [suo L] congruo modo, verbi gratia, si locare voluero totum hoc: Ioannes Franciscus Marchio Mantue. Considerabo quod dignitati Marchionatus inter cetera competit birretum armelinis suffultum, et quod pars illa que stat supra caput sit panni auri, et illam imponam capiti unius nominati Ioannis Francisci [Ioannes Franciscus L] mihi noti, et sic habebo Ioannes Franciscus Marchio. Pro Mantua eligerem [autem add. L] aliquid quod mihi semper Mantuam significaret ut esset unus foles sive mantesus, cum quo ille talis locando [locandus L] sufflaret, vel aliquid [aliud L] cum illo faceret in loco ad quem locaretur. Et si vellem Bononiam locare, pro ipsa civitate ponerem librum magnum. Pro Ferraria virgam ferri. Pro Venetiis aurum. Et sic de singulis civitatibus posset unus quisque suo more formare, sicut sue fantasie melius condeceret [conduceret L]. Si voluero recordari de cardinali, ponam unum galerium cardinalatus. Si de milite, calcaria aurata. Si de doctore caputium varo suffultum. Si de medico urinale. Si de rege coronam, et sic de [om. L] omnibus dignitatibus secundum proprietatem insignium convenientium. Restat etiam [om. L] ut demus modum locandi regiones, civitates, castella [castra L], rochas, rures, domos et cetera [rura et domos L]. Una ergo tina tibi regionem significat [significabit L]. Una veges civitatem. Unum mastellum castrum. Una sicula rocham. Unum catinum ligneum villam. Una scutella domum unam significat, due scutelle duas domos significabunt et cetera hab. hoc loco P, L 10 vel] et P, L 12 locare] om. L 13–14 cervato… de drie] bayo balzan dal pe senestro davanti P, L; chiaro add. in marg. P 14 mente tua] om. P, L 

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cus, das heißt direkt unter die Hand, einen Käse, der dir drei Pfund bezeichnen wird; danach wirst du eine Sandale setzen, aufgehängt an diesem Käse, die dir, wie es oben erwähnt wurde, eine Null bezeichnet, das ist eine ‚O‘; dann wirst du an diese Sandale als nächstes eine Haube festbinden, die der achte Ort ist, und sie wird acht Denare bezeichnen, wie es oben gesagt wurde. Auf diese Weise wirst du das ganze Zeichen112 kennen. Und so wird deine durchlauchtigste Herrschaft viele Zeichen erstellen können, wobei bezüglich derartiger Lozierungen immer eine Ordnung zu wahren ist. Wenn jemand eine Truppenschau der Reiterei oder der Fußsoldaten, Kapitelversammlungen, Botschaften, Verkündigungen oder etwas Derartiges übermitteln oder vortragen wollte mithilfe der Gedächtniskunst, dann ist es nötig, der Methode der Ähnlichkeit zu folgen; wie wenn du zum Beispiel dies alles lozieren wolltest: ‚Francesco de Piero aus  Mantua, ein  Mann in Waffen113 auf einem rotbraunen Pferd, Mähne und Läufe schwarz, weiß gestreift114 an den Fesseln vom linken hin-

112 partita, hier ‚Zeichen’. 113 Vgl. das in der Renaissance populäre Lied Lʼ homme armé (entst. im 15. Jh.) 114 Ital. balzano, Adj. ‚weiß gestreift/gezeichnet‘ an den Fesseln; dal pie signistro, ‚vom linken Fuß‘.

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Franciscum tibi notum et eum equestrem portabis ad locum locandum et in una eius manu pone unum manteletum, cum quo aliquid faciat, et ante ipsum Franciscum pones unum Petrum pedestrem et sic habebis hactenus ‚Francesco de Piero da Mantoaʻ, pro illo manteleto intelligas  Mantuam, ut supra vidisti. Ut enim eum cognoscas pro homo dʼarme, indues eum uno galero argenti sive una zornea veluti vel insignita alio modo [67r], et si miles esset, poneres aut calcaria aureata aut aliquid auri. Et sub ipso Francisco pones unum equum cervatum; si vero non posses equum cervatum invenire, tunc accipies unum equum, sit cuiuscumque pili volueris, et super capite pones unum cornum cervi et per hoc cognosces, quod erit cervatus; deinde ad collum eius equi imaginaberis unam franziam sirici sive sete nigre et similiter pones [ad gambe] aut de ipsa françia aut aliquid nigrum et per hoc intelliges facillime hoc ‚coma e gambe nigreʻ. Deinde pones alligatum pedi signistro posteriori ipsius equi unum balzium coloris cremesini aut alterius coloris, ut volueris, et ducat eum per terram destruendo illum et sic habes totum illud, videlicet ‚Francesco de Piero de Mantoa homo dʼarme sur un cavallo cervato coma et gambe negre balzan dal pie signistro de drieʻ.

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Si postea sequitur sacomanus, tunc servabis dictum ordinem, sed ut eum cognoscas pro sacomano, capiti eius appones celatam unam. Si erit ragacius, pones unam lanceam immanem et habeat galeam sive elmetum super arzono anteriori eius, super quo erit, ut eius facies videri possit. Si vero esset stipendiarius pedester, ut puta 25

1–3 et eum… faciat] cum uno folle sive manteseto in manu dextra, et cum illo aliquid operetur P, L; manteseto p. corr. P 3 ipsum Franciscum] eum P, L 4 habebis] habes P, L 4 hactenus] om. P, L 4–5 pro illo… vidisti] om. P, L 7 veluti… alio modo] om. P, L 8 poneres… aut aliquid] pone calcaria auri L; om. P 8 Francisco] om. P, L 9–16 cervatum… cremesini] bayum [baium L] clarum, cum uno [om. L] balzio cremesino P, L 17 ut volueris] ligato ad pedem sinistrum anteriorem P, L 17 eum] ipsum P; ipsum balcium L 18–20 videlicet… de drie] om. P,  L 21 Si postea sequitur] Si vero esset P; Si vero erit  L 21 tunc servabis… appones] ei pones unam celatam in capite P, L 23 erit] om. P, L 23 pones… immanem] lanceam in manu P, L 24 anteriori… quo erit] ante P, L 

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teren Fuß;115 sogleich wirst du in deinem Geist einen Franciscus nehmen, der dir bekannt ist, und du wirst ihn als Reiter an den betreffenden Ort bringen. In eine seiner Hände setze einen kurzen Mantel, mit dem er irgendetwas tue, und vor diesen Franciscus wirst du einen Petrus zu Fuß setzen, und so wirst du bis jetzt haben: ‚Francesco de Piero aus Mantua‘, statt jenes Mantels denke dir Mantua, wie du oben gesehen hast. Damit du ihn denn für einen ‚homo d’arme‘ erkennst, wirst du ihn mit einer Kappe aus Silber versehen oder zum Beispiel mit einem Horn, das vielleicht auch [67r] noch auf andere Weise auffallend sei, und wenn er ein Soldat wäre, würdest du entweder geschmücktes Schuhwerk116 oder etwas aus Gold platzieren. Du wirst diesen Franciscus auf ein rotbraunes Pferd setzen, wenn du aber kein rotbraunes Pferd finden könntest, dann wirst du ein Pferd von einer beliebigen Farbe nehmen, und über dessen Kopf wirst du ein Hirschhorn setzen und durch dieses wirst du erkennen, dass es rotbraun ist; dann wirst du dir am Hals des Pferdes eine Troddel aus Seide vorstellen oder von schwarzem Haar, und in ähnlicher Weise wirst du [an die Füße] dieselbe Troddel oder etwas Schwarzes setzen und dadurch sehr leicht verstehen: ‚Mähne und Läufe schwarz‘. Dann wirst du angebunden an den linken Hinterfuß dieses Pferdes einen Widder (balzium)117 setzen von scharlachroter Farbe oder einer anderen Farbe, wie du wolltest, und es soll ihn durch die Erde ziehen, indem es jenen zerstöre, und so hast du dies alles, nämlich: ‚Francesco de Piero aus Mantua, ein Mann in Waffen auf einem rotbraunen Pferd, Mähne und Läufe schwarz, Fessel am linken Hinterfuß‘. Wenn hernach ein Plünderer folgt, dann wirst du der genannten Ordnung folgen, damit du ihn aber als einen Plünderer erkennst, wirst du auf seinen Kopf eine Sturmhaube setzen. Wenn es ein Diener sein wird, wirst du eine riesige Lanze setzen, und er soll einen Helm aus Leder oder einen anderen Helm über dem vorderen Sattelbogen des Pferds haben, auf dem er sitzt, damit sein Gesicht gesehen werden kann. Wenn es aber ein Söldner zu Fuß wäre, wie zum Beispiel ‚Antonio

115 de drie: di dietro, dialektal paduanisch/ venetisch; vgl. f. 67r pedi signistro posteriori. 116 calcaria: hier wie calcearium oder calciarium, ‚Schuhwerk‘. 117 balzium: vgl. bulzo, ‚Widder, Rammbock‘; ital. bolzóne oder bolcióne.

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‚Antonio de Nicolo da Venietia balestreroʻ, illico pones unum Antonium in loco locando et per Veniexia pones aliquos ducatos cum filis appensis bereto aut capucio ipsius Antonii, qui pendeant super genas et ante oculos dicti Antonii, et ante ipsum Antonium collocabis unum Nicolaum, inde ipsi Antonio pones unam balistam 5 [67v] super spatulam vel in manu, cum qua aliquid operetur, et sic totum habebis collocatum. Si vero esset pavesarius, illi tal pavesium appones, et sic de omnibus aliis ceteris, servatis modis ut dictum est, et ita monstram tam equestrem quam pedestrem collocabis. 10 Si vero capitulum de neglecta religione collocare volueris, tunc pones unum clericum sacra lacerantem, ut esset missale vel aliud sacrum vel suam vestem longam, et se induentem aliqua zona variorum colorum et sic habebis de neglecta religione. Preterea si volueris aliquod capitulum collocare, ut de vita et honestate cleri- 15 corum, pones unum clericum oculos tenentem versus terram et honesta veste indutum ac manibus breviarium habentem super eoque legentem, et sic etiam habebis de vita et honestate clericorum. Ambasciatas quoque quis egregie reportabit, si prius illius partes 20 diligenter et persepe perlegerit et naturali memorie quantum poterit studio commendaverit. Deinde si postea partes ipsius ambaxiate seriatim per locos artis, ut decet, distribuerit ut exempli causa: si Serenissima ducalis dominatio vel alius illustrissimus dominus aut communitas me mitteret ad Mediolani ducem, cui factis salutatio- 25

2–4 aliquos ducatos… genas] illi aliquid auri super capite P, L 4–10 ante oculos… collocabis] ante eum locabis per ordinem loci P, L 5 inde] et P, L 6 super spatulam vel] om. P, L 6 aliquid operetur] aliquo modo se exerceat P, L 7 collocatum] locatum  L 7–10 illi tal… collocabis] pones illi pavesium ceteris servatis, et si haberet lantiam longam situabis eum cum una lantia, et sic procedendo facies, ut dictum est P, L 11 Si vero] de neglecta religione capitulum add. in marg.  P 11 collocare] locare P,  L 12 pones] pone P,  L 12 vel aliud sacrum] om. P,  L 13 vestem] delacerantem vestem L; dillaerantem vestem P 13 zona] zonca z; zornea P, L 14–15 si volueris… ut] ad locandum aliud capitulum P 18 habebis] patebit locatio P, L 20 quoque] vero P, L 20 reportabit] re add. sup. lin. P 21 persepe] sepius P, L 23 locos] loca P, L 23 exempli causa] om. P, L 24 illustrissimus] om. P, L 25 cui] et P, L

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de Nicolo aus Venedig, Armbrustschütze‘, wirst du sogleich einen Antonius an den betreffenden Ort setzen und für Venedig wirst du einige Dukaten nehmen. Aufgehängte Fäden sollen am Barett oder der Kapuze dieses Antonius sein, die118 über die Wangen und vor die Augen des genannten Antonius hängen, und vor Antonius selbst wirst du einen Nicolaus aufstellen, dann wirst du diesem Antonius eine Armbrust [67v] über die Schulter oder in die Hand geben, mit der er irgendetwas tun soll, und so wirst du das Ganze an seinen Platz gestellt haben. Wenn es aber ein Soldat mit einem Schild wäre, wirst du ihm einen solchen Schild beigeben, und so auch in allen anderen Fällen, wobei die Art und Weise gewahrt sein soll, wie es gesagt wurde, und so wirst du eine Truppenschau sowohl für die Reiterei als auch für die Fußsoldaten bilden. Wenn du aber eine Kapitelversammlung über die Vernachlässigung der Religion festhalten wolltest, dann wirst du einen Kleriker setzen, der geweihte Gegenstände zertrümmert, wie es ein  Messbuch wäre oder etwas Heiliges oder sein langes Gewand, und der sich mit einem vielfarbigen Gürtel bekleidet, und so wirst du die Vernachlässigung der Religion [loziert] haben. Wenn du ferner irgendeine Kapitelversammlung anlegen wolltest, etwa über das Leben und die Anständigkeit der Kleriker, wirst du einen Kleriker mit zu Boden gewandtem Blick setzen, der mit einem ehrenvollen Gewand bekleidet ist und in den Händen das Brevier hält, in dem er liest, und so wirst du auch eine Kapitelversammlung haben über das Leben und die Anständigkeit der Kleriker. Auch Botschaften wird der vortrefflich überbringen, welcher zuerst ihre Teile sorgfältig und sehr oft durchgelesen und seinem natürlichen Gedächtnis mit Eifer, soweit er es vermag, anvertraut hat, und welcher dann später die Teile dieser Botschaft der Reihe nach auf die Örter der Kunst, wie es sich ziemt, verteilt hat, zum Beispiel: Wenn die huldreichste herzogliche Herrschaft oder ein anderer durchlauchtigster Herr oder eine Gemeinschaft mich zum Herzog von Mailand entsen-

118 qui: filum, n. ‚Faden‘, hier als Mask. verwendet.

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 Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule

nibus, que communiter fiunt, que artificio non indigent, cum sint multum trite et fieri consuete, deberem eiusdem parte referre, quod prelibata dominatio suam hortatur et rogat dominationem, ut velit vallem tellinam restituere, aliter quod deberem illi bellum indicere. Tunc, ut dixi modo, pluries repetito dicto capitulo ponerem in loco locando quondam Mediolanensem [68r] mihi notum cum uno bireto in capite, sicut est biretum Serenissimi domini ducis Venetiarum, et in illius manibus ponerem unum vallum cum una petia tele in ipso vallo, et si ipse dux Mediolani nollet ipsam vallem tellinam restituere, que figuratur pro dicto vallo et illa petia tele, tunc presentarem ei cirothecam ferri in signum inditionis belli aut figerem unum tubetum cum eius tuba adversus dictum Mediolani ducem sonantem; vel aliter etiam fieri posset secundum uniuscuiusque fantasiam; et ita haberemus totum capitulum locatum, videlicet pro illo Mediolanense cum dicto bireto haberemus Mediolani ducem, pro vallo cum dicta tela vallem tellinam, cuius restitutionem si negaret, cirotheca aut sonus tube, ut statim dictum est, plane denotaret belli inditionem, et sic de aliis omnibus capitulis faciendum est; et per hunc modum faciliter omnem longam ambasciatam reportabis.

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2 trite] om. P,  L 2 fieri] semper fieri  L 3 dominatio] ducalis dominatio P; dominatio Venetiarum  L 5 pluries repetito] pluries lecto P; pluries 7 Serenissimi] om. P, L 8 illius] illis P 8 in ipso vallo] in eo L; intus P 9 Mediolani] om. P,  L 9 nollet] vellet P,  L 10 et illa petia tele] cum illa tella P, L; tunc ponerem manus meas super ipso vallo tamquam vellem ipsum accipere. Si autem negaret restitutionem add. P,  L 10–11 presentarem… aut figerem] proponerem P, L 12 unum tubetum] unum cum tuba P, L 12 Mediolani] om. P, L 13–14 vel aliter… fantasiam] et cirothecam ferri adversus eum proicientem in signum indictionis belli P, L 14 haberemus] haberes P, L 14 locatum] hoc P,  L 15 dicto bireto] bireto suprascripto P,  L 15 haberemus] habebis primo P, L 16 vallem tellinam] habebis vallem telinam P, L; Si vellet [volet L] eam [illam L] restituere, tunc patebit per impositionem manus, quam pones super ipso [illo L] vallo, quod erit signum restitute rei add. P, L 16–18 cuius restitutionem… inditionem] Si negabit, sonum tube, et cirotheca aperte monstrabit [monstrabunt L], quod indices sibi bellum P, L 19 faciendum est] servabis P, L 

Jacobus Ragona Vicentinus: Artificialis memorie regule 

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dete, dem ich nach den vorgetragenen Begrüßungen, die gemeinhin erfolgen und denen es an Kunst nicht mangelt – weil sie sehr geläufig sind und üblicherweise geschehen –, an Stelle desselben Herrn berichten sollte, dass die zuvor erwähnte Herrschaft seine Herrschaft auffordere und bitte, dass sie das Veltlin (vallis tellina) wiedergeben möchte, weil ich ihm andernfalls Krieg erklären müsste. Dann würde ich, wie ich eben mehrmals bei der Wiederholung des genannten Kapitels sagte, an den betreffenden Ort einen gewissen Mailänder [68r] setzen, der mir bekannt ist, mit einem Barett auf dem Kopf, wie es das Barett des durchlauchtigsten Herrn und Dogen Venedigs ist, und in seine Hände würde ich einen Wall (vallum) setzen mit einem Stück Gewebe (tela) in diesem Wall, und wenn der Herzog von Mailand dieses Veltlin nicht wiedergeben wollte, das dargestellt wird durch den besagten Wall und jenes Stück Gewebe, dann würde ich ihm einen Handschuh aus Eisen zeigen zum Zeichen der Kriegserklärung oder einen Trompeter119 aufstellen, der mit seiner Trompete dem genannten Herzog von Mailand entgegen tönte; oder man könnte auch, nach der Vorstellung eines jeden, anders verfahren. Und so hätten wir den ganzen Abschnitt loziert, nämlich für jenen Mailänder mit dem besagten Barett hätten wir den Herzog von Mailand, für den Wall mit dem besagten Gewebe hätten wir das Veltlin, und wenn er dessen Rückgabe verweigerte, würden der Handschuh oder der Trompetenklang, wie nicht lange vorher dargelegt wurde, klar die Ankündigung des Krieges bezeichnen, und so muss man auch bei allen anderen Abschnitten vorgehen. Auf diese Weise wirst du leicht die ganze, lange Botschaft überbringen.

119 tubetum: hier in gleicher Bedeutung wie tubicinem, ‚Trompeter‘.

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 Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule

Similiter quoque per hos modos predicationem in memoriam capies, ita quod illius partes poteris egregie recitare; monstram etiam equestrem et pedestrem replicabis et omnia alia, que supra dicta sunt, sine magno labore, modo velis cum diligentia te exercere, quia sicut cunctis in rebus – ut recte novit tua illustrissima dominatio – exercitium valet multum, ita etiam in hac arte nostra exercitatione et usu plurimum proficiemus. Postremo non inutile mihi visum est pro illis maxime, dumtaxat qui centum locos habebunt, modum dare sive regulam delendi [68v] imagines de locis, ut alias de novo collocare possint, quia nisi hunc modum haberent, non possent aliquo pacto illis centum locis uti, nisi semel tantum. Nam occupatis locis aliquibus imaginibus, si vellemus alias imagines apponere, nemini dubium est, quod illico sequeretur confusio non parva, quia recitando eas, priores essent impedimento posterioribus et de facili unam pro alia recitaremus. Accipe ergo divisas subinde opiniones, et illa servabis, que tue fantasie et intellectui idonea magis visa erit. Voluit enim aliqui, ut ad omnes locos, quibus imagines apposite sunt, imagineris unam cortinam extensam cooperientem collocatas imagines iuxta parietem camere vel alterius loci. Ista opinio non placet, quia aut de novo opus esset, ut eas res, quas pro locis habemus, super illis cortinis ordinaremus – quia aliter una cum ipsis collocatis imaginibus coperirentur nec videri possent – aut quando ipse cortine amoverentur, recordatio illarum sive aliquarum imaginum prius collocatarum non esset fantasie mee utile, quia esset pene impossibile, ut alique eorum non accurrerent menti, et sic modus iste dictis rationibus non videtur servandus.

1 predicationem] predicationes P,  L 1 memoriam] memoria  P 3 replicabis] optime add. P,  L 4–7 quia sicut… proficiemus] aliter frustra laboras P,  L 8 modum] modos  P 9 sive regulam] om. P,  L 9 de locis] ex locis P,  L 10 hunc modum] hanc regulam sive modum P,  L 12 vellemus] velles P, L 12 imagines] om. P, L 14 eas] om. P, L 14 et] quia P, L 16 divisas subinde] diversas super inde P, L 17 Voluit enim] Volunt nam P, L 18 ad omnes locos] in omnibus locis P, L 20 vel alterius loci] om. P, L 22 una cum… imaginibus] om. P,  L 23 nec videri possent] et ipse nec viderentur [viderent L] P, L 25 non esset… utile] noceret fantasie P; noceret fantasie mee L 26 eorum] om. P, L 26 accurrerent] occurrerent P, L 26 menti] menti tue P, L 27 videtur] videtur omnino P, L 

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Ähnlich wirst du durch diese Methoden auch eine Verkündigung im Gedächtnis behalten, so dass du ihre Teile vorzüglich aufsagen kannst. Auch eine Truppenschau der Reiterei und der Fußsoldaten wirst du ohne große  Mühe wiederholen und alles andere, was oben genannt wurde, wenn du dich nur mit Sorgfalt üben willst, weil wir, so wie in allen Dingen – wie deine durchlauchtigste Herrschaft richtig weiß – die Übung viel vermag, auch in dieser Kunst durch unsere Übung und Erfahrung die meisten Fortschritte machen werden. Zuletzt schien es mir nicht unnütz, besonders für jene, die mit nicht mehr als hundert Örtern planen, eine Methode oder Regel für das Löschen [68v] der Bilder aus den Örtern anzugeben, damit sie andere Bilder von neuem setzen können, weil sie ohne diese Methode jene hundert Örter keineswegs häufiger als ein einziges Mal nutzen könnten. Denn da die Örter von irgendwelchen Bildern besetzt wären, würde unzweifelhaft sogleich, wenn wir andere Bilder hinzufügen wollten, eine nicht geringe Verwirrung entstehen, weil bei deren Aufsagen die früheren Bilder die späteren behinderten und wir leicht das eine für das andere rezitieren würden. Vernimm also gleich die verschiedenen Meinungen. Du wirst derjenigen folgen, die deiner Vorstellung und deiner Einsicht am geeignetsten erscheint. Jemand schlug denn vor, dass du dir an allen Örtern, denen Bilder beigefügt wurden, einen ausgespannten Vorhang vorstellst, der die aufgestellten Bilder bedeckt, dicht neben der Wand des Raumes oder an einem anderen Ort. Diese Meinung wird nicht für gut befunden, weil es entweder nötig wäre, die Dinge, die wir anstelle der Örter haben, von neuem auf jenen Vorhängen anzuordnen – da sie anders zusammen mit den angebrachten Bildern bedeckt und nicht zu sehen wären –, oder weil, wären die Vorhänge selbst entfernt, die Erinnerung an jene oder irgendwelche anderen, vorher angebrachten Bilder meiner Vorstellungskraft schaden würde, da es fast unmöglich wäre, dass mir nicht einige von ihnen in den Sinn kämen. So scheint diese Methode aus den genannten Gründen nicht beachtenswert.

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 Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule

Alii vero dicunt, ut non debeamus de collocatis imaginibus considerare et sic delerentur ipse imagines. Ista opinio placeret, si fieri posset, quod solum abiecta consideratione illis oblivisceremur, quod difficile mihi videtur in his maxime, qui naturam sive complexionem habeant melincolicam. Nam tales, ut a doctissimis accepi viris, firmius collocatas res retinent, [69r] nec ita de facili possunt oblivisci. Quidam etiam volunt, ut fingamus cameras nostras plenas paleis et sic non apparebunt imagines in illis collocate. Alii alia dicunt. Modus autem, qu hactenus semper et continue profuit optime, hic est: Fingo scilicet me super ostio domus stare, in qua sunt collocate imagines per locos, imaginorque, quod aliquis sursum eat et descendere faciat omnes, qui pro imaginibus sunt situati, eo ordine, quo collocati erant per ipsos locos, sed quandoque decem simul, nunc viginti postea octo aut plures vel pauciores, et videor videre eos omnes oculata fide ipsam domum exire; deinde mente mea servato ordine locorum discurro ipsos locos et eos vacuos et liberos comperio. Nec est persistendum animo in alio ipsorum locorum, ut non occurrant imago sive imagines, que in illo situate fuerant. Immo debemus aliud aliquid potius considerare, et, ut dixi, iste modus profecto mihi profuit semper. Contrarium vero esset, siquis diutius de aliquo recordari voluerit. Consideret sepius primo de locis, qui saltem semel in mente recitandi sunt, et sic in

2 opinio] om. P,  L 2 placeret] placet z 3 abiecta] obiecta  L 4 videtur] videretur  L 5 habeant] habent P,  L 5–6 tales… viris] isti P,  L 6 retinent] menti retinent P, L 7 volunt, ut] dicunt quod P, L 8 in illis collocate] locate P, L 9 qu] quem P, L, z 9–10 hactenus… hic est] semper servavi, et hactenus continuo mihi optime servivit, est iste P,  L 10 Fingo scilicet] videlicet quod imaginor P, L 10 ostio] porta P, L 11 locos] loca P, L 11 imaginorque] et facio P, L 12 eat] vadit P, L 12 faciat] facit P, L 12 qui] que L 13 situati… ipsos locos] non eo ordine, quo per loca erant P, L 14 aut plures vel pauciores] vel quindecim P,  L 15 fide] fide descendere et P,  L 16 deinde] deinde cum P 16 ipsos locos] ipsa loca P, L 17 eos… comperio] subito invenio ea vacua et libera P, L 17 persistendum] persistendo z 17 alio] aliquo P, L 18 occurrant] occurrat P, L 19 fuerant] erant P, L 19 debemus] om. P, L 19 considerare] considerante ut vid. P 22–/1 qui saltem… habebit] om. P, L 

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Andere aber sagen, dass wir über die aufgestellten Bilder keine Überlegungen anzustellen brauchten, und so würden die Bilder von selbst gelöscht. Diese Meinung hielte ich für gut, sofern es sein könnte, dass wir allein durch das Aufgeben der Betrachtung jene Bilder vergessen würden, was mir äußerst schwierig erscheint besonders bei denen, die eine melancholische Natur oder Stimmung besitzen. Denn solche Leute behalten, wie ich von den gelehrtesten Männern vernahm, die zusammengestellten Dinge sicherer [69r] und können nicht so leicht etwas vergessen. Gewisse Leute wollen auch, dass wir uns vorstellen, unsere Zimmer seien mit Spreu gefüllt, und so werden die Bilder nicht erscheinen, die in ihnen niedergelegt wurden. Wieder andere sagen anderes. Die Art und Weise aber, die bis jetzt immer und fortwährend am besten nützte, ist diese: Ich stelle mir nämlich vor, dass ich über dem Eingang eines Hauses stehe, in dem die Bilder auf die Örter verteilt sind, und ich male mir aus, dass irgendjemand aufwärts geht und alle angebrachten Bilder herabsteigen lässt und zwar nach der Ordnung, mit der sie auf die Örter selbst verteilt wurden, und einmal sind es zusammen zehn, jetzt zwanzig, später acht, oder mehr oder weniger, und ich scheine mit eigenen Augen zu sehen, dass sie alle dieses Haus verlassen; dann durcheile ich in meinem Geist die Örter selbst, wobei ich die Ordnung der Örter wahre, und erfahre, dass sie leer und frei sind. Der Geist darf nicht an einem anderen dieser Örter verharren, damit er nicht auf ein oder mehrere Bilder trifft, die an ihm platziert waren. Im Gegenteil, wir müssen vielmehr etwas anderes betrachten, und, wie ich sagte, diese Methode nützte mir wahrhaftig immer. Das Gegenteil wäre es aber, wenn jemand sich länger an eine Sache erinnern wollte. Er möge zuerst häufiger die Örter beschauen, die wenigstens einmal im Geist aufzusagen sind, und so wird

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 Jacobus Ragona Vicentinus, Artificialis memorie regule

eternum eos promptos habebit. Deinde mente sua discurrat ea, que memorie artificialiter commendavit, puta semel ad minus in mense, quod si fecerit, dum vixerit, de collocatis rebus poterit reminisci, intelligendo, quod in illis locis aliud nihil apponat, nisi ea, que diutius retinere voluerit. Sed scirem persuadere tue 5 illustrissime dominationi, ut alios etiam centum locos haberet [69v] et si ducentos adhuc melius. Nam invenio admodum mihi profuisse locos multos, quos mihi comparavi. Dixi. Vale diu feliciter, Princeps colendissime.

1 mente sua discurrat ea] de his P, L 2 commendavit] t add. sup. lin. P 2 ad minus] aut bis P, L 3–5 quod si fecerit… retinere voluerit] continuando, et sic in eternum poterit recordari, si tamen in illis [his L] locis nihil aliud collocaverit P, L 5 tue illustrissime dominationi] tue celsitudini L; tibi P 6 ut alios] ut saltem alia P, L 6 locos haberet] loca haberes P, L 7 ducentos adhuc] ducenta esset multo P; ducenta essent multo L 7 invenio admodum] invenio valde L; invenio P 7 profuisse… quos] mihi prodesse loca multa que P, L 8–9 Dixi… colendissime] Vale P, L

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er sie für immer verfügbar haben. Hierauf möge er das, was er auf künstlichem Weg seinem Gedächtnis anvertraut hat, in seinem Geist durchlaufen, nämlich wenigstens einmal im Monat, und wenn er das fortsetzte, solange er lebte, wird er sich an die niedergelegten Dinge erinnern können, wobei zu merken ist, dass er in jenen Örtern nichts anderes ergänzen soll außer das, was er länger festhalten wollte. Aber ich wüsste deiner durchlauchtigsten Herrschaft zu raten, dass sie auch andere hundert Örter haben sollte [69v], und wenn zweihundert, noch besser. Denn ich finde, dass gerade viele Örter mir genützt haben, die ich mir hergerichtet habe. Ich bin zum Ende gekommen. Lebe wohl und sei lange glücklich, verehrungswürdigster Graf.

Jacobus Publicius (Incipit: Haud ab re fore arbitror) Editorische Hinweise Drucke: Hain 13545–13549; Hain-Copinger, Appendices, 1824; GW 3208; GW M364 28, M36429, M36431, M36435, M36437, M36442, M36443.1 Hss.: Aschaffenburg, Stiftsb., Ms. pap. 33, 192r–207r (um 1500); Augsburg, SB, 4o Cod. 21, IIr-XIIv, 70r–73r (1473); Augsburg, UB, Cod. II. 1. 2o 94, 154r–173v (ca. 1475– 1477; Prov.: Artistenfakultät Basel, danach St. Magnus Füssen); Bamberg, SB, Cod. class. 48, 93r–98r (nach 1482); Basel, UB, Cod. F IV 54, 148v–168r (1478); Berlin, SB,  Ms. lat. oct. 387, 3v–4v (Fragment, nur med. Teil; 1482); Bergamo, Delta  IV 51 (Einzelfaszikel); Donaueschingen, Hofbibliothek, s. Stuttgart; Erfurt, UB, CA. 4° 12, 176r–189r; London, BL, Add. ms. 28805, 133r–179v; London, Wellcome Hist.  Lib.,  Ms. 332/1, 1r–18v (1515);  Madrid, Bibl. Nacional,  Ms. 9309, 97r–100r (Frgm.); Mainz, StB, Cod. I 562 (nicht foliiert); München, BSB, Clm 3603, 97r–106v (Frgm.; 1467); München, BSB, Clm 4394, 150v–153r (Fragment, nur med. Teil; vor 1477); München, BSB, Clm 16231, 180r–203r (nach den Wasserzeichen um 1469); Ottobeuren,  Ms.  o. 45, 137r–173v (um 1488); Regensburg, Fürstl. Thurn u.Taxissche Hofbibl., Ms. 161 (nicht foliiert); Schaffhausen, StB, Cod. min. 113, 302r–342v (1467); Trier, StB, Cod. 155, 309r–334v (1478); Stuttgart, WLB, Donaueschingen 10, 37r–49v (nach den Wasserzeichen 1475); Venedig, Bibl. naz. marc.,  Lat. XIV, 29 (4700, nicht foliiert); Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Q 108, 252r–273r (ca. 1470–1480); Wien, ÖNB, Cod. 3202, 37r–54r; Winchester, Winchester College (Warden and Fellows’  Library),  Ms. 50D, 32v–48v; Wrocław, Biblioteka Zakladu Narodowego im. Ossolinskich, Ms. 734/I, 174r–200r; Würzburg, UB, Cod. M. ch. q. 2, 273r–387r. Der Editionstext folgt weitgehend der Schaffhausener Handschrift StB, Cod. min. 113 (Sigle S), die als älteste der datierbaren Handschriften zur  Leithandschrift erwählt wurde. Ihre Entstehung ist somit noch vor dem ersten Druck (Toulouse: Henricus Turner? 1475)2 anzusetzen. Sie wurde mit zwei weiteren Handschriften (London, BL, Add MS 28805 [Sigle L]; Ottobeuren, Stiftsbib., Ms.  o. 45 [Sigle O]) kollationiert, die zwar wesentlich später entstanden, aber in einigen Passagen einen besseren und – im Unterschied zu weiten Teilen der Publicius-Überliefer-

1 Zur Überlieferung der Ars conficiendi epistolas von Jacobus Publicius, welcher seine Ars memorativa angehängt war, vgl. Wójcik 2016, S. 70. 2 Mary Carruthers, Jan Ziolkowski (Hgg.): The Medieval Craft of Memory: An Anthology of Texts and Pictures. Philadelphia 2004, S. 226. https://doi.org/10.1515/9783110575231-007

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 Jacobus Publicius

ung – vollständigen und weitgehend übereinstimmenden Text bieten. Hinzugezogen wurde ferner die früheste Inkunabel deutscher Herkunft: Köln: Guldenschaff um 1480 [Sigle Ink.]). Der Schaffhausener Handschrift wurden auch die Abschnittsgliederungen samt Überschriften entnommen, während die Abbildungen und Illustrationen, die in der handschriftlichen Überlieferung des Traktats reichlich enthalten sind, nicht wiedergegeben werden konnten. Aus technischen Gründen wurde auf eine Wiedergabe der Zeigerapparaturen und deren kryptische Gebrauchsanweisung verzichtet, die manchen Publicius-Überlieferungen beigegeben sind und mittels drehbaren, auf der Pergamentseite befestigten Zeigern der Bildung von Zeichenkombinationen dienten; sie wurden offenbar zu kryptographischen Zwecken tradiert. Die Londoner Handschrift zeigt einige wenige Umstellungen von Textabschnitten, die in der Textpräsentation nicht eigens vermerkt wurden. Sowohl die Übersetzung als auch die Kommentierung konnte an einigen Stellen von der englischen Übersetzung von Henry Bayerle (Carruthers/ Ziolkowski 20043) profitieren. Siglen Schaffhausen, StB, Cod. min. 113 London, BL, Add MS 28805 Ottobeuren, Stiftsbib., Ms.  o. 45 Inkunabel Köln: Guldenschaff um 1480

3 Ebd., S. 231-250.

S L O Ink

Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit Haud ab re fore arbitror, si preter maiorum consuetudinem, que plurimis seculis e mortalium usu excessere, in medium nunc lucemque referam. Nam si mentis acies animique vis his terrenis artibus destituta, intellectus admodum voluntatis et memorie lumine claruerit, hac tamen corporea mole contagione et obscuro carcere 5 mersa novis preceptis mediceque artis aminiculis indigens est, ut quid caduci fragilisque corpusculi coniunctione luminis ei ademptum est, novis preceptis et exercitacione consueta luce pristinoque iubare longe lateque splendescat. Non enim sibi solum ornamento verum preclaris studiis et bonis artibus honestamento splendori et 10 decori esse poterit.

Hanc namque facultatum omnium et artium divino humanoque [que] studio dignarum comunem uti parentem et fidissimam servatricem divini et humani ingenii argumentum et gloriam musarum matrem vates nostri dixere. Cuius sagacitate, motu et celeritate, qua 15 cuncta ambit, sentit et movet, motu sempiterno predita, divine mentis vim intueri admirari et venerari licet. Que summa nos caritate complexa eligues mutosque (ut Sabinum Calvinum) disertos eloquentesque reddit, ignarum tardum [302v] immemoremque

1 HAud] h add. in marg. S 1 maiorum] malorum O 2 excessere] exercere exp. S; recessere Ink. 3 artibus] artubus S, O, Ink. 5 mole] nomine mole ut vid. O 5 contagione] cogitacione L 6 mersa] diversa L 6 indigens est] indiget  L 7 quid] quod Ink.,  L 9 ornamento] ornamentum  L 10 verum] verum etiam Ink. 10 honestamento om. L 13 parentem et] parentem O 14 ingenii] ingenius O 15 matrem] matrum S; om. Ink. 15 Cuius] Huius Ink. 15 motu et] motus O 16 ambit] ambit monet et L 16 et movet] om. L 16 predita] predito S 16 divine] divini L 19 reddit] reddat Ink., O 19 tardum] tandem O 19 immemoremque] immemorem O, L 

Jacobus Publicius: Ars memorativa Der Prolog des Jacobus Publicius über die Ars Memorie beginnt mit Glück Ich meine, dass es nicht ohne Nutzen sein wird, wenn ich entgegen der Gewohnheit der Alten [das] nun an die Öffentlichkeit und ans Licht bringen werde, was viele Jahrhunderte lang aus dem Gebrauch der Sterblichen geschwunden ist. Wenn nämlich die Schärfe des Denkvermögens und die Kraft des Geistes der irdischen Künste beraubt sind und das geistige Verständnis ausschließlich durch das Licht des Willens und des Gedächtnisses glänzt, dann braucht das Gedächtnis, in diese körperliche  Masse, [ihre] ansteckende Berührung und [ihren] dunklen Kerker versenkt, dennoch neue Lehren und den Beistand der medizinischen Kunst, so dass durch neue Lehren und deren Übung das, was ihnen durch die Verbindung des hinfälligen und zerbrechlichen Körpers mit dem  Licht genommen wurde, wieder weit und breit in gewohntem Licht und früherem Glanz leuchte. Denn das Gedächtnis wird nicht nur sich selbst zum Schmuck, sondern den hervorragenden Studien und edlen Künsten zu ehrenvoller Zierde, Glanz und Herrlichkeit dienen können. Unsere Dichter priesen sie [das Gedächtnis] ja zum Beispiel als Mutter der Musen [=  Mnemosyne], als gemeinsame Urheberin aller Fähigkeiten und Künste, die göttlichen und menschlichen Eifers würdig sind, als treuste Bewahrerin und als Symbol und Ruhmeszeichen des göttlichen und menschlichen Verstandes. Angesichts ihres Scharfsinns, ihrer Beweglichkeit und Schnelligkeit, mit der sie alles umfasst, erfährt und bewegt und in immerwährender Bewegung bleibt, darf man [in ihr] die Kraft des göttlichen Geistes betrachten, bewundern und verehren. Von höchster Liebe gehegt, macht sie aus uns Sprachlosen und Stummen (wie Sabinus Calvinus4) Gelehrte und Redegewandte, sie verhilft unwissenden, lang-

4 Cf. Lucius Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium (27, 5). Calvisius Sabinus wird in dieser Epistel als Person mit ausnehmend schlechtem Gedächtnis erwähnt.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

bene memorem efficit. †Que† a natura, que volunt, (ut Temistoi diveque mentis Zenoni) meminisse datum est artis exercicium et tardis memorie precepta comparaverit. cf. Cicero, De officiis 1, 22

Non enim tantum nobis (ut Platonis sententia dictitat) nati sumus, sed nostris patrie et posteris. Quo perbeati illi esse videntur, qui 5 summo ingenio prediti non suis modo, sed minoribus et posteris et memoriam et desiderium sui reliquerunt. Quid enim preclarus quid gloria quid laude quid admiratione dignius, quam animancia nature bonitate ingenio anteire homines non modo mortales, sed naturam ipsam studio et vigilancia excellere. Ceterum cum omnes 10 huius preclarissime vel pocius divine artis fructus in ordinis disposicione reconditos non ignoremus, dabimus operam, ut de his perbrevi et quam absolutissime dicamus.

cf. Cicero, De oratore 2, 352–354; cf. Quintilian, Institutio oratoria 11, 2, 11–17

Nam et Simonidem poetam huiusce rei autorem disposicione et ordine memorie racionem principio excogitasse compertum est. 15 Cum aput Scopam Thessalie eum in covivio discumbentem, duo egregie forme iuvenes accierent, quorum tandem evocatione defatigatus, dum ad fores genialis domus uti ratus erat, non invenisset eos, omni urbe vagus quereret, convivii interea domus in ruinam versa [303r] miseranda convivas clade opressit. Quos cum 20 affines sepulchro mandare vellent nec eos miserando mortis genere et molibus attritos cognoscerent, divinus ille Simonides, quem

1 efficit] efficiat Ink., O 1 Temistoi] temistodi S; themistode L; tenustoti Ink. 2 est] om. Ink. 3 tardis] cordis  L 4 dictitat] dicat Ink. 5 patrie et posteris] et posteris et patrie L 6 et memoriam] memoriam Ink. 7 preclarus] seq. L; preclarus S 8 quid gloria] quid memoria gloria S; om.  L 9 nature] natura  L 9 mortales] immortales  L 10 excellere] exsuperare  L 10 omnes] omnis O 11 vel pocius divine artis fructus] sit potius divine artis fructus Ink.; vel fructus divine artis pocius  L 12 ignoremus] ignoramus  L 13 et quam] etiam quam O 14 Nam et] Nam O 14 huiusce re] huiusce artis rei O 15 principio] pende ut vid. O; principium L 16 covivio] seq. L 16 discumbentem] discumbente O 17 accierent] accerserent Ink.; accersire L 17 quorum] in quorum L 18 dum] cum O 18 uti ratus] iturus Ink.; ut ratus L 18 invenisset] venisset L 19 convivii] om. O 20 convivas] convives L 20 clade] claude S 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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samen und gedächtnisschwachen Personen zu guter Erinnerung. Von Natur ist es [einigen] wie Themistocles5 und dem göttlich begabten Zenon6 gegeben, sich nach Belieben zu erinnern, doch die Übung der Kunst stellte auch für die Langsamen die Lehren der Gedächtniskunst bereit. Denn nicht nur für uns (wie die Ansicht Platons lautet) sind wir geboren, sondern für die Unseren, die Heimat und die Nachkommen. Daher scheinen jene sehr glücklich zu sein, die, mit höchstem Talent versehen, nicht nur den Ihrigen, sondern den jüngeren Zeitgenossen und der Nachwelt ihr Andenken und das Verlangen [ihnen gleichzukommen] hinterlassen haben. Was [ist] denn hervorragender, was des Ruhmes, Lobes und der Bewunderung würdiger, als die natürlichen Lebewesen an Güte und Begabung zu übertreffen und sich nicht nur über die sterblichen Menschen, sondern die Natur selbst zu erheben durch Bemühen und Sorgfalt. Weil wir im Übrigen sehr wohl wissen, dass alle Vorteile dieser herrlichsten oder vielmehr göttlichen Kunst in der Anlage einer Ordnung verborgen liegen, werden wir uns bemühen, über diese sehr kurz und möglichst vollständig zu sprechen. Wir haben sicher erfahren, dass auch Simonides7 der Dichter, der Urheber dieses Gegenstands, zuerst eine auf Anlage und Ordnung gegründete  Methode der Gedächtniskunst erfunden hat. Als er bei Skopas in Thessalien bei einem Gastmahl zu Tische lag und ihn zwei Jünglinge von auffallender Schönheit herbeirufen ließen, und er sie, als er deren Rufen endlich müde war, bei der Tür des Festhauses nicht finden konnte – wie er gedacht hatte –, und in der ganzen Stadt umherlief und sie suchte, da stürzte in Zwischenzeit durch ein beklagenswertes Unglück das Haus des Gastmahls ein und begrub die Gäste. Als die Angehörigen sie, die durch die beklagenswerte Art ihres Todes und die Trümmer entstellt waren, begraben wollten und nicht mehr erkennen konnten, da gab der vortreffliche Simonides, indem er schweigend überdachte, welchen Platz jeder Gast nach der Zuweisung

5 Themistocles als Inhaber eines besonders guten Gedächtnisses erwähnt bei Cicero: de orat. 2, 299  f. und 351; fin. 2, 104; ac. 2,2 (in der Überlieferung häufig die Verschreibung ‚Themistodes‘). 6 Zenon ist der Name mehrerer antiker griechischer Philosophen, darunter Zenon von Elea (5. Jh. v. Chr.) und Zenon von Kition (um 300 v. Chr.). 7 Zur Simonides-Fabula, die den Dichter Simonides von Keos (ca. 557–467 v. Chr.) als Urheber der räumlichen Lozierungsmethode benennt, cf. Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter [5. Jahrhundert v. Chr. bis 9. Jahrhundert n. Chr.]. Dokumentsammlung mit Übersetzung, Kommentar und Nachwort. Hg. von Jörg Jochen Berns unter  Mitarbeit von Ralf Georg Czapla und Stefanie Arend. Tübingen 2003 (Documenta  Mnemonica  I.1; Frühe Neuzeit 79), S. 526–530.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

qusque disposicione et ordine locum sortitus fuerat, tacite volvens, caros parentibus liberos dulcesque coniugibus viros et matrum amplexibus ac lacrimis natos restituit. Cuius exemplo illecti nos quoque a disposicione et ordine inicium dicendi sumemus, si paucis prius [q] de ingenita memorie vi disserentes propriam eius 5 potestatem complectemur. De vera et ficta rerum distinctione Preclaram omnem humani animi vim prestantissimamque nostri corporis mentem in vertice velut in arce sagax natura constituit, ut sensibus finitima, etheri propinquior et immortali deo vici- 10 nior celum omne sidereamque plagam, igneum vigorem et liquidum ethera liberius perlustraret, maria, terras, oppida et infra se positas urbes ut imperiosa et severa moderatrix ab excelso despiceret. Eius vim ac virtutem rerum gerendarum qualitate triplicem dixere: Memoriam igitur [303v] ab intellectu et fantasiam preclare 15 illi quidem segregarunt. Prius namque abditas nobis res harumque latitantem vim et naturam indagare et cognoscere quam meminisse datum comodius est. Hanc vero absolutissimam humani ingenii vim in memoriam et reminiscenciam distinxe easque tantum invicem distare animadverterunt, ut operi volumini papiro et libro 20 alteram, alteram sono pronunciacioni et voci compararent. Con-

1 qusque] seq. L 1 locum] loco L 2 volvens] volumes Ink.; solvens O; volens L 3 Cuius] In cuius O 4 nos quoque] nosque O 4 a disposicione et ordine inicium dicendi sumemus] ab ordine inicium dicendi sumemus Ink.; inicium ab ordine dicendi sumemus O 5 [q]] om. O, Ink. 5 memorie vi] memoria Ut L 6 potestatem complectemur] complectitur potestatem L 7 De vera et ficta rerum distinctione] Capitulum de distinccione artificiali oratoria et ficta divisio rerum de delendis ymaginibus L; om. Ink., O 8 omnem] omni O 10 finitima] finitiva Ink.; finitima et L 11 liquidum] liquida O 12 perlustraret] perlustrare O 12 oppida] om. Ink., O 13 ut] et Ink.; om.  L 14 ac] ad Ink. 14 gerendarum] gerundarum Ink. 14 qualitate] qualitatem Ink.,  L 15 Memoriam] Memoria Ink. 15 fantasiam] fantasia Ink., O 15 preclare] preclara Ink. 16 illi] ille  L 16 segregarunt] segregant Ink. 16 harumque] parumque O; harum  L 18 comodius] om. Ink., O; commodatum  L 19 in memoriam et reminiscenciam] in reminiscenciam et memoriam O 19 distinxe] dixere Ink. 19 tantum] tandem Ink. 20 operi volumini] operi folium O 20 libro alteram, alteram sono] libro alteram sono pronunciacioni alteram  L 21 compararent] comperaret S; comparaverunt O; compararunt Ink. 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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und Ordnung erhalten hatte, den Eltern die teuren Kinder zurück, den Ehefrauen ihre lieben Männer, die Söhne den Umarmungen und Tränen der Mütter. Auch wir werden, durch sein Beispiel bewegt, bei der Verteilung und der Ordnung unseren Anfang nehmen, wenn wir auch zuvor knapp die angeborene Kraft des Gedächtnisses erörtern [und] ihr eigentümliches Vermögen zusammenfassen.

Über die wahre und erfundene Einteilung der Dinge Die ganze herrliche Kraft des menschlichen Geistes und das Denkvermögen unseres Körpers versetzte die scharfsinnige Natur in den Kopf gleichwie in eine Burg, damit sie  – an die Sinne grenzend, dem Himmelsraum näher und Gott dem Ewigen benachbarter  – den ganzen Himmel und den Sternenkreis, die feurige Lebenskraft und den klaren Aether freier überschaut [und] Meere, Länder, Festungen und unter ihnen liegende Städte wie eine mächtige und strenge Leiterin von der Höhe aus erblickt. Die [Gelehrten] sagten, die Kraft und Tüchtigkeit des Denkvermögens sei nach der Qualität ihrer Ausführungen dreifach: Folglich trennten sie in deutlicher Weise das Gedächtnis vom Verstand und der Fantasie. Es ist für uns nämlich adäquater, dass wir zuerst unzugängliche Dinge sowie deren verborgene Kraft und Natur aufspüren und erkennen, bevor wir uns [an Eingeprägtes] erinnern. Diese in der Tat vollkommenste Kraft des menschlichen Geistes haben [die Gelehrten] in das Gedächtnis und das Erinnerungsvermögen unterteilt und sie bemerkten, dass diese beiden voneinander so sehr abweichen, dass sie

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

stantis enim mentis absoluteque perfectionis habitu reminiscentiam et frequentium operacionum actu memoriam pene divinam predicant.

cf. Rhetorica ad Herennium III, XVI, 28

nicht nachweisbar

Nos utriusque vim communi quodam vocabulo intexere* cupientes. Hanc mentis bipartitam comoditatem memorie tamen nomine 5 nunc complexi sumus. Non ut illorum autoritati et sapientie arroganter quicquam detrahamus, sed doctorum atque gravium latinorum auctoritatem secuti, quod ab illis bipartito traditum est, facilius simpliciterque evolvamus. Mentis itaque nostre et memorie commoda duplicia sunt: Nature scilicet alia, artis ab institucione 10 alia profecta. Naturalis memoria vis quedam est nostris animis et cogitacionibus (ut bene meminisse possimus) insita. Hec non [304r] locis, sed veris fictisque ymaginibus indiget. Unicuique enim (doctorum atque gravium sententia) agere, meminisse et intelligere cupienti consulto et meditato opus est. 15 Humanam quippe naturam sensitiva vi vehementiorem nullius corporee similitudinis adminiculo simplices res vel non concipere vel mox conceptas amittere certum est.

Ceterum cum memoria ipsa vel morbo vel etate confecta languescat, preceptis medicaque manu et exercitacione eius impedimenta 20 propulsanda sunt. Puericie enim senectutique oblivionis et letargie matri usu et arte succurrendum Platonem docuisse Affer Constantinus auctor est.

1 enim] enim commode  L 2 operacionum] operacionem S 4 quodam] om. Ink. 5 tamen] tantum S,  L 6 autoritati] auctoritate  L 7 quicquam detrahamus] distrahamus L 8 quod] quoque ut L 8 bipartito] bipertito S; bipartitum O 9 facilius] faciliter Ink. 9 simpliciterque] simpliciter S, O,  L 9 et] hec Ink. 10 commoda duplicia sunt] duplicia sunt commode L 10 alia, artis ab institucione alia profecta] alia alia institutione artis profecta O; alia ab instituto alia ab artis institucione  L 11 profecta] profecta est L 11 memoria] memorie Ink., L 14 sententia] sententiam Ink., L 14 agere] agere et O 15 meditato] medito Ink. 16 sensitiva] sensitivam  L 16 corporee] corpore  L 17 vel] ut L 22 matri] meliori Ink. 22 docuisse] docuisset L 23 est] om. Ink. 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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das eine mit einem Werkstück, einer Schriftrolle, einem Stück Papier und einem Buch verglichen, das andere mit einem Klang, einer Rede und einer Stimme. Sie behaupten nämlich, dass das Erinnerungsvermögen sowie das Gedächtnis – das erste durch die Haltung eines ruhigen Geistes und absoluter Vollkommenheit, das zweite durch häufiges Ausüben und Verwenden – beinahe göttlich würden. Wir haben mit Absicht die Bedeutung beider in einen gewissermaßen gemeinsamen Terminus gekleidet. Unter dem Namen des Gedächtnisses haben wir nun freilich die zweigeteilte Fertigkeit des Geistes zusammengefasst. Nicht damit wir anmaßend der Autorität und Weisheit [der Gelehrten] irgendetwas entziehen, sondern damit wir – der Autorität gelehrter und bedeutender lateinischer Autoren folgend – leichter und einfacher [unseren Gegenstand] entwickeln, der von jenen in Zweiteilung überliefert wurde. Die Vorteile unseres Geistes und Gedächtnisses sind daher doppelt: die einen gehen nämlich von der natürlichen Anlage aus, die anderen von der Kunst. Das natürliche Gedächtnis ist sozusagen eine Kraft, die unserem Geist und unseren Überlegungen eingegeben ist, damit wir uns gut erinnern können. Dieses Gedächtnis bedarf keiner Örter, sondern wahrer und erfundener Bilder. Denn einem jeden, der zu handeln, sich zu erinnern und zu verstehen wünscht, sind – nach der Ansicht Gelehrter und Großer – ein Plan und eine Vorbereitung nötig. Es ist freilich gewiss, dass die menschliche Natur durch ihre sensitive Kraft hitziger ist und, wenn ein unterstützendes körperliches Abbild fehlt, einfache Dinge teils nicht erfasst, teils die erfassten Dinge bald wieder einbüßt. Weil im Übrigen das Gedächtnis selbst – teils durch Krankheit, teils vom Alter – träge wird, muss man die Hindernisse durch Vorschriften, medizinische Unterstützung und die Übung des Gedächtnisses bannen. Nach Zeugnis des Constantinus Afer8 habe Platon gelehrt, dass man dem Kindesalter und dem Greisenalter, der Erzeugerin des Vergessens und der Lethargie, durch Praxis und Kunst beiste-

8 Constantinus Afer († 1087) widmete sich der Vermittlung der griech.-arab. Medizin in den lateinischen Westen, indem er als Übersetzer arabischer Werke ins  Lateinische tätig war. Nach einer Existenz als reisender Händler im Mittelmeerraum trat er in den Benediktinerorden ein und bearbeitete in freier Weise die ihm vorliegenden Schriften (u.  a. den Liber pantegni und Galens De methodo medendi). Cf. Lexikon des Mittelalters 3 (2002), S. 171. Zitiert wird nach Gerrit Bos: Ibn Al-Ǧazzār’s Risāla Fīn-Nisyān and Constantine’s ‚liber de oblivione‘. In: Charles Burnett/ Danielle Jacquart (Hg.): Constantine the African and ʿAlī Ibn-al-ʿAbbās al-Mağūsī: The pantegni and related texts. Leiden: Brill 1994 (Studies in ancient medicine 10), 203–232.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

Ut enim animi nostri bona ingeniique dotes a natura nobis concessas perfectionem quandam consuetudine et exercicio percipere videmus, sic memoria (etsi non nichil comodi a natura sibi vendicaverit) arte tamen et usu nature comoda augeri et incommoda cominui, levari et recondi videmus. Iugis quippe usus et diu- 5 turna consuetudo rerum magistra est. Caduce igitur fragilique nature arte diuturna meditacione et assidua exercitatione occurrendum est. Ea locis composicione, ymaginibus, signis, litteris, figuris et in[304v]signis constat. Sed de his alias. Nunc ad ordinem, unde digressi sumus, revertamur. 10

De ordine Cum in omni accione, disciplina et arte modus rerumque ordo et disposicio (ut in navali, militari, rustica et publica re) sumo adiumento mortalibus sit, tum in hac tantum momenti et nervorum habet, ut omnia ingenio et memorie conferentia his sine 15 (umbra veluti obscuro carcere et alta caligine mersa) longe a [s] sensi[si]bus aga et fluitantia latitent. Non ab re igitur altius de ordine repetendum censuimus, ut omnis huiusce rei ratio et doctrina, supra quam necesse videretur, exordiendo hac luce clarior dilucescat. Ordo est recta rerum disposicio, qua singula 20

1 enim] om.  L 1 ingeniique] ingenii quoque Ink. 3 memoria] memoriam L 3 non] om. Ink. 3 comodi] commoda L 3–4 a natura… usu nature comoda] om. L 3 vendicaverit] vendicarit S, O 5 cominui] communi L 5 recondi] retundi S, O, L 5 videmus] videret L 6 Caduce] Cadua ut vid. L 7 arte] om. Ink. 7 assidua] om.  L 8 Ea locis composicione, ymaginibus, signis, litteris, figuris et insignis constat] Ea locis composicione, ymaginibus, signis, litteris, figuris et insignis constat S; Ea veris commenticiisque locis constat, adiunctione litterisque levatur, ymaginibus, signis, figuris et insigniis augetur Ink.; Ea verum commenticiisque locis constat adiunctione litterisque levatur ymaginibus signis figuris et insigniis augetur O; Ea locis composicione ymaginibus signis litteris figuris et insigniis constat L 9 alias] om. Ink. 11 De ordine] om. Ink.,  L 12 ordo et] ordo Ink. 13 militari] militare  L 14 tum in hac] Tu in hac Ink.; Cum in hoc L 14 tantum] tamen Ink. 16 alta] om. L 17 aga] seq. L; faga S 17 fluitantia] fluctantia  L 17 latitent] latitant Ink. 18 de ordine] om. Ink. 18 censuimus] censimus Ink.; sensuimus L 18 omnis] om. Ink.; omnes L 19 supra] super Ink. 19 videretur] videtur Ink., O 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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hen müsse. Wie wir denn sehen, dass uns die Güter unseres Geistes und die Gaben des Talents von der Natur zuteilgeworden sind und ihre wahrhafte Vollendung durch Gewohnheit und Übung erfahren, so sehen wir doch, dass die natürlichen Vorteile durch das Gedächtnis (mag es auch einigen Vorteil von Natur aus beanspruchen), durch Kunst und Praxis vermehrt werden, und die Nachteile entkräftet, gemindert und kompensiert werden. Die beständige Praxis und die tägliche Übung sind freilich Lehrmeisterinnen aller Dinge. Der hinfälligen und schwachen Natur muss man also durch die Kunst zu Hilfe kommen, durch tägliches Überdenken und unablässige Übung. Das Gedächtnis besteht aus Örtern, Anordnung, Bildern, Zeichen, Buchstaben, Figuren und Kennzeichen. Doch darüber [spreche ich] ein anderes Mal. Nun wollen wir zur Ordnung, von der wir abgewichen sind, zurückkehren. Über die Ordnung So wie das Maß, die Ordnung und die Einteilung der Dinge bei allem Handeln, in jeder Disziplin und Kunst (wie in der Schifffahrt, dem Militär, dem Landbau und dem Staatswesen) für die Menschen höchst hilfreich sind, so haben diese vor allem in dieser [Kunst] so viel Bedeutung und Wirkungskraft, dass alles dem Talent und dem Gedächtnis Zuträgliche sich ohne sie verborgen hält (wie ein in einen dunklen Kerker und tiefe Finsternis versenkter Schatten), den Sinnen unzugänglich, unstet und schwankend. Nicht ohne Grund also waren wir der Ansicht, dass eine über das scheinbar Notwendige hinaus gründliche Wiederholung der Ordnung im Exordium angebracht sei, damit jedwede Methode und Lehre des vor-

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

suum teneant locum. Hic rerum et verborum dicitur. Que enim dignitate aut natura prestanciora verba dicuntur, ceteris preferenda sunt. Virgilius sexto: Vergil, Aeneis 6, 724–726; 728

nicht nachweisbar

Sallust, cf. Catilina 24, 3 Sallust, cf. Catilina 36, 4 Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia 1, 1 Sallust, Catilina 6, 1 Vergil, Eklogen 1, 19

Principio celum et terras camposque liquentes lucentemque globum lune Titaneaque astra Spiritus intus alit. […] Hinc hominum pecudumque genus viteque volantum. Sic viros et mulieres victrici dextra subegit.

5

Salustius in Catlinam [305r]: Commemoratis viris, qui in ea conspiracione fuere, mulieres eciam aliquot affuisse sibi dicitur, inquit 10 natura ut dies et nox, ortus et ocasus. Crispus omnia ab ortu ad ocasum domita armis parerent. A nocioribus et a minoribus non imperiti litterarum inchoant, ut Urbis Rome externarumque gentium. Valerius , et Urbem Roma sic ego accepi condidere atque habuere initio Troiani, 15 Salustius et Urbem, quam dicunt Romam,  Melibee, putavi. Virgilius Finita infinitis, a quale inequali, virtus viciis, certum incerto, fixum mobili, habitus privacioni et cecitati visus anteferatur. Contrariorum op

ositio habitus et privacionis normam sequuntur, ut albedo habitus, nigredo privacio dicatur. Rerum ordo continuata est 20 sententiarum progressio seriem distinctionemque servans. Ea est triplex: continuacionum, partium orationis et locorum. A validissimis enim et necessariis in diluendo inchoandum Maro docet:

1–2 enim dignitate] indignitate L 3 Virgilius sexto] Virgilius in sexto O 4 liquentes] loquentes O 7 Hinc] Hic L 8 victrici] vitrici S; nutrici ut vid. L 9 Catlinam] seq. L 9 qui in ea] hy qui in ea O 10 affuisse] fuisse O; asscivisse S,  L 10 dicitur] om. O, Ink. 10 inquit] om.  L 11 natura… ocasus] Nata ut ortus et occasus dies et nox O; Natura ut dies nox ortus et occasus L 11 ad ocasum] usque occasum  L 12 armis] artis exp. S 13 et a minoribus] om. O; et communioribus  L 13 inchoant] imperant  L 14 externarumque] exterarumque S 14 ] hab. Ink. 15 sic] sicut Ink.; sicuti O,  L 16 dicunt] dico L 17 a quale] equale Ink.; equali ut vid. L 18 cecitati visus] cecitas visui  L 18 anteferatur] anteferratur S 19 op

ositio] seq.  L 19 privacionis normam sequuntur] privacionis normam sequatur S; privacionis normam sequitur L; privacioni O 20 nigredo] ut nigredo L 22 triplex] triplex scilicet O 23 docet] docet versus L

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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liegenden Gegenstands zu Beginn in diesem Licht heller erscheine. Die Ordnung ist die rechte Anordnung der Dinge, durch die das Einzelne seinen Platz erhält. Diese Anordnung nennt man [die Ordnung] der Dinge und Wörter. Wenn Wörter nämlich durch ihre Erhabenheit oder Beschaffenheit als herausragender erkannt sind, dann sind sie den anderen vorzuziehen. Vergil im sechsten Buch: „Himmel und Erde zunächst, des Meeres Wogengefilde, und die leuchtende Kugel des Monds und die riesige Sonne nährt von innen der Geist […] Hieraus stammen die Menschen und Vieh und das Leben der Vögel“9 „So zähmte er Männer und Frauen mit siegreicher Hand“.10

Sallust in Catilina: Nachdem die Männer erwähnt sind, die in dieser Verschwörung waren, sollen – heißt es ‒ auch ‚einige Frauen dabei gewesen sein‘. Die Natur gibt [die Reihenfolge] vor: wie Tag und Nacht, Aufgang und Untergang. Crispus (Gaius Sallustius Crispus) schreibt: „Vom Osten bis zum Westen gehorchte alles, gezähmt durch Waffen“.11 Literarisch nicht Versierte beginnen mit Bekannterem und Leichterem, wie „der Stadt Rom und fremden Völkerschaften“ (Valerius Maximus) und „die Stadt Rom, so habe ich erfahren, gründeten und bewohnten zu Beginn die Trojaner“ (Sallust), auch „von der Stadt, die sie Rom nennen, Meliboeus, glaubte ich.“ (Vergil) Das Begrenzte soll dem Unbegrenzten, das Gleiche dem Ungleichen, die Tugend den Lastern, das Sichere dem Unsicheren, das Feste dem Beweglichen, der Besitz dem Mangel und das Sehen der Blindheit vorgezogen werden. Das Entgegensetzen der Kontraste folgt der Richtschnur von Besitz und Mangel, so dass die weiße Farbe als Besitz, die schwarze als Mangel benannt wird. Die Ordnung der Dinge ist das kontinuierliche Fortschreiten der Sätze, Reihenfolge und Unterscheidung wahrend. Dies bezieht sich auf dreierlei, die Aufeinanderfolge der Teile, der Rede und der Örter. Denn Maro (Publius Vergilius Maro) zeigt, dass man vom Wirkungsvollsten und Essentiellen seinen Anfang nehmen und zu weniger Wichtigem fortschreiten soll:

9 Zitiert wird hier wie im Folgenden die Übersetzung von Johannes Götte in der Tusculum-Ausgabe: Vergil: Aeneis. Hg. von J. G. 4., verb. Aufl. München 1979. 10 Phrase in bekannten klassisch-lateinischen Quellen nicht nachweisbar (cf. Carruthers/Ziolkowski: The Medieval Craft of Memory. 2004, S. 234). 11 Zitiert wird die Übersetzung von Werner Eisenhut und Josef Lindauer in der Tusculum-Ausgabe: Sallust: Werke. Hg. von W.E u. J.L. München 1985.

348  Vergil, Aeneis 1, 562–564

 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

Solvite corde metum Theucri secludite curas Res dura et regni novitas me talia cogunt moliri et late fines custode tueri.

Econtra in confirmando agendum esse Fabius Quintilianus et  Marcus [305v] Cicero asserunt. Partes item orationum ordinem 5 suum exquirunt, ut in Oratoriis Institucionibus docuimus. Locorum ordo est duplex: Sedium argumentorum et ymaginum ordinem in argumentis per partes eorum et parcium disposicionem exquiremus. Sedium ordo ymaginum racione est recta locorum series vel in corona convertibilis eorum disposicio. Verum ordo in locis, 10 disposicio in partibus orationis vel in ymaginibus concernitur, que si ad casum temporis vel insulse ab imperitis disponuntur, cognitu dura et memoratu difficiliora erunt. Locorum lex precepcione, qualitate, invencione, dissimilitudine, numero, impressione memorie, corroboracione ymaginum, abolicione, notacione, exercitacione ac 15 ingenio conferentium et vi mentis cognicione, plene perfecteque constat. De quibus principio a precepcione ducto in hoc primo libro dicemus. De preceptione Preceptio recta agendi ratio est, qua nature commoda confirmata 20 et ingenii bona adaucta longe lateque dilucescent. Hic ut ne quid temere adiciamus, neu quid per incuriam obmittamus [306r], servandum est. Quod effugere qui volet, huius artis observantissimus et preceptorum curiosisimus indagator et servator erit.

1 corde] corda  L 1 metum Theucri] metum et Theucri O 3 moliri] om. L 4 agendum] om. Ink. 5 et] om. L 5 asserunt] asserit L 8 exquiremus] exquirimus L 9 est recta] Rector L 11 in ymaginibus] ymaginibus S, L 11 que si] Quo si  L 12 insulse] insulce S; insulsi  L 12 disponuntur] disponere O; disponantur  L 13 difficiliora] difficillima  L 16 et vi mentis] om.  L 16 cognicione] cognicione commenticiisque locis Ink., O 17 De quibus] E quibus O 17 hoc] huc O 19 De preceptione] om. Ink., L 21 dilucescent] dilucescunt Ink.; dilucescant O 21 ut] et Ink.; om. O 22 neu] neve O; ne quid L 23 volet] volit L 23 observantissimus] conservatissimus Ink. 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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„Löst aus dem Herzen die Furcht, ihr Teucrer, bannet die Sorgen, hartes Geschick und die Jugend des Reiches treiben zu solchem, Tun mich an, weitum das Gebiet durch Wächter zu schützen“.

Fabius Quintilianus und Marcus Cicero hingegen behaupten, dass das [Wirkungsvollste erst] bei der Beweisführung anzuführen sei. Ebenso verlangen die Redeteile eine Ordnung, wie wir in unserer rhetorischen Anweisung gelehrt haben. Die Ordnung der Örter ist zweifach: [Es handelt sich um] den Sitz der Argumente und [den Sitz] der Bilder. Die Ordnung der Argumente werden wir durch ihre Teile und die Anordnung der Teile ermitteln. Die Ordnung des Sitzes der Bilder ist die lineare Folge der Örter oder deren Anordnung auf einer drehbaren Scheibe. Tatsächlich wird die Ordnung in den Örtern, die Anordnung in Redeteile oder Bilder vermischt, wenn sie nach den Zeitverhältnissen oder auf ungereimte Weise von Unerfahrenen arrangiert werden, [und sind dann] allerdings mühsam zu erkennen und schwieriger zu memorieren. Die Regel für die Örter besteht ganz und vollständig aus den Vorschriften, der Qualität, dem Finden, der Verschiedenheit, der Zahl, dem Einprägen ins Gedächtnis, der Festigung der Bilder, dem Aufheben, der Bezeichnung, aus der Übung und dem Talent der Anwendenden sowie aus der Kraft und Erkenntnisfähigkeit des Geistes. ­Hierüber werden wir in diesem ersten Buch sprechen, nachdem wir unseren Beginn von den Vorschriften genommen haben. Über die Vorschriften Die Vorschriften sind die rechte Methode des Vorgehens, durch welche die Vorzüge der Natur bestärkt und die Gaben des Geistes vermehrt werden, [so dass] sie weit und breit erstrahlen. Man muss Sorge tragen, dass wir hier ja nichts unbesonnen hinzufügen, noch etwas durch Sorglosigkeit auslassen. Wer dem entgehen will, der wird diese Kunst und ihre Vorschriften sehr aufmerksam und sorgfältig ergründen und bewahren.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

De qualitate locorum Qualitas est condicio certa locis inscripta, ut mediocri luce mediocrique distancia, firma ymaginum capacia ac solo in loco sita cogitentur. Aditus enim et reditus pervagacio et frequens hominum concursatio cogitacionem nostram deludit. Extrema ymaginative virtuti 5 obesse rei militaris oculorum et aurium argumento compertum est. Littere enim nimium conculcate et sillabe nimium expresse vel compresse labore nimio sensus mentemque affligunt. Medio igitur modo ac modestia ingenia exercitentur, ne nimium dilatata fusa ac vaga, incerta, anceps et ignara mens nostra fluctuet. A meridie 10 igitur in septentrionem versa, a decimo in vigesimum passum distancia, opaca, stabilia, deserto in loco, quinque pedum ambitu contenta sint.

Racio inveniendorum locorum Comparandorum locorum triplex est racio [306v]: Nam aut natura 15 constituuntur aut cuiusque ingenio excogitantur vel his composita conficiuntur. Natura constituta dicuntur, que non ingenio excogitata nec comentacione nostra efficta videntur. Ingenio comparantur, que nostra sagacitate simulantur.  Mixta dicuntur, que cum natura et manu hominem, tum calliditate nostra constituntur. 20 Quod et expediens et conducibile magis atque magis esse arbitramur. Omnia etenim a natura constituta reperire impossibile est et fictis omnibus uti durum et periculosissimum duco.

2 ut] et in  L 3 cogitentur] re aut nomine [nomina O] ymaginum rationi correspondentia [correspondenta O] exactissime cogitentur Ink., O 4 pervagacio] pervagacia Ink. 4 concursatio] cursacio O 6 rei militaris] om.  L 6 compertum] arpertum  L 8 Medio igitur] Medio autem O 9 exercitentur] excitentur L 9 dilatata] dilata S 11 decimo in vigesimum] decem et viginti Ink., O 12 in loco] loco L 12 ambitu] ambitum Ink. – 14 sint] sunt Ink 14 Racio inveniendorum locorum] om. Ink., L; De comparacione locorum O 15 aut natura] a natura O 17 conficiuntur] conficiunt Ink.; constituuntur O 17 excogitata nec] cogitata non L 19 simulantur] similantur L 19 cum natura] tum natura S, L 20 tum calliditate nostra] tum calliditate Ink., O; cum calliditate nostra S 22 etenim] enim O, Ink. 23 omnibus uti] omnibus O 23 periculosissimum] periculosum L 23 duco] puto Ink.; dico O

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über die Qualität der Örter Die Qualität ist eine bestimmte Bedingung, die den Örtern eingeschrieben ist, so dass man sie sich in gemäßigtem Licht und in mittlerem Abstand vorstellt, als feste [Plätze], die aufnahmefähig für Bilder und an einem einsamen Ort sind. Denn das Herankommen und das Weggehen, das Umherschweifen und das häufige Hin- und Hergehen von Menschen täuscht unsere Vorstellung. Aus der visuellen und auditiven Wahrnehmung im Kriegswesen kennt man vollauf die Erfahrung, dass Extreme der imaginativen Fähigkeit hinderlich sind. Denn Buchstaben, die allzu komprimiert sind, und Silben, die allzu ausgeprägt oder verdichtet sind, schwächen durch zu große Anstrengung die Sinne und den Geist. Die natürliche Anlage möge also mit mittlerem Maß und Zurückhaltung entfaltet werden, damit nicht allzu Ausgedehntes, Weitläufiges und Unstetes, Unsicheres, Schwankendes und Unbekanntes unseren Geist ins Wanken bringt. Vom Süden also gen Norden gerichtet [sollen die Örter sein], eine Distanz von zehn bis zwanzig Schritten [aufweisen], schattig und dauerhaft und an einem einsamen Ort [sein], und sie sollen sich mit einem Umfang von fünf Fuß begnügen. Die Methode der Auffindung von Örtern Die Methode zur Bereitung von Örtern ist dreifach: Denn entweder werden sie von der Natur begründet oder sie werden mittels der Fantasie einer Person erfunden oder aus diesen kombiniert. Man sagt, [die Örter] seien von der Natur begründet, wenn sie weder mittels der Fantasie erfunden noch durch uns vorbereitet scheinen. Durch die Erfindungsgabe werden [die Örter] vorbereitet, wenn sie mittels unserer Findigkeit gestaltet werden. Gemischt werden sie genannt, wenn sie sowohl durch die Natur und die Unterstützung der menschlichen Kunst eingerichtet werden als auch speziell durch unseren Scharfsinn. Dies ist nach unserer Meinung förderlicher und zweckdienlicher. Es ist in der Tat unmöglich, alles, was von der Natur geschaffen wurde, aufzufinden, und nach meiner Meinung ist es mühsam und sehr gefährlich, allein fiktive Örter zu verwenden.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

De dissimilitudine locorum Locorum similitudo morte magis evitanda est: Nam uti ea compositum, ita hec coniunctum resolvit. Vilem hominem facit, mentem animumque memorie imbecillitate humi deicit. Tarditate et infamia aut sempiterna aut certe diuturna nos inficit. Quas ob res colore, 5 opere et altitudine, figura ac diversa materia evitare poterimus vel, si non locis optatis et arte comparatis, lapidibus saltem, arboribus, tumulis, aris, monumentis, biremibus, astris, insulis, navibus ac proclivis pontibus varie effingentur.

De multitudine locorum [307r] Reliquum iam esse videtur, ut 10 locorum legibus expositis infinita pene nobis loca ordine, qualitate, luce, distancia mediocrique spacio, deserto in loco, stabilia ac disimilia excogitemus, ut, si quid e memoria haut excidere, sed diu impressum tenaciter inherere velimus et alia item memorie conmendare studemus, diversis in locis affigamus. Est enim cum 15 periculosum tum ridiculum duos eadem in re coheredes in solidum constituere. Que, qui sine labore multiplicare voluerit, quadrati normam, de quo secundo volumine agendum est, sequetur. Centum etiam conficta animalia, litterarum et alphabeti ordine, exquiret ac unicuique figure quinque maxima difformia animalia 20 accomodabit vel res aliquas animalibus commiscere poterit, ut diversitate hac firmius memorie impressa inhereat. In quibus pro eorum magnitudine plurimas ac diversas ymaginum sedes pro sententia nostra statuere poterimus.

1 De dissimilitudine locorum] om. Ink., L; De similitudine locorum O 2 Nam] naque  L 3 Vilem] Vile S, O,  L 4 animumque] animamque Ink.; animique  L 4 Tarditate] Tradite Ink. 6 opere et] opera O; opere S,  L 6 ac] hac O 6 vel, si] Ut si  L 7 comparatis] operatis S 7 arboribus, tumulis] arboribus lapidibus tumulis O 8 biremibus] pyrenibus Ink. 8 insulis] infulis ut vid. S 9 proclivis] proclivibus Ink., O 10 De multitudine locorum] om. Ink.,  L 11 expositis] om.  L 11 pene] bene Ink. 13 e memoria] a memoria  L 13 excidere] excedere  L 15 affigamus] effigamus Ink. 15 enim] tamen Ink., L 16 ridiculum] ridiculosum Ink., O 16 eadem] tandem Ink. 18 sequetur] sequatur O; sequitur L 19 conficta] convicta S 20 figure] om. S 20 maxima] maxima et O 20 difformia] et deformia S,  L 21 accomodabit] commodabit O 21 vel] Ut L 22 hac] ac L 22 inhereat] inherant S; inhereant O 24 poterimus] poterimus. De impressione locorum O

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über die Verschiedenheit der Örter Ähnlichkeit zwischen den Örtern ist mehr als der Tod zu meiden: Denn wie Ähnlichkeit das wohlgeordnete Arrangement auflöst, so auch das Zusammenhängende. Sie macht den Menschen unbrauchbar, sie demütigt das Denkvermögen und den Geist durch die Schwäche des Gedächtnisses. Sie befleckt uns mit Trägheit und Schande, seien sie immerwährend oder doch langdauernd. Deswegen werden wir [ihr] durch Farbe, Anlage und Höhe, durch eine figürliche Gestalt und verschiedenes Material entgehen können, oder – wenn die Örter nicht nach Wunsch und mit Kunst bereitet wurden – werden [die Örter] wenigstens durch Steine, Bäume, Hügel, Altäre, Denkmäler, Zweiruderer, Sterne, Inseln, Schiffe und gebogene Brücken verschieden ausgestaltet. Über die Anzahl der Örter Nach der Darlegung der Vorschriften für die Örter scheint nun übrig zu sein, dass wir beinahe zahllose Örter erfinden, die durch Ordnung, Qualität, Lichteinfall, Distanz und mäßige Entfernung unveränderlich und verschieden sind, in einsamer Gegend, damit wir  – wenn wir wollen, dass das Eingeprägte lange und beständig im Gedächtnis bewahrt wird, und im Bemühen, anderes ebenso dem Gedächtnis anzuvertrauen –, [die Merkinhalte] in verschiedenen Örtern anbringen können. Denn es ist sowohl gefährlich als auch lächerlich, zwei Miterben in derselben Sache für das Ganze zu bestimmen. Wer dies ohne Mühe vervielfältigen möchte, wird der Regel des Quadrats folgen, über die im zweiten Band zu handeln ist. Er wird auch noch hundert erfundene Lebewesen, nach der Reihenfolge der Buchstaben und des Alphabets, ausfindig machen und jeder einzelnen Figur fünf sehr große missgestaltete Lebewesen anfügen oder andere Dinge mit den Lebewesen kombinieren können, damit durch diese Gegensätzlichkeit das, was dem Gedächtnis eingeprägt wurde, fester haftet. Dabei werden wir – gemäß ihrer Größe – sehr viele verschiedene Plätze für die Bilder nach unserer Meinung bestimmen können.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

De impressione locorum Locos arte comparatos diuturna meditacione et iugi exercicio memorie adeo imprimemus, ut non aliter tenere, colligere et memoriter reddere quam, que nobis [307v] notissima sunt, possumus. Distrahitur enim memoria atque omnis animi vis effeminatur, si 5 in colligendis ymaginibus ordine et loco dumtaxat uno oberraverimus. De corroboracione memorie Ad eam autem summopere muniendam et vehementissimum laborem, diffidentiam vel desperacionem potius propulsandam 10 non omnis simul, sed carptim dispositas ymagines et ordine quinario numero distincta loca ordine et numero et ymaginibus complevimus. Unamquamque vero quinquies nobiscum animo nostro revolvemus, mox omnia simul tacite repetemus. Novissime quinarii progressu omni metu abacto memoriter reddemus. Reficitur enim 15 memoria et laboris pars maxima detrahitur, si non uno spiritu locis mandata indistincte explicabimus. Sed veluti asperrima iuga arduosque saltus superantes aut moles imbelles quoque etate pueros, inscriptis lapidibus, spaciis, muneribus blandiciisque, ac brevis itineris exactum spacium respicien- 20 tes mentemque adeo his offirmabimus, ut nec ab ordine, nec ab re cadere posse persuasum nobis habeamus. [308r]

2 Locos arte comparatos] Locus arte comparatus Ink. 3 memoriter] memorie O 4 possumus] possimus S, O, L 5 Distrahitur enim] Detrahitur L 5 atque omnis] atque etiam O 6 ordine et] ordine aut S, O, L 6 uno] una L 6 oberravimus] oberravimus. De corrobacione memorie O 10 diffidentiam] diffidentia O; dividenciam S 10 desperacionem] deperatione O 11 omnis] omnis est O 11 simul] insimul S; nisi simul L 11 carptim] raptim O 11 ymagines] imaginibus S; ymagines reputemus  L 12 numero distincta] numero et distincta O 12 numero et] numero  L 12 complevimus] complebimus S,  L 13 animo nostro revolvemus] animo involvemus O; animo revolvemus S,  L 14 simul] insimul S, L 15 metu] motu L 16 et laboris] om. Ink. 16 pars] add. sup. lin. S 18 moles imbelles quoque] molles inbellesque S; at molles imbellesque L; molles imbecillesque O – 19 lapidibus] om.  L 20 blandiciisque] blandiciis O 20 ac brevis] et brevis  L 20 respicientes] respiciens O 21 mentemque] mentem L 21 offirmabimus] affirmabimus S 22 habeamus] habemus S, L 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über das Einprägen der Örter Die nach der Kunst gestalteten Örter werden wir in täglichem Überdenken und dauernder Übung dem Gedächtnis so lange einprägen, bis wir sie nicht anders kennen, aufzählen und aus dem Gedächtnis wiedergeben können wie die geläufigsten Dinge. Denn das Gedächtnis wird zerstreut und die ganze Geisteskraft erlahmt, wenn wir bei der Sammlung der Bilder uns nur um einen Ort in der Ordnung irren. Über die Stärkung des Gedächtnisses Um dieses [das Gedächtnis] hingegen effektiv zu schützen und um eine sehr harte Strapaze, Mangel an Selbstvertrauen und Verzweiflung wirksamer zu verhindern, werden wir nicht gleichzeitig, sondern nach und nach die verteilten Bilder ausfüllen sowie die Örter, die in der Reihenfolge nach der Fünferzahl unterschieden sind, mittels Reihenfolge, Zahl und Bildern. Wir werden im Geist jedes einzelne Bild fünfmal wiederholen und bald alles zugleich stillschweigend erinnern. Endlich werden wir [sie] durch das Vorrücken der Fünfergruppe, nachdem alle Besorgnis beseitigt ist, aus dem Gedächtnis wiedergeben. Denn das Gedächtnis fällt in seinen vorigen Stand und der größte Teil der Arbeit wird zunichte, wenn wir das den Örtern Anvertraute nicht in einem Atemzug und ohne Unterbrechung wiedergeben können. Aber gleichsam die rausten Gebirgskämme und steilsten Waldtäler oder Schwierigkeiten überwindend, [auch wenn wir] vom Alter her unkriegerische Jünglinge [sind] und [nur] auf eine kurze Wegstrecke zurückblicken, werden wir unseren Geist doch durch dieses (gravierte Steine, Räume, Gaben und Anlockendes) so festigen, dass wir überzeugt sind, dass wir weder aus der Ordnung noch aus dem Thema fallen können.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

De diuturno iugique labore Locorum indagine novorum mentem animamque conficiamus. Confertas iam notis novarum rerum adiunctione confundemus, ut inde memorie, hinc oblivioni succurrere possimus. Temporum interdum curriculis priora queque obscurari, debilitari et refugi 5 [308v] sinemus. Aut veluti e sedibus procella etiam adversa tempestate iecta, vacuas iam domus factas mentem inducemus.

Rhetorica ad Herennium III, XVIII, 31

De notacione locorum Locorum nota duplex est: numerorum altera, altera rerum. Numeri signum dicitur numerus quinto quoque inscriptus et hic aut arisme- 10 trica figura vel reali notatur. Falx quippe manus aut pes quintum, crux decimum, Geminata vicesimum significabit. Verum Hermippus loca singula notanda commemorat, ut, ad eum cum veneris, rem, locum et loci numerum teneas. Nec tamen re, verum etiam numero commemorato memoriam facilius exercere valeamus. 15 Albertus decimum quemque, Fabius Quintilianus et Marcus Cicero quintum quemque notandum commemorant. Rerum nota dicitur rerum addicio locis inserta: Cum enim superioribus legibus locus carebit, ne mentem tardam efficiat, re aliqua munietur. Si enim vastus mobilis aut nimium lucidus videbitur exedra, clavo et testu- 20 dine confirmabimus.

1–7 De diuturno… inducemus] om. S,  L 1 De diuturno] E diuturno O 3 novarum] nova O 7 iecta] eiecta O 7 inducemus] inducemus. De notacione locorum O 8 De notacione locorum] hab. O 9 altera rerum] rerum L 10 dicitur numerus] dicitur L 10 quinto quoque] quoque quintum O; quinta quoque  L 10 arismetrica] arismetrice S, O,  L 11 figura vel reali notatur] figura signatur aut reali notatur O; figura aut reali notatur S, L 12 significabit] signabit O 14 Nec tamen re] om. Ink. 14 verum etiam] sed etiam O 15 memoriam] om. S 17 quintum quemque] quinque  L 17 commemorant] commemorat L, Ink. 19 efficiat] afficiat S 20 vastus] fastus S 20 videbitur] om. L 21 confirmabimus] confirmabimus. De artis et nature exercitatione et ratione O

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über die anhaltende und ununterbrochene Bemühung. Durch das Auffinden neuer Örter wollen wir das Denkvermögen und den Geist vervollkommnen. Die bereits mit Bekanntem gefüllten Örter werden wir durch die Anfügung neuer Inhalte aufbereiten, so dass wir auf der einen Seite dem Gedächtnis, auf der anderen Seite dem Vergessen zu Hilfe kommen können. Wir werden zulassen, dass sich bisweilen der frühere Gedächtnisinhalt im Lauf der Zeit verdunkelt, an Festigkeit verliert und sich verflüchtigt. Oder wir werden die Gedanken auf Häuser richten, die gleichsam durch einen Sturm leergeräumt wurden, der in widrigem Unwetter losbrach. Über die Markierung der Örter Die Markierung der Örter ist doppelt: die eine dient den Zahlen, die andere den Dingen. Das Zeichen für die Zahl wird als Zahl angeführt, die jedem fünften Ort eingeschrieben ist, und sie ist hier durch eine numerische oder reale Figur wiedergegeben. Eine Sichel, eine Hand oder ein Fuß wird den fünften Ort bezeichnen, ein Kreuz den zehnten, ein verdoppeltes [Kreuz] den zwanzigsten. Hermippus12 aber erwähnt, dass einzelne Örter zu bezeichnen seien, damit einem, wenn man zu ihnen gelangt bist, die Sache, der Ort und die Zahl des Ortes präsent sind. Wir können nicht nur durch die Erinnerung an die Sache, sondern auch an die Zahl das Gedächtnis leichter üben. Albertus13 legt dar, dass jeder zehnte [Ort] zu bezeichnen sei, Fabius Quintilianus und Marcus Cicero jeder fünfte. Als Markierung der Dinge wird die Beifügung von Dingen bezeichnet, die in die Örter integriert sind: Wenn der Ort den früheren Vorschriften nicht entspricht, dann wird er durch irgendeine Sache gesichert, um geistige Trägheit zu vermeiden. Falls er nämlich leer ist, beweglich oder ein allzu heller [Gegenstand] erscheint, werden wir [ihn] durch eine Rotunde, einen Nagel und eine Laute befestigen.

12 Die Identität des Genannten ist unklar; Hermippus von Smyrna (3. Jh. v. Chr.) war ein Autor biographischer Schriften, einen weiteren Hermippus nennt die Naturalis historia Pliniusʼ des Älteren als einen Kenner der magischen Kunst, der zwei Millionen Verse des Zoroaster kommentiert habe (cf. Naturalis historia, 30, 4). 13 Albertus Magnus erwähnt diese mnemotechnische Vorschrift nicht in seiner Schrift De bono (cf. Carruthers/Ziolkowski: The Medieval Craft of Memory. 2004, S. 237).

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

De artis et nature exercicio et racione Cum usus et consuetudo doctrine et artis magistra dicatur, de ea dicendum censuimus. Infirma est enim hec artis precepcio nisi industria, vigilantia, exercitatione comprobetur. Est autem exercitatio assiduus usus continuaque memorandi consuetudo. Ea est 5 duplex: nature scilicet et artis. Nature vis non locis, sed signis nonnumquam utitur; artis opus locis compositis et ymaginibus nititur. Hec de preteritis locis itidem tractatur.

Cum enim meminisse cupis bis cursim lectitando textum percurres, ordinem deinde ipsum struemus, sententiam cuiusque membri 10 mox indagabimus. Novissime omnium sententia una complexi mediocri sono et murmure vocis adaucto memorie et locis facile commendabimus. Si que de memorie corroboracione precepta sunt, servabimus, loca diuturna meditacione nobiscum exactissime repetemus, signa et ymagines, si memorie celeritatem, nomen et teneri- 15 tatem cupimus, litterarum ordine conscribemus. eterum si quando res commendate locis [309r] memoriam nostrum subterfugient, vel inobservantia preceptorum vel naturalis memorie adversa valitudine et impotentia nobis accidere exploratissimum et certissimum habeamus, impossibile quippe huius artis observantissimi falli 20 memoriam.

3 censuimus] sensuimus  L 3 hec] huius S 4 vigilantia] vigilancia et et S 4 Est autem] est Ink. 5 assiduus usus continuaque] continuus continuaque O 6 duplex] dux S 6 scilicet] om.  L 7–8 artis opus… tractatur] artis opus locis compositis et ymaginibus nititur. Hec demptis locis itidem tractatur O; Artis opus locis compositis et ymaginibus invititur hec demptis locis itidem tractantur S; Nec demptis locis itidem tractantur L 9 cursim] cursum L 10 ordinem] ordine  L 10 struemus] servemus  L 11 omnium sententia] si suam L 11 complexi] complexius O 12 locis] de locis Ink. 13 memorie] memorie et O 14 servabimus] servamus  L 14 nobiscum] om. Ink. 15 si] si in S 15 teneritatem] tenacritatem S; tenacitatem  L 17 commendate locis] locis commendato  L 17 vel inobservantia] ut in observancia  L 18 memorie] memoria S 20 quippe] quippe est S; quippest O; enim est L 20 falli memoriam] memoriam falli. Que conferunt et que obsunt Memorie S; memoriam falli. De his que conferunt et obsunt memorie O 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über die Übung und die Methodik der Kunst und der Natur Weil die Anwendung und die Gewohnheit auch Lehrmeisterinnen der Unterweisung und der Kunst genannt werden, hielten wir es für zweckmäßig, nun über sie zu sprechen. Unwirksam ist nämlich die Unterweisung der Kunst, wenn sie nicht durch Fleiß, Sorgfalt und Übung erprobt wird. Die Übung aber besteht in der beständigen Anwendung und der unablässigen Gewohnheit des Erinnerns. Dieses [Gedächtnis] ist zweifach: der Natur freilich und der Kunst. Die natürliche Fähigkeit gebraucht keine Örter, sondern zuweilen Zeichen; das Werk der Kunst stützt sich auf eingerichtete Örter und Bilder. Das Entfernen der Örter geschieht auf die gleiche Weise. Wenn du dich erinnern willst, wirst du den Text zweimal in kursorischer Lektüre überfliegen, dann werden wir die Ordnung selbst bestimmen und bald den Sinn jeden Gliedes aufspüren. Zuletzt werden wir alle Gedanken zusammen erfasst haben und wir werden sie mit mäßiger Stimme und etwas lauterem Murmeln leicht dem Gedächtnis und den Örtern anvertrauen. Wenn irgendwelche Vorschriften zur Stärkung des Gedächtnisses existieren, werden wir sie berücksichtigen, wir werden die Örter fortgesetzt individuell üben und äußerst gewissenhaft wiederholen, wir werden Zeichen und Bilder nach der Ordnung der Buchstaben erfassen, wenn wir ein rasches Gedächtnis, Berühmtheit und Finesse wünschen. Wenn übrigens einmal Dinge, die den Örtern anvertraut wurden, unserem Gedächtnis entfliehen, so sollen wir es für äußerst gewiss und unzweifelhaft halten, dass uns dies durch mangelnde Beachtung der Vorschriften oder durch einen dem natürlichen Gedächtnis abträglichen Gesundheitszustand und Unvermögen zustößt, und dass es freilich unmöglich [ist], dass das Gedächtnis dessen, der diese Kunst sorgfältig befolgt, getäuscht wird.

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Galen, De usu partium 8, 14 Zitat nicht nachweisbar, cf. Carruthers/ Ziolkowski, The Medieval Craft of Memory, 2004, p. 246  f.

Junktur nicht nachweisbar, cf. jedoch Plato, Phaidros 276d cf. Aristoteles, De memoria et reminiscentia 450b6

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Que conferunt et que obsunt Memorie Sabinus Itacensis, qui Ypocratis libros commentatus est, mentis et memorie sedem tripliciter distinxit: Inter puppim enim et proram pineam mediam fecit, que cum memoria quippiam repetere instamus, patefacta a prora ad puppim spiritui animali aditum prestat. Hinc Proclum medice artis professorem dixisse commemorant: Ventriculum puppis nobiliorem. Numquam enim ad eum animalis spiritus nisi serenus, lucidus et clarus pertransit. Hic frigiditate immodica obtusus memoriam nostram ebetem et languidam reddit. Frigiditas vero humiditatem vel siccitatem sibi arcessre videtur: plerumque simplex frigiditas cum humiditate coniuncta letargum, cum siccitate insomnia et vigilias immodicas, ut in pueris et senibus patet. Hinc divinus ille Plato senectutem letargie matrem appellat, Aristarchus pueros [309v] et senes facile in morbos oblivionem et mortem delabi commemorat. Ad que propulsanda hec humane saluti conferentia excogitarunt: exercicium, balneum, potum, cibum, coitum et moderatum somnum. Spiritus enim et naturalis calor segnicie socordia et turpi ocio sopiti. Exercicio ante cibum a sensibus revocandi et excitandi sunt balneis, cibo et potu; ab exercicio remittendi et relaxandi sunt. Tristicia nonnumquam voluptate propulsanda et coitu leticia revocanda, insomnia et immodicus somnus nocturno moderatoque sopore relevanda sunt. Meridianus autem somnus (non consuetis presertim) evitandus est. Quod si diuturna consuetudine dormiendum, pedibus corio nudis somnum

4 pineam] pinea  L 6 Proclum] porculum L – 6 commemorant] commemorat  L 8 clarus] preclarus O 10 Frigiditas] Frigiditates O; Frigiditatem S,  L 10 arcessre] asscisscere S; asciscere O; assistere  L 10 videtur: plerumque] plerumque videtur plerumque O; plerumque videmus S,  L 11 cum] vel cum S; vero cum O 11 humiditate] seq. O, L; humilitate S 13 patet] parit S, L 17 exercicium] exercicium scilicet S, O, L 18 cibum, coitum] cibum cogitum S 19 et moderatum] moderatum L 19 calor] color Ink. 19 socordia] et vecordia Ink.; secordia O 19 turpi] turpe L 19 sopiti] consopiti S, O; consopita L 21 relaxandi sunt] relaxandi O 22 revocanda] pro[p]vocanda est ut vid. O; revocanda est S, L 23 moderatoque] modoracioque S 24 consuetis] consuetus L 24 Quod] Quia O; Quid L 25 dormiendum] existimabis Ink. 

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Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Was dem Gedächtnis zuträglich ist und was ihm schadet Sabinus Itacensis14, der die Bücher des Hippokrates kommentierte, unterschied den Sitz des Geistes und des Gedächtnisses auf dreifache Weise: Zwischen Hinterkopf (puppis) und Stirn (prora) machte er einen (Fichten-)Kern (pinea) in der Mitte, der, wenn wir irgendetwas aus dem Gedächtnis rufen möchten, geöffnet ist von der Stirn zum Hinterkopf und Zugang gewährt zum beseelten Geist. Daher führt man an, dass Proclus, der  Lehrer der Heilkunst, gesagt habe: ‚Dass die kleine Kammer des Hinterkopfs edler sei‘. Denn niemals durchdringt der beseelte Geist sie, außer, wenn er heiter, lichtvoll und klar ist. Der Geist macht, wenn er durch unmäßige Kälte abgestumpft ist, unser Gedächtnis schwerfällig und matt. Die Kälte jedoch scheint Feuchtigkeit oder Trockenheit zu sich zu stellen: meistens [bringt] die einfache Kälte mit Feuchtigkeit verbunden eine lethargische Person [hervor], mit Trockenheit [verursacht sie] Schlaflosigkeit und lange durchwachte Nächte, wie es bei Kindern und Alten ersichtlich ist. Daher nennt der göttliche Platon das Greisenalter die Mutter der Lethargie, Aristarchus15 sagt, dass Kinder und Alte leicht den Krankheiten, der Vergesslichkeit und dem Tod anheimfallen. Um dies abzuwehren, haben sie folgende [Maßnahmen] erdacht, die der menschlichen Gesundheit zuträglich sind: Übung, Bad, Trank, Speise, Beischlaf und maßvoller Schlaf. Denn der Geist und die natürliche Wärme werden durch träge Stumpfheit und schändliche  Muße eingeschläfert. Durch eine Übung vor dem Essen muss man sie von den Sinnen beleben lassen und durch Bäder, Speise und Trank anregen; nach der Übung sind sie zu entlasten und müssen sich erholen. Die Traurigkeit ist manchmal durch Lust zu vertreiben, wie die Freude wiederhervorzurufen ist durch den Beischlaf, Schlaflosigkeit und unmäßiger Schlaf sind zu lindern durch nächtlichen und maßvollen Tiefschlaf. Der mittägliche Schlaf aber ist zu meiden (besonders von denen, die ihn nicht gewohnt sind). Wenn nun durch tägliche Gewohnheit ein Bedürfnis nach ihm besteht, wirst du ohne Schuhe, mit

14 Sabinus von Ithaka (1. Jh. n. Chr.) verfasste einen Kommentar über die Schriften des Hippokrates (cf. Carruthers/Ziolkowski: The Medieval Craft of Memory. 2004, S. 246). 15 Die Zuordnung dieser Person ist unklar, entweder bezieht Publicius sich auf den Astronomen Aristarchos von Samos (3. Jh. v. Chr.) oder den Philologen und Prinzenerzieher Aristarchos von Samothrake (2. Jh. v. Chr.).

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

capies.  Membris enim sopore et alto somno solutis ad oculos et cerebrum nocuos vapores corii densitas reflectit. Caput mediocriter pro temporis ratione pannis contectum servabis. Ut enim inmensa frigiditas, sic immodica caliditas mentem stupore obtundit. Resupinam dormicionem renes supra bonum equumque calefacientem ut 5 mentis nostre infestissimam hostem vitabimus. Ea enim [310r] muliebri animo gratissima nocturnisque illusionibus et pollucionibus apta in latus faciemque viros quietem carpere admonet. Aristoteles, Oeconomica 1, 6 (1345a)

Ante lucem surgere et philosophie et sanitati conferre Stagirites philosophus auctor est.  Loco tamen et tempori inserviendum esse 10 Socrates edocet phisiceque medice artis professores testantur. Celi igitur regione infecta solis conspectum cubantes operire prestabat. Cum vero nive, concreta aqua et cana pruina terra obducta erit, frigiditatem omnem a nobis propulsandam veluti letargie et memorie pestem meminerimus. Haud procul igitur ab igne rerum calidarum 15 et odoriferarum corpora amiciemur vel in preclusa cellula ab aere et vento seclusa nos continebimus.

Meatus omnes corporis purgabimus spiritus et sensus ex creatu et motu excitabimus, eburneo inde pectine preduro asperoque panno caput confricabimus. Tum manibus et facie lotis sex uvas passas 20 aut totidem iuniperi baccas degustabimus, tum demum leni exercicio naturali colore excitato sive iantaculo tempestivum prandium

2 nocuos] nocuos pedum S, Ink; nocivos pedum  L 2 vapores… Caput] om. Ink. 2 corii] corei O 5 equumque] equum O 7 nocturnisque] nocturnis L 7 illusionibus] elusionibus Ink. 8 carpere] capere O 9 Stagirites] Stagrideus O; Stagerites L; Stragiriteris Ink. 9 philosophus] om. Ink. 10 inserviendum esse] inserviendum O; inservandum est L 11 phisiceque] phisice et S; phisicique et L 12 conspectum] conspectu O 12 operire prestabat] operiri prestabit L; om. S 13 cana] tanta O 14 et memorie] om. S 15 meminerimus] memimimus L 15 ab igne] abigitur L 16 odoriferarum] odoriferum O 16 amiciemur] amicientur O; amicemur L 17 seclusa] secluso S, O 18 omnes] omnis S 18 purgabimus] purgamus  L 18 spiritus] species  L 18 ex creatu et motu excitabimus] excitabimus screatu et motu O; excitabimus ex creatu et ructu L 20 confricabimus] fricabimus L 21 baccas] buccas Ink. 21 demum leni] demum levi S; levi L 22 colore] calore S; calce L 22 sive] om. L 22 tempestivum prandium maturabimus] tempestivo prandio nos accingemus L 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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nackten Füssen einschlafen können. Denn wenn die Glieder in Ruhe und tiefem Schlaf gelöst sind, dann lenkt das dicke Schuhleder die schädlichen Dämpfe zu den Augen und dem Gehirn. Den Kopf wirst du in maßvoller Weise, je nach den Umständen, mit Lappen schützend umwickeln. Wie denn große Kälte den Geist starr macht und abstumpft, so auch maßlose Hitze. Das auf dem Rücken liegende Schlafen, das die Lenden über das Gute und Billige hinaus wärmt, werden wir meiden wie den feindlichsten Gegner unseres Geistes. Denn er ist für einen weiblichen Geist sehr angenehm, passend für nächtliche Täuschungen und Samenergüsse, er mahnt Männer, auf der Seite und auf dem Gesicht Ruhe zu suchen. Aristoteles bezeugt, dass das frühe Aufstehen sowohl für das Philosophieren als auch die Gesundheit zuträglich ist. Sokrates lehrt, dass jedoch auf Ort und Zeit Rücksicht zu nehmen ist, und Lehrende der Physik und Heilkunst bezeugen es. In der Himmelsrichtung, die von Sonnenlicht durchtränkt ist, wäre es förderlich, die Ruhenden vor dem Anblick der Sonne zu schützen. Wenn freilich die Erde von Schnee, Eis und weißem Reif bedeckt ist, dann mögen wir daran denken, alle Kälte von uns fernzuhalten wie die Seuche der Lethargie und der [Gedächtnisschwäche]. Wir werden unsere Körper also bekleiden und uns nicht fern von der Glut warmer und duftender Dinge aufhalten, oder wir werden uns in einem verschlossenen Kämmerchen vor Luftzug und Wind verstecken und uns eingeschlossen halten. Alle Gänge des Körpers werden wir reinigen, Geist und Sinne durch Räuspern und Bewegung erneuern, wir werden den Kopf dann mit einem elfenbeinernen Kamm und einem sehr harten, rauen Lappen abreiben. Hierauf werden wir, nachdem Hände und Gesicht gewaschen sind, sechs getrocknete Weintrauben oder ebenso viele Wacholderbeeren verzehren, dann erst werden wir zu rechter Zeit ein zweites Frühstück zu uns nehmen, wenn durch eine leichte Übung oder Frühmahlzeit

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

maturabimus. Cuius primo ad stomachum mundanum appetitumque excitandum rebus subacetosis sive dulcibus utemur.  Leniora primo vina vel aqua mixta apponantur, ne vene [310v] hyantes vini vehementia sanguinem exurant. Cibariis calidis et siccis hoc ordine utendum est, ut elixis exempta fame assatis prandio – preter hispanorum consuetudinem – finem faciamus. Rebus naturaliter vel artificio stipticis os stomachi claudemus, ne fumositas e stomacho cibi ebulicione evaporans, mentem et ingenium obscurans somnum excitet. Natura vero stiptica:   mala, cottonium, pirum mespilium sorbe; artificio: amigdale, nuces thasie, prenestine basilice, iuglandes molusce, avellane, pinee, chariothe assateque, castanee, ficus et bancie ac preparatum coriandrum dicimus. A frigidis et humidis cibariis ut cerebro, medullis, petasane et aratorio ac vetusto bove abstinendum duces. Res acutas et fumosas ut raphanum, aleum, cepe, porrum in igne digestum ut memorie hostem propulsabis. Caput et pedes cum decoctione aque, in qua mellissa laurifolia et feniculi cane ferbuerunt, mundissimos servaberis. Ab immodico coitu Pitagoreorum sententia abstinebis. Noxios odores cerebrum ledentes evitabis, aromaticas res veluti ingenio conferentes nobis gratas carasque habemus. Exercitacionem nocturno crepusculo Pictagorium more celebratam maximo [311r] adiumento memorie mortalique menti et ingenio esse pernosces.

2 utemur] utimur  L 2 Leniora] Leviora S,  L 5 fame] famem S 5 assatis prandio] om. O 6 artificio] artificialiter O 7 claudemus] claudamus S 7 e stomacho] a stomacho  L 8 ebulicione evaporans] exbulicione vaporans Ink. 9–13 mala… dicimus] Coctana mespile sorbe assateque castanie ficus et bancie et preperatum Coriandrum  L 9 mala] om. S 9 cottonium] cottana S 10 mespilium] mespule S 10 sorbe] om. Ink. 10 amigdale] om. Ink., O 10–11 thasie… molusce] om. S 12 bancie] baccee S 13 dicimus] dicuntur S, O 13 petasane] petasone S, L 14 ac vetusto] et vetusto Ink. 15 aleum] alium S 15 cepe] sepe  L 16 hostem propulsabis] propulsat  L 17 in qua] in quo Ink; cum aqua L 17 feniculi] viniculi S 17 cane] canne S; came O; canue ut vid. L 17 ferbuerunt] ferbuerint S 17 mundissimos] mundissimo L 18 servaberis] servabis O; servatis L 19 evitabis] evitaberis Ink.; vitabis O 20 nobis] tibi L 20 habemus] habebimus S, O; habeas L 20 Exercitacionem] Exercitacione  L 22 memorie mortalique menti et ingenio esse] memorie mortalique menti et ingenio S; memorie mortalique mente O; esse L 

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Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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die natürliche Farbe hervorgerufen wurde. Wir werden zuerst, um den  Magen zu reinigen und den Appetit anzuregen, säuerliche oder süße Dinge genießen. Zuerst sollen mildere Weine oder mit Wasser gemischte Weine vorgesetzt werden, damit die Adern sich nicht öffnen und durch die Heftigkeit des Weins das Blut erhitzen. Warme und trockene Nahrung ist in dieser Reihenfolge zu genießen, so dass wir das Essen beenden, nachdem der Hunger – entgegen der Gewohnheit der Spanier – durch Gesottenes und Gebratenes gestillt wurde. Wir werden die Öffnung des Magens verschließen mit Dingen, die auf natürliche oder künstliche Weise verstopfend sind, damit der Dunst nicht durch Aufstoßen aus dem Magen strömt, den Geist und das Denkvermögen verfinstert und Schläfrigkeit hervorruft. Von Natur aus verstopfende Mittel [sind]: Äpfel, Quitten, Birnen, Mispeln, Speierling; nach Kenntnis der Kunst: Mandeln, Nüsse aus Thasos, Königsnüsse aus Praeneste, weiche Walnüsse, Haselnüsse, Fichtennüsse, getrocknete Datteln, Kastanien, Feigen, Banciae und vorbereiteten Koriander nennen wir. Du wirst darauf achten, dass man sich kalter und feuchter Lebensmittel enthalten soll, wie zum Beispiel Hirn, Mark, Schinken und [das Fleisch] des Pflugochsen und des alten Rindes. Scharfe und dampfende Dinge wirst du wie einen Feind des Gedächtnisses zurückweisen wie zum Beispiel Kohl, Knoblauch, Zwiebeln und Lauch, der im Feuer gegart wurde. Kopf und Füße wirst du mit einem Sud ausgezeichnet reinhalten, in dem Melisse, Lorbeerblätter und ein Maß Fenchel gekocht wurden. Nach der Ansicht der Pythagoreer wirst du dich von unmäßigem Beischlaf fernhalten. Schädliche Dämpfe, die das Gehirn beeinträchtigen, wirst du meiden, aromatische Dinge erachten wir als uns angenehm und teuer, gleich als ob sie dem Denkvermögen zuträglich [seien]. Du wirst deutlich bemerken, dass Übung, nach pythagoreischer Art in der nächtlichen Dämmerung, das größte Hilfsmittel für das Gedächtnis und den menschlichen Geist und den Verstand darstellen.

366  Constantinus Africanus, Liber de oblivione 27 Constantinus Africanus, Liber de oblivione 25 (“Et masticet origanum cum stafisagria aut radicem capparis”) cf. Constantinus Africanus, Liber de oblivione 230–231

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Arnaldus et Tiberides linguam upupe super obliviosum impositam memoriam restaurare asserunt.  Mentis obtusio sinapi, piperis castoreique sternutacione organi, straphizagrie ac radicis capparis masticatione levatur. Cathaplasma, antidotum, unctiones, pillulas sane mentis medicis 5 relinquendas non iniuria perhibent: Sternutamentum e felle gruis et oleo sambuco letargicum sanare Constantinus Affer auctor est. Gaudium moderatum moderataque oblectatio memorie plurimum opis affert. Democritus, Archigenes, Alexander Peripatheticusque Andronicus plurima menti conferentia monumentis litterarum tra- 10 didere, que litteris commendare non gravarer nec industria et consilio probati medici indigere cognoscerem.

De vi mentis perscrutanda Mentis nostre vim ingenii et diuturnam memorie tenacitatem veluti prefixum mentis terminum nosse op

ortunum est. Ad 15 qu cum ventum fuerit, que firmiter impressa tenere cupimus, iugiter memoria repetemus. Non enim naturam artificio nec artem nature prestare [311v] exploratissimum habemus. Nam et que naturali memoria percepimus et que arte memorie commendamus, in prefixo spacio repetita fuerint, fluxa veluti et caduca excident. 20

1 Arnaldus] Arvalidus Ink. 1 obliviosum] obliviosam O; oliviosam S 1 impositam] impositum L 3 castoreique] castordi et L 3 sternutacione] starnitacione O; starnucione S 3 organi, straphizagrie ac radicis capparis masticatione] om. L 3 straphizagrie] stratisagrie S 5 medicis] viris medicis L 6 Sternutamentum] Starnutamentum S, O; Starmitamentum Ink. 7 sambuco] sambucci S; sambaco O, Ink. 8 Gaudium] Grandium Ink. 9 affert] aufert Ink. 9 Democritus… cognoscerem] om. L 11 nec] nisi S 12 cognoscerem] cognoscerem. De perscrutanda vi mentis O 14 Mentis] Mentis tamen L 15 nosse op

ortunum] nosce preclarum L 16 qu] quem S, O, L, Ink. 16 ventum] vetum O 17 repetemus] repetumus O; reputemus L; reperiemus Ink. 19 commendamus] commendavimus S, L 20 spacio] spacio non L 20 excident] excident. De locis commenticiis O; exciderunt L 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Arnaldus16 und Tiberides17 erklären, dass die Zunge eines Wiedehopfs, über einen Vergesslichen gelegt, das Gedächtnis wiederherstellen. Die geistige Abstumpfung wird gemindert durch Niesen, das durch Senf, Pfeffer und Bibergeil hervorgerufen wurde, [und] durch den Verzehr von Oregano, Stephanskraut und der Wurzel der Kaperstaude. Sie sagen allerdings nicht zu Unrecht, dass der Breiumschlag, das Gegengift, Salben und Pillen den vernünftig urteilenden Medizinern vorbehalten seien: Nach Constantinus Afer ist das von der Galle des Kranichs und Holunderöl verursachte Niesen in der Lage, einen Lethargischen zu heilen. Gemäßigte Freude und gemäßigter Genuss bringen dem Gedächtnis die größte Unterstützung. Demokrit, Archigenes, Alexander Peripateticus und Andronikus18 gaben in ihren schriftlichen Werken sehr vieles an, was dem Geist zuträglich ist. Ich würde mich nicht damit belasten, dies meinen Aufzeichnungen anzuvertrauen, [wenn] ich denn nicht wüsste, dass es der beharrlichen Tätigkeit und des Ratschlag eines tüchtigen Mediziners bedürfte. Über die Erforschung unserer geistigen Kapazität Es ist dienlich, die Kraft unseres Geistes, [unserer] Begabung und Merkfähigkeit zu kennen wie eine vorherbestimmte Grenze des Denkvermögens. Wenn wir dazu gelangt sein werden, werden wir uns sofort an das erinnern, was wir sicher eingeprägt haben und festhalten wollen. Wir halten es nämlich für äußerst gewiss, dass weder die Natur die Kunst noch die Kunst die Natur übertrifft. Denn sowohl, was wir mit dem natürlichen Gedächtnis erfasst haben, als auch, was wir mithilfe der Kunst dem Gedächtnis anvertrauen, wird in einem abgeschlossenen Raum wiedergefunden werden, die zerfließenden Inhalte werden jedoch gleichsam entfallen und entschwinden.

16 Möglicherweise ist der Arzt und Laientheologe Arnaldus von Villanova († 1311) gemeint, der jedoch in seinen Werken diese ‚Therapie‘ nicht erwähnt. Cf. Carruthers/Ziolkowski: The Medieval Craft of Memory. 2004, S. 248. 17 Die genannte Person ist der Arzt al-Tabari (9. Jh.), der bei Constantinus Afer als ‚Tiberides‘ angeführt wird. Die erwähnte Behandlungsmethode wird al-Tabari zugeschrieben und ist indirekt überliefert; cf. Carruthers/Ziolkowski: The Medieval Craft of Memory. 2004, S. 248. 18 In dieser Reihe werden philosophische und medizinische Autoritäten zusammengefasst: Archigenes (um 100 n. Chr.) war als Arzt bekannt, der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias (um 200 n. Chr.), Andronikus von Rhodos (1. Jh. v. Chr.) und Demokrit (um 460–371 v. Chr.) als Philosophen.

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De locis comenticiis Non nihil nobis opis commenticia etiam loca affere usu compertum est, si distincto ordine, sedium ratione, excogitata erunt, ne fulgida splendescant vel obscura opacitate obtecta prorsus latitent, sed distincta et clara, ut sequenti figura evidens est, locorum multitu- 5 dinem apertam nobis prebeant. Ceterum quidem de ordine, lege, precepcione, qualitate, inventione, dissimilitudine, numero, locorum impressione, memorie corroboracione, abolicione, exercitacione, ingenio conferentium et commenticiorum locorum cognicione dicentes satis huius primi 10 libelli magnitudo crevit, commodius reliquis de rebus in sequenti volumine dicendum censuimus.

Liber secundus de adiunctione [313r]  Magnam nobis immensam et pene divinam commoditatem rerum et litterarum adiunctionem afferre periculo iam comproba- 15 tum est. Cum autem ymago in homine aut obliqua linea sensim ducta aut littera pro orbis cardinibus versa novas primis adiciet figuras vel cum res integre tractim ducte comminuteque perscribendarum partium, additamentum nobis suppeditabunt. Sagaci enim exquisitaque arte verse, divise, tracte et iuncte litteras litte- 20 ris connectent, exitum rerum aperient atque significabunt. Si enim

2 nobis opis] nobis O 2 loca] loca opis O 2 compertum] comprobatum O 6 apertam] aptam S, O 7 quidem] quoniam S; quomodo O 8 dissimilitudine] dissimulacione  L 8 numero] numerorum S 8 locorum] locorum­ que  L 9 abolicione] om.  L 9–10 exercitacione… dicentes] conferenciam et exercitacione dicentes  L 10 commenticiorum locorum] comenticiis locis S 10 cognicione] om. Ink. 11–12 libelli… censuimus] libri magnitudo crevit commodius reliquis de rebus in sequenti volumine dicendum censimus S; libelli magnitud ruit Comodius reliquis de rebus in sequenti volumine dicendum censimus Finis primi libri O; voluminis magnitudo crevit de adnumeracione commodius in secundum dicendum putamus L 13 Liber secundus] Secundus liber hab. O 16 autem] aut O 16 ymago] ymagine O 16 obliqua linea] in linea obliqua O 18 perscribendarum] prescribendarum Ink.; per prebendarum O 20 exquisitaque] acquisitaque Ink 20 divise] nec divise Ink. 20 iuncte] adiuncte S, O 20 exitum rerum aperient] om. O 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über erfundene Örter Die praktische Erfahrung zeigt, dass auch erfundene Örter uns einige Hilfe verschaffen, wenn sie in einer unterscheidbaren Reihenfolge hinsichtlich der Bereiche erdacht sein werden, damit sie nicht blitzend glänzen oder, dunkel und von Schatten bedeckt, ganz und gar verborgen sind, sondern deutlich unterschieden und hell, damit sie uns, [wie] aus der folgenden Abbildung ersichtlich ist, die Vielzahl der Örter offen zeigen. Im Übrigen ist ja doch der Umfang dieses ersten Büchleins genügend angewachsen, indem wir über die Ordnung sprachen, die Regel, die Vorschrift, die Qualität, die Auffindung, die Verschiedenheit, die Zahl, das Einprägen der Örter, die Stärkung des Gedächtnisses, die Aufhebung, die Übung, die Vorstellung derjenigen Örter, die dem Denkvermögen zuträglich und erfunden sind, und wir waren der Ansicht, dass über die übrigen Dinge zweckmäßiger im folgenden Abschnitt zu sprechen sei. Das zweite Buch: Über die Hinzufügung Es hat sich durch Erprobung bereits bestätigt, dass die Hinzufügung von Inhalten und Buchstaben uns eine große, unermessliche und beinahe göttliche Erleichterung verschafft. Wenn aber das Bild in einer Menschenfigur [vorliegt], wird es neue Gebilde den ersten zufügen  – entweder durch eine kaum merklich gezogene, diagonale Linie oder einen Buchstaben, gewendet gemäß den Wendepunkten der Scheibe –, oder wenn die vollständigen Objekte der aufzuzeichnenden Teile dehnend gezogen und zerkleinert werden, dann werden sie uns eine zusätzliche Hilfe geben. Durch diese scharfsinnige und vorzügliche Kunst gewendet, verteilt, gezogen und verbunden werden sie die Buchstaben mit den Buchstaben verbinden, den Ausgang der Dinge eröffnen und anzeigen. Wenn du nämlich

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ad solis ortum et terre centrum litteram vertes B, ad occasum vel celum C, ad diem medium D, ad septentrionem F, sibi iungit vocalis. Consona eodem ordine servato vocales liquidasque anectet. Caput obliqua linea circumductum hac variabimus figura quadrati, [313v] 5 divide per altum s, longumque per r, crux t distinguit, l m n corona variabit. Complices idemtidem media diversa ac finges: Argolicos enses hiberaque tela et gentium. [331v] Diversarum quoque nacionum littere veluti nove nobis et ignote figure cum plurimum mentem et in recordacionem excitant. Grecas hinc litteras hic subi- 10 cere consilium fuit, ut diversarum figurarum ratione mentem facilius levare possimus.

Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa-IIae, Q. 49,2

Incipit liber tercius de ymaginibus [332r] Cum locorum coniunctique et litterarum rationem superioribus libris aperuerimus, reliquum esse videtur, ut de imaginibus hoc 15 tercio libro disseramus. Simplices enim speciales intentiones nulla corporea similitudine adiute e memoria quam primum elabuntur. Eam nos imagine, signis et insigniisque commoditatem

1 et] om. Ink. 1 litteram] litteras S; om. O 1 vel celum] om. S, O 2 iungit] iunget S, O 3 anectet] annectat Ink. 4 circumductum] circumductim Ink.; circumductam O 4 hac variabimus] hic variabimus O; variabilis Ink. 4 quadrati] quderati Prima tenet centrum secunda medium tercia meridiem quarta septentrionem S; quae daturum Ink.; quadrati rerum exitum aperiant O 6 distinguit] distinguet S 7 variabit] variabit L; ferrea M; papiria N; rosea notatur ultimis istis preceptis utendum censes maxime si aliqua istarum litterarum a consonante in eadem sillaba trahatur S 7–8 Complices… gentium] om. S 7 diversa ac] diverso ac varia O 8 et gentium] om. O 9 nacionum] nacionum et gencium S, O 9 nobis] om. O 10 et in] in S, O 10 excitant] exitent S 10 hinc] hic S 10 hic] sic S; om. O 11 ratione] om. Ink. 12 possimus] possumus Ink.; possumus. Explicit secundus liber O 13 Incipit liber tercius] hab. O 14 et litterarum] om.  L 14 superioribus libris] superi libro  L 15 reliquum esse videtur] Reliqui esse videtur S; iam nunc reliquum esse videbitur  L 15 hoc] om. L 16 libro] libello S 16 disseramus] disseravimus L 16 speciales] spiritualesque S, Ink., O 17 corporea] corpore  L 17 e memoria] a memoria L 17 quam primum elabuntur] cuiuspiam elabentur L 18 et insigniisque] insignisque S; insigniisque O 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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den Buchstaben B in Richtung des Sonnenaufgangs und des Erdmittelpunktes drehst, in westlicher Richtung C, in südlicher Richtung D, in nördlicher Richtung F, [dann] verbindet der Vokal sich [mit Konsonanten]. Wenn man dieselbe Ordnung bewahrt, wird der Konsonant sich mit Vokalen und Liquiden verbinden. Den Kopf [einer Figur], mit einer diagonalen Linie umfahren, werden wir durch die geometrische Figur des Quadrats abwandeln. Teile nach der Höhe das s und nach der Länge das r, das Kreuz macht das t kenntlich, die Krone wird l, m und n auszeichnen. Du sollst das Mittlere in verschiedener Gestalt immer wieder verbinden und du wirst bilden: „Argolische Schwerter und auch iberische Geschosse der Völker“19. Auch die Alphabete verschiedener Nationen, die uns gleichwie neue und unbekannte Figuren vorkommen, rufen den Geist zur Wiedererinnerung auf. Daher habe ich beabsichtigt, griechische Buchstaben hier unten anzufügen, damit wir durch die Methode verschiedener Figuren den Geist leichter unterstützen können. Drittes Buch: Über die Bilder Weil wir in den vorherigen Büchern die Methode der Buchstaben, der Kombinationen und der Örter eröffnet haben, scheint noch übrig zu sein, dass wir in diesem dritten Buch die Bilder besprechen. Denn einfache und spezielle Ideen werden, wenn sie durch keine körperliche Ähnlichkeit unterstützt werden, ehestens dem Gedächtnis entfallen. Diesen Vorteil werden wir uns durch ein Bild, durch Zeichen

19 Zitat nicht ermittelt.

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nos comparabimus. Est autem ymago forme cum forma, signi figure vel insignii similitudine quadam collacio. Hec ridiculi motus, mirabilis gestus, trucis crudelisque vultus, stuporis, tristicie et severitatis plena esse debent. Magna quippe incredibilia, invisa, nova, rara, inaudita, flebilia, egregia, turpia, singularia ac pervenusta menti et 5 memorie nostre ac recordationem plurimum conferunt. Vehementius enim humanos sensus humanamque mentem extrema quam media excitant. Eius rei ratio multiplex est: signum enim duodecim partibus resolvitur, quarum prima effictio dicitur.

Ea est, cum corporis facies certis describitur signis, ut sic senem hic 10 artis gratia effingamus: tremulum et incurvum, gementem labiis dimissis, incano mento iam mucidum nasum tergentem. [332v] E contrario leta iuventus excogitabitur: corporis nostri pulcritudo et feditas sic indagabitur, ut colli longitudo, capillorum digitorum et totius corporis proceritas admirationem nobis et stuporem prestet; 15 naris, oris, aurium, mamillarum, ventris pedumque brevitas his ornamentum prestet. Si qua latent, meliora putes, frontis, oculorum pectorisque amplitudo et dignitas eis honestamento accedat, vox sexui correspondeat. Collum et teretes digiti venustatem et lon-

1 nos comparabimus] nos oparabimus S; nobis comparabimus O, L 1 autem] enim L 1 forme cum] forma cum L 1 signi figure] figure L; figure signi O; figura Ink. 2 vel] cum L 3 et severitatis] deiuntatis ut vid. L 5 ac] om. L 6 recordationem] recordacioni S, L 8 enim] enim in S 9 prima] primo S 9 effictio] effectio O 10 est] om. S 10 certis] om.O 10 senem hic] senem O; senem huius S, L 11 effingamus] effingimus L 11 tremulum et] tremulum S, O; tremulum ingementem L 11 incurvum] om. L 12 incano mento] mento cano L 12 iam] om. L 13 iuventus excogitabitur] iuventa excogitabitur et cetera S; iuventa excogitabit L 14 sic] om. L 14 ut] vel L 14 capillorum] capillorum et O 14 digitorum] digitorum longitudo O 15 totius] om. O 15 prestet] prestat O; prestant Ink. 16 aurium] auris O; aureum L 16 mamillarum] maxillarum L 17 prestet] prestant O, Ink.; om. L 17 qua] qui L 17 latent, meliora putes, frontis] meliora latent putes frontis O; latent, moliora putas frontis S 18 eis] om. S 19 teretes] teretas S; terides O; therites Ink. 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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und Kennzeichen verschaffen. Ein Bild ist aber eine Verbindung einer Form mit einer [anderen] Form, [auf Grund] einer gewissen Ähnlichkeit der Figur, des Zeichens oder Kennzeichen. Diese [Bilder] müssen voll lächerlicher Bewegung sein, wunderlicher Gebärde, grimmiger und grausamer Mienen, Staunen, Traurigkeit und Heftigkeit. Großes freilich und Unglaubliches, noch nie Gesehenes, Neues, Seltenes, Ungewöhnliches, Beweinenswertes, Außerordentliches, Schändliches, Einzigartiges und sehr Reizendes fördern am meisten unseren Geist, unser Gedächtnis und die Wiedererinnerung. Heftiger denn erregt das Extreme als das Mittlere die menschlichen Sinne und den menschlichen Geist. Die Einrichtung dessen ist vielfältig: Denn das Zeichen lässt sich in zwölf Teile zergliedern, deren erster Nachbildung (effictio) genannt wird. Diese liegt dann vor, wenn die äußere Beschaffenheit des Körpers mit bestimmten  Merkmalen beschrieben wird, lasst uns hier zum Beispiel, um der Kunst willen, einen Alten auf diese Weise veranschaulichen: zitternd und gekrümmt, seufzend, mit schlaffen  Lippen und ergrautem Kinn, bald die rotzige Nase wischend. Im Gegensatz [dazu] wird man die fröhliche Jugend erfinden: Die Schönheit und Scheußlichkeit unseres Körpers wird so umrissen werden, dass die Länge des Halses, die Feinheit der Haare, der Finger und des ganzen Körpers bei uns Bewunderung und Staunen auslöst, und dass die Kleinheit der Nase, des Mundes, der Ohren, der Brüste, des Bauchs und der Füße ihnen Schönheit verleiht. Wenn irgendetwas sich verbirgt, soll man es für vorzüglicher halten, [und] die Hoheit und Ansehnlichkeit der Stirn, der Augen und der Brust möge ihnen zum Schmuck dienen, die Stimme soll dem Geschlecht entsprechen. Der

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Publius Terentius Afer, Heauton timorumenos 1061  f.

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giora brachia dignitatem afferant. His rubicundule maxille et ora vernantia rosis puniceaque labia addantur. Manuum pectorisque, colli et oris candor, supercilii oculorum torquis et vestium nigredo, modestus incessus, preclara fama et prestans virtus his corporis bonis addatur. Hinc Affer poeta virginem vituperans: ruffam cesiam 5 sparso ore, aduncis naribus contempnit. His similibusque commentacionibus latentes rerum ymagines latentiaque signa iugi exercitacione nobis vendicabimus.

De Notacione Accedit secunda signi species nobis quoque notacio [333r], qua 10 naturales affectus in medium afferimus. Sic enim cuiusque etatis et animalis cuiusque passiones evolvamus: voracem lupum, tumidas dammas timidosque lepores caprasque fugaces, leta iuventus, tristis senectus, prodiga adolescentia, avarissime mulieres, liberales viri dicunt. Huic rei diffinicionum ratio plurium opitulabitur nec 15 minus poetice descripciones. Si quis enim famis qualitatem ignorat, hos perpauculos Nasonis versus lectitet:

1 afferant] afferunt Ink. 1 rubicundule] rubicundicule L 1 ora] om. S 2 labia] lilia  L 2 pectorisque] pectoris et S; pectoris O,  L 3 colli et] om. S 4 modestus] modesta L 4 prestans virtus] bis Ink. 5 addatur] additur L 6 ore] ore aut L 6 naribus] manibus Ink. 7 latentes] latitantes S 7 latentiaque] latitanciaque S 8 vendicabimus] vendicabimus. Sequitur figura ymaginum senectutis et iuventutis O; vendicamus L 10 species nobis quoque] speciesque L 10 qua] quia  L 11 affectus] effectus S 11 afferimus] afferamus O 12 cuiusque] cuiuslibet S, O,  L 12 passiones] passionis Ink. 12 evolvamus] evolvemus S, O,  L 12 voracem] feracem S; voraces O 12 lupum] lupos O 12 tumidas] tumidos O; tumida Ink.; timidas S 13 timidosque] tumidos O 14 prodiga] prodigia Ink. 15 dicunt] dicuntur S, L, Ink. 15 diffinicionum] diffinicionem Ink.; diccionum O 15 opitulabitur] opitulatur S; epitulatur L 17 enim] autem Ink. 17 famis] fame L 17 ignorat] ignoret S, L 17 perpauculos] hab. Ink.; per paucos perpauculos L 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Hals und die schlanken Finger mögen Schönheit hinzufügen und die langen Arme Ansehnlichkeit. Es sollen ihnen ein leicht gerötetes Kinn, ein blühender Mund und Lippen, die von Rosen purpurrot gefärbt sind, gegeben sein. Diesen Vorzügen des Körpers mögen ferner das blendende Weiß der Hände und der Brust, des Halses und Gesichts hinzugefügt werden, die Rundung der Augenbrauen und der Augen und die Schwärze der Gewänder, ein sittsamer Gang, ein ausgezeichneter Ruf und vortreffliche Tugend. Daher tadelt der Dichter Afer (Publius Terentius Afer) eine junge Frau: „eine rothaarige, katzenäugige Frau mit Sommersprossen und gekrümmter Nase, die verschmäht er“. Durch diese und ähnliche Kennzeichnungen werden wir uns in beständiger Übung persönliche Bilder und Zeichen der Dinge schaffen. Über die Bezeichnung Es folgt die zweite Gestalt des Zeichens, für uns auch die Bezeichnung (notatio), durch die wir natürliche Empfindungen in den Mittelpunkt stellen. So nämlich sollen wir die Anlage eines jeden Alters und Lebewesens ermitteln: man nennt den Wolf gefräßig, die Gemsen feist und die Hasen ängstlich, die Ziegen flüchtig eilend, die Jugend fröhlich, das Alter traurig, das Jünglingsalter verschwenderisch, die Frauen raffgierig, die  Männer freigebig. Dabei wird eine  Methode, die sich mehrerer Definitionen bedient, helfen und ebenso poetische Beschreibungen. Wenn nun aber jemand die Beschaffenheit des Hungers nicht kennt, so möge er diese wenigen Verse des Naso (Publius Ovidius Naso) mit Aufmerksamkeit lesen:

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Ovid, Metamorphosen 8, 799  f; 803–808

Vergil, Aeneis 4, 180–183 Ovid, Metamorphosen 2, 776, 769; 776, 778 cf. Ovid, Metamorphosen 11, 593–615

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Quesitamque famem lapidoso invenit in agro, Unguibus et raris vellentem radicibus herbas […]. Dura cutis per quam spectari viscera possunt Ossa sub incurvis extabant arida lumbis Ventris erat pro ventre locus pendere putares Et pectus a spine tantummodo crathe teneri. Auxerat articulos macies genumque tumebat Orbis et immodico prodibant tubere tali.

5

Quod si quem fame ymago latitat, Virgilium quarto Aeneadum et Ovidium octavo lectitet eam: Pedibus celerem et pernicibus alis, 10 cui quot sunt corpore plume, tot vigiles oculi, tot lingue, totidem ora sonant, tot surgunt aures. Invidia infelix sic a Nasone [333v] describitur, ut liveant rubigine dentes, vipereas exedat carnes, nusquam recta sit oculorum acies, risus abest, nisi quem alii fecere merendo. Somnii effigiem excogitavit: Domum enim ei obscuram confe- 15 cit, latrans omnis canum vigilque ales abest, decursus sonusque aquarum raucus, papavera et lectus ex ebeno compactus, ipsum deum procumbentem ad somnum incitant. Quibus rebus sepe latitantia signa, horum exemplo, excogitare et adinvenire facile poterimus. 20

1 famem] famam Ink. 1 lapidoso] lepidosa  L 1 invenit] venit  L 1 in agro] agro O 3 quam] quem L 4 extabant] extabunt Ink. 5 ventre] ventro O 5 putares] putare L 7 tumebat] tumebant O; timebat L 8 tubere tali] turbem tali L; †cune† tubere tali viri Ink. 9 fame ymago latitat] fame tali tumebant ymago latitat O 9 Virgilium] Vergilius  L 9 et] om.  L 10 octavo] nono  L 11 cui] cum L 11 quot] quod S 12 surgunt] surrigit O, L 13 ut] om. L 13 liveant] lineant O, L; leniant Ink. 13 vipereas] vipperes O; Vipperas Ink. 13 exedat] exodit Ink. 15 effigiem excogitavit] effigie excogitavit Ink.; effigiem eggregie excogitavit S, O; effigie egregio excogitavit L 15 confecit] conficit L 16 latrans] aqua latrans S, O; a qua latratus L 16 canum] canis L 16 decursus] fluxus L 17 ex ebeno] Ebino  L 18 procumbentem] percumbentem Ink. 18 latitantia] letancia L 19 excogitare] cogitare S 19 adinvenire] advenire O 19 poterimus] poterius O 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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„Und sah nun dort auf steinigem Feld den gesuchten Hunger mit Nägeln und Zähnen die dürftigen Kräuter sich rupfen. Hart seine Haut, man konnte durch sie die Geweide erkennen. Dürr über hohlen Lenden heraus ihm starrten die Rippen, statt des Leibes – Raum für den Leib. Die Brust schien zu hangen, so, als würde sie nur von den Wirbeln des Rückens gehalten. Größer macht die Gelenke die Magerkeit, quellend der Kniee Scheiben, unmäßig treten hervor die kantigen Knöchel“.20

Wenn aber einem das Bild der Fama fehlt, so möge er mit Aufmerksamkeit das vierte Buch der Aeneis Vergils und das achte Buch Ovids lesen: sie ist „schnell zu Fuß mit hurtigen Flügeln, […] so viele Federn ihr wachsen am Leibe, so viele wachsame Augen […], Zungen und tönende  Münder so viel und lauschende Ohren“. Der unselige Neid wird so von Naso (Publius Ovidius Naso) beschrieben, wie [z.B.] „es faulen greulich die Zähne“, „und Vipernfleisch essen“, „nie ein gerader Blick“, „das Lachen fehlt, wenn nicht“ andere jemanden verdientermaßen [zum Gespött] machten. Das Abbild des Traums erdachte er so: er schuf ihm nämlich ein dunkles Haus, jeder bellende Hund und wachsame Vogel ist fern, der Klang des Wasserfalls und der Wasser ist dumpf, [es wächst] Mohn und das Bett ist aus Ebenholz gezimmert, sie reizen selbst einen Gott, wenn er sich niederlegt, zum Schlaf. Diesem Beispiel folgend werden wir die oftmals verborgenen Zeichen leicht ausdenken und finden können.

20 Zitiert wird die Übersetzung von Erich Rösch in der Tusculum-Ausgabe: Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Hg. von E.R. 12. Aufl. Darmstadt 1990.

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cf. Lactantius, De opificio Dei 8, 6 cf. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum, 11, 2; cf. Lactantius, De opificio Dei 12, 16 cf. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum 11, 2 cf. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum 10; cf. Lactantius, De opificio Dei 12, 16

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De Ethimologia Ethimologie cognicio plurimum inquirendis ymaginibus et signis confert. Philippus si imaginem suam dure nobis prebeat, ethimologie et nominis sui ductu similitudinem facile accomodabit: a philos enim, i.  e. amor, hippus equus dictum habet et hoc est amator 5 equorum. Hieronimus sancta lex, Jacobus colluctator interpretatur. Frons a foramibus, oculus ab oculendo ab iniuriis ductum habere Varro asserit. Calamitas ab excussione calamorum, mulier a mollicie, femina ab obstrusa sui corporis parte unde et [334r] feminalia dicta 10 sunt, vir a virtute, homo ab humo (quod etiam antiquorum theologia Promethei ratione comprobat) originem ducit. Pauper rebus suis contentus non est, miser nihil habet, egestas eorum est, qui opes suas sine ratione gesserunt, penuria, quod nos pene urat, inops omni ope caret. Econverso pecuniosus pecoribus, locuples 15 locis, dives pecuniis, opulentus opibus affluit, felix secundo sidere natus, ad quem constellacione bona provenerunt, beatus beatitudine et fortunatus casu et fortuna bonis auctus. Qua de re dicere non gravemus, nisi alio libro a nobis deducta dictum esset.

cf. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum 1, 29

2 cognicio] coniunccio ut vid. L 2 inquirendis] in inquirendis S 3 suam] exp. S 4 similitudinem] similitudine L 4 a philos enim] a potu enim philos S; enim philos O; Attilon enim philos L 5 i.  e. amor] idest amore et S 5 dictum] ductum S 5 et hoc est] hoc est S; hoc L 7 Frons] Frontem S 8 foramibus] foraminibus L 8 oculus] oculos S 8 ab iniuriis] om. L 9 excussione calamorum] excusacionis calamo Ink. 10 femina ab obstrusa] feram a abstrusa L 13 qui] que Ink. 15 ope] opere Ink. 15 pecoribus] pectoribus S 17 constellacione bona] constellaciones bono L 17 provenerunt] provenere S, O, L 17 beatus] Beatus a L 17 beatitudine] beatitudine et divina providencia S; beatitudine et divina prdencia auctus O; beatitudine et divine providencia auctus L 19 gravemus] gravarer S; gravaremur O, L 19 a nobis deducta] deductu a nobis L, Ink.; ductu a nobis O 19 dictum] ductum L, Ink. 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über die Etymologie Die Kenntnis der Etymologie trägt sehr viel zur Suche nach Bildern und Zeichen bei. Wenn in ungünstiger Weise ein ‚Philippus‘ uns sein Bild sehen ließe, wird er leicht eine Ähnlichkeit verwenden, geleitet von der Etymologie und seinem Namen: Von philos nämlich, das ist amor,21 hippus meint equus, und dies ist der Pferdefreund. ‚Hieronymus‘ übersetzt man mit ‚Gesetz‘, ‚Jacobus‘ mit ‚Ringer‘. Varro erklärt, dass ‚Stirn‘ (frons) von ‚Öffnung‘ (foramen) hergeleitet sei, das Auge (oculus) vom Verschließen vor Unrecht (oculendo ab iniuriis). Der Schaden (calamitas) wird nach dem Ausschütteln des Schreibrohrs benannt (excussione calamorum), die Frau (mulier) nach der Weichheit (mollities) und die Frau (femina) nach dem verborgenen Teil ihres Körpers [feminal], von woher auch die Beinkleider (feminalia) benannt sind, der Mann (vir) leitet seinen Ursprung von der Tatkraft her (virtus), der Mensch (homo) – was auch die Religion der Alten bestätigt durch die Klugheit des Prometheus22 – von der Erde (humus). Der Arme (pauper) ist mit seiner Lage (rebus) unzufrieden, der Elende besitzt nichts, die bittere Armut (egestas) ist bei denen, die ihren Reichtum unvernünftig verwaltet haben (gesserunt), der Mangel (penuria), weil er uns sozusagen verbrennt (pene urat), der  Mittellose (inops) entbehrt jeder Unterstützung (ope). Andererseits besitzt der Bemittelte (pecuniosus) Vieh in Fülle (pecoribus), der Wohlhabende (locuples) Güter (locis), der Reiche Geld, der Mächtige (opulentus) Macht (opibus), der Glückliche ist unter einem günstigen Stern geboren, dem durch die Gestirnkonstellation Güter zuteilgeworden sind, der Gesegnete (beatus) ist durch Glückseligkeit (beatitudine), der Glückliche (fortunatus) durch den Zufall und das Glück (fortuna) durch Güter bereichert worden. Diese Sache vorzutragen wäre uns nicht lästig, wenn unsere Herleitungen nicht bereits in einem anderen Buch besprochen worden wären.

21 eigtl. ὁ φίλος, ‚Freund, Vertrauter‘. 22 Prometheus galt als Sohn des Titanen Iapetos und der Klymene, er soll Menschen aus Lehm geschaffen haben (Ovid: Metamorphosen, 1, 83).

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Ennius, Annalium fragmenta 2, 140

Vergil, Georgica 1, 342 Ovid, Metamorphosen 2, 28

 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

De Onomatopoa Nonnihil etiam, ad hanc rem opis onomathopeya nobis affert, id est cognicio verbi e sono vocis ducta. Sic Ennius: taratantara dixit, equi hynnitus mugitusque boum balatumque gregem, strix nocturna et vespertilio stridit, bombitus apium, grus gruit, crastinat corvus, tu 5 cornu voce notatur, barritus a barro, ululant [334v] ulule, pipant accipitres et alia, que plurima usu et consuetudine vocis sonitu ymagines prebebunt.

De effectu rerum Rerum effectus nonnumquam notare et colligere preclarum 10 est, cuius ope plurima mente tenus commendare valeamus. Sic mensium nomina colligemus, ut  Martem bello deditum, Ap[p]rili mense omnia aperiantur, pullulent et gemmas explicent flores et vites, Maius floribus redundet, Junius herbis et frondibus. Hinc Virgilius: 15 Tunc somnii dulces denseque in montibus umbre Omnia nunc florent. Julius segetibus ornetur – hinc Ovidius: Stabat nuda estas et spicea serta gerebat. Augusto omnes adhuc fructus accrescunt, September dulces 20 habet uvas dulcesque affert fructus, October sorbas et mespulas,

1 Onomatopoa] onomatopeia S 2 etiam] enim  L 2 id est] idem Ink. 3 verbi] ubi Ink.; om. L 3 e sono] a sono L 3 ducta] ductu L 3 Ennius] eminus Ink.; enim O 3 dixit] dicit L 3 equi] eque L 4 balatumque] balatus­ que S 5 stridit] stridet O; strident Ink. 6 cornu voce] cornu vocis L; corvo voce Ink. 6 notatur] nota O 6 barro] barroo L 6 ulule] aves ululue O 6 pipant] pitant Ink.; pipiant  L 7 alia] aliqua O; aliaque  L 7 que] om.  L 7 plurima] plurima sunt O, L, Ink. 8 prebebunt] prebeant L 11 mente tenus] medetinus S 12 ut] in L 12 deditum] prediti L 13 aperiantur] apperiant S; apperencia O; aperiuntur Ink. 13 pullulent] pollulent S; pullulant O; pululant L 13 explicent] explicant O 13 flores et vites] om. S 14 redundet] redundat Ink. 14 frondibus] floribus L 16 somnii] sompni L; somni S 18 Julius] Junnius frumenta et vites florere faciat Julius S 19 Stabat nuda] stabit unda ut vid. L 19 serta] certa L 21 uvas] nuces Ink. 21 affert] aufert L 21 sorbas] sorbes O, Ink. 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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Über die Onomatopöie Einige Unterstützung leistet uns in dieser Sache auch die Onomatopöie, das ist die Kenntnis des Wortes, die aus dem Klang des Lautes abgeleitet ist. So schreibt Ennius: ‚Taratantara tönte sie‘, das Wiehern des Pferdes und das Brüllen der Rinder, das Blöken der Herde, die nächtliche Eule (strix) und die Fledermaus schwirren (stridit), das Summen der Bienen, der Kranich ruft (grus gruit), der Rabe kräht am Morgen (crastinat corvus), mit ‚tu‘ wird ein klangvolles Horn bezeichnet, das Gebrüll des Elefanten (barritus) vom Elefanten (barrus), die Käuzchen rufen klagend, die Habichte piepen und sehr vieles andere, was durch den Klang der Laute, nach Gebrauch und Gewohnheit, Bilder zur Verfügung stellen wird. Über die Wirkung der Dinge Ausgezeichnet ist es, bisweilen die Wirkung der Dinge zu bemerken und zu rekapitulieren, mit deren Hilfe wir sehr vieles in unserem Geist aufbewahren können. So werden wir die Namen der Monate aufzählen, wie Mars, der sich dem Krieg widmet, im Monat April möge sich alles öffnen, ausschlagen und Knospen hervorbringen, Blüten und Triebe, der Mai zeige Blüten im Überfluss, der Juni Gräser und  Laub. Daher [schreibt] Vergil: „Lieblich atmet der Schlummer, am Berghang dunkeln die Schatten“, alles blüht nun. Der Juli soll sich mit Saatfeldern schmücken. Daher [schreibt] Ovid: „Es stand der Sommer, nackt, und trug einen Ährenkranz“. Im August wachsen noch alle Früchte, der September hat süße Trauben und bringt süße Früchte hervor, der Oktober Speierling23 und Mispeln,24 der November ölige Baumfrüchte, er sammelt die Früchte der blutigen Myrte, der

23 Gewöhnlich sorbum, n., hier wohl als Subst. f. aufgefasst. 24 Gewöhnlich mespilum, n., hier wohl als Subst. f. aufgefasst.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

November olee baccas, cruente et mre fructus colligit, Januarius bifrons preterita futuraque concernit, Februarius a Februo et Plutone floreum ver revocat. Sic dierum rationem exquirimus – Solis enim dies corona duodecim gemmarum notabitur  –, vel alchimistarum vocabulis exqui- 5 ritur: Dominico [335r] enim diei aurum,  Lune argentum,  Marti ferrum, Mercurio argentum vivum, Jovi stannum, Veneri es, Saturno plumbum applicavere.

De suis cuiusque rei instrumentis Sua cuiusque artis arma et instrumenta officia et auctores distin- 10 guere poterunt. Ut pila Romanos, saris[s]as  Macedones, pelta Iberos, sic etiam cuiusque officine arma suos opifices ostendent, ut mola subuncula*, odoriferum oleare, rastri et que his similia sunt.

De partibus humani corporis Eadem actu excogitabimus longeque melius motu parte corporis 15 indagare poterimus: Singulas enim corporis partes numinibus dedicarunt. Pedum enim articulos saltu et velocitati, genua misericordie, digitos pectine iunctos dolori, caput impositum vel reiectum in

1 olee baccas] olea et baccas  L 1 cruente et] cruenteque S, O; cruentique L 1 mre] mirti S, L; mirte O; mirre Ink. 2 bifrons] bifors L 2 Februarius] februario L 2 et Plutone] id est Plutone L 3 floreum] flores L 4 dierum rationem] dierum etiam rationem O; dierum nomen L; dierum ratione Ink. 5 notabitur] notatur L 5 exquiritur] exqueretur O; exquiretur S, L 6 diei] die S, O, L 8 plumbum] plumbeum S 10 Sua cuiusque] Omnium L 10 arma] argumenta O 10 et auctores] autores O, Ink. 11 saris[s]as] saxissas O 12 Iberos] hiberos S,  L 12 cuiusque officine] cuius officium est  L 12 ostendent] ostendant O; ostendunt  L 13 subuncula] subucula  L 13 odoriferum] honoforum S; onoferum Ink.; onoferunt O 13 oleare] olera O, L; holera S 13 similia sunt] similia sunt. De actu et motu corporis O 15 motu] motus O; motu et S,  L 16 indagare… corporis] om. Ink.  16 Singulas] singulas demum ut vid.  L 16 numinibus] numibus O 16 dedicarunt] dedita ferunt O 17 enim] autem  L 17 velocitati, genua] velocitate Janua  L 18 pectine] pectem ut vid. L 18 impositum vel] om. L 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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doppelstirnige Januar erkennt das Vergangene und das Zukünftige, der Februar bringt den blumenreichen Frühling zurück von Februus25 und Pluto26. Die Aufzählung der Wochentage ermitteln wir auf diese Weise  – der Sonntag wird ja durch eine Krone von zwölf Edelsteinen bezeichnet  –, oder man geht nach den alchemistischen Bezeichnungen vor, [die Alchemisten] haben mit dem Sonntag Gold verbunden, mit dem Montag Silber, mit dem Dienstag Eisen, mit dem Mittwoch Quecksilber, mit dem Donnerstag Zinn, mit dem Freitag Erz, mit dem Samstag Blei. Über die Werkzeuge einer jeden Sache Die Geräte und Werkzeuge jeder Kunst werden die [jeweiligen] Verrichtungen und Urheber bezeichnen können. Wie die Wurfspieße die Römer darstellen werden, die  Lanzen die  Makedonen, der halbmondförmige Schild die Iberer, so werden auch die Geräte jeder Werkstatt ihre Handwerker darstellen, wie der gekrümmte27 Mühlstein, die duftende Olivenpresse, Hacken und ähnliche Dinge. Über die Teile des menschlichen Körpers Dasselbe werden wir uns in einer Tätigkeit ausdenken, und weit besser können wir durch eine Bewegung in einem Körperteil fündig werden: Denn die einzelnen Körperteile hat man gestischen Andeutungen (numinibus) geweiht. Die Fußgelenke nämlich dem Sprung und der Schnelligkeit, die Knie dem  Mitleid,

25 Februus ist ein etruskischer Gott, der als Herrscher über die Unterwelt galt und mit dem römischen Pluto gleichgesetzt wurde. 26 Pluto ist in der römischen Mythologie der Gott der Unterwelt und Gemahl der Proserpina, die er in sein Reich entführt hat. Sie verbringt (nach Ovid: Metamorphosen, 5, 567) jeweils die Hälfte des Jahres in der Unterwelt, die restliche Zeit bei ihrer Mutter Ceres und den anderen Göttern. Publicius setzt hier stillschweigend Proserpina, die als Vegetationsgottheit verehrt wurde, mit ver, ‚Frühling‘ gleich. 27 subuncula, hier als Adj. aufgefasst.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

pectus concessioni, in cervicem versum negationi, in humerum deiectum ipocrisi, terga fuge, quieti ocio nates capilli diviciis, ungues crudelitati, dentes discordie, digitos minerve, frontem superbie, aures memorie dedicarunt. [335v]

De opposito 5 Oppositum sepenumero ad memoriam reficiendam spectat, ut testudo pro velocitate, egrotum et valetudinarum pro bene sano et plurima, que per ironiam proferuntur. De accidente et proprio Accidens et proprium subiecto notabitur, ut nigredo in  Mauro, 10 fuscedo in Arabis, rubedo in Dalmatis, albedo in Gallicis, risibile in homine, hinnibile in equo, barritus in elephante demonstrabitur.

Distichon nicht ermittelt

De causa Cause cognitio reminiscentiam creare in nobis solet: Furti enim causam avariciam dicimus, unde egregius vates versibus memorie 15 precepta complexus inquit: Causa vel oppositum simul instrumenta vel actus Consimilis faciunt te meminisse rei.

1 concessioni] concessionem L 1 cervicem versum negationi] cervicem negacioni O; cervice versum negacioni S; cervicem versum negotioni Ink.; ternisie versum negacionem  L 2 deiectum] om. S 2 terga] targa  L 2 quieti] quieti et  L 3–4 dentes… memorie] om.  L 7 egrotum] egrotus S 7 valetudinarum] valetudinarius S 7 pro bene sano] pro bene L; probum O, Ink. 8 proferuntur] proferuntur. De accidente O; proferentur  L 11 rubedo] rubide  L 11 Gallicis] Gallis S 11 risibile] risibilitas O 13 De causa] om.S; De Causa O 14 reminiscentiam creare in nobis] reminiscencia in nobis creare L 15 avariciam] avaricie L 15 unde egregius vates] Egregiis versibus L 16 complexus inquit] complex L 17 faciunt] facient S, L 17 meminisse rei] meminisse rei. De substantia mixta O 

Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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die ineinander verschränkten Finger dem Schmerz, der aufgestellte oder auf die Brust gesenkte Kopf dem Zugeständnis, in den Nacken gelegt der Verneinung, zur Schulter gesenkt der Heuchelei, der Rücken der Flucht, das Gesäß der Ruhe und Muße, die Haare der Fülle, die Fingernägel der Grausamkeit, die Zähne dem Streit, die Finger der Minerva, die Stirn dem Hochmut, die Ohren dem Gedächtnis. Über das Gegenteilige Das Gegenteilige zielt häufig auf den Vorgang der Wiedererinnerung, wie die Schildkröte für die Schnelligkeit, den Kranken für den, der sich wohlbefindet, und sehr vieles, was aus Gründen der Ironie vorgebracht wird. Über Akzidens und Proprium Das Akzidens und das Proprium werden durch das Subjekt bezeichnet, zum Beispiel mag die Schwärze an einem Mauren demonstriert werden, die dunkle Farbe an den Arabern, die rötliche Farbe an den Dalmatern, die Blässe an den Galliern, das Lächerliche an einem Menschen, das Wiehernde an einem Pferd, das Trompeten an einem Elefanten. Über die Ursache Die Kenntnis der Ursache bringt in uns gewöhnlich die Wiedererinnerung hervor: Denn die Ursache des Diebstahls benennen wir als Habgier, daher sagt der ausgezeichnete Dichter in seinen Versen, in denen er Vorschriften für das Gedächtnis wiedergibt: „Die Ursache oder das Gegenteil, zugleich Werkzeuge oder Taten und Ähnliches bewirken, dass du dich der Sache erinnerst“.

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 Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

De resolucione Si mixtam substantiam memorare cupis, epigramma aut species resoluta enodabit: Centauros enim et chimeram species nobis facile evolvent. De figuris Cum prima huius libelli pars propemodum a nobis absoluta sit, iam ad figuram deveniendum esse putavimus, ut enim signum cognicionis emine (pallore, albedine, rubedine) illese [336r] conscientie indicia ostendit. Sic figura rerum realium formam ymaginemque indicabit, cuius ope facile carmine concluse res aperientur. Hinc non iniuria Camillum iure consultum omnes humani iuris rubricas perpauculis versibus complexum memorie commendasse accepi. Divisione rerum litterarum et sillabarum conversione latitantes figuras indagabimus: Sic rebus suber, nabo bona, laudabilis lauda bili infecta, nemus sumen refert. Litterarum adiunctione, comminucione, detractione et alteri adiunctione memoria excitabitur, ut istam ipsam mipsam enim detrahendo prime parti et iungendo sequenti faciemus. Prima autem melius litterarum paucitate conscribitur sic H. Significat ista. Exitum vel principium aut utrumque verbis simile exquiremus, ut innocentes ignoscentes.

2 aut] om. Ink. 2 species resoluta] species O 3 enodabit] ea enodabit S 4 evolvent] evolvent. De figuris O; volvent  L 7 deveniendum esse] deveniendum S, O; eveniendum L 7 ut enim] Est autem vel L 7 cognicionis emine] om. S; cognicionis semine O, Ink.; cognicionis semina L 8 illese] lese S, Ink., L 9 indicia] indiciam L 9 formam] forma S, O; for L 9 ymaginemque] ymaginem S, O, L– 10 concluse] concluso Ink; om. O 10 Hinc] Hic L 11 iure consultum omnes] iuri consilium omnis Ink. 12 accepi] accipimus S 13 rerum] rerum et O 14 indagabimus] indagabimus Amicos Mus ut vid.  L 14 Sic] Sic amicos S 15 infecta] infectus  L 15 refert] referet  L 15 adiunctione] adiunctio S 16 comminucione, detractione et alteri adiunctione] om. O 17 istam ipsam mipsam] ut ipsam mipsam L; uti

  • tam exp. L; istam ipsam in ipsam Ink. 17 prime parti] prime parti in S; prime parti M L 18 faciemus] faciemus in ipsam O 19 conscribitur sic H] conscribetur sic S, L; conscribetur O 19 Sig­ nificat ista] om. S, O, L 20 verbis simile] e verbis similem S 20 exquiremus] exequiremus L 

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    Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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    Über die Auflösung Wenn du dich an eine gemischte Substanz erinnern willst, werden ein Epigramm oder eine entgrenzte [monströse] Gestalt sie auflösen: Die Gestalten nämlich werden uns leicht auf die Zentauren28 und die Chimäre29 verweisen. Über die Figuren Weil der erste Teil dieses Büchleins von uns beinahe abgeschlossen ist, glaubten wir, dass man nunmehr zur [Rede-]Figur übergehen müsse, wie denn der Anhaltspunkt für die Erkenntnis einer Frau (durch ihre Blässe, Weiße, Röte) die Anzeichen eines schlechten Gewissens sehen lässt. Auf solche Weise wird die Figur die Form und das Bild realer Dinge anzeigen, und durch deren Hilfe werden die [dahinter] verborgenen Dinge leicht in poetischer Form offengelegt werden. Daher konnte der Rechtskundige Camillus30 alle Rubriken des menschlichen Rechts seinem Gedächtnis anvertrauen, indem er sie in sehr wenigen Versen zusammenfasste, wie ich es unzweifelhaft erfahren habe. Durch die Einteilung der Dinge und die Umkehrung der Buchstaben und Silben werden wir die verborgenen Figuren aufspüren: So vermittelt rebus (Dinge) suber (Korkeiche), nabo (nabus: Giraffe) bona (Güter), laudabilis (lobenswert) ‚ alauda bili infecta (eine mit Galle benetzte Lerche), nemus (Hain) sumen (Saueuter). Durch Anfügung, Verringerung, Wegnahme von Buchstaben und die Anfügung eines anderen Buchstabens wird das Gedächtnis angeregt werden, indem man wie bei istam ipsam [ebendieselbe Frau] dem ersten Teil das ‚m‘ entzieht und dem folgenden anfügt, so dass wir ‚mipsam‘ bilden werden. Der erste [Teil] aber wird besser so aufgeschrieben werden, mit einer geringen Anzahl der Buchstaben: H bezeichnet ista.31 Wir werden ein ähnliches Ende oder einen ähnlichen Anfang oder beides bei den Wörtern suchen, wie innocentes [und] ignoscentes.

    28 Tierisch-menschliche Wesen der griechischen  Mythologie, deren Körper sich aus Pferd und Mensch zusammensetzt. Die Kentaurenschlacht, die sich bei der Hochzeit des Lapithenkönigs Peirithoos entzündete, wird u.  a. in Ovids Metamorphosen erzählt (12, 210–535). 29 Die Chimaira ist ein Ungeheuer der griechischen  Mythologie. Sie wird als feuerspeiendes Mischwesen dargestellt, das sich aus Teilen von Löwe, Ziege und Drache zusammensetzt. 30 Gaius Camillus wird als Rechtsberater in den Schriften Ciceros erwähnt (cf. Epistulae ad familiares, 14, 5, 2). 31 Gemeint ist der griechische Buchstabe Η (Eta), der hier für das ähnlich klingende ita / ista stehen soll.

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    Vergil, Aeneis 1, 630

     Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

    Res sensitiva ad sensum referatur, ut visus, auditus, odoratus, quod si aspectus vel olfactus dixero, sensu commutato distinguam, ut simie, capelle, promoscide. Eadem item esse poterit littera licet sententia diversa aut varia sit, et non ignara [336v] mali miseris succurrere disco, in ara mali pomi vel navalis ligni ymago, si nihil 5 refert.

    Verba nomine sepe referuntur et econverso ut: disco, amo, adverbium: itidem, quondam. Unica littera plures referre perpulchrum est, ut quodcumque Δ perfossa ea parte corporis locetur, nomen verbumque variat, ut in hac 10 figura patebit. Euiusdem nominis realis figura memorie quam plurimum confert maximeque, si ita vocitetur, ut eius diccionis voce, quam memorie commendare cupimus, expressum extitit, ut meles sepe, quod si fieri nequit, ad alia divertemus in sensu, sed non in significacione 15 equivoca indagabimus, ut sistrum canis, sepe arma et que his similia noverimus. Liber quartus de signis Superest, ut de quarta huius extremi voluminis iam parte dicamus. Insignia enim cuiusque rei proprium vocabulum exquisitum refe- 20 runt. Ea tripartita sunt: rerum scilicet et personarum et locorum

    1 sensitiva] sensitivam S 2 vel] om. Ink. 2 dixero] diceris  L 2 commutato] commutati  L 2 distinguam] distinguo ut vid.  L 2 ut] om. O 4 diversa aut] diversa ac O 4 sit, et] sit ut O; simul L; sit, Virgilius S 5 succurrere] succure S 5 si] sit S, O 7 referuntur] referentur S, O 8 quondam] ut quondam S 9 perpulchrum] pulchrum O 9 quodcumque Δ] quodcumque δ Ink.; quotumque Δ L; quotcumque H S 10 nomen verbumque] verbum  L 10 variat] om. S 10 ut in hac figura] ut in sequenti figura O; om. L 11 patebit] patebit variabit S; om. L 13 eius] eiusdem L 14 commendare] mandare S 14 extitit] extiterit S; extetit L 15 divertemus] divertamus Ink. 15 in significacione] significacione O 16 equivoca] et equivoca L 16 indagabimus] om. S 16 sistrum] fistrum Ink. 16 sepe] sepe ut S 17 noverimus] noverimus. Sequitur figura de qua supra dicamur O 18 Liber quartus] hab. O 19 ut] om. S 19 quarta] tercia  L 20 cuiusque] cuicumque  L 20 proprium] propria S, O,  L 21 sunt] scias L 21 rerum scilicet] rerum S; scilicet O 21 personarum et] personarum L 

    Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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    Eine sensitive Sache soll auf den Sinn zurückbezogen werden, wie der Gesichtssinn, der Gehörsinn, der Geruchssinn, wenn ich also ‚Blick‘ oder ‚Geruch‘ sage, werde ich sie, die Sinneswahrnehmung austauschend, durch zum Beispiel Affen, Ziegen, Elefantenrüssel bezeichnen. Derselbe Buchstabe wird ebenso bleiben können, mag die Bedeutung auch abweichend oder variierend sein, und ‚Wohl mit  Leiden vertraut, lern‘ ich, zu helfen den Armen‘ (non ignara mali miseris), [kann beliebig umgesetzt werden] als Bild ‚der Frucht des Apfelbaums auf dem Altar‘ (in ara mali pomi) oder als ein Bild von ‚Schiffsholz‘ (navalis ligni). Verben werden oft durch ein Nomen wiedergegeben und umgekehrt, wie: disco, amo, als Adverb: itidem, quondam.32 Sehr schön ist es, wenn ein einziger Buchstabe mehrere Buchstaben angibt, und wenn jedes Δ in dem durchbohrten Teil des Körpers platziert würde, so verändert es Nomen und Verb, wie es in der folgenden Figur gezeigt wird.33 Die realistische Figur desselben Nomens nützt dem Gedächtnis ganz außerordentlich, wenn sie so benannt wird, dass sich mit dem Klang des Ausdrucks, den wir dem Gedächtnis anvertrauen wollen, das Ausgedrückte ergibt, wie zum Beispiel meles (Marder) und sepe34 (Hecke), wenn das aber nicht geschehen kann, werden wir uns anderen zuwenden, die dem Sinn nach, aber nicht in der Bezeichnung gleichlautend sind, wie sistrum canis, sepe arma35 und was wir, diesen ähnlich, sonst kennen. Viertes Buch: Über die Zeichen Es bleibt noch übrig, dass wir nunmehr über den vierten und letzten Teil dieses Buches sprechen. Attribute nämlich beziehen das jeder Sache Eigentümliche (proprium) auf eine speziell gewählte Bezeichnung. Sie sind dreifach: sie werden

    32 Publicius nimmt hier Bezug auf das Phänomen der Homonymie: z.  B. disco, einerseits ein Substantiv im Dativ oder Ablativ Singular (discus, ‚Scheibe‘), andererseits die erste Person Singular Präsens Indikativ von discere, ‚lernen‘. 33 Die betreffende Figur zeigt einen Mann und eine Frau, aber keinerlei Hinweise auf die bei Publicius nur kryptisch formulierte Methode. 34 sepe = saepes f. (vgl. Du Cange: Glossarium. Ed. Favre. Tom. 6, p. 426, col. c). 35 Vgl. Anm. 28; z.  B. sistrum canis, ‚Bellen des Hundes‘ oder ‚du spielst die Klapper‘.

    390 

    cf. Boncompagno da Signa, Boncompagnus 1, 5, 7 (cf. Carruthers/Ziolkowski, The Medieval Craft of Memory, 2004, p. 245)

     Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

    vera et ficta dicuntur. Personarum sunt hec: Jmperatoris trigonia, corona regis, pretoris et prefecti sceptrum, consulum fasces et secures, summi pontificis thiara [337r], cardinalium feniceus pileus, episcoporum mitra, aurea calcaria militarem dignitatem, aurei anuli zoneque margarite et gemme medicum. Unde non iniuria 5 a poeta dictum arbitror: Jt Galienus eques gemmis oneratus et auro. Plato secum peditem trahit, Aristoteles colus mulierum. Leo Marci, aquila Johannis, vitulus Luce, angelus Mathei, cathene Leonardi, pectines Basilii, Pellis Bartholomei, claves Petri, retia Andree, coe et galerus Jacobi, porcellus lacteus Anthonii insi- 10 gnia refert.

    De signis locorum  Locorum dicuntur cuiuscumque loci privata bona. Hinc Vergilius primo Georgicorum: Vergil, Georgica 1, 54–59

    Hic segetes illic veniunt felicius uve Arborei fetus alibi atque iniussa virescunt gramina, nonne vides croceos ut Thmolus odores, India mittit ebur, molles sua tura Sabei, Ac calibes nudi ferrum, virosaque pontus castorea, Eliadum palmas Epirus equarum.

    1 trigonia] trigania O, L 2 fasces] instes O 3 secures] securis Ink. 3 thiara] thiare O; om. L 3 feniceus] fecineus Ink.; om. L 4 aurea] om. L 4 calcaria] calcarea S 4 aurei] aurii aurea L 5 Unde] unde ut L 6 Jt] Et L 6 oneratus] honoratus  L 7 Aristoteles] Aristotelem S,  L 7 colus] om. Ink. 7 mulierum] om. Ink.; mulierum, Catella meretricum S, O,  L 8 vitulus] bos O 9 Basilii] blasii S,  L 10 coe] Coclee S; Coclea O; cocle L; cocloe Ink. 10 porcellus lacteus] porcellum lactens  L 10 Anthonii] antonium  L 11 refert] refert. De insigniis locorum O; referret L 13 Locorum dicuntur] Locorum insigni dicunt O 13 cuiuscumque] cuiusque O,  L 16 Arborei] arboree  L 17 croceos ut Thmolus] croceus ut Thmolus S; creteos et thmolus Ink. 18 molles] mollesque O 19 Ac calibes] et calebes  L 19 nudi] ludi O 20 Eliadum] eliodum L 20 palmas] palmes Ink. 

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    nämlich wahre und erfundene [Attribute] von Dingen, Personen und Örtern genannt. Die Kennzeichen der Personen sind folgende: Die ‚Dreiecke‘ (trigonia) des Feldherrn, die Krone des Königs, das Szepter des Prätors oder Präfekten, die Rutenbündel und Beile der Konsuln, die Tiara des Papstes, das purpurrote36 Birett der Kardinäle, die Mitra der Bischöfe, goldene Sporen [kennzeichnen] den militärischen Rang, goldene Ringe, Gürtel, Perlen und Edelsteine den Mediziner. Daher, glaube ich, wird nicht zu Unrecht von einem Dichter gesagt: „Galienus geht einher als Ritter, beladen mit Edelsteinen und Gold“. Platon führt einen Fußgänger (pedes) mit sich, Aristoteles einen Spinnrocken der Frauen (colus). Der Löwe fungiert als Kennzeichen des Markus, der Adler als Kennzeichen des Johannes, ein junges Rind als Kennzeichen des Lukas, der Engel als Kennzeichen des Matthäus, die Kette als Kennzeichen des Leonhard, die Kämme als Kennzeichen des Basilius, das Fell als Kennzeichen des Bartholomäus, die Schlüssel als Kennzeichen des Petrus, die Netze als Kennzeichen des Andreas, die Muscheln und die [Pilger]Kappe als Kennzeichen des Jakobus, das milchweiße Ferkelchen als Kennzeichen des Antonius. Über die Zeichen der Örter Die besonderen Güter [Produkte] eines jeden Ortes werden als Attribute der Örter angeführt: Daher schreibt Vergil im ersten Buch der Georgica: „Hier wächst Korn, dort glühen am Rebstock schöner die Trauben, anderswo reift uns Obst und ohne Geheiß schwillt grüner Weidenteppich. So sendet Kleinasien [Tmolus37] duftenden Safran, Indien Elfenbein, der verwöhnte Sabäer schickt Weihrauch, nackte Chalyber38 Eisen, und stinkendes Bibergeil sendet Pontus, Epirus39 gewinnt mit elischen Rennern die Palme.“40

    36 feniceus = phoenicius. 37 Der Tmolus ist ein Berg im kleinasiatischen Lydien, der in der Antike für den Anbau von Wein und Safran bekannt war. 38 Die Chalyber waren in der Antike ein am Schwarzen Meer lebendes Volk, das sich durch die Verarbeitung von Eisen auszeichnete. 39 In der Antike eine Landschaft im Nordwesten Griechenlands. 40 Zitiert wird die Übersetzung von Johannes und Maria Götte der Tusculum-Ausgabe Vergil: Georgica. Hg. von J. u. M.G. 5., vollst. durchges. und verb. Aufl. München und Zürich 1987.

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     Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

    Sic Candia azathura, Florentia purpuram, Valentia risum mittens suo proprioque bono denotabitur. [337v] De signis rerum Rerum insignia sunt: ensis iusticie, equitatis libra, herculea clava fortitudinis, geometrie circinum, astrolabium astrologie et ea, que 5 supra de partibus nostri corporis commemoramus, ut discordie dentes, memorie aurem, opposita manus fronti et oculis oblivionis, digitorum et unguium mordicacio et que his similia sunt. Sunt nonnulla, que etsi communia sunt, tamen suum autorem sequuntur, ut funda Baleares, arcus Anglicos, ballista Hispanos. Sunt, que per 10 comparacionem trahuntur, ut pauperior Codro, ditior Crasso, pulcrior Narcisso.

    De ymaginibus sentenciarum Reliquum est, ut de ea memorie parte dicamus, que oratorum propria est, id est: 15 de sententiis et que his congruunt. Est autem sententia non ea, quam vulgus indoctorum credit, sed ea, que plurimis conscripta perpaucis bene inveniendi rationem explicat, in qua genus, locus, tempus, persona et sententie vis distincte notantur. Eandem rationem silogismi et argumenta sibi vendicabunt, verum hic medium 20 et maiorem extremitatem et minorem locis collocabimus. [338r] Habitis enim premissis intellectus ex sese infert conclusionem, que

    1 Candia] caudia Ink. 1 azathura, Florentia purpuram] asutarum florencia purpuram S; accucera O 1 risum] risum S, O, L, Ink. 1 mittens] om. S 2 bono] dono O 4 herculea] artulia  L 6 partibus] parte  L 6 commemoramus] commemoraverimus  L 7 aurem] aures O; autem  L 7 opposita] Apposita S 7 oblivionis] oblivioni O 8 mordicacio et que his similia] et his que similia modicacio L 9 etsi] si et L 9 communia] similia Ink. 10 funda] fundos  L 11 pauperior] pauperio  L 12 Narcisso] narcisso. De memoria sentenciarum O; narsisso forcior hectore maior christofero L 14 oratorum… est] idem S 15 id est] et est L 17 indoctorum] doctorum L 18 inveniendi] seq. L; vivendi S, O, Ink. 18 rationem] rationis O; rationes  L 19 sententie] in sententiis L 20 argumenta sibi] argumenta O 20–21 verum… collocabimus] om. Ink. 20 medium et] medium vel S, O, L 21 maiorem extremitatem et minorem] maiorem et minorem extremitatem S 22 intellectus ex sese] intellectus ex sua sponte sese L 

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    So sendet Candia Azathura, Florenz Purpurstoffe, Valencia wird, Reis schickend, durch sein eigenes Gut bezeichnet werden. Über die Zeichen der Dinge Die Kennzeichen der Dinge sind: das Schwert der Gerechtigkeit, die Waage der Rechtsgleichheit, die herkulische Keule der Tapferkeit, der Zirkel der Geometrie, das Astrolab der Astrologie und das, was wir – wie oben [gesagt] ‒ bezüglich der Teile unseres Körpers ins Gedächtnis rufen, wie die Zähne der Zwietracht, das Ohr des Gedächtnisses, die vor Stirn und Augen gelegte Hand der Vergessenheit, das Benagen von Fingern und Fingernägeln und Ähnliches. Es gibt einiges, das – wenn es auch allgemein ist – sich doch seinem Urheber anschließt, wie die Schleuder den Balearen, der Bogen den Engländern, die Schleudermaschine den Spaniern. Es gibt [auch einiges], das als Vergleich herangezogen wird, wie ‚ärmer als Codrus‘, ‚reicher als Crassus‘, ‚schöner als Narziss‘41. Über die Bilder für Sentenzen Es steht noch aus, dass wir über den Teil des Gedächtnisses sprechen, der für die Redner wesentlich ist, das heißt: Über die Sentenzen und was ihnen entspricht. Eine Sentenz ist nicht das, was die Menge der Ungelehrten meint, sondern das, was den meisten – in sehr wenige Worte gefasst – ein Verfahren der guten Erfindung erschließt, mit welchem das Geschlecht, der Ort, der Zeitpunkt, die Person und die Bedeutung der Sentenz deutlich und bestimmt festgehalten werden. Dasselbe Verfahren werden die Syllogismen und Argumente für sich beanspruchen, wir werden hier in der Tat den mittleren Teil und die erste und zweite Prämisse an den Örtern niederlegen. Hat man nämlich die Prämissen erfasst, dann erschließt

    41 Die drei Genannten werden topisch angeführt, da ihnen die jeweiligen Eigenschaften in hohem Maß eigen sind und sie daher zum Vergleich geeignet sind; ein Codrus wird als ärmliche Person bei Juvenal erwähnt (Saturae, 3, 208 f.), Marcus Licinius Crassus († 53 v. Chr.) ist ein durch seinen Reichtum bekannter römischer Politiker, der Mythos des Narcissus berichtet von einem jungen Mann, der, in sein eigenes Spiegelbild verliebt, zergeht und in eine Narzisse verwandelt wird (cf. Ovid: Metamorphosen, 3, 407–510).

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     Jacobi Publicii Prologus In Arte Memorie Feliciter Incipit

    non colligitur, nisi ex maiori et minori extremitate. Medium autem in proposito causam conclusionis illate dicunt, in qua virtualiter effectus includitur. Nunc iam de his, que animum oblectant, ingenium acuunt et memorie bene sane signa exprimunt, dicamus. De quibus tabulam 5 dupliciter depictam in medium afferam, ut facilior exitus huic operi detur. Labor omnibus detrahatur et iocundum cum laude fructum auditores nostri inde consequi valeant.

    1 maiori et minori] maiore et minore L 2 dicunt] dicitur L 3 includitur] includit S 4 que animum oblectant] animum allectant L 5 signa] signata L 7 detrahatur] detrahitur Ink. 8 auditores nostri] auditores O; auditoris nostri  L 8 inde] om. S,  L 8 valeant] valeant. Amen. Explicit. Sequuntur nunc signa O

    Jacobus Publicius: Ars memorativa  

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    der Verstand von sich aus die Konklusion, die nur aus der ersten und der zweiten Prämisse42 erfasst wird. Man sagt aber, dass der mittlere Teil des Hauptsatzes die Ursache der Schlussfolgerung sei, in der virtuell die Wirkung enthalten ist. Nunmehr wollen wir über das sprechen, was den Geist ergötzt, den Verstand schärft und dem Gedächtnis auf gute und vollkommene Weise Zeichen einprägt. Hierzu werde ich eine Tafel, die zweifach gezeichnet ist, anfügen, um dieses Werk auf einfachere Weise enden zu lassen. Die Mühe sei [nun von] allen genommen und meinen Hörern möge daraus ein angenehmer Nutzen und Lob erwachsen.

    42 Die Begriffe extremitas maiora und extremitas minora werden synonymisch zu denen der ‚ersten‘ und ‚zweiten Prämissen‘ verwendet. (Cf. Aristotelis […] Omnia quae extant opera nunc primum selectis […]. Bd. 1. Venedig 1552, Priorum resolutoriorum liber secundus, S. 123).

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    404 

     Verzeichnis der zitierten Forschungsliteratur

    Liber decanorum facultatis philosophicae Universitatis Pragensis et Registrum ordinis graduatorum in artibus ab a. Chr. 1367 usque ad a. 1585. 2 Bde. Prag 1830–1832 (Monumenta historica Universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis 1). Matricule de l’université de Louvain. Publiée par Edmond Henri Joseph Reusens. 2 Bde. Bruxelles 1903–1946. Serafino Mazzetti: Repertorio di tutti i professori antichi e moderni di Bologna. Bologna 1847. Gianmaria Mazzuchelli: Gli Scrittori d’Italia cioé notizie storiche. Vol. 1,1. Brescia 1753. Gesine Mierke, Christoph Fasbender (Hgg.): Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne. Würzburg 2013. Thomas E. Morrissey: The Art of Teaching and Learning Law: A Late Medieval Tract. In: History of Universities. Vol. VIII. Oxford 1989, S. 27–74. Jan Dirk Müller (Hg.): Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftlichungsprozeß am Beispiel Heidelberg im 15. Jahrhundert. München 1994 (Münstersche Mittelalter-Schriften 67). Roger A. Pack: A Life of Saint Marina in an Ars Memorativa. In: Classical Folia 31 (1977), 78–84. Roger A. Pack: An Ars Memorativa from the Late Middle Ages. In: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 54 (Paris 1980), S. 221–275 Roger A. Pack: A Medieval Explicator of Classical Mmnemonics. In: Studies in Latin Literature and Roman History. Vol. II. Ed. by Carl Deroux. Bruxelles 1980, S. 515–530. Malcolm Parkes: The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book. In: Jonathan James Graham Alexander, Margaret T. Gibson (Eds.): Medieval Learning and Literature. Essays presented to Richard William Hunt. Oxford 1976, S. 115–141. Elisabeth Pellegrin: Les manuscrits classiques latins de la Bibliothèque Vaticane. Rom 1975  ff. PL: Jacques P. Migne (Ed.): Patrologiae cursus completus. Series latina. 217 Bde. u. 4 Reg.-Bde. Paris 1844–1855. – Reprint: Paris 1878–1890. Edwin A. Quain: The Medieval Accessus ad Auctores. In: Traditio 3 (1943; erschienen 1945), S. 215–264. Pierre Riché: Le role de la mémoire dans l’enseignement médiéval. In: Jeux de mémoire. Aspects de la mnémotechnie médiévale. Recueil d’études publié sous la direction de Bruno Roy et Paul Zumthor. Montréal, Paris 1985, S. 133–148. Susanne Rischpler: Ars memoriae illuminata. Buchschmuck im Dienst der spätmittelalterlichen Gedächtniskunst, in: Christine Beier (Hg.), Geschichte der Buchkultur 5/1: Gotik. Graz 2016, S. 297–319. Susanne Rischpler: Spätmittelalterliche Mnemotechnik im Kontext von Konzil und Melker Reform. In: Gesine Mierke, Christoph Fasbender (Hgg.): Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne. Würzburg 2013, S. 10–41. Paolo Rossi: Clavis universalis. Mailand 1960. Mary Rouse, Richard Rouse: Statim invenire. Schools, Preachers, and New Attitudes to the Page. In: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Edited by Robert L. Benson and Giles Constable with Carol D. Lanham. Oxford 1982, S. 201–225. Sabine (Heimann-)Seelbach: Diagrammatik und Gedächtniskunst. Zur Bedeutung der Schrift für die ‚Ars memorativa‘ im 15. Jahrhundert. In: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts. Hg. von Martin Kintzinger, Sönke Lorenz, Michael Walter. Köln, Weimar, Wien 1996 (Archiv für Kulturgeschichte, Sonderheft), S. 385–410.

    Verzeichnis der zitierten Forschungsliteratur 

     405

    Sabine (Heimann-)Seelbach: Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 58). Sabine Seelbach: Wissenschaftssystematische Implikationen in Ars-memorativa-Traktaten des 15. Jahrhunderts. In: Berns/Neuber 2000, S. 187–197. Sabine Seelbach: Konzeptualisierungen von Mnemotechnik im Mittelalter. In: Ulrich Ernst, Klaus Ridder (Hgg.): Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 3–29. Sabine Seelbach: Wissensorganisation contra Gebrauchsfunktion? Zum Erkenntniswert von Überlieferungsgeschichte am Beispiel der Memoria-Handschriften der Staatsbibliothek Olmütz. In: Wójcik 2008, S. 11–26. Sabine Seelbach, Rafał Wójcik (Hgg.): Ars memorativa in Central Europe. Amsterdam 2012 (Daphnis 41 [2012]; recte 2014). Sabine Seelbach: Introducing Art of Memory into Vernacular: the case of Bibliothèque Ste Geneviève ms. 3368. In: Seelbach/Wójcik (Hgg.): Ars memorativa in Central Europe. In: Daphnis 1–2 (2012, recte 2014), S. 357–381. Michael P. Sheridan: Jacopo Ragona and his Rules for Artificial Memory. In: Manuscripta IV (1960), S. 131–147. Agostino Sottili: Giacomo Publicio, ‚Hispanus’, e la diffusione dell’Umanesimo in Germania. Barcelona 1985. Prospero T. Stella: Tecniche della memoria nel secolo XV: Le ‚Regulae’ di Giacomo Ragona di Vicenza. In: Orientamenti pedagogici 43/1 (1996), S. 71–101. Lynn Thorndike, Pearl Kibre: A catalogue of incipits of medieval scientific writings in Latin. London 1963. Filippo Vecchietti: Biblioteca Picena. Tomo 1. 1790. ²VL: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. von Kurt Ruh u.  a. Bd. 1  ff. Berlin, New York 1978  ff. Ludwig Volkmann: Ars memorativa. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien.  n. F. 3 (1929), S. 111–200. Hans Walther: Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris Latinorum. 2 Bde. Göttingen 1959–1969. James A.Weisheipl, O.P.: Classification of the Sciences in Medieval Thought. In: Medieval Studies 27 (1965), S. 54–90. Ernest Wickersheimer: Dictionnaire biographique des médicins en France au Moyen Age. Bd. 1. Paris 1936. Rafał Wójcik: Opusculum de arte memorativa Jana Szklarka. Poznań 2006. Rafał Wójcik (Hg.): Culture of memory in East Central Europe in the Late Middle Ages and the Early Modern Period. Biblioteca Uniwersytecka Poznań 2008. Rafał Wójcik: The art of memory in Poland in the Late Middle Ages (1400–1530). In: Dolezalová u.  a. 2016, S. 65–107 Frances Amelia Yates: The art of memory. London 1966. – dt.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Weinheim 1990. – 2. Aufl. 1991. – 4. Aufl. Berlin 1997. Frances Amelia Yates: The Ciceronian Art of Memory. In: Medioevo e Rinascimento. Studi in onore di Bruno Nardi. Florenz 1955, S. 871–903. Frances A. Yates: Lodovico da Pirano’s Memory Treatise. In: Cultural Aspects of the Italian Renaissance. Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller. Ed. by Cecil H. Clough. New York 1976, S. 111–122.

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     Verzeichnis der zitierten Forschungsliteratur

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    Namen und Sachen  Abbreviatio XXII, XXVI, XXXII, 146, 190, 372 Accessus XXXV, 244 Accidentia s. Akzidentien Actus XXXV, 52, 140, 150, 190, 192, 198, 200, 214, 216, 218, 244, 248, 342, 382, 384 Addition, Adjektion XIX, 32–36, 356, 368, 374 Ähnlichkeit XV, XVIII, XXII, 29, 31, 33, 53, 91, 115, 151, 157, 159, 177, 181, 217, 245, 247, 249, 253, 255, 265, 267, 287, 309, 319, 353, 371, 373, 379 Akzidentien XX, XXXVIII, 5, 8–9, 84–85, 126–127, 246, 384 Albertus Magnus XXXIV, 167, 285, 356–357 Alchemie XXXVII, 383 Alexander Aphrodisiensis Peripatheticus XXXIV, 366–367 Allegorie XXV–XXVI, 62–63, 196 Alphabet XIX–XX, XXXV–XXXVI, 48–51, 66–67, 173, 290–291, 352–353, 371 Ambrosius XXVI, 61, 182–183, 288–289 Änderungskategorien XIX–XX, XXIX, 33 Andronicus von Rhodos XXXIV, 366–367 Anonymus Artis nobilissime memorandi V, XVII, XXI, XXIII–XXIV, XXVI, 109– 144 Anonymus De memoria artificiali secundum Parisienses V, XXVII, 187–258 Anonymus Gloriosus deus XVII Anonymus Memoria fecunda XIV, XVII, XXVII– XXVIII, XXXII Anonymus Nunc igitur V, XVII, XXIV, 145– 188 Antonymie XXXIII, XXXVII, 111, 117, 153, 347, 353 Äquivalenzrelation XXXVII, 33, 113 Aequivozität XX, XXV, 111, 235, 245, 247, 343, 381, 388–389 Aristarchus XXXIV, 360–361 Argumentatio XIII, XXXVIII, 10, 46, 66, 92, 94, 97, 251 Argumentum 58, 62, 92–94, 192–193, 218, 220, 248, 250, 336, 348–350, 382, 392–393 https://doi.org/10.1515/9783110575231-010

    Aristoteles XVIII, XXIII, XXVIII, XXX, XXXIV– XXXV, 6–7, 28, 121, 153, 232, 390–391, 395 –– Analytica priora XIX, 93 –– Analytica posteriora XIX –– Causa 34, 136, 180, 196, 204, 218, 246, 254, 264, 266, 280, 300, 322, 323, 325, 384, 394 –– De anima 100–101 –– De memoria et reminiscentia XXXV, 192, 198, 200–201, 208–213, 218–219, 223, 234–235, 254–255, 265, 360 –– Gedächtnispsychologie XXVII–XXVIII –– Kategorien XVIII, XX, XVIII, XXXII, 9, 30, 59, 97 –– logische Schlüsse XVIII–XIX, XXXVII, 93–97, 251, 393, –– Metaphysik XXI, 27, 59, 67 –– Oeconomica 362–363 –– Peri hermeneias 28, 97 –– Prädikationslogik XV, XIX, XX, 9, 97, 157 –– Rezeption IX, XI, XII, XIV, XVI, XVIII, XXI, XXXIII –– Rhetorik XXI, 201, 211, 219 –– Sophistici elenchi 97 –– Sprachtheorie XXI –– Substanzenlehre XX Arnaldus de Villanova XXXIV, 367 Ars passim –– memorativa passim –– dictaminis 200 –– notatoria 20 Artes –– septem a. liberales XXXII Artes-Accessus s. accessus Auctor ad Herennium s. Rhetorica ad Herennium Augustinus XXVI, 60–61, 63, 170–171 –– Trinitätslehre XXVII, 104–105, 184–185 Autoritäten XI, XXI, XXV, XXVI, XXVII, XXXIV, XXXV, XXXVI, XXXVIII, 59, 63, 89, 100–103, 105, 196, 222, 248–249, 252, 342, 343, 367

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     Namen und Sachen

    Baldovinus Sabaudiensis XVII, XXXIV Bartholomeo da San Concordio XIV Basel XXVII–XXVIII, XXXIII Beda Venerabilis XXI, 61 Bernhard von Clairvaux 60–61 –– De consideratione libri quinque XXVIII, 198 –– (Ps.-) XXVIII, 198 –– Tractatus de interiori domo XXVIII, 196– 199 Beweisführung s. Schlüsse, logische XXIX, 67, 93, 95, 221, 249, 251, 349 Boethius 67, 93 –– De arithmetica XXVI, 180, 181 –– De consolatione 50, 90, 92 Bologna XIV, XXII, XXIII, XXVII, 23, 27, 133, 259, 307 Boncompagno da Signa XXXIV, 390 Botschaften XXXI–XXXII, 8, 57, 63, 81, 319, 322, 324, 363 Brettspiel s. Schachspiel XIX, 63, 73 Brief XXXIV, 89, 139, 163, 165, 197 Buchstaben s. Alphabet Causa s. Aristoteles Celtis, Conrad 33 Chiffrierung s. Ars notatoria Cicero X–XI, XXXIII, 121 –– Epistolae ad familiares 387 –– De officiis 338 –– De oratore 338–339, 348–349 –– Ps.-Cicero s. Rhetorica ad Herennium Constantinus Africanus XXXIV–XXXV, 366 Consuetudo 178, 190, 216–218, 222, 266, 310, 324, 336, 344, 358, 360, 364, 380 Contemplatio 164–173 De hiis que conservant memoriam XXII, XXV, 140 Demokrit XI, XXXIV, 367 Descriptio XXXVII, 139, 162, 164, 170, 176, 374 Diasynthetik XVIII, 27 Diätetik s. De hiis que conservant memoriam Dilatatio XXXII Dissoi logoi XI

    Disticha 51, 384 Disticha Catonis 152 Distinctio 100, 102, 164, 170, 212, 214, 226, 240, 340, 346 Divisiones philosophiae s. Wissenschafts­ systematik Doctrina 104, 136, 138, 158, 180, 204, 344 Dominikaner XIV, XVII, 4, 5, 47–48 Ennius 380–381 Epitheta XXXV, XXXVII Erfahrung XIII–XV, XXI, XXV, 269, 287, 327, 351, 369 Erfurt XXXIII, 27, 236, 333 Erinnerungskulturen XIV Erkenntnis XV, 35, 257, 349, 387 Ethik XIII, XXXV Etymologie XVIII, XXXVII, 27, 379 Evagrius 152 Evangelium –– Matthaeus 158, 161, 170, 172, 197, 232, 248 –– Lukas 128, 160, 164, 165 A, 248 Evangelisten XXXVII, 391 Exempelsammlungen XIV, XXII Experientia s. Erfahrung Expositio 101 Fakultäten 142, 176, 232–233, 336 Fantasia XXXV, 6, 8, 10, 24, 34, 228, 286 Farben XIX, XXVI, 71 A., 173, 175, 229, 247 Figuren, geometrische XXXI, XXXVI, 10, 24, 66, 90, 112, 124–127, 136, 148, 220, 370–371 Fünfzahl XVIII, XXI A, XXV, XXVI, 6, 8, 12, 23, 222, 224–227, 266, 276–279, 354 Galen XXXIV, 343 A., 360 Gebet XXIX, 44, 54, 56, 86, 90, 204, 218, 220, 253 Gebrauchsfunktion XV, XXVII A., 188 Gedächtnis passim –– intellektives XIV, 195 –– künstliches passim –– kulturelles IX A., X –– natürliches passim Gedächtnispsychologie XXVII, XXVIII A.

    Namen und Sachen 

    Genera graciarum XXV–XXVI, 170–177 Georg von Trapezunt XVI Girardus de Cruce XXXIV Glaubenswissen XXIV, XXVI Gonzaga, Giovanni Francesco de, Markgraf von Mantua XXX, 259, 262, 263 Gorgias XIII Grammatik XVIII, XIX, XXI, XXXIX, 27, 53, 76–77, 95, 222–225, 240, 252, 264 –– spekulative 27 A. Gregor der Große 61 A., 154, 171 Griechisch XI, XII, XXI; XXXVI, 173 A., 339 A., 371, 387 A. Habitus XXXV, 184, 218, 342 Hartlieb, Hans (Johannes) XXIX Hebräisch XXXVI, 53 A., 61 A., 173 A., 253, 279, 317 A. Heiligenlegenden XXV –– Lucia 156 Hieronymus XXXIII, 61 A., 138, 158, 378 –– Epistola ad Nepotianum 139 –– Epistola ad Paulinum 154 Hippokrates XXXIV, 123, 361 Homonymie s. Äquivozität Hugo von St. Viktor 184 –– Didascalicon 184 Humanismus XII, XIII–XIV, XVI, XX, XXX; XXXII–XXXIII, XXXVIII Humanitas XV, XXXIII 100-Örter-Modell XVIII, XXI, XXIX–XXX, XXXII, 61 A., 77 A., 85 A., 95 A., 277 A., 303 A. Hypocrates 123 Imagines passim –– agentes XXXVII, 180 Incipit XVII, XXI, XXIV, XXVII, XXIX, XXXIII, 1, 4, 109–110, 145–146, 187, 190, 259, 262, 333, 336 Intellektualgedächtnis XV Intellectus, voluntas, memoria XIV, XXXV, 58, 96, 150, 182, 198, 210, 336 Isidor von Sevilla 153 A. –– Etymologiae 175 A., 378 Isokrates XIII

     409

    Johannes de Janua –– Catholicon 67 A. Johannes Franciscus de Mantua s. Gonzaga, Giovanni Franceso de Kanaa, Hochzeit zu XXII Kartenspiel XIX, XXIX, XXXI, 63, 69, 71, 293, 295, 297 A., 299 Klangähnlichkeit XXV, 230, 234, 236–252 Kloster XII, XXVII, 7, 133, 174, 188, 229 Klugheit s. prudentia Kodierung XX Köln XXXIII, 33, 334 Körperlozierung 42, 50, 54, 72–77, 82, 84, 90, 94, 102, 222, 244, 276, 316 Körpersprache XIX, XXXVII Kommunikationssituation XIII, XIV, XXXII Kompilation 233 Kontrarietät XXII, 346, 372 Konzil, Basler XXVII A., XXVIII A. Krakau XXXIII Kryptographie XX, 334 Kunstwörter XIX, XX, 61, 67, 83, 86–93, 102–105, 253, 286–289, 351, 387 Laie XVII, 197 Laienkultur XXXII Laktanz (Lactantius) 378 Lectio 148 –– monastische XXVIII Leipzig XXXIII Leithandschrift VII, XXXIX, 109, 145, 188, 333 Leonardo Giustiniani s. Leonardus Justinianus Leonardus Justinianus XI, XII Lernhilfen XII Leserichtung XIX Leuven XXXIII Litterae s. Alphabet, s. scientiae litterarum Loca passim Loci communes XIII, XIV Lodovico da Pirano XI, XII, XIV, XVII A. Logik XVIII, 27 A., 59, 63, 67, 93 A., 95, 97 Logisch-kategoriale Ordnung XV, XVII, XXI, XXII, XXIII Lucia, Hl. s. Heiligenlegenden

    410 

     Namen und Sachen

    Ludovicus Strassoldo de Pirano s. Lodovico da Pirano Matthaeus de Verona XIV, XVIII A., XXX, XXXII, 4 –– De arte memorandi XIV, XVII, XXII, XXIX, 4–108 Matthaeus-Evangelium s. Evangelien Matteo de’Corsini XIV Meditatio XXIV, XVII, XXIV, XXVIII, 138, 196–200, 210, 212, 218, 222, 234, 254, 342–344, 354, 358 Memorabilia XIII, 26, 62 Memoria passim –– rerum X –– verborum X, XI, XII, XIV, XX, XXV Merismos XXXV Merkverse XXVI, 110, 184 Merkzettel XIX, 105 Metonymie s. Ähnlichkeit XXV, XXXI, XXXVII Metrifizierung XXXVII Mnemosyne 337 Monate (Zeichen der) 13, 47, 309, 381 Mundus intellectualis XV Mutation XIX–XX, 33 A. Nummerierung XIX–XX, XXVI, XXX, XXXVII, 6, 10–13, 20–27, 38, 52–55, 72, 74, 90, 110, 112 A., 180, 184, 354–357 Octo beatitudines XXVI, 170–174 Örter passim Onomatopöie XXXVII, 380 Oratio 44, 54, 56, 86, 90, 204, 218, 220, 252 Ordensstudien XII Ordnungsprinzipien XXII, XXIII, XXVI, XXXII Origenes 61 Orthographie XVIII, 26 Ovid –– Metamorphosen XXXVII, 376, 380, 383 A., 387 A., 393 A. Oxymoron XXXV Padua XIV, XVII, XVIII, XXIII, 1, 80 Paris XVII, XXVII, 187 –– Universität XXVII, XXVIII A., 27 A.

    Paulinus von Aquileia 104 Perzeption s. Wahrnehmung Petrarca, Francesco XIII, XIV, XXXIII Petrus de la memoria s. Petrus de Ravenna Petrus de Ravenna XIV, XXXIII A. Petrus Franciscus de Urbe Veteri XII, XVII A. Petrus Lombardus XVII, 101 A. Petrus Ravennas s. Petrus de Ravenna Petrus Thomasius Ravennas s. Petrus de Ravenna Philosophie XXI, XXIX, 2, 67 A., 190 Platon XXXIV, XXXV, 63 A., 213 A., 338, 342, 360, 390 Plinius d. Ä. –– Naturalis historia 357 A. Porphyrios XV –– Isagoge XVIII, 30, 97 A. Prädikabilien XV, XIX, XX, 8–9, 97 A. Prädikamente XX, 96–97, 110–111 Predigt 59, 63, 87, 91, 105. 135, 159. 163, 169, 177, 179, 185, 197, 251–253 Prolog XXIV, XXVII, XXVIII, XXV, 209, 336 Prosodie XVIII, 27 Prudentia 193, 379 Psalmen 140, 150, 182, 183 A., 184, 196 Publicio, Giacomo s. Jacobus Publicius Publicius, Jacobus V, XIII–XIV, XVII–XVIII, XXXIII–XXXVIII, 333–395 Quaestiones XIX, 59, 63, 89, 101, 103 Quintilian XI –– Institutio oratoria 33 A., 338, 348, 356 Ragona Vicentinus Jacobus XXIX f. –– Artificialis memoriae regulae XVII, XXIX, 259–260, 262–331 Redaktion XXVIII, 188 Rede XIII, XXIV–XXV, XXXI, XXXVI, 13, 45, 57, 59, 89, 111, 113, 153, 177, 203, 205, 227, 245, 343. 347, 349 Reminiscentia XXXV, 200, 201, 210, 211, 218, 219, 222, 223, 234, 254, 340, 342, 360, 384 Rhetorica ad Herennium X–XI, XIII, XVIII–XIX, XXII, XXV, XXVI, XXX, XXXVI–XXXVII, 22, 42, 110–111, 121, 136–139, 145–151, 154–155, 178, 180, 192–193, 198–199,

    Namen und Sachen 

    201–205, 208–213, 216, 222–229, 232–235, 240, 264, 278, 342, 356 Rhetorik X–XIII, XVI, XX, XXXIII, XXXVIII, 59 Sabinus Calvinus XXXV, 337 Sabinus Itacensis XXXIV, 360–361 Salamanca XXXIII Sallust XXXIII, XXXV, 346–347 Salutati, Coluccio XIII–XIV, 121 Schachspiel XIX, XXIX, 63, 70–73, 273 Schemata XXIV, 109 Schlüsse, logische XIX, XXXVII, 92–93 A., 94–95 A., 97 A., 251, 393 Schrift 30, 126, 136–141, 148, 224–227, 234, 238–241, 244–247, 254 Scientia 4, 56, 58, 62, 94, 102–105, 142, 152, 160, 184, 192, 198, 204–209, 230, 236, 256 Scientiae litterarum XIV Scolares XVII–XVIII, 1, 4, 234 Seele XXIII, 115, 119, 125, 129, 147, 151, 153, 161, 167, 173, 181, 193, 197, 207, 211, 219 Seelenkräfte IX, XXIII, XXV, XXXV, 213 A. Seneca d. Ä. XXII, 137–139, 146–147, 190–193, 198, 200–201, 206–207, 337 –– Controversiae XXV, 138, 146–147 A., 190, 192, 206 Sentenz 56, 59 A., 63, 90, 101, 126, 153 A., 165 A., 250, 393 Sermo s. Predigt Silbenmetathese XIX–XX, XXXI, 33, 38–41, 78, 286–289, 351, 387 Similitudo s. Ähnlichkeit Simonides XXXV, 338–339 A. Skriptorium XII Sophisten XI, XIII Sprachtheorie XXI Städtenamen XXXII, 305, 307 Sprachgebrauch s. usus Studenten XII Studia humanitatis XV, XXXIII Studien XII, XV, XXIV, XXVI, XXIX, XXXIII, 136, 138, 174, 204, 233, 336 Substanzen XX, XXIX, 4, 20, 97 A., 218–219, 230–231, 246–247, 384, 386–387 Subtraktion, Detraktion XIX, 32–39 Syllogismus s. logische Schlüsse

     411

    Symbol XXV, XXXVII, 71 A., 295 A., 337 Synonymie s. Ähnlichkeit 79, 395 A. Syntax s. Diasynthetik XXXIX, 1 Szklarek, Jan XXXIII A. Temperamentenlehre XXIII, 116, 124 Terenz XXXIII –– Heauton timorumenos XXXVII, 374 Themistocles XXXV, 338–339 Thomas von Aquin XXI, XXVIII, XXX, 28–29, 46–47, 60–63, 67 A., 101 A., 103, 192–193, 213 A.. 216, 222, 248, 262–265, 370 Transposition XIX, 38, 40 Tolosa XXXIII–XXXIV, 333 Topik, Topoi XIII, XXXV, XXXVIII, 96–97, 393 A. Trinität XXVII, 142, 152 Truppenschau XXXI–XXXII, 63, 75, 319, 323, 327 Umhauser, Christian XIV Universität XII, XXIII, XXVII, XXXIII, 1, 27, 133 A., 233 A. Überlieferung IX, XV, XVI, XVII, XX–XXI, XXVII, XXIX, XXXIII, XXXIV, XXXVIII, XXXIX, 109, 145, 165 A, 188, 259, 333, 334, 339 A. –– Konsistenz XXIX –– Überlieferungsgemeinschaft XIV, XXIV, 1 Usus XIII–XIV, XXXII, 198, 288, 344, 358 Vacacio, mansuetudo, sobrietas XXVI, 140, 150–152, 154–155, 172, 184–185, 210–211 Valerius Maximus –– Facta et dicta memorabilia XXXV, 346–347 Venedig XXXIV, 1, 259, 292–293, 304–307, 318, 323–325, 333, 395 Vergil XXXV, 121, 135, 347 –– Aeneis XXXV, XXXVII, 44, 346–348, 376–377, 388 –– Georgica XXXVII, 380–381, 390–391 Verona XVI–XVIII, XII, XXIX–XXX, XXXII, 1, 4–5 Vicenza XXIX, 262–263 Vinzenz von Beauvais 154 Virgilius Maro Grammaticus XX

    412 

     Namen und Sachen

    Vita corporalis 192 Vita intellectualis/spiritualis 194 Vittorino da Feltre XXX Wachstafelgleichnis X, XXX, 149 Wahrnehmung 217, 351, 389 Wanderhumanist XXXIII, XXXVIII Wien XXIII, XXVII, XXXIII, 109, 187, 333 Wissenssystem XII, XXIII Wochentage (Zeichen der) XXXII, XXXVII, 383 Würfelspiel XIX, XXIX, 63, 69, 75

    Zahlen XXII–XIX, XXX–XXXI, XXXVII, 7, 9, 11, 13, 21, 51, 69, 73, 75, 77, 79, 87, 93, 95, 101, 111, 113, 149, 171, 181, 185, 225, 227, 229, 247, 279, 299, 301, 303, 305, 313, 315, 317, 349, 355, 357, 369 Zeichen XXXVII, 9, 11, 13, 111, 113, 149, 155, 157, 159, 177, 253, 293. 305, 309, 313, 319, 325, 337, 345, 357, 359, 371, 373, 375, 377, 379, 389, 391, 393, 395 Zeichentheorie XX Zenon XXXIV–XXXV, 338–339 A.