Diskriminierung und Beschränkung: Grundansätze einer einheitlichen Dogmatik der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages [1 ed.] 9783428513437, 9783428113439

Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages beeinflussen maßgeblich die ökonomische Komponente staatlicher Zusammenschlüsse, we

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German Pages 480 [481] Year 2004

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Diskriminierung und Beschränkung: Grundansätze einer einheitlichen Dogmatik der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages [1 ed.]
 9783428513437, 9783428113439

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AXEL MÜHL

Diskriminierung und Beschränkung

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 104

Diskriminierung und Beschränkung Grundansätze einer einheitlichen Dogmatik der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages

Von Axel Mühl

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 703 Alle Rechte vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11343-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2003 von der Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis April 2003 berücksichtigt. Zu Dank verpflichtet bin ich in erster Linie meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Rudolf Streinz. Er hat mir die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der reizvollen Thematik der grundfreiheitlichen Dogmatik ermöglicht und den Entstehungsprozess dieser Arbeit durch zahlreiche wertvolle Anregungen, Hinweise und Ratschläge gefördert. Seine stete Gesprächsbereitschaft, verbunden mit der Toleranz gegenüber individuellen Denkansätzen, hat wesentlich zum Gelingen der vorliegenden Schrift beigetragen. Herrn Privatzdozent Dr. Wolfgang Weiß danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meinen Freunden Dr. Holger Pittroff LL.M., Dr. Stefan Plötscher LL.M., Dr. Isabel Schübel-Pfister, Hagen Christmann, Stefanie Klink, Tina Stengele und Anja Kotter. Sie alle haben mich bei meinem langen Lauf über den Campus begleitet und mich bei der Arbeit unterstützt; ohne sie wäre meine Zeit als Doktorand in Bayreuth bedeutend ärmer geblieben. Schließlich habe ich Herrn Professor Dr. Siegfried Magiera und Herrn Professor Dr. Dr. Detlef Merten für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe zu danken.

Stuttgart, im Juli 2003

Axel Mühl

Inhaltsübersicht Einleitung

27

1. Teil Abstrakte Strukturelemente der Grundfreiheiten 1. Kapitel: Vorfragen

30

A. Die Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel... B. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur

30 49

2. Kapitel: Der Diskriminierungsbegriff als Kernelement einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten

62

A. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot (Art. 12 EG) B. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung

63 77 101

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung - Die Grundfreiheiten im teleologisch-systematischen Kontext des EG-Vertrages 112 A. Systembildende Strukturen der Grundfreiheiten 113 B. Materielle Verbindungslinien zwischen den Grundfreiheiten und übergeordneten Prinzipien des EG-Vertrages 121 C. Diskriminierung und Beschränkung 198

2. Teil Die grundfreiheitliche Prüfung in der Praxis 4. Kapitel: Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten A. Sachlicher Anwendungsbereich B. Persönlicher Anwendungsbereich C. Räumlicher Anwendungsbereich

248 249 267 289

10

Inhaltsübersicht

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten A. Verpflichtete der Grundfreiheiten B. Allgemeine Charakteristika beeinträchtigender Maßnahmen C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen 6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen A. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten B. Schranken-Schranken C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen 7. Kapitel: Zusammenfassung und PrUfungsschema

292 293 320 324 345 346 370 379 415

A. Zusammenfassung in Thesen

415

B. Schema der grundfreiheitlichen Prüfung

420

Schlussbetrachtung

422

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

425

Literaturverzeichnis

441

Sachwortverzeichnis

474

Inhaltsverzeichnis Einleitung

27

1. Teil Abstrakte Strukturelemente der Grundfreiheiten 1. Kapitel: Vorfragen A. Die Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel... I. Erfordernis einer einheitlichen Dogmatik 1. Vorteile der Entwicklung dogmatischer Strukturen a) Förderung von Rechtssicherheit und -klarheit b) Erleichterung der Rechtsanwendung c) Akzeptanz 2. Defizite im Vertragstext und in der Rechtsprechung des EuGH a) Normtext aa) Tatbestandsebene bb) Rechtfertigungsebene b) Judikatur betreffend die Grundfreiheiten aa) Der Diskriminierungsbegriff in der Judikatur des EuGH bb) Differenzierung zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen cc) Die Übertragbarkeit der ATec/r-Rechtsprechung auf andere Grundfreiheiten dd) Rechtsprechung zur sog. Drittwirkung der Grundfreiheiten 3. Grundprinzipien einer praktischen Dogmatik a) Mögliche Nachteile dogmatischer Methodik aa) Dogmatik im Allgemeinen ( 1 ) Dogmatik vs. Case Law (2) Grundsätzliche Ambivalenz (3) Kein Bezug zu Durchschnittsfällen? bb) Einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten b) Folgerungen für eine praktische Dogmatik aa) Simplifizierung und Komplexität bb) Konsensfähigkeit cc) Rechtsdogmatik und Praxis

30 30 32 32 32 33 34 35 35 36 37 37 38 39 41 42 43 44 44 44 44 45 45 46 46 47 47

12

nsverzeichnis

II. Zielvorgaben B. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur I. Der EG-Vertrag als Ausgangspunkt und Begrenzung 1. Notwendigkeit einer Bindung an den Vertragstext 2. Der Zweck der Grundfreiheiten als maßgebliches Kriterium a) Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages b) Das Binnenmarktziel als Telos der Grundfreiheiten 3. Ergänzung durch übergeordnete Vertragsprinzipien a) Der Begriff des Prinzips b) Konsequenzen II. Die Einbeziehung der Rechtsprechung des EuGH 1. Rechtsvergleichende Betrachtung a) Dogmatik vs. Case Law b) Konsequenzen fur eine Dogmatik der Grundfreiheiten 2. Die Rolle des EuGH im europäischen Rechtsfindungsprozess a) Rechtsfortbildung durch europäisches Richterrecht b) Folgerungen

51 52 53 54 55 55 56 57 57 58 58 60

2. Kapitel: Der Diskriminierungsbegriff als Kernelement einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten

62

A. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot (Art. 12 EG) I. Der Inhalt des allgemeinen Diskriminierungsverbotes 1. Diskriminierung a) Geltung und Wirkung nationaler Maßnahmen b) Diskriminierungsverbot und allgemeiner Gleichheitssatz 2. Die Staatsangehörigkeit als verbotenes Kriterium a) Begünstigter Personenkreis b) Diskriminierung „aus Gründen" der Staatsangehörigkeit 3. Rechtfertigungsmöglichkeiten II. Die Grundfreiheiten als „besondere Bestimmungen" gemäß Art. 12 Abs. 1 EG 1. Vertragstext und -systematik 2. Rechtsprechung 3. Stellungnahme III. Folgerungen für den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff B. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs I. Anforderungen an den Diskriminierungsbegriff II. Der Diskriminierungsbegriff im Wortlaut des EG-Vertrages 1. Ausdrückliche Bezugnahme auf „Diskriminierungen"

48 49 49 49 51

63 64 65 65 66 68 68 69 71 73 73 74 74 76 77 77 78 78

nsverzeichnis

2. Gleichbehandlungsgebote im weiteren Sinne 80 III. Der (unbestimmte) Diskriminierungsbegriff des EuGH 81 1. Terminologische Differenzierungen 81 2. Erweiterung des Diskriminierungsbegriffs durch den EuGH 82 3. Rechtfertigungsdogmatik 84 IV. Die Ansicht Kingreens et al. - der sog. „materielle" Diskriminierungsbegriff 86 V. Diskriminierung aufgrund formaler Kriterien 90 1. Ungleichbehandlung 91 a) Einseitige Wirkrichtung 91 b) Differenzierung . 92 2. Begründungsverbote oder Anknüpfungsverbote? 93 3. Verbotene Differenzierungskriterien 95 a) Staatsangehörigkeit 95 b) Produktherkunft bzw. -destination 96 c) Sonstige Kriterien (insb. der Grenzübertritt) 97 4. Vergleichsrichtung 98 5. Konvergenz der Grundfreiheiten 99 VI. Zwischenergebnis 101 C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung 101 I. Offene und versteckte Diskriminierung 102 1. Offene Diskriminierung 102 2. Versteckte Diskriminierung 103 a) Begriff und Begründung 103 b) Differenzierung anhand „neutraler" Merkmale 104 aa) Typisierende Betrachtungsweise 105 bb) Statistische Betrachtungsweise? 106 II. Sonderfall: Inländerdiskriminierung 107 1. Begriff und Entstehungsvoraussetzungen 107 2. Lösung der Problematik 109

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung - Die Grundfreiheiten im teleologisch-systematischen Kontext des EG-Vertrages 112 A. Systembildende Strukturen der Grundfreiheiten 113 I. Das äußere System des EG-Vertrages 113 1. Einteilung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten im Vertragstext 113 a) Art. 3 Abs. 1 lit. c EG als Ausgangspunkt 114 b) Die Systematik innerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften des Dritten Teils des EG-Vertrages 115 aa) Titel I des Dritten Teils des EG-Vertrages 115

14

nsverzeichnis

bb) Titel III des Dritten Teils des EG-Vertrages 2. Kritik II. Die innere Ordnung der Grundfreiheiten 1. Auffassungen im Schrifttum 2. Eigene Ansicht B. Materielle Verbindungslinien zwischen den Grundfreiheiten und übergeordneten Prinzipien des EG-Vertrages I. Die Binnenmarktkonzeption als Interpretationsansatz 1. Die Wechselwirkung von Binnenmarkt und Grundfreiheiten 2. Entwicklung des Binnenmarktziels a) Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt b) Gemeinsamer Markt vs. Binnenmarkt aa) Regelungsgegenstand bb) Regelungsziel cc) Zusammenfassung c) Folgerungen für eine Dogmatik der Grundfreiheiten 3. Inhalt der Binnenmarktkonzeption a) Marktfreiheit und Marktgleichheit aa) Marktfreiheit (1) Ökonomisch indizierte Hemmnisse (2) Die föderale Komponente des Binnenmarktes (3) Restriktion durch grenzüberschreitenden Bezug (4) Zwischenergebnis bb) Marktgleichheit b) System unverfälschten Wettbewerbs c) Zusammenfassung 4. Zwischenergebnis II. Kompetenzfragen 1. Die Anforderungen des Art. 5 EG a) Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung aa) Art. 5 Abs. 1 EG als Ausgangspunkt bb) Ergänzungen (1) Art. 308 EG (2) Lehre der „implied powers" cc) Konsequenzen für eine Dogmatik der Grundfreiheiten ( 1 ) Dieföderale Struktur der Gemeinschaft (2) Rückwirkung der Grundfreiheiten auf die Kompetenzverteilungsordnung (3) Wechselwirkungen (4) Konvergente Strukturen b) Subsidiaritätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aa) Art. 5 Abs. 2 EG

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nsverzeichnis

( 1 ) Formale Bindung des EuGH an Art. 5 Abs. 2 EG? (2) Materielle Ausstrahlungswirkung des Subsidiaritätsprinzips auf die Grundfreiheiten (3) Präzisierungen im Hinblick auf eine grundfreiheitliche Dogmatik bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1) Art. 5 Abs. 3 EG als Kompetenzausübungsregel (2) Folgerungen 2. Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach Art. 10 EG 3. Grundfreiheiten und Rechtsangleichung 4. Zwischenergebnis III. Grundfreiheiten und Umweltschutz 1. Die Entwicklung des Umweltprinzips als Prozess a) Primärrecht aa) Implementierung des Umweltschutzgedankens durch die EEA.. (1) Handlungsprinzipien, Querschnittsklausel und Berücksichtigungsgebote (2) Aufgaben Verteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bb) Neuorientierung nach Maastricht ( 1 ) Grundsatzbestimmungen (2) Hohes Schutzniveau mit regionalem Bezug (3) Handlungsprinzipien, Querschnittsklausel und Berücksichtigungsgebote (4) Aufgaben Verteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten cc) Primärrechtliche Verankerung des Umweltprinzips nach Amsterdam (1) Art. 2 EG (2) Schutzniveauklausel (3) Art. 6 EG (4) Nationale Schutzverstärkung nach Art. 95 Abs. 4 und 5 EG b) Rechtsprechung des Gerichtshofs aa) ADBHU bb) Dänische Pfandflaschen cc) Titandioxid et al dd) Wallonien ee) PreussenElektra c) Ergebnis 2. Konsequenzen für eine grundfreiheitliche Dogmatik a) Tatbestandsebene b) Rechtfertigungsebene

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nsverzeichnis

IV. Zwischenbilanz C. Diskriminierung und Beschränkung I. Vertragstext 1. Primärrechtliche Anknüpfungspunkte für ein Diskriminierungsverbot.. a) Personen Verkehrsfreiheiten b) Produktverkehrsfreiheiten 2. Primärrechtliche Anknüpfungspunkte für ein weitergehendes Beschränkungsverbot a) Personenverkehrsfreiheiten b) Produktverkehrsfreiheiten 3. Folgerungen II. Rechtsprechung 1. Produktverkehrsfreiheiten a) Grundfreiheitliches Diskriminierungsverbot b) Dassonville c) Die Cassis- Rechtsprechung d) Oebel et al €)Keck f)Post-Keck g) Zusammenfassung 2. Personenverkehrsfreiheiten a) Klassisches Verständnis der Personenverkehrsfreiheiten b) Anerkennungsfälle c) Maßnahmen mit mobilitätsbeschränkender Wirkung 3. Ergebnis III. Literatur 1. Gleichheitsrechtliche Ansätze 2. Freiheitsrechtliche Ansätze 3. Weitergehende Ansätze a) Die Ansicht Hoffmanns b) Grundfreiheiten als Grundrechte? IV. Eigener Ansatz 1. Der gleichheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten (Diskriminierungsverbot) 2. Der freiheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten (Beschränkungsverbot) 3. Der Zusammenhang zwischen Diskriminierung und Beschränkung a) Dogmatische Verklammerung b) Das grundfreiheitliche Stufenmodell aa) Offene Diskriminierung bb) Versteckte Diskriminierung cc) Bloße Beschränkung

197 198 200 201 201 202 203 204 205 205 206 207 207 208 209 210 213 216 219 220 220 222 224 227 228 229 232 234 234 236 238 239 241 244 245 245 245 246 246

nsverzeichnis

dd) Sonstige Maßnahmen 4. Ergebnis

246 247

2. Teil Die grundfreiheitliche Prüfung in der Praxis

4. Kapitel: Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten

248

A. Sachlicher Anwendungsbereich 249 I. Die Abgrenzung der einzelnen Grundfreiheiten untereinander 250 1. Bedeutung und Besonderheiten 250 2. Abgrenzungen im Einzelnen 252 a) Freier Warenverkehr 252 b) Arbeitnehmerfreizügigkeit 253 c) Niederlassungsfreiheit 255 d) Dienstleistungsfreiheit 256 e) Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs 258 II. Der grenzüberschreitende Bezug als gemeinsames Merkmal 259 1. Dogmatische Verortung 259 2. Praktische Prüfung 261 3. Rückkehrerfälle und andere Inländerbelastungen 263 III. Bereichsausnahmen 265 B. Persönlicher Anwendungsbereich 267 I. Vorbemerkung: Die Grundfreiheiten als subjektive Rechte 268 1. Exkurs: Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 269 2. Anhaltspunkte fur ein subjektiv-rechtliches Verständnis der Grundfreiheiten 270 a) Vertragstext 270 b) Rechtsprechung 272 II. Natürliche Personen 273 1. Grundsatz 274 2. Restriktionen 276 a) Staatsangehörigkeit 276 b) Ansässigkeit 278 3. Erbringer und Empfänger wirtschaftlicher Leistungen 279 4. Konvergenz der Grundfreiheiten? 280 III. Juristische Personen und Personenmehrheiten 282 1. Keine Einschränkung auf natürliche Personen 282 2. Konkretisierungen 283 a) Waren-, Kapital- und Zahlungsverkehr 284

2 Mühl

18

nsverzeichnis

b) Grundfreiheiten mit notwendigem Personenbezug IV. Zusammenfassung C. Räumlicher Anwendungsbereich

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten A. Verpflichtete der Grundfreiheiten I. Die Mitgliedstaaten als primäre Adressaten II. Die Drittwirkungsproblematik 1. Private Rechtssubjekte als Verpflichtete der Grundfreiheiten a) Vertragstext b) Rechtsprechung des EuGH aa) Personen Verkehrsfreiheiten ( 1 ) Walrave und Koch (2) Dona (3) van Ameyde (4) Haug-Adrion (5) Bosman (6) Angonese bb) Waren Verkehrsfreiheit (1) Tonträger (2) Dansk Supermarked (3) van de Haar (4) Vlaamse Reisbureaus (5) Bayer cc) Zwischenergebnis 2. Konkretisierung a) Unmittelbare Drittwirkung? b) Mittelbare Drittwirkung 3. Konvergenz der Grundfreiheiten III. Die Gemeinschaft und ihre Organe B. Allgemeine Charakteristika beeinträchtigender Maßnahmen I. Begriff der Maßnahme II. Tun und Unterlassen III. De minimis non curat praetor? C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen I. Diskriminierung 1. Offene Diskriminierung 2. Versteckte Diskriminierung 3. Inländerdiskriminierung II. Beschränkung

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292 293 294 296 297 297 299 300 300 301 302 302 303 305 305 306 3 06 307 308 309 310 311 312 314 317 319 320 321 321 322 324 324 325 325 327 328

Inhaltsverzeichnis

1. Bedeutung der /^^-Rechtsprechung a) Grundsätzliche Anwendung b) Sonderfall: Werbung aa) Produktbezogenes Marketing-Mix bb) Euro-Marketing 2. Übertragbarkeit der /^^-Rechtsprechung auf andere Grundfreiheiten. a) Anhaltspunkte in der grundfreiheitlichen Judikatur aa) AIpine Investments, Deliège bb)Bosman cc) Semer aro b) Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte 3. Einfuhrfreiheiten und Ausfuhrfreiheiten

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen A. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten I. Anknüpfungspunkte im EG-Vertrag 1. Klassische grundfreiheitliche Rechtfertigungsgründe a) Die Regelungen im Einzelnen b) Konvergenzen und verbleibende Differenzierungen 2. Weitere positi vierte Rechtfertigungsmöglichkeiten a) Art. 86 Abs. 2 EG b) Gemeinschaftsrechtliches Umweltprinzip aa) Wortlaut der Vertrags Vorschriften ( 1 ) Grundfreiheitliche RechtfertigungsVorschriften (2) Sonstige vertragliche Bestimmungen bb) Rechtsprechung cc) Folgerungen c) Konvergenz der Grundfreiheiten II. Die Erweiterung der Rechtfertigungsgründe durch den EuGH 1. „Immanente Schranken" im Sinne der Cass/s-Rechtsprechung a) Entwicklung der Rechtsprechung aa) Waren Verkehrsfreiheit ( 1 ) „Zwingende Erfordernisse" (2) Dissonanzen bb) Dienstleistungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit cc) Freier Kapital- und Zahlungsverkehr dd) Konvergenz der Grundfreiheiten b) Dogmatische Einordnung der Cte/s-Kriterien 2. Alternativlösung: Extensive Auslegung der Schrankenbestimmungen? 2*

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328 329 331 331 333 336 336 336 338 338 339 342

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nsverzeichnis

III. Zusammenfassung B. Schranken-Schranken I. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 1. Dogmatische Herleitung 2. Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung 3. Unterschiedliche Kontrolldichte a) Unterschiede zwischen den einzelnen Grundfreiheiten b) Diskriminierung und Beschränkung II. Gemeinschaftsgrundrechte III. Sekundärrecht C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen I. Normtext II. Judikatur 1. Produktverkehr a) Wallonien b) De Agostini c) Decker d) Dusseldorp e) Aher-Waggon Ï) TK-Heimdienst Sass g) PreussenElektra h) Zwischenergebnis 2. Personenverkehr a) Versicherungsurteil b)Groener c) Bachmann d) Ramrath e) Svensson f) Bosman g) Futura Participations h)Kohll i)Saßr j) Clean Car Autoservice k) Imperial Chemical Industries 1) Terhoeve m) Ciola n) Vestergaard o) Angonese 3. Stellungnahme III. Eigener Lösungsansatz 1. Einheitslösung? 2. Festhalten an der Differenzierung

370 370 371 372 372 375 375 376 377 378 379 380 381 381 383 384 385 386 388 388 389 390 391 392 393 394 395 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 407 410

nsverzeichnis

a) Lösung 1 : Offene und versteckte Diskriminierungen unterliegen allein den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des EG-Vertrages.. 411 b) Lösung 2: Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Cassis- Kriterien auf versteckte Diskriminierungen 412 3. Fazit 413

7. Kapitel: Zusammenfassung und Prüfungsschema A. Zusammenfassung in Thesen B. Schema der grundfreiheitlichen Prüfung I. Tatbestandsebene II. Rechtfertigungsebene

415 415 420 420 421

Schlussbetrachtung

422

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

425

Literaturverzeichnis

441

Sachwortverzeichnis

474

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. ABl.EG Abs. Abschn. AcP a.E. a.F. AgrarR allg. amtl. AöR arg. Art., Artt. BayVBl. BB BBPS Bd. BGB BGBl. BGH BGHZ BierStG BK BT-Drucks. Bull.BReg BV BVerfG BVerfGE bzgl. bzw. CDE CEE c.i.c.

anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis am Ende alte Fassung Agrarrecht (Zeitschrift) allgemein(e) amtlich(e/er) Archiv des öffentlichen Rechts argumentum Artikel Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Betriebsberater (Zeitschrift) Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil (vgl. Literaturverzeichnis) Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Biersteuergesetz Bonner Kommentar (vgl. Literaturverzeichnis: DolzerlVogel) Bundestags-Drucksache Bulletin der Bundesregierung Besloten Vennootschap (niederländische Gesellschaftsform) Β undes Verfassungsgericht

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich beziehungsweise Cahiers de Droit Européen - Communauté Economique Européenne - Communità Europea Economica culpa in contrahendo

Abkürzungsverzeichnis

CMLRev. d. DB DCSI ders. d.h. dies. diff. Dok. KOM DÖV DRiZ DV DVB1. DZWir EA EAG EAGV ebd. EEA EEC EG

EGKS EGKSV EGV ELJ ELR EMRK endg. EP et al. EU EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW

23

Common Market Law Review der, des Der Betrieb (Zeitschrift) Diritto Communitario e degli Scambi Internazionali (Zeitschrift) derselbe das heißt dieselbe differenzierend Dokumente der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung Die Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europaarchiv (Zeitschrift), Europaabkommen Europäische Atomgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft ebenda Einheitliche Europäische Akte European Economic Community Europäische Gemeinschaft, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (in der revidierten Fassung nach dem Amsterdamer Vertrag) Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (in der Fassung nach dem Vertrag von Maastricht) European Law Journal European Law Review Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) endgültig Europäisches Parlament et alii Europäische Union, Vertrag über die Europäische Union (in der Fassung nach dem Amsterdamer Vertrag) Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

24 EWG EWGV EWS f., ff. frz. FS Fußn. GA GATS GATT GbR gem. ggf· ggü. GHP GmbH grds. GRUR GRUR Int. GS GTE HdSW Hervorh. h.L. h.M. Hrsg. HStR ICLQ i.d.R. i.e. i.E. insb. IntGesR IPRax i.S.d. i.S.e. i.Ü. i.V.m. JA

Abkürzungsverzeichnis Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) folgende französisch(e/es) Festschrift Fußnote(n) Generalanwalt General Agreement on Trade in Services General Agreement on Tariffs and Trade Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemäß gegebenenfalls gegenüber Gemeinsame Handelspolitik Gesellschaft mit beschränkter Haftung grundsätzlich Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht. Internationaler Teil (Zeitschrift) Gedächtnisschrift von der GroebenIThiesinglEhlermann (vgl. Literaturverzeichnis) Handbuch der Sozialwissenschaften (vgl. Literaturverzeichnis: von Beckerath) Hervorhebung herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Literaturverzeichnis: Isensee/Kirchhof) International and Comparative Law Quarterly (Zeitschrift) in der Regel id est im Einzelnen, im Ergebnis insbesondere Internationales Gesellschaftsrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift) im Sinne der/des im Sinne einer/eines im Übrigen in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis

JBl. Jura JuS JZ Kfz KG krit. lit. LS MJ m.w.N. NJ NJW Nr. NuR NVwZ OGH OLG ÖZöR N.F. ÖZöRV RabelsZ RdA RIW RL Rn. Rs. Rspr. S. SA SEW Slg. s.o. sog. SpuRt StGB StrEinspG st. Rspr. TRIPS u. u.a. UAbs.

25

Juristische Blätter (Zeitschrift) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung Kraftfahrzeug Kommanditgesellschaft kritisch litera Leitsatz Maastricht Journal of European and Comparative Law mit weiteren Nachweisen Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift Nummer Natur und Recht (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberster Gerichtshof (Österreich) Oberlandesgericht Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Neue Folge Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit (Zeitschrift) Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Richtlinie Randnummer(n) Rechtssache Rechtsprechung Satz, Seite Société Anonyme, Società Anonima Sociaal-economische Wetgeving (Zeitschrift) Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften siehe oben so genannte(n/r/s) Sport und Recht (Zeitschrift) Strafgesetzbuch Stromeinspeisungsgesetz ständige Rechtsprechung Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights und unter anderem, und andere Unterabsatz

26

UCI UEFA UPR URBSFA UrhG v. Verb. Rs. Verf. vgl. VO Vorbem. vs. VSSR WiVerw WM WRP WuW WVRK ZaöRV ZAR z.B. ZEuP ZEuS ZfRV ZG ZHR ZIP ZLR ZÖR z.T.

Abkürzungsverzeichnis

Ufficio Centrale Italiano di Assistenza Assicurativa Automobilisti in Circulazione Internazionale Union des associations européennes de football Umwelt- und Planungsrecht (Zeitschrift) Union royale belge des sociétés de football association ASBL Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) von Verbundene Rechtssachen Verfasser, Verfassers vergleiche Verordnung Vorbemerkung versus Vierteljahresschrift für Sozialrecht Wirtschaft und Verwaltung (Zeitschrift) Wertpapiermitteilungen (Zeitschrift) Wettbewerb in Recht und Praxis (Zeitschrift) Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zeitschrift für öffentliches Recht zum Teil

Einleitung „[...] atque ex his debere concludi ea omnia, quae clare et distincte concipiuntur, ut substantiae diversae, sicuti concipiuntur mens et corpus, esse re vera substantias realiter a se mutuo distinctas.'

„Haec mentis idea eodem modo unita est menti, ac ipsa mens unita est corpori."

Baruch de Spinoza , Ethica, Pars Secunda, Propositio XXI

René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Synopsis, 3

Europa besitzt eine lange Tradition. Seine kulturgeschichtlichen Wurzeln reichen bis in die Antike zurück. 1 Das Europarecht im engeren Sinne, i.e. das Recht der Europäischen Gemeinschaften, lässt sich demgegenüber als ein junges Rechtsgebiet bezeichnen;2 die Gründungsverträge datieren aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. 3 Zugleich ist die europäische Rechtsordnung von einer besonderen Dynamik geprägt. Dies zeigt sich zunächst in der Erweiterung des räumlichen Geltungsbereichs der Verträge. 4 Von ursprünglich sechs unterzeichnenden Nationen ist die Zahl der Mitgliedstaaten binnen kurzer Zeit auf nunmehr 15 angewachsen.5

1

Näher hierzu Oppermann, Rn. 4; Streinz, Rn. 7. Zum Begriff „Europarecht" vgl. nur Herdegen, Rn. 2 ff.; Streinz, Rn. 1 ff. 3 Der EGKSV wurde am 18.4.1951 unterzeichnet, die Unterzeichnung von EAGV u. EWGV erfolgte am 25.3.1957. Am 23.7.2002 trat der EGKSV durch Ablauf seiner zeitlichen Geltungsdauer außer Kraft; vgl. hierzu Obwexer, EuZW 2002, 517 ff. 4 Zum räumlichen Geltungsbereich z.B. des EG-Vertrages vgl. Artt. 188 u. 299 EG. 5 Die sechs ursprünglichen Unterzeichnerstaaten sind Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg u. die Niederlande. 1973 erfolgte der Beitritt Dänemarks, Irlands sowie des Vereinigten Königreichs. Griechenland trat 1981 den Gemeinschaften bei. 1986 folgten Portugal u. Spanien. Den vorläufigen Endpunkt der Erweiterung bildet der Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens im Jahr 1995. 2

Einleitung

28

Nicht weniger bedeutsam sind die materiellrechtlichen Integrationsbestrebungen, welche auf einen „immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker" zielen.6 Die Entwicklung von reinen Wirtschaftsgemeinschaften hin zu einer politischen Union ist hier unverkennbar, 7 auch wenn diesbezüglich Phasen stärkerer und schwächerer Integration alternieren. 8 Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages sind seit der Gründung der Gemeinschaften tragende Bausteine des Gemeinsamen Marktes bzw. Binnenmarktes. 9 Sie beeinflussen somit maßgeblich jene ökonomische Komponente staatlicher Zusammenschlüsse, welche nach wie vor im Mittelpunkt des europäischen Integrationsprozesses steht. Zum Teil wird daher von den Grundfreiheiten als den „bedeutsamsten subjektiv-öffentlichen Rechte[n] des primären Gemeinschaftsrechts" gesprochen. 10 Die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften entscheidet so über die Reichweite der transnationalen wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit des Einzelnen. Spätestens seit dem Urteil in der Rechtssache Bosmanu dürfte diese Wirkrichtung der Grundfreiheiten dabei auch einer breiteren Öffentlichkeit bewusst geworden sein.12 Mit den Grundlagen jener Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Ziel ist es, wesentliche dogmatische Strukturen der Grundfreiheiten aufzuzeigen, um dadurch ein Hilfsmittel zur richtigen Rechtsanwendung bereitzustellen. 13 Dabei sollen zum einen wichtige abstrakte Problemfelder angesprochen werden, welche im Schrifttum jüngst (wieder) Bedeutung erlangt haben. Hierin liegt der Schwerpunkt der Arbeit, wobei insbesondere auf bestehende Konvergenzen der Grundfreiheiten zu achten ist. Zum anderen soll die konkrete grundfreiheitliche Prüfung in die folgenden Ausführungen integriert werden. Damit wird die notwendige Verbindung von Theorie und Praxis betont, wodurch sich zugleich erhellt, dass eine dogmatische Methodik niemals Selbstzweck sein kann.

6

So der Wortlaut des ersten Erwägungsgrundes der Präambel des EG-Vertrages. Vgl. aus früherer Zeit nur Hallstein, 383 ff, aus der aktuellen Lehrbuchliteratur z.B. Herdegen, Rn. 12. 8 Eingehend zur europäischen Integration „zwischen Dynamik und Konsolidierung" Huber, § 6, Rn. 4 ff. 9 Vgl. Oppermann, Rn. 1267. 10 So Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 15. 11 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921. 12 Vgl. dazu auch Streinz, SpuRt 2000, 221 ff. (221 f.). 13 Zur Dogmatik als Hilfsmittel richtiger Rechtsanwendung vgl. Müller, Juristische Methodik, 1995, 229. 7

Einleitung

Die vorliegende Arbeit gliedert sich insgesamt in sieben Kapitel. Die ersten drei Kapitel, welche übergeordnet in einen ersten Teil zusammengefasst werden, setzen rechtstheoretische Grundlagen einer Dogmatik der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages. Sie bleiben abstrakt, um der übergeordneten Zielsetzung der Thematik gerecht zu werden. Zunächst sind allgemeine Vorgaben an eine Dogmatik zu diskutieren (1. Kapitel). Im Anschluss wird der grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff als wesentliches Element einer Dogmatik der Grundfreiheiten definiert; zugleich werden dessen differenzierte Ausprägungen dargestellt (2. Kapitel). Schließlich wird im Kernkapitel des ersten Teils (3. Kapitel) auf die Einbettung der Grundfreiheiten in das normative Prinzipiengefüge des EG-Vertrages eingegangen, wobei am Ende die Frage diskutiert wird, inwieweit die Grundfreiheiten auf einem gleichheitsrechtlichen oder freiheitsrechtlichen Verständnis basieren. Diese Linie fuhrt unmittelbar zur Betrachtung der begrifflichen Kategorien „Diskriminierung" und „Beschränkung", welche pars pro toto für grundsätzlich verschiedene dogmatische Auffassungen hinsichtlich der Grundfreiheiten stehen. Die sich anschließenden drei Kapitel des zweiten Teils der Arbeit enthalten Deduktionen aus den in den vorangegangenen Abschnitten gewonnenen Erkenntnissen. Hier sollen konkrete Folgerungen für eine rechtliche Prüfung am Maßstab der Grundfreiheiten des EG-Vertrages aufgezeigt werden, ohne jedoch die Zielsetzung einer die einzelnen Grundfreiheiten übergreifenden Perspektive aus den Augen zu verlieren. Dabei ist entsprechend dem zu entwickelnden Prüfungsschema zunächst auf den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten einzugehen (4. Kapitel). Hieran schließt sich die Betrachtung möglicher Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten an (5. Kapitel). Letztlich wird die Möglichkeit der Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen untersucht (6. Kapitel), wobei insbesondere auf die Problematik eines differenzierten Rechtfertigungsmaßstabs eingegangen wird. Abschließend findet sich eine thesenartige Zusammenfassung der vorangegangenen Überlegungen sowie der Vorschlag eines Prüfungsschemas für die konkrete Anwendung der Grundfreiheiten in der Praxis (7. Kapitel).

1. Teil

Abstrakte Strukturelemente .der Grundfreiheiten 1. Kapitel

Vorfragen A. Die Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel In jüngerer Zeit hat die Diskussion um die Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten des EG-Vertrages eine bislang nicht anzutreffende Dynamik entwickelt. Die relative Häufigkeit der Publikationen, welche sich nicht lediglich auf Problemfälle einzelner Grundfreiheiten beziehen, sondern übergreifende Strukturen aufzeigen und diskutieren, ist stark angestiegen.1 Erstmals ist dabei auch monographischen Darstellungen dieser Perspektivenwechsel gelungen.2 Den Grundfreiheiten kommt eine herausragende Bedeutung innerhalb des gesamten Gemeinschaftsrechts zu. Daher ist die Frage berechtigt, warum erst in aktueller Zeit vermehrt Versuche unternommen werden, grundfreiheitsrelevante Problemfelder zu systematisieren oder gar Ansätze einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten zu entwickeln. Eine mögliche Antwort hierauf findet sich in den Besonderheiten des europarechtlichen Entwicklungsprozesses. Änderungen im Primärrecht der Europäischen Gemeinschaften sind, wie der europäische Entscheidungsfindungsprozess per se, von Kompromisslösungen geprägt. Es kann daher nicht verwundern,

1

Beginnend mit Behrens, EuR 1992, 145 ff.; Jarass, FS Everling, 593 ff.; ders., EuR 1995, 202 ff. Vgl. auch Classen , EWS 1995, 97 ff.; Dubach, DVB1. 1995, 595 ff.; Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff.; Jarass, EuR 2000, 705 ff.; Nettesheim, NVwZ 1996, 342 ff.; Novak , DB 1997, 2589 ff.; Zuleeg, FS Everling, 1717 ff. 2 Vgl. beispielhaft Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001.

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

31

wenn hierbei dogmatische Fragestellungen zu Lasten pragmatischer Lösungsansätze zurückbleiben. Dies gilt umso mehr, als die Grundfreiheiten des EG-Vertrages Bestandteile eines multilateralen völkerrechtlichen Vertrages sind,3 dessen Unterzeichnerstaaten unterschiedlichen Rechtskreisen zuzuordnen sind.4 Die Entwicklung einer Dogmatik als Instrumentarium zur Erleichterung der Rechtsanwendung ist diesen Rechtskreisen jedoch nicht gleichermaßen vertraut. Sie stellt sich vielmehr als Charakteristikum des kontinental-europäischen Rechtskreises (Civil Law) dar, wohingegen der anglo-amerikanische Rechtskreis des Common Law grundsätzlich in der Tradition richterlicher Präjudizien steht und dort auf die Herausarbeitung allgemeiner Grundsätze sowie die Verwendung von Syllogismen weitgehend verzichtet wird. 5 Auf gesamteuropäischer Ebene gibt es also insoweit keinen umfassenden „rechtstheoretischen acquis communautaire", was ebenfalls dazu beigetragen haben mag, dass sich bislang kaum übergreifende Ansätze einer Dogmatik der Grundfreiheiten fanden. Auch der EuGH ist in seiner Judikatur zu den Grundfreiheiten sehr zurückhaltend, was die Entwicklung dogmatischer Strukturen betrifft. Wenngleich hier Ausnahmen bestehen,6 so ist doch die Mehrzahl der Entscheidungen auf Einzelfallbetrachtungen beschränkt; nicht selten fehlt eine übergreifende Perspektive.7 Werden indes solche - die einzelnen Grundfreiheiten übergreifenden - Beobachtungen in der Rechtsprechung des EuGH sichtbar, so beruht dies oftmals weniger auf einer dogmatischen Initiative des EuGH als vielmehr darauf, dass sich die betreffenden Verfahrensbeteiligten im Vorfeld der konkreten Entscheidung auf eine etwaige Konvergenz der Grundfreiheiten berufen haben.8 3

Hierzu sowie zu Differenzierungen im Einzelnen vgl. Streinz, Rn. 107 ff. Mit Ausnahme Irlands und des Vereinigten Königreichs, welche dem angloamerikanischen Rechtskreis zuzuordnen sind, werden die Mitgliedstaaten dem kontinental-europäischen Rechtskreis zugerechnet; vgl. dazu - mit weitergehenden Differenzierungen - Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1987, 77 ff. 5 Vgl. dazu nur Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1987, 96 ff., insb. 100 ff. 6 Etwa EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, insb. Rn. 37. 7 Hierzu Everling, in: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, 51 ff. (58 f.). 8 So wurde z.B. im Bosman-Vrtcü die Frage nach der Übertragbarkeit der für den Bereich des freien Warenverkehrs entwickelten Keck-Forme\ auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit von der UEFA und der URBSFA aufgeworfen; vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosnian), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 102. Vgl. in diesem Zusammenhang auch EuGH, Rs. C384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 33. 4

32

1. Kapitel: Vorfragen I. Erfordernis einer einheitlichen Dogmatik9

Das Zurückgreifen auf allgemeine Strukturen bei der Lösung rechtlich relevanter Problemfälle ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Die Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik im Bereich der Grundfreiheiten wird jedoch als Ziel nachvollziehbar, wenn man sich die Vorteile einer leistungsfähigen Dogmatik vergegenwärtigt (1.). Diese grundsätzlichen Vorteile gilt es gerade im EG-Recht nutzbar zu machen, welches aufgrund bestehender Defizite in Normtext und Judikatur (2.) besondere Anwendungsschwierigkeiten im nationalen Bereich bereitet. 10 Gleichzeitig sind allerdings auch mögliche Nachteile im Rahmen der Entwicklung dogmatischer Strukturen auszuloten; in der Zusammenschau mit den gefundenen Vorteilen ergeben sie die Grundprinzipien einer praktischen Dogmatik (3.).

7. Vorteile der Entwicklung dogmatischer Strukturen Existiert in einem bestimmten Rechtsgebiet eine leistungsfähige juristische Dogmatik, so werden dort in mehrfacher Hinsicht Vorteile offenbar. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie durch die Entwicklung dogmatischer Strukturen Rechtssicherheit und -klarheit gefordert, die Rechtsanwendung erleichtert sowie möglicherweise eine bessere Entscheidungsakzeptanz erreicht wird.

a) Förderung von Rechtssicherheit und -klarheit Primäre Aufgabe einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten ist es, Rechtssicherheit und -klarheit in dem abgegrenzten Rechtsgebiet der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages zu gewinnen.11 Hierzu sind die vielfältigen Einzelprobleme der verschiedenen Grundfreiheiten zu systematisie-

9 Zum Begriff der Dogmatik vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1996, 22 ff; ders., Theorie der juristischen Argumentation, 1996, 307 ff; de Lazzer, FS Esser, 85 ff; Dreier, Recht - Moral - Ideologie, 51 ff., 85 ff., 109 ff.; Esser, AcP 172 (1972), 97 ff.; ders., FS Raiser, 517 ff.; Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986; Krawietz, ÖZöR N.F. 1972, 47 ff.; Müller, Juristische Methodik, 1995, 230 ff.; Raiser , DRiZ 1968, 98 ff.; Savigny! Neumann! Rahlf Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976; Simitis, AcP 172 (1972), 131 ff.; Struck, JZ 1975, 84 ff.; Viehweg, FS Emge, 106 ff. 10 Jarass, EuR 1995, 202 ff. (203). 11 Zu den Aufgaben einer juristischen Dogmatik im Allgemeinen vgl. Streinz, in: Schäfer (Hrsg.), Eigenart, Möglichkeiten und Grenzen der Methoden in den Wissenschaften, 1988, 87 ff. (90 ff.).

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

33

ren und - wenn möglich - unterschiedliche Aspekte in übergreifende Prüfungspunkte zu abstrahieren. 12 Indem so systemrationale Strukturen erkannt und aufgezeigt werden, 13 können die differenzierten, oft nur individuell auftretenden Einzelprobleme in abstrakte Problemfelder aufgelöst werden. Bereits dadurch wird ein Beitrag zur Rechtssicherheit und -klarheit geleistet, weil diese Problemfelder aufgrund ihrer Abstraktheit zahlenmäßig deutlich geringer und damit leichter erfassbar sind als die ihnen untergliederten Einzelprobleme.

b) Erleichterung der Rechtsanwendung Wird die Grundfreiheitsdogmatik diesen soeben beschriebenen Anforderungen gerecht, so erreicht man das mit ihr verbundene eigentliche Ziel. Dieses besteht darin, dem Rechtsanwender die Anwendung der Grundfreiheiten zu erleichtern; 14 Rechtsdogmatik ist - richtig verstanden - daher keine Dogmatik um ihrer selbst willen, sondern besitzt praktische Wichtigkeit. 15 Die Anwendung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages wird wesentlich vereinfacht, wenn allgemeine Leitlinien bzw. Prüfungsabfolgen existieren, auf welche der Rechtsanwender bei der Lösung grundfreiheitsrelevanter Fälle zurückgreifen kann. 16 Ein weiterer Vorteil fur den Rechtsanwender tritt dadurch ein, dass sich die oben beschriebenen Problemfelder in ihrer Abstraktheit in praxi stärker wiederholen als die Vielzahl unterschiedlicher Einzelprobleme; dieser Wiederholungseffekt bewirkt, dass der Rechtsanwender häufiger auf bereits gelöste Problemfälle rekurrieren kann. Die genannten Erleichterungen betreffen vor allem den Rechtsanwender auf untergeordneter Ebene der Exekutive und Judikative, welcher bislang (zu) wenig mit den Problemen des EG-Rechts befasst war; 17 Letzteres gewinnt auch in der nationalen Entscheidungspraxis zunehmend an Bedeutung. In der Folge

12

Jcrass, EuR 1995, 202 ff. (202). Vgl. dazu allg. Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983, insb. 86 ff. 14 Jarass, EuR 1995, 202 ff. (202). 15 Dies ist weitgehend einhellige Meinung. Ob dagegen einer systematisierenden Dogmatik über ihren Darstellungs- und Ordnungswert hinaus weitere Bedeutung zukommt, ist umstritten; vgl. dazu eingehend Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983, 86 ff. 16 Zumindest gilt dies für den dogmatisch geschulten Rechtsanwender des kontinental-europäischen Rechtskreises, vgl. dazu oben bei Fußn. 5. 17 Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (202). 13

3 Mühl

1. Kapitel: Vorfragen

34

eintretende Streitvermeidung und korrespondierende Kostenersparnis wirken indes bis in höhere Ebenen fort. Auch dort sind die Konsequenzen einer erleichterten Rechtsanwendung auf untergeordneter Ebene nicht nur wünschenswert, sondern notwendig; so sei hinsichtlich des Aspekts der Streitvermeidung nur auf das - untaugliche - Argument des EuGH in der Entscheidung Keck u. Mithouard verwiesen, mit welchem der Gerichtshof die Einfuhrung der bekannten Tatbestandsrestriktionen im Bereich der Warenverkehrsfreiheit begründete. 18

c) Akzeptanz Schließlich ist als positive Folge einer leistungsfähigen Grundfreiheitsdogmatik der Nebeneffekt zu berücksichtigen, welcher entsteht, wenn die grundfreiheitlich geprägten Entscheidungen aufgrund der erleichterten Rechtsanwendung möglicherweise insgesamt transparenter werden. Diese - wünschenswerte - größere Transparenz in Exekutiv- wie Judikativentscheidungen fuhrt letztlich auch zu einer besseren Akzeptanz der Entscheidungen seitens der betroffenen Rechtssubjekte, indem ihnen die dem Recht zugrunde liegenden rechtspolitischen Vorstellungen besser vermittelt werden können. Gerade im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses ist dieser Aspekt von großer Bedeutung. Größere Transparenz in europarechtlich geprägten Entscheidungen könnte dazu beitragen, einen Teil der bestehenden Integrationsprobleme abzumildern, ohne im Gegenzug auf die in Europa anzutreffende kulturelle Vielfalt verzichten zu müssen.

18

EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, 1-6097. In Rn. 14 des Urteils wird ausgeführt: „Da sich die Wirtschaftsteilnehmer immer häufiger auf Art. 30 E WG-Vertrag [jetzt Art. 28 EG] berufen, um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist, hält es der Gerichtshof für notwendig, seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu überprüfen und klarzustellen." Der EuGH offenbart hier die Notwendigkeit einer Eindämmung der Prozessflut im Bereich der wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Indes ist die bloße Tatsache der Verfahrenshäufung eine dogmatisch nicht hinnehmbare Begründung für die Gewährleistungseinschränkung der betreffenden Grundfreiheit.

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

2. Defizite im Vertragstext

35

und in der Rechtsprechung des EuGH

Das EG-Recht bereitet aus vielerlei Gründen Schwierigkeiten bei der Anwendung im nationalen Bereich. 19 Hier sei nur auf das bestehende Sprachenproblem 20 sowie auf die besondere Verzahnung von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht 21 verwiesen. Im Bereich der wirtschaftlichen Grundfreiheiten resultieren die Anwendungsprobleme zudem aus Interpretationsschwierigkeiten des Vertragstextes sowie aus fehlenden einheitlichen Rechtsprechungslinien in der Judikatur des EuGH.

a) Normtext Bereits der EG-Vertrag, auf dessen Vorschriften zur Lösung europarechtlich relevanter Sachverhalte zurückgegriffen werden muss, bietet dem jeweiligen Rechtsanwender kein klares Bild. Der nationale Rechtsanwender hat hier zunächst die Besonderheit zu berücksichtigen, dass der EG-Vertrag in mehreren authentischen Sprachen abgefasst ist, wobei der Wortlaut des Gründungsvertrages bzw. der entsprechenden Beitrittsverträge in diesen Sprachen gleichermaßen verbindlich ist, vgl. Art. 314 EG. 22 Dies fuhrt zu unvermeidbaren Textdivergenzen, welche sich nur durch Auslegung gemäß Art. 33 WVRK beseitigen lassen.23 Ungeachtet dieser Problematik resultieren Anwendungsschwierigkeiten aber auch unter Zugrundelegung jeweils nur einer Textfassung, da selbst innerhalb einer sprachlichen Fassung der Wortlaut der grundfreiheitlichen Bestimmungen des EG-Vertrages uneinheitlich ist. 24 Unterschiedliche Formulierungen finden sich zum einen hinsichtlich des vertraglich umschriebenen Gewährleistungs-

19

Jarass, EuR 1995, 202 ff. (202 f.). Dazu nur Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU, 1998, 9 f.; Braselmann, EuR 1992, 55 ff.; Grimm, JZ 1995, 581 ff. (588 f.); Kusterer, EA 1980/1, 693 ff.; Oppermann, Rn. 182 f. 21 Vgl. Streinz, Rn. 175 ff. 20

22

23

Dazu StreinZy

Rn. 236 f.

Näher Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 314, Rn. 6 f. mit Beispielen sowie Rechtsprechungshinweisen zu Textdivergenzen im Primärrecht und Sekundärrecht. Al lg. zu diesem Problemkreis Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1978. 24 Die folgenden Ausführungen beziehen sich dabei beispielhaft auf die deutsche Textfassung. 3*

36

1. Kapitel: Vorfragen

umfangs der Grundfreiheiten, zum anderen in den einzelnen Rechtfertigungsvorschriften.

aa) Tatbestandsebene So wird hinsichtlich des Gewährleistungsumfangs unmittelbar aus dem Text nicht klar, inwieweit die Grundfreiheiten als bloße Diskriminierungsverbote aufzufassen sind oder ob sie darüber hinausgehende Beschränkungsverbote normieren. 25 Während nach Artt. 39 Abs. 2, 43 Abs. 2 und 50 Abs. 3 EG die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit sowie die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs ausdrücklich als Diskriminierungsverbote formuliert sind, 26 fehlen entsprechende Hinweise in den übrigen grundfreiheitlichen Vorschriften. Nun wird überwiegend vertreten, dass auch die Warenverkehrsfreiheit jedenfalls dem Normtext nach zunächst als Diskriminierungsverbot aufzufassen sei. 27 Zur Begründung wird unter anderem auf Art. 30 S.2 EG verwiesen. 28 Demgegenüber werden die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs meist schon nach dem Wortlaut des EG-Vertrages als weitergehende Beschränkungsverbote qualifiziert, 29 obwohl mit Art. 58 Abs. 2 EG eine gegenüber Art. 30 S.2 EG vergleichbare Vorschrift existiert. Damit wird deutlich, dass bereits die unterschiedlichen Begrifflichkeiten des Normtextes geeignet sind, erhebliche Unsicherheiten bei der Wortlautinterpretation hervorzurufen.

25

Vgl. zu dieser Problematik Behrens, EuR 1992, 145 ff. (148 ff.); Classen , EWS 1995, 97 ff. (97 f.); Herdegen, Rn. 282 f.; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGVertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 30 ff.; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38 ff.; Koenig/Haratsch, Rn. 487; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 25 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 295 f.; Schweitzer/Hummer, Rn. 1075; Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 48 ff.; Streinz, Rn. 667 ff. 26 Vgl. nur Streinz y Rn. 667. 27 Vgl. Behrens, EuR 1992, 145 ff. (148); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (212); a.A. Dörr, RabelsZ 54 (1990), 677 ff. (680). 28 Vgl. Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (206). 29 So z.B. Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (206): „eindeutig als Beschränkungsverbot formuliert"; vgl. auch Geiger, Art. 56 EGV, Rn. 7; Schneider, NJ 1996, 512 ff. (514); Weber, EuZW 1992, 561 ff. (563).

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

37

bb) Rechtfertigungsebene Auch wenn man die Schrankenbestimmungen zu den einzelnen Grundfreiheiten vergleicht, werden uneinheitliche Strukturen sichtbar. 30 So bezieht sich beispielsweise die Rechtfertigungsvorschrift des Art. 46 Abs. 1 EG auf „Sonderregelungen für Ausländer", gilt also dem Wortlaut nach lediglich für unterschiedlich anwendbare Maßnahmen, während in den übrigen Schrankenbestimmungen eine solche Einschränkung nicht ausdrücklich normiert ist. Diese unterschiedliche Ausgestaltung fuhrt zwangsläufig zu Schwierigkeiten, wenn man den Gewährleistungsinhalt einzelner Grundfreiheiten von restriktiv verstandenen Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten erweitert. 31 Die Tatsache, dass es bis heute nicht gelungen ist, eine - gegebenenfalls einheitliche - Schrankendogmatik als Teil einer umfassenden Dogmatik der Grundfreiheiten zu entwickeln, 32 wird durch die genannten uneinheitlichen Strukturen des Normtextes begünstigt.

b) Judikatur betreffend die Grundfreiheiten Stärker noch als die erwähnten Interpretationsschwierigkeiten des Normtextes wirkt sich das Fehlen einheitlicher Rechtsprechungslinien in der Judikatur des EuGH auf die Anwendungsprobleme im Bereich der Grundfreiheiten aus. Klammert man dabei die häufig konstatierten Widersprüchlichkeiten aus, welche mit Entscheidungen zu den jeweils einschlägigen Grundfreiheiten zusammenhängen,33 so verbleiben Defizite in der Rechtsprechung des EuGH, welche

30

Gemeint sind hier die Vorschriften der Artt. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 1 (ggf. i.V.m. Art. 55 EG), 58 EG. Davon zu unterscheiden sind die Bereichsausnahmen nach Art. 39 Abs. 4 EG u. Art. 45 Abs. 1 EG (ggf. i.V.m. Art. 55 EG). Ebenfalls eine Sonderstellung nehmen die vom EuGH entwickelten sog. immanenten Schranken ein. 31 Vgl. Streinz, Rn. 694 u. 699. 32 Zur aktuellen Diskussion vgl. Becker, in: Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 40 ff.; Gundel, Jura 2001, 79 ff. (79); Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (510 f.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 47; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 20; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (216). 33 Vgl. dazu die folgenden Übersichten zur teilweise widersprüchlichen Rechtsprechungsentwicklung im Bereich einzelner Grundfreiheiten: - Warenverkehr: Everting , ZLR 1994, 221 ff. (223); Funke, WRP 1991, 550 ff. (554 f.); Heermann, WRP 1993, 578 ff. (581 f.); Jestaedt/Kästle, EWS 1994, 26 ff. (28); Lenz, ZEuP 1994, 624 ff. (642 f.); Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (15); Roth, ZEuP 1994, 5 ff. (26 ff.); Sack, EWS 1994, 37 ff. (38 ff.); Steiner, CMLRev. 1992, 749 ff.

38

1. Kapitel: Vorfragen

allgemeine, die einzelnen Grundfreiheiten übergreifende Fragestellungen betreffen. Angesichts der Zielrichtung der vorliegenden Untersuchung sollen gerade diese Defizite im Folgenden näher betrachtet werden.

aa) Der Diskriminierungsbegriff in der Judikatur des EuGH Ausgangspunkt der festgestellten Unklarheiten ist die erfolgte Ausdehnung des Diskriminierungsbegriffs durch den EuGH. 34 Der Tatbestand der Grundfreiheiten wird vom Gerichtshof insofern extensiv ausgelegt, als dort nicht nur offene Diskriminierungen unter Verwendung des verbotenen Kriteriums der Staatsangehörigkeit oder der Produktherkunft bzw. -destination erfasst werden, sondern darüber hinaus auch so genannte versteckte Diskriminierungen, 35 welche durch den Gebrauch anderer Differenzierungsmerkmale zum gleichen Ergebnis fuhren. 36

(755 ff.); Tesauro, Schlussanträge in der Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, 6787 ff. - Personenverkehr: Bleckmann, DVB1. 1986, 69 ff.; Hailbronner, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, D.I, Rn. 62 ff.; Hailbronner, ZAR 1990, 107 ff.; ders., ZAR 1988, 3 ff.; Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, 250 ff.; Randelzhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, Art. 43, Rn. 84 ff.; Sasse, EuGRZ 1978, 230 ff.; Streinz, ZfRV 1991, 98 ff. - Dienstleistungsverkehr: Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EUWirtschaftsrechts, E.I, Rn. 61 ff; Troberg, in: GTE, Art. 59, Rn. 11 ff; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 58 ff. - Kapitalverkehr: Ressi Ukrow, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 73b, Rn. 8. 34 Vgl. auch Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (202). 35 Zu den Begrifflichkeiten vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 25 f. 36 Richtungsweisend EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11. Vgl. auch EuGH, Rs. 61/77 (Kommission/Irland), Slg. 1978, 417, Rn. 78 u. 80; EuGH, Rs. 22/80 (Boussac/Gerstenmeier), Slg. 1980, 3427, Rn. 9; EuGH, Rs. 279/80 (Webb), Slg. 1981, 3305, Rn. 14 u. 16; EuGH, Rs. 41/84 (Pinna), Slg. 1986, 1, Rn. 24; EuGH, Rs. C-349/87 (Paraschi), Slg. 1991, 1-4501, Rn. 23; EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591, Rn. 12; EuGH, Rs. C-175/88 (Biehl), Slg. 1990,1-1779, Rn. 14; EuGH, Rs. C-279/89 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Slg. 1992, 1-5785, Rn. 42; EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Slg. 1992, 1-249, Rn. 9; EuGH, Rs. C-27/91 (Le Manoir), Slg. 1991,1-5531, Rn. 10; EuGH, Rs. C-l 11/91 (Kommission/Luxemburg), Slg. 1993,1817, Rn. 9; EuGH, Rs. C-272/92 (Spotti), Slg. 1993, 1-5185, Rn. 18; EuGH, Rs. C419/92 (Scholz), Slg. 1994,1-505, Rn. 7; EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996,12617, Rn. 17 ff; EuGH, Rs. C-l5/96 (Schöning-Kougebetopoulou), Slg. 1998, 1-47; EuGH, Rs. C-274/96 (Bickel u. Franz), Slg. 1998,1-7637, Rn. 25; EuGH, Rs. C-350/96

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

39

Angesichts der Tatsache, dass der EuGH nunmehr zum Teil auch nichtdiskriminierende Beschränkungen der grundfreiheitlichen Kontrolle unterwirft, 37 gleichzeitig aber den von ihm verwendeten Diskriminierungsbegriff nicht offenlegt, 38 wird die Abgrenzung zwischen (versteckten) Diskriminierungen und nichtdiskriminierenden Maßnahmen für den Rechtsanwender zunehmend schwieriger. Dies führt dazu, dass auch die Literatur immer häufiger eine Regelung, über die der EuGH zu entscheiden hatte, teils als diskriminierend, teils als nichtdiskriminierend charakterisiert. 39 Schließlich wurde dem EuGH vorgeworfen, er wisse selbst nicht mehr, was eine Diskriminierung sei. 40

bb) Differenzierung zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen Darüber hinaus wird vom jüngeren Schrifttum vermehrt auf Widersprüchlichkeiten in der Judikatur des Gerichtshofs hingewiesen, soweit die Entscheidungen eine grundsätzliche Differenzierung zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen auf der Rechtfertigungsebene betreffen. 41 Obwohl mit dem Urteil Gebhard 42 die Ausbildung eines im Übrigen einheitlichen vierstufigen Rechtfertigungsstandards abgeschlossen zu sein scheint,43

(Clean Car Auto Service), Slg. 1998, 1-2521, Rn. 27; EuGH, Rs. C-254/98 (TKHeimdienst Sass), Slg. 2000,1-151, Rn. 26 ff. 37 Vgl. EuGH, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837; EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921; EuGH, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Slg. 1991, 1-2357; allg. zu dieser Entwicklung Streinz, Rn. 671 ff. 38 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 40; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (216 f.). 39 Beispielhaft EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971. Das französische Verbot der Doppelniederlassung wurde hier zum Teil als Diskriminierung behandelt; vgl. Everling , DB 1990, 1853 ff. (1855 ff.); Troberg, in: GTE, Art. 52, Rn. 45; Hailbronner, JuS 1991, 917 ff. (919); Jarass, RIW 1993, 1 ff. (6); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 65; Nachbaur, EuZW 1991, 470 ff. (471 f.). Andere ordneten die Regelung als nichtdiskriminierend ein; vgl. Benfes, Die Personenverkehrsfreiheiten des EWG-Vertrages, 1992, 134; Gornig, NJW 1989, 1120 ff. (1121 f.); Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 ff. (2575); Roth, RabelsZ 54 (1990), 63 ff. (81 f.); Sack, JuS 1990, 352 ff. (355); Schneider, NJ 1996, 512 ff. (514). 40 Novak, EuZW 1999, 84 f. (85) unter Verweis auf EuGH, Rs. C-15/96 (SchöningKougebetopoulou), Slg. 1998,1-47. 41 Allg. dazu Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200 ff.). 42 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, insb. Rn. 37.

1. Kapitel: Vorfragen

40

nimmt der EuGH diese Differenzierung bislang dahingehend vor, dass die von ihm entwickelten so genannten immanenten Schranken lediglich auf nichtdiskriminierende Maßnahmen, nicht aber auf Diskriminierungen Anwendung finden. 44 Auch die Lehrbuchliteratur hält an dieser Abgrenzung bislang fest. 45 Nun mehren sich indes Stimmen, welche in neueren Entscheidungen des EuGH teilweise eine Abkehr von der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Rechtfertigungsstrukturen erblicken, zumindest aber diesbezüglich Dissonanzen feststellen. 46 Die im Schrifttum geäußerte Kritik erscheint zunächst nicht unberechtigt. So hat der Gerichtshof beispielsweise in der Entscheidung Wallonien den nichtdiskriminierenden Charakter der zu beurteilenden Maßnahme allein mit umweltpolitischen Gesichtspunkten begründet, 47 ohne stattdessen auf fundierte dogmatische Aspekte abzustellen.48 In anderen Urteilen setzt sich der EuGH mit der Frage einer Diskriminierung erst gar nicht auseinander, sondern rekurriert sogleich auf den einen oder anderen Rechtfertigungsmaßstab. 49 Bestehen hingegen Ausführungen des Gerichtshofs zum diskriminierenden bzw. nichtdis-

43

Dazu Herdegen, Rn. 278. So erstmals EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 8 ff. Vgl. auch EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 12; EuGH, Rs. 229/83 (Ledere/Au blé vert), Slg. 1985, 1, Rn. 29; EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 32; EuGH, Rs. 25/88 (Wurmser), Slg. 1988, 1105, Rn. 11; EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-176/90 (Aragonesa), Slg. 1991, 1-4151, Rn. 13; EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-4431, Rn. 34; EuGH, Rs. C-484/93 (Svensson), Slg. 1995,1-3955, Rn. 15; EuGH, Verb. Rs. C-321/94 bis C-324/94 (Pistre u.a.), Slg. 1997,1-2343, Rn. 52; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999,1-2517, Rn. 16. 45 Nachweise bei Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200); vgl. i.Ü. auch Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 125; Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (510); Kötter, VSSR 1998, 233 ff. (251); Tesauro, Schlussanträge in den Verb. Rs. C120/95 u. C-158/96 (Decker u. Kohll), Slg. 1998,1-1834 ff, Rn. 45. 46 Vgl. Maduro, MJ 1998, 298 ff. (310); Novak , DB 1997, 2589 ff. (2593); Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (497 f.). 47 Vgl. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 34 f. 48 Zur Kritik vgl. etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 50; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200). 49 So etwa EuGH, Rs. C-18/95 (Terhoeve), Slg. 1999, 1-345 ff, Rn. 41 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997, 1-3843, Rn. 44 ff.; EuGH, Rs. C-120/95 (Decker), Slg. 1998, 1-1831, Rn.31 ff.; EuGH, Rs. C-158/96 (Kohll), Slg. 1998,1-1931, Rn. 33 ff. 44

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

41

kriminierenden Charakter der betreffenden Regelung, so sind diese nicht immer mit der bisherigen Rechtsprechung in Einklang zu bringen. 50 Vorschnelle Schlüsse auf ein bestimmtes Verständnis oder gefestigte Begrifflichkeiten des EuGH sind indes nicht angebracht. Systematisierungsversuche betreffend die grundfreiheitliche Rechtsprechung des EuGH bergen immer auch die Gefahr, dass durch die Verwendung eigener Begrifflichkeiten Widersprüche konstruiert werden, welche nicht zwingend bestehen.51 Problematisch bleibt indes, dass der EuGH seinen Maßstab, hier also den von ihm verwandten Diskriminierungsbegriff, nicht offenlegt. 52 Allein dies fuhrt zu den aufgezeigten Dissonanzen, welche dem Rechtsanwender die Handhabung der Grundfreiheiten in praxi erheblich erschweren.

cc) Die Übertragbarkeit der ÀTec&-Rechtsprechung auf andere Grundfreiheiten Seit dem Urteil Keck und Mithouard 52, zeichnen sich im Bereich des freien Warenverkehrs restriktivere Tendenzen innerhalb der tatbestandlichen Prüfung ab. 54 Dabei bestehen nicht nur Schwierigkeiten, den genauen Gehalt der Grundsätze zu bestimmen, welche der EuGH in dieser Entscheidung zum Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit entwickelte.55 Unklarheiten ergeben sich darüber hinaus hinsichtlich der dogmatisch bedeutsamen Frage, ob bzw. inwieweit die dort genannten Kriterien auch auf andere Grundfreiheiten übertragen werden können.

50

Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-250/95 (Futura Participations), Slg. 1997,1-2473, Rn. 25 f. Dazu Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (496) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996, 1-2617, Rn. 18. In der Entscheidung Imperial Chemical Industries vermengt der Gerichtshof die verschiedenen Rechtfertigungsstrukturen in einer Weise, welche im klaren Widerspruch zur früheren Judikatur stehen; vgl. EuGH, Rs. C-264/96 (Imperial Chemical Industries), Slg. 1998, 1-4695, Rn. 23 ff. Ebenfalls krit. Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (495 f.). 51 Zu den Gefahren übereilter Interpretationsversuche vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,40. 52 Siehe bereits oben aa), S. 38. 53 EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, 1-6097, Rn. 16. 54 Näher Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211 f.). 55 Dazu nur Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 28 ff.

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1. Kapitel: Vorfragen

Im Urteil Alpine Investments diskutiert der EuGH zwar die Möglichkeit einer analogen Anwendung der Keck-Kiitexien auf die Dienstleistungsfreiheit, 56 gleichzeitig bemüht er sich jedoch eingehend, die A>c£-Rechtsprechung von der ihm vorliegenden Fallgestaltung zu unterscheiden. 57 Noch unklarer ist die Situation hinsichtlich einer möglichen analogen Anwendung der KeckGrundsätze auf die Aibeitnehmerfreizügigkeit bzw. die Niederlassungsfreiheit. 58 Mit den Entscheidungen Bosman59 und Semeraro 60 bestehen allenfalls judikative Indizien; 61 von einer gefestigten Rechtsprechungslinie kann hier in keinem Fall ausgegangen werden.

dd) Rechtsprechung zur sog. Drittwirkung der Grundfreiheiten Klare und einheitliche Rechtsprechungslinien fehlen schließlich auch zur so genannten Drittwirkung der Grundfreiheiten, 62 einem weiteren wichtigen Bereich der Anwendung der Grundfreiheiten. 63 Die Problematik, ob eine - unmittelbare oder mittelbare - Drittwirkung der Grundfreiheiten zu bejahen ist

56

Darin erkennt ein Großteil der Literatur das Bestreben des EuGH, die Konvergenz von Warenverkehrsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit durch eine entsprechende Übertragung der Keck-Grundsätze weiter zu festigen; vgl. etwa Becker, NJW 1996, 179 ff. (180 f.); Everling, ZLR 1994, 221 ff. (231); Füßer, DÖV 1999, 96 ff. (98); Kort, JZ 1996, 132 ff. (136); Meyer, GRUR Int. 1996, 697 ff. (706). Zurückhaltend hingegen Stumpf, DZWir 1998, 124 ff. (126); Reich, EuZW 1995,407 ff. (408). 57 EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 36 ff. Vgl. dazu auch Reich, EuZW 1995, 407 ff. (408). Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang auf das Urteil Schindler zu verweisen, welches nach der Entscheidung Keck u. Mithouard erging, eine unterschiedslos anwendbare Regelung im Dienstleistungsbereich betraf und dennoch eine Bezugnahme auf die Keck-Rspr. nicht enthielt; vgl. EuGH, Rs. C275/92 (Schindler), Slg. 1994,1-1039, Rn. 25 ff. 58 Vgl. zu dieser Problematik Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (49 f.); Nettesheim, NVwZ 1996, 342 ff. (343 f.); Reichold, ZEuP 1998, 434 ff. (444 ff.); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211 f.). 59 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 103. 60 EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C9/94 bis C-l 1/94, C-14/94, C-15/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996,1-2975, Rn. 32. 61 Näher dazu Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (49); Schroeder, JZ 1996, 254 ff. (255). 62 Vgl. dazu allg. Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997. 63 Zur Entwicklung sowie zum aktuellen Diskussionsstand vgl. Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. m.w.N.

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

43

und ob hierbei zwischen den einzelnen Grundfreiheiten differenziert werden muss, scheint in der Judikatur des Gerichtshofs noch immer nicht geklärt. 64 Eine die einzelnen Grundfteiheiten übergreifende Rechtsprechung, welche die Voraussetzungen und Folgen einer möglichen Drittwirkung allgemein umschreibt, existiert bislang nicht. 65 Auch innerhalb einzelner Grundfreiheiten sind zumindest unklare Entwicklungen festzustellen. 66 So propagierte der EuGH mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit zunächst eine grundfreiheitliche Drittwirkung; 67 später gelangte er zu der Erkenntnis, dass Handelsbeeinträchtigungen durch private Rechtssubjekte nicht am Maßstab der Warenverkehrsfreiheit, sondern anhand der Wettbewerbsregeln der Artt. 81 ff. EG zu überprüfen seien.68

3. Grundprinzipien

einer praktischen Dogmatik

Neben den zuvor genannten Vorteilen einer Dogmatik sind auch grundsätzliche Nachteile der Entwicklung einheitlicher dogmatischer Strukturen zu beachten. Werden diese Nachteile ebenso wie die erwähnten Vorteile berücksich-

64

Ebenso uneinheitlich ist der Meinungsstand in der Literatur; vgl. diesbezüglich nur Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 137 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 65 Divergierende Ansätze des Gerichtshofs hinsichtlich der Warenverkehrsfreiheit einerseits und der Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. Niederlassungsfreiheit andererseits offenbaren EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 17/18; EuGH, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091, Rn. 27 f.; EuGH, Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984, 4277, Rn. 14; EuGH, Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987, 3801, Rn. 30; EuGH, Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249, Rn. 12; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 82. Krit. zu dieser unterschiedlichen Behandlung Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, passim. 66 Vgl. auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 128 ff.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 45 ff. u. 58 ff. 67 Vgl. EuGH, Rs. 58/80 (Dansk Supermarked), Slg. 1981, 181, Rn. 17. Ähnlich bereits EuGH, Rs. 78/70 (Tonträger), Slg. 1971, 487, Rn. 12; vgl. dazu Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 194. 68 Vgl. EuGH, Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987, 3801, Rn. 30; EuGH, Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249, Rn. 12.

44

1. Kapitel: Vorfragen

tigt, so ergeben sich die abstrakten Grundprinzipien einer hier vertretenen praktischen Dogmatik. 69

a) Mögliche Nachteile dogmatischer Methodik aa) Dogmatik im Allgemeinen (1) Dogmatik vs. Case Law Gerade gegenüber der Methodik des Case Law besteht im Rahmen eines dogmatisch geprägten Rechtsfindungsprozesses zunächst die Gefahr, dass durch die Verwendung übergeordneter Begrifflichkeiten und durch die allgemeine Tendenz zur Abstraktion der Sinn für das Besondere eines Lebenssachverhalts verloren geht. Rechtsfindung, welche sich dem Ziel der Gerechtigkeit verpflichtet fühlt, setzt zwar immer die Anwendung eines allgemeinen Maßstabs und damit Abstraktion von letzter Individualität voraus, 70 muss aber zur Vermeidung willkürlicher Entscheidungen ebenso die jeweiligen Eigenarten des zu beurteilenden Sachverhalts in einem Mindestmaß einbeziehen. Dies gilt es umso mehr zu berücksichtigen, als der Rechtsanwender oftmals mit der Tatsache konfrontiert wird, dass betroffene Rechtssubjekte eines Sachverhalts die Besonderheit gerade ihres Falles unterstreichen.

(2) Grundsätzliche Ambivalenz Darüber hinaus ist eine grundsätzliche Ambivalenz der Entwicklung dogmatischer Strukturen zu beachten. Die Einfuhrung neuer Begrifflichkeiten und die Zusammenfassung einer Vielzahl vergleichbarer Einzelprobleme zu abstrakteren Problemfeldern 71 dient gleichzeitig sowohl der Entlastung von Reflexion als auch der Ermöglichung von Reflexion. 72 Gerade die durch die beabsichtigte

69

Mit dem Begriff der „praktischen Dogmatik" soll in der vorliegenden Arbeit auf das besondere Verhältnis zwischen Rechtsdogmatik und Praxis hingewiesen werden; dazu sogleich unten 3. b) cc), S. 47. 70 Vgl. dazu allg. Radbruch, Der Mensch im Recht, 1969, 88 ff., insb. 91. Krit. zur Abstraktion Zweigert, FS Rheinstein, 493 ff. (498); dagegen wiederum Ferid, RabelsZ 35 (1971), 537 ff. (558 f.). 71 Vgl. dazu bereits oben 1. a), S. 32. 72 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, 22.

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

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Reduktion von Komplexität vorgenommenen Systematisierungsversuche lassen neue Fragestellungen nach der Richtigkeit dieser Systematisierung entstehen.73

(3) Kein Bezug zu Durchschnittsfallen? Zum Teil wird schließlich gegen die Verwendung einer Dogmatik eingewandt, die von ihr intendierte Entlastungswirkung betreffe nur Fälle, welche über die Durchschnittsfälle in der Rechtspraxis hinausgingen; in jenen Durchschnittsfällen hingegen wirke eine Dogmatik nicht entlastend, sondern eher belastend, da diese Fälle von tatsächlichen und einfachen Rechtsfragen geprägt seien.74 Allerdings lässt diese Kritik den Umstand außer Betracht, dass es möglicherweise gerade die Mittel der Dogmatik sind, welche dem Rechtsanwender hinreichend klare Strukturen und präzise Definitionen rechtlich relevanter Begrifflichkeiten liefern, so dass in vielen Fällen die Entscheidung bis auf die Feststellung der Tatsachen nicht mehr problematisch erscheint. 75

bb) Einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten Neben diesen möglichen Nachteilen, welche allgemein die dogmatische Methodik betreffen, dürfen auch solche Gefahren nicht übersehen werden, die sich speziell auf die Entwicklung einer Dogmatik der Grundfreiheiten des EGVertrages beziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn man in diesem Zusammenhang den Begriff einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten verwendet, mithin die so genannte Konvergenz der Grundfreiheiten betont. Diese Konvergenz ist in der Rechtsprechung des EuGH ohne Zweifel im Fortschreiten begriffen. 76 Gleichwohl darf die hiermit korrespondierende Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten nicht der Versuchung erliegen, unbesehen die im EG-Vertrag angelegte systematische Diffe-

73 Einen weiteren Aspekt betont Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, 23: „So vermehren - nicht vermindern! - sich mit der begrifflichen Ausarbeitung des Rechts auch die Schwierigkeiten des Entscheidens - genauer gesagt: die Möglichkeiten, sich das Entscheiden zu erschweren." Dagegen zu Recht krit. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1996, 331. 74 So Struck, JZ 1975, 84 ff. (86), der i.Ü. daraufhinweist, dass bessere Informationssysteme entlastender wirkten als der Informationsgehalt dogmatischer Begriffe. 75 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Simitis, AcP 172 (1972), 131 ff. (140). 76 Jarass, EuR 2000, 705 ff. (706) m.w.N.; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (220 f.); Weiß, EuZW 1999,493 ff. (497).

46

1. Kapitel: Vorfragen

renzierung zwischen den einzelnen Grundfreiheiten zu übergehen und kurzerhand die im Rahmen einer Grundfreiheit gefundenen Strukturen auf andere Grundfreiheiten zu übertragen. 77 Hier besteht grundsätzlich die Gefahr der Über-Vereinheitlichung mit der Folge, dass möglicherweise bestehende Besonderheiten einer Grundfreiheit unberücksichtigt bleiben. Vereinheitlichungen sind angesichts der hierdurch zu erzielenden Vorteile notwendig, 78 müssen allerdings vertretbar sein.79 Dies setzt voraus, dass die insbesondere im Normtext vorgefundenen Strukturen nicht vorschnell verlassen werden, was indes eine kritische Würdigung derselben nicht ausschließt.

b) Folgerungen für eine praktische Dogmatik aa) Simplifizierung und Komplexität Die Entwicklung bzw. die Herausarbeitung dogmatischer Strukturen in einem räumlich oder sachlich eingegrenzten Rechtsanwendungsfeld hat sich daran zu orientieren, einen Entscheidungsmaßstab zu finden, der einerseits so einfach wie möglich, andererseits so komplex wie nötig sein muss, um durch Aufzeigen systemrationaler Strukturen Rechtssicherheit und -klarheit zu geWinnen.



Dieses Spannungsfeld zwischen maximaler Simplifizierung und notwendigem Maß an Komplexität bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich die Diskussion um eine einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten zu bewegen hat. Dabei gilt es, möglichst umfassend die genannten Vorteile der Entwicklung dogmatischer Strukturen einzubringen und gleichzeitig die erwähnten nachteiligen Wirkungen einer Dogmatik zu vermeiden. Dies ist hier jedoch deshalb nicht ohne weiteres möglich, weil sich entsprechende Lösungsansätze sowohl positiv als auch negativ auf den Zielerreichungsgrad auswirken können.81 Angesichts dessen misst sich die Qualität einer Dogmatik der Grundfreiheiten daran, inwieweit es gelingt, ein mögliches Gleichgewicht zwischen den konfligierenden

77 So aber beispielsweise Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 22, der die Kapitalverkehrsfreiheit sowie die Freiheit des Zahlungsverkehrs ohne weitergehende Begründung aus seiner Untersuchung ausnimmt, da „nichts dafür spricht, diese Grundfreiheiten anders zu behandeln als die anderen Grundfreiheiten". 78 Siehe bereits oben 1., S. 32 ff. 79 Jarass, EuR 2000, 705 ff. (706). 80 Ähnlich Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (204). 81 Vgl. dazu bereits oben, insb. a) aa) (1) u. (2), S. 44 f.

Α. Die einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten als Ziel

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Entscheidungsparametern zu finden. Die Entwicklung einheitlicher dogmatischer Strukturen der Grundfreiheiten gleicht daher einer Gratwanderung, die letztlich nur dann bewältigt werden kann, wenn die gegensätzlichen Aspekte der Simplifizierung und Komplexität jeweils ausreichend in die notwendigen Denkprozesse einbezogen werden, ohne kritiklos auf eine der beiden Seiten abzufallen.

bb) Konsensfähigkeit Den zuvor genannten Nachteilen kann unter anderem insofern entgegengewirkt werden, als bei der Herausarbeitung einheitlicher Strukturen der Grundfreiheiten auch darauf geachtet wird, konsensfähige Ansätze zu entwickeln. Dies ermöglicht es, die durch Vereinfachungen erzielten Vorteile hervorzuheben, ohne im Gegenzug neuen Streit zu verursachen. Demgegenüber besteht bei einer von jeglichem Konsens losgelösten Dogmatik die Gefahr, dass eventuelle Vorteile durch die Entstehung neuer Unklarheiten überkompensiert werden. Die Konsensfähigkeit ist demnach ebenfalls als Entscheidungsparameter zu berücksichtigen. Allerdings betrifft dieser Aspekt nicht unmittelbar die Ebene des Rechtsanwenders, 82 wirkt sich also nicht direkt auf das Ergebnis der grundfreiheitlichen Prüfung aus.83 Die Konsensfähigkeit ist daher nicht in dem Maße zu gewichten wie andere Kriterien, sondern besitzt lediglich eine Reflexwirkung dahingehend, dass sie bei der Entscheidung zwischen mehreren, im Übrigen gleichwertigen Lösungsansätzen den Ausschlag gibt.

cc) Rechtsdogmatik und Praxis Inwieweit die im Rahmen des aktuellen Entwicklungsprozesses gefundenen Ergebnisse dem Ziel dogmatischer Betrachtungen gerecht werden, beurteilt sich

82

Die Frage nach der Konsensfähigkeit einer Dogmatik stellt sich vielmehr auf der vorgelagerten Ebene des Rechtstheoretikers. Ob bzw. inwieweit Einigkeit über die dogmatischen Strukturen besteht, welche zur Entscheidung eines konkreten Falls herangezogen werden, wird der jeweilige Rechtsanwender dahingestellt lassen, sofern er selbst von der Richtigkeit des gewählten Ansatzes überzeugt ist. Allenfalls berührt dieser Gesichtspunkt die Anwendungsebene insofern mittelbar, als die Begründungsanforderungen in der Praxis mit abnehmender Konsensfähigkeit zunehmen. 83 Dazu sogleich unten cc).

48

1. Kapitel: Vorfragen

vornehmlich aus der Perspektive des Rechtsanwenders.84 Diesbezüglich nochmals darauf hinzuweisen, dass eine Dogmatik keinen Selbstzweck verfolgt, sondern auf die Erfüllung praktischer Aufgaben gerichtet ist. 85 Die ergebnisorientierte Betrachtungsweise macht deutlich, dass sich Dogmatik einerseits und rechtliche Praxis andererseits nicht völlig unbeeinflusst gegenüberstehen oder gar gegenseitig ausschließen, auch wenn sie mitunter in ihrer Vorgehensweise verschieden sind. Vielmehr bestehen zwischen Rechtsdogmatik und Praxis in mehrfacher Hinsicht Verschränkungen. Denn zum einen ist die Entwicklung dogmatischer Strukturen letztlich auf den Anwendungserfolg in der Praxis gerichtet; zum anderen liefert die rechtliche Praxis der Dogmatik die Substanz, mit deren Hilfe dogmatische Kriterien gewonnen bzw. überarbeitet werden können. Um dieses wechselseitige Verhältnis von Rechtsdogmatik und Praxis zu betonen, verwendet die vorliegende Arbeit gelegentlich den Begriff einer „praktischen Dogmatik".

II. Zielvorgaben Fundierte Dogmatik entsteht erst durch die intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung, nicht durch einen einzelnen Ansatz. Dementsprechend soll die vorliegende Arbeit nur als ein Beitrag zur aktuellen Diskussion verstanden werden. Infolge dieser Konzentration auf Grundansätze einer grundfreiheitlichen Dogmatik wird zugleich die heuristische Funktion der Entwicklung dogmatischer Strukturen betont. 86 Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich dabei allein auf die klassischen Grundfreiheiten des EG-Vertrages, wie sie in Art. 3 Abs. 1 lit.c EG genannt sind. 87 Verwandte Institute, wie die allgemeine Freizügigkeit nach Art. 18 EG, die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften der Artt. 81 ff. EG sowie die steuerlichen Vorschriften der Artt. 90 ff. EG sollen aus dem angestrebten Ge-

84 Dies gilt trotz der Schwierigkeiten, welche die konkrete Messbarkeit der Zielerreichung betreffen. Vgl. dazu Struck, JZ 1975, 84ff (86). 85 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 234 sowie oben 1. b), S. 33. Neben dem [oben unter 1. b)] bereits genannten Ziel der Erleichterung der Rechtsanwendung werden in der Literatur weitere Funktionen juristischer Dogmatik betont, welche vor allem die wissenschaftliche Diskussion berühren; vgl. dazu nur Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1996, 326 ff., insb. 330 f. m.w.N. 86 Dazu i.E. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1996, 332. 87 Hinzu kommt die - in dieser Vorschrift nicht ausdrücklich genannte - Freiheit des Zahlungsverkehrs gem. Art. 56 Abs. 2 EG.

Β. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur

49

samtkonzept ebenso ausgenommen bleiben wie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG. Dies schließt nicht aus, dass auf jene Aspekte in Einzelheiten zurückgegriffen wird, wenn und soweit sie Berührungspunkte zu den klassischen Grundfreiheiten aufweisen, welche die Erkenntnis übergreifender Strukturen erleichtern. Denn in sachlicher Hinsicht bleiben diese Gesichtspunkte nicht ausgeblendet.88

B. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur I. Der EG-Vertrag als Ausgangspunkt und Begrenzung 1. Notwendigkeit

einer Bindung an den Vertragstext

Nachdem mit dem EG-Vertrag für die Lösung grundfreiheitlich relevanter Sachverhalte ein geschriebener Normtext zur Verfugung steht, ist dieser sowohl Ausgangspunkt als auch Begrenzung für die Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten. 89 Bei der Interpretation der vertraglichen Vorschriften ist auf die vier klassischen Auslegungsmethoden abzustellen,90 wobei die europarechtlichen Besonderheiten Berücksichtigung finden müssen.91 Insofern verliert die eigenständige

88

Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (204), der auf weitere verwandte Aspekte hinweist. Allg. zur Bindung dogmatischer Erkenntnisse an geschriebene Normen Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1996, 313; speziell fur eine Dogmatik der Grundfreiheiten Jarass, EuR 1995, 202 ff. (203). 90 Seit v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1847, Bd. I, 206 ff. (216) wird zwischen der grammatikalischen, der historischen, der systematischen sowie der teleologischen Auslegung unterschieden. Später entwickelte Methoden, wie die rechtsvergleichende Interpretation, sollen vorliegend außer Betracht bleiben. Zur Verwendung der klassischen Auslegungsmethoden durch den Gerichtshof vgl. EuGH, Rs. 292/82 (Merck), Slg. 1983, 3781, Rn. 12; EuGH, Rs. 337/82 (St. Nikolaus Brennerei), Slg. 1984, 1051, Rn. 10; EuGH, Rs. C-128/94 (Hönig), Slg. 1995, 1-3389, Rn. 9. 91 Zur Auslegung speziell des Gemeinschaftsrechts vgl. insb. Anweiler, Auslegungsmethoden, 1997; Bernhardt, FS Kutscher, 17 ff.; Bleckmann, EuR 1979, 239 ff.; ders., NJW 1982, 1172 ff.; Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law, 1978; Bleckmann/Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B.I, Rn. 5 ff.; Everting , in: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, 51 ff.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, 1997; Hin89

4 Mühl

50

1. Kapitel: Vorfragen

Wortlautinterpretation im Hinblick auf die im Zweifel maßgebende Anwendung von Art. 33 Abs. 4 W^VRK an Bedeutung.92 Auch die historische Auslegung besitzt angesichts der Dynamik des Rechts, welche im Gemeinschaftsrecht besonders ausgeprägt ist, 93 nur einen untergeordneten Stellenwert; 94 zudem muss hier berücksichtigt werden, dass die vorbereitenden Materialien zum Primärrecht nicht oder nur beschränkt zugänglich sind. 95 Wichtiger ist demgegenüber die systematische Interpretation der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen,96 wenngleich der EuGH in diesem Zusammenhang häufig nur

ter steininger, ZÖR 1998, 239 ff; dies., Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 27 ff.; Möllers, EuR 1998, 20 ff. (25 ff.); Zuleeg, EuR 1969, 97 ff. 92 Ebenso Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1978, 101 f.; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 29. Vgl. auch EuGH, Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419, Rn. 3 f.; EuGH, Rs. 6/74 (Moulijn), Slg. 1974, 1287, Rn. 9 ff.; EuGH, Rs. 30/77 (Bouchereau), Slg. 1977, 1999, Rn. 13 f.; EuGH, Rs. C-l49/97 (Motor Industry), Slg. 1998,1-7053, Rn. 16. 93 Vgl. dazu nur den ersten Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrages, den zwölften Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages sowie Art. 1 Abs. 2 EU und die Gegenüberstellung von „Recht" und „Vertrag" in Art. 220 EG. Diff. zu einer hieraus oftmals gefolgerten dynamischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts Bleckmann, NJW 1982, 1177 ff. (1180 f.). 94 Allg. zum verringerten Bedeutungsgehalt historischer Auslegung Wüstendörfer, Zur Methode soziologischer Rechtsfindung, 1971, 159 ff. m.w.N. 95 Vgl. Everling, in: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, 51 ff. (59); Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 22. Anders ist dies bei den Vorarbeiten zu Sekundärrechtsakten der Europäischen Gemeinschaften. Diesbezüglich werden zumindest Entwürfe und Stellungnahmen im Amtsblatt C der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht. Vgl. allg. zur Publizität und Transparenz von Sekundärrechtsakten Oppermann, Rn. 664 ff. Unter Einbeziehung nicht veröffentlichter Gesetzesmaterialien hat der Gerichtshof in frühen Entscheidungen auf die historische Interpretation rekurriert; vgl. z.B. EuGH, Rs. 1/58 (Stork), Slg. 1959, 43, 64 ff.; EuGH, Verb. Rs. 3/58 bis 18/58, 15/58 u. 26/58 (Erzbergbau), Slg. 1959, 373, 409 f.; EuGH, Verb. Rs. 27/58 bis 29/58 (Hauts Fourneaux), Slg. 1960, 513, 543; EuGH, Rs. 15/60 (Simon), Slg. 1961, 239, 261 f.; EuGH, Rs. 14/67 (Weichner), Slg. 1967, 443, 452; EuGH, Rs. 120/73 (Lorenz), Slg. 1973, 1471, Rn. 3; EuGH, Rs. 81/72 (Kommission/Rat), Slg. 1973, 575, Rn. 8. Krit. dazu Everling, FS v. d. Groeben, 111 ff. (126) m.w.N.; Plender, Yearbook of European Law 1982, 57 ff. (61 ff. u. 102 ff.); G A Warner, Schlussanträge in der Rs. 28/76 (Milac), Slg. 1976, 1659 ff. (1665); ders., Schlussanträge in den Verb. Rs. 80/77 u. 81/77 (Ramel), Slg. 1978, 949 ff. (957). 96 Vgl. aus der älteren Rechtsprechung beispielhaft EuGH, Rs. 24/62 (Deutschland/Kommission), Slg. 1963, 141, 153 ff.; EuGH, Rs. 75/63 (Unger), Slg. 1964, 379, 397; EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1270; EuGH, Rs. 14/67 (Weichner), Slg. 1967, 443, 452; EuGH, Verb. Rs. 38/71 u. 39/71 (Westzucker u. Dietz), Slg. 1972, 1, Rn. 9 ff.; EuGH, Rs. 20/72 (NV Cobelex), Slg. 1972, 1055, Rn. 12 ff.; EuGH,

Β. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur

51

allgemein auf den „Gesamtzusammenhang des Vertrages" abstellt.97 Im Mittelpunkt der angewandten Auslegungsmethoden steht schließlich die teleologische Interpretation; 98 dies gilt auch fur die Rechtsprechung des Gerichtshofs. 99

2. Der Zweck der Grundfreiheiten

als maßgebliches Kriterium

Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten ergänzen sich in vielfältiger Weise, können aber auch teilweise zu entgegengesetzten Ergebnissen fuhren. Damit gelangt man zu der Frage, welcher der genannten Auslegungsmethoden letztlich entscheidende Bedeutung zugemessen wird. Dies lässt sich allerdings nicht abstrakt, sondern nur anhand der konkret zu interpretierenden Vorschriften beurteilen.

a) Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages Idealerweise ergibt sich das jeweils zu ermittelnde Auslegungsergebnis aus dem Zusammenspiel aller Interpretationsmethoden. Dies gilt auch für die grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages. Im Bereich der Grundfreiheiten ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die historische Auslegung als ungeeignet zur Ermittlung entsprechender Norminhalte erweist. 100 Hinsichtlich der verbleibenden Auslegungsmethoden ist die teleologische Interpretation gegenüber der grammatikalischen und systematischen Auslegung vorzuziehen, da gerade der Normtext der grundfreiheitlichen Vorschriften Unzulänglichkeiten aufweist. 101 Jedoch darf sich jene Interpretationsmethodik nicht über die

Rs. 55/72 (Getreidehandel), Slg. 1973, 15, Rn. 4; EuGH, Rs. 2/73 (Riseria Luigi Geddo), Slg. 1973, 865, Rn. 3; EuGH, Rs. 107/80 (Adorno), Slg. 1981,1469, Rn. 12 ff. 97 Vgl. i.E. Bleckmann/Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B.I, Rn. 30 m.w.N. 98 Im Verhältnis zur historischen Auslegung kann die teleologische Interpretation die Dynamik des Rechts besser erfassen; gegenüber möglichen Unzulänglichkeiten des Normsetzungsverfahrens ist sie zudem weit weniger anfällig als die grammatikalische oder systematische Auslegung. 99 Vgl. nur Bleckmann, NJW 1982, 1177 ff. (1178) mit Verweis auf EuGH, Rs. 6/72 (Continental Can), Slg. 1973, 215, Rn. 22 ff., insb. Rn. 25 ff. 100 Vgl. dazu bereits - abstrakt für das gesamte primäre Gemeinschäftsrecht - oben 2, b, S. 52. Speziell für die Grundfreiheiten vgl. auch Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 29, m.w.N. 101 Siehe oben Α. I. 2. a) aa) u. bb), S. 36 ff. 4*

52

1. Kapitel: Vorfragen

Grenzen von Wortlaut und Systematik hinwegsetzen.102 Dogmatische Erkenntnisse bezüglich der Grundfreiheiten sind demgemäß auf ihre Vereinbarkeit mit der grammatikalischen und systematischen Auslegung zu überprüfen.

b) Das Binnenmarktziel als Telos der Grundfreiheiten Die teleologische Ausrichtung der Grundfreiheiten lässt sich mit Blick auf die materielle Orientierungslinie in Art. 3 Abs. 1 lit. c EG und Art. 14 Abs. 2 EG konkretisieren; danach erscheint die Binnenmarktkonzeption als maßgeblicher Bezugspunkt.103 Sonstige Aspekte besitzen demgegenüber nur eine untergeordnete Bedeutung.104 A u f die einzelnen Elemente des Binnenmarktbegriffs soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 105 Gleiches gilt für die Frage, inwieweit innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik eine strenge Orientierung am Herkunftslandprinzip sinnvoll ist. 106 Stattdessen ist der Blick auf eine methodische Problemstellung zu lenken: Die teleologische Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften legt den Schwerpunkt auf die gemeinschaftsrechtliche Binnenmarktkonzeption; gleich-

102 Ebenso z.B. Oppermann, Rn. 685. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den sechsten Leitsatz des Maastricht-Urteils des deutschen Bundesverfassungsgerichts, wonach die „Auslegung [...] in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf 4; BVerfGE 89, 155 (LS 6). 103 Vgl. auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 285 ff.; Jarass, EuR 1995, 202 ff. (214); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 14 ff; Oppermann, Rn. 1267; Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 ff. (162 f.); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (204); Zuleeg, in: GTE, Art. 3, Rn. 3. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs vgl. etwa EuGH, Rs. C-341/95 (Bettati), Slg. 1998, 1-4355, Rn. 75 f.; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999,1-1459, Rn. 27; EuGH, Rs. C-241/97 (Skandia), Slg. 1999, 1-1879, Rn. 38; EuGH, Rs. C-294/97 (Eurowings), Slg. 1999, 1-7447, Rn. 44 f.; EuGH, Rs. C-239/98 (Kommission/Frankreich), Slg. 1999, 1-8935, Rn. 2; EuGH, Rs. C-448/98 (Guimont), Slg. 2000, 1-10663, Rn. 12; EuGH, Rs. C-9/99 (Echirolles Distribution), Slg. 2000,1-8207, Rn. 23 f. 104 Vgl. z.B. Oppermann, Rn. 1499 sowie Streinz, Rn. 653 f., jeweils mit Hinweis auf die soziale Komponente der Personenverkehrsfreiheiten sowie auf das Institut der Unionsbürgerschaft gem. Art. 17 EG. Weiterführend Müller-Graff in: GTE, Art. 30, Rn. 4 m.w.N. 105 Eingehend dazu unten 3. Kapitel Β. I. 3., S. 129 ff. 106 Dazu unten 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (2), S. 133 f.

Β. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und J u d i k a t u r 5 3

zeitig definiert sich der Binnenmarkt seinerseits gemäß Art. 14 Abs. 2 EG über die Grundfreiheiten. Diesen hermeneutischen Zirkel gilt es bei der Auslegung der grundfreiheitlichen Bestimmungen im Rahmen der Entwicklung einer Dogmatik der Grundfreiheiten zu beachten.107 Entgegen einer vertretenen Ansicht erschließt sich das Verständnis von Grundfreiheiten und Binnenmarkt indes nicht „nur unter Durchbrechung jenes hermeneutischen Zirkels". 108 Vielmehr ist diese Art der Wechselwirkung ein grundsätzliches Phänomen bei jeder Auslegung geschriebener Normen, 109 welches nicht durchbrochen, sondern nur in seiner Erkenntnis fruchtbar gemacht werden kann. 110 Bereits aus abstrakten rechtstheoretischen Erwägungen folgt daher, dass in der gegenseitigen Wechselwirkung von Grundfreiheiten und Binnenmarkt keine rein zirkuläre Struktur zu sehen ist. 111

3. Ergänzung durch übergeordnete Vertragsprinzipien Die Ausrichtung der Grundfreiheiten auf das Binnenmarktziel des EGVertrages erscheint angesichts der vorangegangenen Ausführungen als eine wesentliche Leitlinie grundfreiheitlicher Dogmatik. Allein die binnenmarktbezogene Perspektive vermag die Einbettung der Grundfreiheiten in den vertraglichen Gesamtkontext jedoch nicht umfassend aufzuzeigen. Darüber hinaus bedarf es daher der Berücksichtigung weiterer übergeordneter Prinzipien des EG-Vertrages.

107 Zum Begriff des hermeneutischen Zirkels Betti , Allgemeine Auslegungslehre, 1967, 220 ff.; Gadamer , Wahrheit und Methode, 1960, 250 ff.; Heidegger, Sein und Zeit, 1963, 152 f. 108 So aber Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 2 f. Dagegen zu Recht Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,40 f. 109 Vgl. nur Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 206 ff. u. 324 ff. m.w.N. 110 Näher Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, insb. 137 ff.; Everting, , in: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, 51 ff. (60); Kaufmann, Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, 1984, 65 ff.; Radbruch, Einfuhrung in die Rechtswissenschaft, 1980,288. 111 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 206 weist zu Recht auf folgendes hin: „Das Bild vom 'Zirkel' trifft die Sache insofern nicht genau, als die Kreisbewegung des Verstehens nicht einfach an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt - dann würde es sich um Tautologie handeln -, sondern das Verständnis des Textes auf eine neue Stufe hebt." Zu Unrecht wird jedoch von ihm behauptet, diese Art des Denkens sei den exakten Wissenschaften fremd und werde von den meisten Logikern vernachlässigt; vgl. dazu nur v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 1995, 93 ff., insb. 105 f., m.w.N.

54

1. Kapitel: Vorfragen

a) Der Begriff des Prinzips Angesichts der bestehenden terminologischen Divergenzen 112 ist zunächst zu klären, was in der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff des Prinzips gemeint sein soll. Ausschlaggebend ist nach dem hier vertretenen Verständnis diesbezüglich die Abgrenzung zwischen (Rechts-)Prinzipien und (Rechts-)Regeln.113 Herkömmlich wird dabei anhand des Kriteriums der Generalität unterschieden; 114 während Regeln einen relativ geringen Allgemeinheitsgrad aufweisen, zeichnen sich Prinzipien durch ihren allgemeinen Charakter aus. 115 Als Prinzipien speziell des EG-Vertrages sind mithin solche Normkomplexe anzusehen, welche übergreifend bei der Anwendung sämtlicher Vorschriften Berücksichtigung finden; ein Beispiel hierfür ist die zuvor erwähnte Binnenmarktkonzeption. Kennzeichnend für Prinzipien ist zudem ihre Eigenschaft als Optimierungsgebote. 116 Sie lassen sich nicht entweder erfüllen oder nicht erfüllen, sondern können lediglich in verschiedenen Konkretisierungsstufen beachtet werden. 117 Besondere Bedeutung hat dies für einen weiteren wichtigen Aspekt: Prinzipien können zueinander in Widerspruch treten. 118 Damit wird der Vorgang des Abwägens zum entscheidenden Ansatz für die Lösung von Prinzipienkollisionen. 119 Mit Blick auf den EG-Vertrag sei hier auf eine mögliche Kollision von Binnenmarktkonzeption und Umweltprinzip verwiesen.

112

Vgl. - mit Blick auf die Grundrechte des GG - nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 1996, 71 f. 113 Ebenso Alexy, Theorie der Grundrechte, 1996, 72 ff. m.w.N.; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 69; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 475; Michael, Gleichheitssatz, 1997, 96. 114 Hierzu wiederum nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 1996, 73 m.w.N. 115 Ähnlich Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 474, der die Konkretisierungsbedürftigkeit von Rechtsprinzipien betont. Zur Allgemeinheit eines Prinzips vgl. auch Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983,48. 116 Näher dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, 1996, 75 ff; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991,475; Michael, Gleichheitssatz, 1997, 99 ff. 117 Vgl. Kahl, Umweltprinzip, 1993, 73; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991,474. 118 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991,475. 119 Zu Prinzipienkollisionen vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1996, 78 ff.

Β. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur

55

b) Konsequenzen Rechtsprinzipien sind zwar als solche nicht subsumtionsfahig; 120 sie beeinflussen jedoch maßgeblich die Interpretation einzelner Vorschriften innerhalb eines Normensystems. Dies gilt auch für die Bestimmungen des europäischen Primärrechts, insbesondere die Grundfreiheiten. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass keinem der übergeordneten Prinzipien des EG-Vertrages ein absoluter Vorrang zukommt. Stattdessen muss im konkreten Fall jeweils zwischen verschiedenen, möglicherweise einander widersprechenden Interessen abgewogen werden. Indem sie besondere Abwägungsleitlinien bereitstellen, werden die übergeordneten Prinzipien des EG-Vertrages damit auch für eine Dogmatik der Grundfreiheiten relevant. In concreto ist hier vor allem das Spannungsverhältnis zwischen der Binnenmarktkonzeption einerseits und dem gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzip andererseits zu berücksichtigen. Etwaige Kollisionen sind innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung auf der Rechtfertigungsebene zu lösen; diese dogmatische Verortung ergibt sich aus der grundsätzlichen funktionalen Trennung von Tatbestand und Rechtfertigung. 121 Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch die zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bestehende Kompetenzordnung zu nennen.122 Sie bestimmt als dritter übergreifender Aspekt die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften. 123

II. Die Einbeziehung der Rechtsprechung des EuGH Um die genannten Vorteile der Entwicklung dogmatischer Strukturen zu maximieren, ist in den entsprechenden Bereichen die jeweils vorhandene Judikatur zu berücksichtigen. 124 Nur so können die Ziele der Förderung von Rechts-

120

Zutreffend Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983, 49, Fußn. 141. 121 Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (221 f.). 122 Ob kompetenzbegründende bzw. -verteilende Normen generell ein Rechtsprinzip im dargestellten Sinne bilden können, mag bezweifelt werden. Speziell für die Kompetenzordnung des EG-Vertrages erscheint diese Einordnung jedoch gerechtfertigt. Insofern ist auf das Prinzip der begrenzten Ermächtigung des Art. 5 Abs. 1 EG sowie das Subsidiaritäts/?rwz/p des Art. 5 Abs. 2 EG zu verweisen; gerade der Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 EG offenbart insoweit Prinzipiencharakter („nicht ausreichend", „besser"). 123 Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 90 ff.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 203 ff. 124 Ebenso z.B. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (203).

1. Kapitel: Vorfragen

56

Sicherheit und -klarheit sowie der Erleichterung der Rechtsanwendung in ausreichendem Maße verwirklicht werden. Andererseits kann eine Dogmatik, welche die betreffende Judikatur unberücksichtigt lässt, die ihr obliegenden Ziele nicht nur verfehlen, sie wirkt ihnen unter Umständen sogar entgegen. Denn hier würde gegebenenfalls ein größeres Maß an Unsicherheit erzeugt, indem der Rechtsanwender lediglich einen weiteren, von seiner bisherigen Orientierung an der Judikatur unabhängigen Entscheidungsmaßstab erhält. 125 Darüber hinaus ergibt sich die Notwendigkeit der Einbeziehung der Rechtsprechung aus dem eigentümlichen wechselseitigen Verhältnis zwischen Rechtsdogmatik und Praxis. 126 Einbeziehung bedeutet hierbei indes nicht, dass sich die Dogmatik nicht über die in der Judikatur entwickelten Strukturen hinwegsetzen darf; 127 dies ist der wesentliche Unterschied zu der im vorangegangenen Abschnitt angesprochenen Beziehung zwischen Dogmatik und Normtext. 128

1. Rechtsvergleichende

Betrachtung

Die oben erwähnten unterschiedlichen Relationen zwischen Dogmatik und Normtext einerseits sowie Dogmatik und Judikatur andererseits werden erhellt und bestätigt, wenn man erneut einen kurzen Blick in die Rechtsvergleichung wagt. Wiederum hilft hier eine Gegenüberstellung von Dogmatik und Case Law als den unterschiedlichen Rechtsfindungsmethoden des Civil Law und des Common Law. 1 2 9

125

Vgl. in diesem Zusammenhang oben Α. I. 3. a) aa) (2), S. 44. Dazu bereits oben Α. I. 3. b) cc), S. 47. 127 Ansonsten erschöpfte sich der Gehalt der Dogmatik in ihrer systematisierenden und ordnenden Funktion. Die Entwicklung dogmatischer Strukturen wäre dadurch in ihrer Wirkung kontraproduktiv, wenn in der Rspr. bestehende Defizite übernommen würden; siehe dazu bereits oben Α. I. 2. b), S. 37 ff. 128 Vgl. insb. oben I. 1.) S. 49. 129 Siehe bereits oben Α., S. 30 ff. 126

Β. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur

57

a) Dogmatik vs. Case Law Während beide Methoden oftmals zu gleichen Ergebnissen führen, 130 bestehen in der Art und Weise, in welcher Erkenntnisse gewonnen und das Recht fortgebildet wird, deutliche Unterschiede. 131 In der Methodik des Case Law werden frühere richterliche Entscheidungen als bindende Richtschnur beachtet, wohingegen vorhandene Normtexte keinen vorrangigen Stellenwert besitzen; so wird beispielsweise einer geschriebenen Vorschrift, welche vom ungeschriebenen Common Law abweicht, lediglich Ausnahmecharakter beigemessen.132 Demgegenüber werden im Rechtskreis des Civil Law richterliche Präjudizien zwar ebenfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen. Die hier anzutreffende dogmatische Methodik setzt indes den Schwerpunkt auf eine abstrakte Richtigkeit, indem rechtspolitische Erwägungen artikuliert und Interessen abgewogen werden. 133 Damit rückt die Anwendung gesetzlicher Vorschriften gegenüber einer bestehenden früheren Entscheidungspraxis in den Vordergrund, was auch in der sprachlichen Formulierung höchstrichterlicher Urteile zum Ausdruck kommt. 134

b) Konsequenzen für eine Dogmatik der Grundfreiheiten Die oben aufgezeigten Gegensätze zwischen Common Law und Civil Law verschwimmen in neuerer Zeit. 135 Diese Entwicklung aufgreifend, erscheint es sinnvoll, auch im Rahmen dogmatischer Denkmodelle die bestehenden Rechtsprechungslinien stärker als in der bisherigen klassischen kontinentalen Methodenlehre zu berücksichtigen. In besonderem Maße gilt dies für eine Dogmatik der Grundfreiheiten, nachdem sich - wie bereits ausgeführt - im Europäischen Gemeinschaftsrecht die beiden genannten Rechtskreise überschneiden. 136 Allerdings dürfte es sich hierbei lediglich um eine Frage der Akzentuierung handeln. Denn auch eine grundfreiheitliche Dogmatik bleibt im Kern der systematischen, abstrakten Denkweise verpflichtet. Wegen ihrer grundsätzlichen

130

Vgl. Rabel, RabelsZ 16 (1951), 340 ff. (345); Zweigertl Kötz, Rechtsvergleichung, 1996, 257. 131 Rheinstein, Einfuhrung in die Rechtsvergleichung, 1987, 100 f. 132 ZweigertlKötz, Rechtsvergleichung, 1996, 260. 133 Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1987, 101. 134 Krit. zu dieser Stilistik höchstrichterlicher Entscheidungen Kötz, RabelsZ 37 (1973), 245 ff. (249 ff.). 135 Vgl. dazu nur Zweigertl Kötz, Rechtsvergleichung, 1996, 265. 136 Siehe oben bei Fußn. 4.

1. Kapitel: Vorfragen

58

Verschiedenheit lassen sich die methodischen Ansätze von Dogmatik einerseits und Case Law andererseits nicht kongruent zusammenfugen. Für eine Dogmatik der Grundfreiheiten folgt daraus, dass die Übereinstimmung dogmatischer Strukturen mit gegebenen Rechtsprechungsentwicklungen zwar wünschenswert, nicht aber zwingend ist. Im Zweifel ist die entsprechende europarechtliche Judikatur überwindbar, insbesondere wenn die zugrunde liegenden Entscheidungen des Gerichtshofs wegen ihrer Defizite für eine grundfreiheitliche Dogmatik nicht fruchtbar gemacht werden können.

2. Die Rolle des EuGH im europäischen Rechtsfindungsprozess a) Rechtsfortbildung durch europäisches Richterrecht Die Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts obliegt primär den gesetzgebenden Organen sowie den Mitgliedstaaten. 137 Damit ist die Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung indes nicht ausgeschlossen.138 Gerade im Bereich des Gemeinschaftsrechts wird die Notwendigkeit zur Rechtsfortbildung besonders deutlich. 139 Dies hat der Gerichtshof erkannt und in seiner Entscheidungspraxis entsprechend umgesetzt. So wurden durch den Gerichtshof bereits frühzeitig Kriterien für eine unmittelbare Geltung primärrechtlicher Vorschriften entwickelt. 140 Die spätere Rechtsprechung betreffend die unmittelbare Wirkung von Richtlinien 141

137

Vgl. auch Everling, in: Kruse (Hrsg.), Zölle, Verbrauchsteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, 51 ff. (52 f.). 138 Näher dazu Streinz, Rn. 495 mit Verweis auf BVerfGE 75,223 (241 ff.). 139 Diesbezüglich sei lediglich auf die bereits angesprochene eigentümliche Dynamik des Gemeinschaftsrechts hingewiesen; siehe oben bei Fußn. 93. 140 Beginnend mit EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, Rn. 7 ff. Vgl. auch EuGH, Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631, Rn. 24 ff.; EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299, Rn. 24 ff.; EuGH, Rs. 43/75 (Defrenne I), Slg. 1976, 455, Rn. 7 ff.; EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971, Rn. 10 f. 141 Seit EuGH, Rs. 9/70 (Leberpfennig), Slg. 1970, 825, Rn. 9 f. Vgl. auch EuGH, Rs. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629, Rn. 19 ff; EuGH, Rs. 8/81 (Becker), Slg. 1982, 53, Rn. 21 ff; EuGH, Rs. 70/83 (Kloppenburg), Slg. 1984, 1075, Rn. 3; EuGH, Rs. 103/88 (Fratelli Costanzo), Slg. 1989, 1839, Rn. 29; EuGH, Verb. Rs. C-246/94 bis C-249/94 (Cooperativa Agricola Zootecnica S.Antonio), Slg. 1996, I4373, Rn. 17 ff; EuGH, Rs. C-389/95 (Klattner), Slg. 1997,1-2719, Rn. 32 ff. Zur sog. horizontalen Drittwirkung von Richtlinien vgl. EuGH, Rs. 152/84 (Marshall), Slg. 1986, 723, Rn. 48; EuGH, Rs. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987,

Β. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und Judikatur

59

sowie die richterrechtlichen Grundsätze zur Staatshaftung bei Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht 142 zeigen ebenfalls den Versuch des EuGH, die Wirksamkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung zu stärken. Daneben sind die rechtsstaatlich motivierten Entwicklungslinien in der Judikatur des Gerichtshofs zu nen-

Die Rolle des EuGH im europäischen Rechtsfindungsprozess wird durch die charakteristische Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht geprägt. 144 Dies führte dazu, dass der EuGH neben den oben genannten Rechtsprechungslinien die bekannte Judikatur zum Vorrang des Gemeinschafts-

3969, Rn. 9; EuGH, Rs. C-106/89 (Marleasing), Slg. 1990,1-4135, Rn. 6; EuGH, Rs. C91/92 (Faccini Dori/Recreb), Slg. 1994,1-3325, Rn. 20 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-71/94 bis C-73/94 (Eurim-Pharm), Slg. 1996, 1-3603, Rn. 26; EuGH, Rs. C-192/94 (El Corte Inglés), Slg. 1996, 1-1281, Rn. 15; EuGH, Rs. C-168/95 (Arcaro), Slg. 1996, 4705, Rn. 36 f.; EuGH, Rs. C-54/96 (Dorsch Consult), Slg. 1997, 1-4961, Rn. 43; EuGH, Rs. C-97/96 (Daihatsu), Slg. 1997, 1-6843, Rn. 24; diff. neuerdings EuGH, Rs. C-443/98 (Unilever Italia), Slg. 2000,1-7535, Rn. 45 ff. 142 EuGH, Verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90 (Francovich), Slg. 1991,1-5357; EuGH, Verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 (Brasserie du Pêcheur u. Factortame), Slg. 1996,1-1029; EuGH, Rs. C-392/93 (British Telecommunications), Slg. 1996,1-1631, Rn. 38 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94 bis C-190/94 (MP Travel Line), Slg. 1996, 1-4848; EuGH, Verb. Rs. C-283/94, C-291/94 u. C-292/94 (Denkavit Internationaal B.V.), Slg. 1996,1-5085, Rn. 50 ff. 143 Zum Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht vgl. grundlegend EuGH, Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419, Rn. 7; EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125, Rn. 3; EuGH, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491, Rn. 13 f.; EuGH, Rs. 36/75 (Rutiii), Slg. 1975, 1219, Rn. 32; EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rn. 14 f.; EuGH, Rs. 222/86 (Heylens), Slg. 1987,4097, Rn. 14; EuGH, Verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst), Slg. 1989, 2859, Rn. 13. Zahlreiche weitere Nachweise etwa bei Beutler, in: BBPS, Rn. 659 ff. Zur Entwicklung allgemeiner rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze vgl. nur EuGH, Rs. 14/68 (Walt Wilhelm), Slg. 1969, 1, Rn. 11; EuGH, Rs. 155/79 (AM & S), Slg. 1982, 1575, Rn. 18 ff.; EuGH, Rs. 14/81 (Alpha Steel), Slg. 1982, 749, Rn. 10; EuGH, Verb. Rs. 205/82 bis 215/82 (Deutsche Milchkontor GmbH), Slg. 1983, 2633, Rn. 30 ff.; EuGH, Rs. 63/83 (Kirk), Slg. 1984, 2689, Rn. 22; EuGH, Rs. 117/83 (Könecke), Slg. 1984, 3291, Rn. 11; EuGH, Rs. 234/84 (Belgien/Kommission), Slg. 1986, 2263, Rn. 27; EuGH, Verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst), Slg. 1989,2859, Rn. 15 ff. Zur Lückenschließung im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem vgl. beispielsweise EuGH, Rs. 13/83 (EP/Rat), Slg. 1985, 1513, Rn. 17 f.; EuGH, Rs. 294/83 (Les Verts), Slg. 1986, 1339, Rn. 25; EuGH, Rs. 34/86 (Rat/EP), Slg. 1986, 2155, Rn. 5; EuGH, Verb. Rs. 62/87 u. 72/87 (Exécutif régional wallon), Slg. 1988, 1573, Rn. 8; EuGH, Rs. C-70/88 (Tschernobyl), Slg. 1990,1-2041, Rn. 20 ff. 144 Eingehend zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht etwa Bleckmann, Rn. 1045 ff.; Oppermann, Rn. 615 ff.; Streinz, Rn. 168 ff.

60

1. Kapitel: Vorfragen

rechts 145 und zum Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG 1 4 6 entwickelte. Zugleich betonte der EuGH sein Kooperationsverhältnis zu den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten.147 Hier wird klar, dass die besondere Verschränkung mehrerer Rechtsordnungen stets auch kompetentielle Konsequenzen bedingt. Gerade in diesem Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht werden indes auch die allgemeinen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung deutlich, welche vom Gerichtshof zu beachten sind. Danach muss sich die Rechtsfortbildung durch den EuGH klar von einer etwaigen Erweiterung der Gründungsverträge abgrenzen lassen. Denn Letztere liegt gemäß Art. 48 EU allein im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten, kann also nicht vom Gerichtshof als einem Organ der Gemeinschaft vorgenommen werden. 148

b) Folgerungen Die Judikatur des Gerichtshofs hat im Rahmen des europäischen Rechtsfindungsprozesses besondere Bedeutung erlangt. Durch die vorwärts gewandte Blickrichtung des EuGH und die entsprechend stark ausgeprägte richterliche Rechtsfortbildung stellt die Rechtsprechung des Gerichtshofs einen bemerkenswerten Integrationsfaktor dar. 149 Auch aus diesem Aspekt ergibt sich für eine Dogmatik der Grundfreiheiten die gesteigerte Notwendigkeit der Einbeziehung der existierenden Judikatur des EuGH. Neben dem Ziel, die bestehenden Rechtsprechungslinien mit den gefundenen dogmatischen Strukturen möglichst in Einklang zu bringen, kommt

145 Grundlegend EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, Rn. 8 ff. Zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts ggü. nationalem Verfassungsrecht vgl. EuGH, Rs. 106/77 (Simmenthai II), Slg. 1978, 629, Rn. 14 ff. 146 EuGH, Rs. 283/81 (CILFIT), Slg. 1982, 3415, Rn. 5 ff.; EuGH, Rs. 314/85 (Foto Frost), Slg. 1987, 4199, Rn. 13 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen), Slg. 1991, 1-415, Rn. 16 ff.; EuGH, Rs. C-213/89 (Factortame), Slg. 1990, 1-2433, Rn. 18 ff.; EuGH, Rs. C-465/93 (Atlanta I), Slg. 1995, 1-3761, Rn. 20 ff.; EuGH, Rs. C-68/95 (T. Port GmbH & Co. KG/Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung), Slg. 1996,1-6065, Rn. 47 ff. 147 Vgl. nur EuGH, Rs. 244/80 (Foglia II), Slg. 1981, 3045, Rn. 14; EuGH, Rs. C415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 59 f.; EuGH, Rs. C-451/99 (Cura Anlagen/ASL), Slg. 2002, 1-3193, Rn. 26 m.w.N. Dass dieses Kooperationsverhältnis ein wechselseitiges ist, zeigt ein Blick auf die nationale Rechtsprechung; vgl. dazu etwa den siebten Leitsatz in BVerfGE 89, 155. 148 Vgl. auch oben Fußn. 102. 149 Vgl. Ipsen, § 15, Rn. 25 f. m.w.N.; Oppermann, Rn. 372; ders., DVB1. 1994, 901 ff.

Β. Grundfreiheitliche Dogmatik zwischen Vertragstext und J u d i k a t u r 6 1

der grundfreiheitlichen Dogmatik hier verstärkt die Aufgabe zu, die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aufzuzeigen und dabei die Kompetenzverteilungsregeln des EG-Vertrages in besonderem Maße zu berücksichtigen. 150

150

Zur kompetentiellen Blickrichtung vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 90 ff.

2. Kapitel

Der Diskrimiiiierungsbegriff als Kernelement einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten Die aktuelle Diskussion um eine einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten berührt maßgeblich zwei - miteinander verbundene - Aspekte.1 Einerseits wird um die grundlegende Struktur der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbote gestritten; 2 hiermit ist die Frage angesprochen, ob den Grundfreiheiten ein gleichheitsrechtliches bzw. freiheitsrechtliches Verständnis zugrunde liegt. Andererseits geht es um die Folgeproblematik hinsichtlich der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsstruktur. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung um eine einheitliche Rechtfertigungsprüfung, 3 welche die bislang angenommene Differenzierung zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen auf der Rechtfertigungsebene obsolet erscheinen ließe.4 Der Begriff der Diskriminierung bildet gleichsam das Verbindungselement zwischen diesen beiden Hauptstreitpunkten der aktuellen Diskussion. Bereits aus den genannten Fragestellungen wird ersichtlich, dass deren Beantwortung unmittelbar von dem zugrunde gelegten Diskriminierungsbegriff abhängig ist.5 Bevor die dogmatische Struktur der Grundfreiheiten auf der Tatbestands- und Rechtfertigungsebene im Einzelnen näher untersucht wird, ist daher zunächst im Ausgangspunkt zu klären, was mit dem Terminus der Diskriminierung gemeint sein soll. Ohne diese begriffliche Präzisierung bliebe eine Darstellung der Grundansätze grundfreiheitlicher Dogmatik unvollständig.

1

Vgl. hierzu sowie zum Folgenden auch Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (199 f.). Nachweise oben 1. Kapitel, Fußn. 25. 3 Dafür z.B. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 26; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 20; Novak, , DB 1997, 2589 ff. (2593); Nowak/Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff. (628 f., 631); Oliver, CMLRev. 1999, 783 ff. (805); Roth, WRP 2000, 979 ff. (983); Sack, WRP 1998, 103 ff. (110); ders., GRUR 1998, 871 ff. (876); Weiß, EuZW 1999,493 ff. (497). 4 Zur bisher vorherrschenden Rechtfertigungsdogmatik vgl. nur Gundel, Jura 2001, 79 ff. (80); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200), jeweils m.w.N. 5 Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 50 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 24 m.w.N. 2

Α. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot

63

Die anschließenden Ausführungen beschränken sich dabei auf den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff. Sonstige Aspekte der „Diskriminierung" im europäischen Primär- und Sekundärrecht bleiben an dieser Stelle außer Betracht. 6 Insofern ist auch dann lediglich jener spezifische Diskriminierungsbegriff in die vorliegende Untersuchung einbezogen, wenn im Folgenden ohne weitere Kennzeichnung von „Diskriminierung" gesprochen wird. 7 Zu Beginn dieses Kapitels wird vorab das Verhältnis der grundfreiheitlichen Vorschriften zum allgemeinen Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG beleuchtet (Α.), bevor im Einzelnen die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs nachgezeichnet werden soll (B.). Abschließend ist auf die verschiedenen Formen der Diskriminierung einzugehen (C.).

A. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot (Art. 12 EG) Eine erste Annäherung an die Wesensmerkmale des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs lässt sich über die Betrachtung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes gemäß Art. 12 EG erzielen. 8 Art. 12 Abs. 1 EG verbietet im Anwendungsbereich des EG-Vertrages jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.9 In ähnlicher Weise normieren die Grundfreiheiten mit Personenbezug ein entsprechendes Verbot. 10 Es erscheint daher gerechtfertigt,

6 Zu verweisen ist etwa auf Antidiskriminierungsmaßnahmen nach Art. 13 EG sowie die Vorschrift des Art. 141 EG. Vgl. zu Diskriminierungsverboten des EG-Vertrages über die Grundfreiheiten hinaus z.B. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 21 ff.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 82 ff., 216 ff. u. 260 ff. Zu gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverboten außerhalb des EG-Vertrages vgl. Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 2. 7 Auf die Frage, ob sich der grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff zusammen mit anderen Aspekten der Diskriminierung in ein einheitliches gemeinschaftsrechtliches Konzept integrieren lässt, kann in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu etwa Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 269 ff. 8 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 21 ff. u. 31 ff 9 Art. 12 Abs. 1 EG ist die einzige Vorschrift des EG-Vertrages, welche die „Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" explizit zum normativen Anknüpfungspunkt erhebt. 10 Vgl. etwa Art. 39 Abs. 2 EG („Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung"), Art. 43 Abs. 2 EG („nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine Angehörigen") u. Art. 50 Abs. 3 EG („unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt").

.

ie

r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

das Verhältnis der Grundfreiheiten zum allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG als Ausgangspunkt für eine Untersuchung des Diskriminierungsbegriffs heranzuziehen. 11

I. Der Inhalt des allgemeinen Diskriminierungsverbotes Nicht zuletzt angesichts ihrer systematischen Stellung im Ersten Teil des EG-Vertrages wird der Vorschrift des Art. 12 EG eine grundlegende Bedeutung zuerkannt. 12 Teilweise wird das allgemeine Diskriminierungsverbot sogar als Leitmotiv des EG-Vertrages bezeichnet, welches Interpretationsmaxime aller weiteren vertraglichen Bestimmungen sei.13 Dementsprechend wird Art. 12 EG auch vom Gerichtshof zur Auslegung der besonderen Vorschriften des EGVertrages herangezogen,14 wobei eine Abgrenzung zu anderen primärrechtlichen Diskriminierungsverboten nicht immer mit hinreichender Klarheit vorgenommen wird. 15 Um jene Abgrenzung - insbesondere hinsichtlich der grundfreiheitlichen Vorschriften - zu ermöglichen, ist es notwendig, den Inhalt des allgemeinen Diskriminierungsverbotes näher zu betrachten. 16

11

Ebenso Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 102. Vgl. zur Parallelität von Art. 12 EG einerseits und den Grundfreiheiten andererseits auch EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 35. 12 Vgl. nur Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 1; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 5; Lenz, in: ders., Art. 12, Rn. 1. 13 Vgl. aus der frz. Lit. bereits van Hecke, in: Les aspects juridiques du Marché Commun, 1958, 127 ff. (128); ihm folgend Wohlfahrt, in: WEGS, Art. 7, Anm. 1. Vgl. auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 1; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 4 f.; Kischel, EuGRZ 1997, 1 ff. (1); Lenz, in: ders., Art. 12, Rn. 1. Ähnlich Ipsen, § 30, Rn. 3: „Magna Charta" der Integration. 14 Vgl. EuGH, Rs. 8/77 (Sagulo), Slg. 1977, 1495, Rn. 9 ff.; EuGH, Rs. 1/78 (Kenny), Slg. 1978, 1489, Rn. 12; EuGH, Rs. 136/78 (Auer), Slg. 1979, 437, Rn. 14 ff.; EuGH, Rs. 175/78 (Saunders), Slg. 1979, 1129, Rn. 8 f.; EuGH, Rs. 59/85 (Reed), Slg. 1986, 1283, Rn. 6; EuGH, Rs. C-45/93 (Kommission/Spanien), Slg. 1994,1-911, Rn. 10; EuGH, Rs. C-334/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1996, 1-1307, Rn. 17; EuGH, Rs. C-l31/96 (Mora Romero), Slg. 1997,1-3659, Rn. 12. 15 Krit. daher Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 103; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (165). 16 Zur Klarstellung sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass mit dem Terminus des „allgemeinen Diskriminierungsverbotes" in der vorliegenden Arbeit allein die Regelung des Art. 12 EG angesprochen wird. Näher zu sonstigen allgemeinen Diskriminierungsverboten im EG-Primärrecht z.B. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 82 ff.

Α. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot

65

1. Diskriminierung a) Geltung und Wirkung nationaler Maßnahmen Wie nur wenige Vorschriften des EG-Vertrages spricht Art. 12 Abs. 1 EG expressis verbis von „Diskriminierung". 17 Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des Wortlautes, 18 setzt diese zunächst das Bestehen einer Differenzierung voraus; 19 erforderlich ist die unterschiedliche Behandlung zweier gleicher Tatbestände.20 Gegenüber dem neutralen Begriff der Differenzierung enthält der Diskriminierungsbegriff jedoch ein zusätzliches, pejoratives Element.21 Eine Diskriminierung liegt lediglich dann vor, wenn der von der Regelung Betroffene gegenüber der jeweiligen Vergleichsgruppe benachteiligt wird. 22 Insgesamt ist der Diskriminierungsbegriff damit durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet, welche auf unterschiedlichen Ebenen der zu beurteilenden Maßnahme ansetzen: Auf der Geltungsebene muss überhaupt eine Differenzierung stattfinden, welche auf der Wirkungsebene ein nachteiliges Ergebnis für den Betroffenen impliziert. Während die letztgenannte Voraussetzung nahezu unstreitig sein dürfte, 23 wird - insbesondere mit Blick auf die Grundfreiheiten - die Notwendigkeit einer Differenzierung auf der Geltungsebene teilweise in Frage gestellt.24 Mittels eines so genannten „materiellen" Diskriminierungsbegriffs wird stattdessen allein auf die nachteilige Wirkung einer Maßnahme rekurriert. 25

17

Vgl. darüber hinaus Artt. 13, 30 S. 2, 31 Abs. 1, 34 Abs. 2 UAbs. 2, 58 Abs. 3, 75 Abs. 1 u. 4, 87 Abs. 2 lit. a, 95 Abs. 6 UAbs. 1, 183 Nr. 5, 184 Abs. 4 u. 5 EG. 18 Eingehend zu den etymologischen Ursprüngen des Diskriminierungsbegriffs Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 26 f. m.w.N. 19 Vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 8. 20 So von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 8. Aus der Rechtsprechung vgl. nur EuGH, Verb. Rs. 7/54 u. 9/54 (Groupement des Industries Sidérurgiques Luxembourgeoises), Slg. 1955, 55 (94). 21 Vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 14 ff.; Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 13. 22 Vgl. EuGH, Verb. Rs. 17 u. 20/61 (Klöckner), Slg. 1962, 655 (692); EuGH, Rs. 22/80 (Boussac/Gerstenmeier), Slg. 1980, 3427, Rn. 10. 23 Ebenso Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 14 f. Vgl. auch Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 40. 24 Näher zu dieser Problematik Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 62 ff., der freilich selbst anderer Meinung ist. 25 Vgl. hier vor allem den Ansatz von Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 120 ff. 5 Mühl

.

ie

r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

b) Diskriminierungsverbot und allgemeiner Gleichheitssatz Nach einer frühen Entscheidung des Gerichtshofs liegt eine Diskriminierung im Sinne von Art. 7 EWGV (jetzt Art. 12 EG) vor, „wenn gleichgelagerte Sachverhalte ungleich oder verschieden gelagerte gleich behandelt würden". 26 Eine ähnliche Umschreibung findet sich auch in der späteren Rechtsprechung des EuGH zum allgemeinen Gleichheitssatz.27 Dieser ist zwar im EG-Vertrag nicht positiviert, 28 wurde aber richterrechtlich in Anknüpfung an das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 40 Abs. 3 UAbs. 2 EWG (jetzt Art. 34 Abs. 2 UAbs. 2 EG) als „Grundprinzip der Gemeinschaft" entwickelt. 29 Trotz der gleichlautenden Judikate sind das allgemeine Diskriminierungsverbot und der allgemeine Gleichheitssatz nicht notwendig strukturidentisch. 30 Während Letzterer insofern einen umfassenden Gehalt besitzt, als jeder An-

26

EuGH, Rs. 13/63 (Italien/Kommission), Slg. 1963, 357 (384). Zur Terminologie des Gerichtshofs hinsichtlich Art. 12 EG vgl. auch Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 39 f. 27 Vgl. etwa EuGH, Verb. Rs. 117/76 u. 17/77 (Quellmehl), Slg. 1977, 1753, Rn. 7; EuGH, Rs. C-280/93 (Deutschland/Rat), Slg. 1994,1-4973, Rn. 67; EuGH, Rs. C-56/94 (SCAC), Slg. 1995, 1-1769, Rn. 27; EuGH, Rs. C-354/95 (National Farmers' Union), Slg. 1997,1-4559, Rn.61. 28 EuR 1998, 263 ff. (263). Weiterführend Streinz, in: Dazu nur Kingreen/Störmer, ders., EUV/EGV-Kommentar, Art. 12 EGV, Rn. 13. 29 EuGH, Verb. Rs. 117/76 u. 17/77 (Quellmehl), Slg. 1977, 1753, Rn. 7; EuGH, Verb. Rs. 124/76 u. 20/77 (Maisgritz), Slg. 1977, 1795, Rn. 14/17; EuGH, Verb. Rs. 103/77 u. 155/77 (Isoglukose), Slg. 1978, 2037, Rn. 25/27; EuGH, Rs. 125/77 (Koninklijke Scholten-Honig), Slg. 1978, 1991, Rn. 25/27; EuGH, Rs. 147/79 (Hochstrass), Slg. 1980, 3005, Rn. 7; EuGH, Rs. 245/81 (Edeka), Slg. 1982, 2745, Rn. 11 ff.; EuGH, Rs. 59/83 (Biovilac), Slg. 1984, 4057, Rn. 19; EuGH, Verb. Rs. 201/85 u. 202/85 (Klensch), Slg. 1986, 3477, Rn. 9; EuGH, Verb. Rs. 424/85 u. 425/85 (Frico), Slg. 1987, 2755, Rn. 11; EuGH, Rs. 203/86 (Spanien/Rat), Slg. 1988, 4563, Rn. 25; EuGH, Rs. 84/87 (Erpelding), Slg. 1988, 2647, Rn. 29; EuGH, Verb. Rs. C-267/88 bis 285/88 (Wuidart), Slg. 1990, 1-435, Rn. 13; EuGH, Rs. C-177/90 (Kühn), Slg. 1992, 1-35, Rn. 18; EuGH, Rs. C-217/91 (Spanien/Kommission), Slg. 1993,1-3923, Rn. 37; EuGH, Rs. C-98/91 (Herbrink), Slg. 1994, 1-223, Rn. 27; EuGH, Rs. C-2/92 (Bostock), Slg. 1994,1-955, Rn. 20; EuGH, Rs. C-280/93 (Deutschland/Rat), Slg. 1994,1-4973, Rn. 67; EuGH, Rs. C-306/93 (SMW Winzersekt), Slg. 1994,1-5555, Rn. 30; EuGH, Rs. C-56/94 (SCAC), Slg. 1995,1-1769, Rn. 27; EuGH, Verb. Rs. C-296/93 u. C-307/93 (Frankreich u. Irland/Kommission), Slg. 1996,1-795, Rn. 94; EuGH, Rs. C-15/95 (Earl de Kerlast), Slg. 1997, 1-1961, Rn. 35; EuGH, Verb. Rs. C-248/95 u. 249/95 (SAM Schiffahrt u. Stapf), Slg. 1997, 1-4475, Rn. 50; EuGH, Rs. C-309/96 (Annibaldi), Slg. 1997, 1-7493, Rn. 18; EuGH, Rs. C-292/97 (Karlsson), Slg. 2000,1-2737, Rn. 38. 30 Vgl. auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 3; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 175; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 36 f.

Α. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot

67

knüpfungspunkt einer Differenzierung dem Normbereich unterfallen kann, 31 enthält Ersteres eine einseitige Ausrichtung auf das verbotene Kriterium der Staatsangehörigkeit. 32 Damit wird zugleich deutlich, dass Art. 12 EG im Gegensatz zum allgemeinen Gleichheitssatz kein Unterscheidungsgebot normieren kann. 33 Jene Vorschrift zielt bereits nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut allein auf ein Unterscheidungsverbot. 34 Als spezieller Gleichheitssatz erfasst das Diskriminierungsverbot somit nur einen Ausschnitt des allgemeinen Gleichheitssatzes.35 Art. 12 EG ist dabei nicht lediglich bloßes Indiz für die Existenz und den Geltungsanspruch des allgemeinen Gleichheitssatzes, sondern besitzt eine selbständige normative Funktion. 36 Unter Beachtung dieser Besonderheiten erscheint es gerechtfertigt, mit dem Gerichtshof das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG als „besondere Ausformung" des allgemeinen Gleichheitssatzes zu kennzeichnen.37

31

Ebenso von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 6. Zur einseitigen Ausrichtung der Diskriminierungsverbote allg. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 37. 33 Teilweise abweichend insoweit die Terminologie des Gerichtshofs; siehe oben bei Fußn. 26. Ähnlich wie hier - hinsichtlich Art. 3 Abs. 1 GG einerseits u. Art. 3 Abs. 2 u. 3 GG andererseits - Sachs, in: HStR V, § 126, Rn. 23 m.w.N. zur Gegenansicht. 34 Der allgemeine Gleichheitssatz erlaubt hingegen ein extensiveres Verständnis, so dass auch die Gleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte hiervon umfasst sein kann. Ob ein gleich gelagerter oder verschieden gelagerter Sachverhalt vorliegt, ist jedoch letztlich nur eine Frage der Vergleichsgruppenbildung. Somit ließen sich die Aussagen des EuGH innerhalb der in Fußn. 27 genannten Entscheidungen begriffslogisch ebenso darauf reduzieren, dass eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vorliegen müsse; vgl. näher zu dieser Problematik Pieroth/Schlink, Rn. 436; Podlech, Gleichheitssatz, 1971, 53 ff. 35 Vgl. Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 6; Streinz, in: ders., EUV/EGVKommentar, Art. 12, Rn. 1. 36 So zutreffend - wiederum bezogen auf die Gleichheitsgarantien des GG - Sachs, in: HStR V, § 126, Rn. 16 mit dem Hinweis auf die hierdurch erfolgte „Anhebung des durch den allgemeinen Gleichheitssatz allein begründeten minimalen Gleichheitsstandards". 37 Vgl. EuGH, Rs. 147/79 (Hochstrass), Slg. 1980, 3005, Rn. 7; EuGH, Rs. C-29/95 (Pastoors), Slg. 1997, 1-285, Rn. 14. Weiterführend Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999,21 m.w.N. 32

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

2. Die Staatsangehörigkeit

als verbotenes Kriterium

Art. 12 Abs. 1 EG verbietet nicht jegliche Differenzierungen, sondern nur Diskriminierungen „aus Gründen der Staatsangehörigkeit". 38 Damit ist bereits klar, dass allein Personen als Rechtssubjekte in die relevante Vergleichsgruppe des allgemeinen Diskriminierungsverbotes einbezogen werden können; 39 Rechtsobjekte besitzen keine Staatsangehörigkeit. 40 Im Übrigen ist der persönliche Anwendungsbereich von Art. 12 EG zu präzisieren sowie das Tatbestandsmerkmal „aus Gründen" näher zu betrachten.

a) Begünstigter Personenkreis Zunächst erstreckt sich der Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbotes nicht nur auf natürliche Personen, sondern auch auf juristische Personen.41 Zwar sind diese im strengen Sinne keine Angehörigen eines Staates.42 Der Begriff der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EG ist jedoch als „Staatszugehörigkeit" zu lesen.43 Dies ergibt sich aus einer systematischen

38 Aus diesem Grund wird die Charakterisierung von Art. 12 EG als „.allgemeines Diskriminierungsverbot" zum Teil kritisiert; vgl. etwa Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 101. Gleichwohl soll in der vorliegenden Arbeit an der herkömmlichen Terminologie festgehalten werden. Diese erhält insofern ihre Berechtigung, als Art. 12 EG gegenüber den besonderen Diskriminierungsverboten des EG-Vertrages nicht auf spezifische Anwendungsfälle wie den grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs- oder Personenverkehr beschränkt ist; ebenso z.B. Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 8. Zudem wird mit der Bezeichnung als „allgemeines Diskriminierungsverbot" der Rechtsprechung des Gerichtshofs Rechnung getragen; vgl. nur EuGH, Verb. Rs. C-92/92 u. C326/92 (Phil Collins), Slg. 1993,1-5145, Rn. 15. 39 Zutreffend Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 16; Nicolaysen, EuR 1991, 95 ff. (99); Zuleeg, in: GTE, Art. 6, Rn. 4; a.A. Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 92. 40 Vgl. in diesem Zusammenhang auch EuGH, Verb. Rs. 80/85 u. 159/85 (Brotpreis), Slg. 1986, 3359, Rn. 22; EuGH, Rs. C-93/89 (Kommission/Irland), Slg. 1991, I4569, Rn. 10; EuGH, Rs. C-221/89 (Factortame II), Slg. 1991, 1-3905, Rn. 28; EuGH, Rs. C-246/89 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Slg. 1991, 1-4585, Rn. 28 ff. Abweichend allerdings EuGH, Rs. C-379/92 (Peralta), Slg. 1994,1-3453, Rn. 43. 41 Ebenso i.E. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 12; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 17; Lenz, in: ders., Art. 12, Rn. 1; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 100 u. 107; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (167) m.w.N. zur Gegenansicht. 42 Vgl. Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 13 m.w.N. 43 So zutreffend von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 12.

Α. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot

69

Interpretation jener Vorschrift im Zusammenhang mit Artt. 48 und 55 EG; 44 dort werden Gesellschaften mit Sitz innerhalb der Gemeinschaft natürlichen Personen gleichgestellt, welche Angehörige der Mitgliedstaaten sind. 45 Nicht geklärt ist bislang die Frage, ob auch Angehörige von Drittstaaten durch das allgemeine Diskriminierungsverbot begünstigt werden können.46 Der Wortlaut von Art. 12 EG besitzt insoweit keine Aussagekraft. 47 Auch eine gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht nicht. 48 Zumindest teleologische Gesichtspunkte sprechen dafür, Drittstaatsangehörige im Grundsatz vom persönlichen Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbotes auszunehmen;49 die Integrationswirkung des EG-Vertrages erstreckt sich lediglich auf die Mitgliedstaaten.50 Art. 12 EG kann allerdings zu Gunsten der Angehörigen von Drittstaaten wirken, sofern diese über besondere Vorschriften in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages einbezogen sind. 51

b) Diskriminierung „aus Gründen" der Staatsangehörigkeit Aufgrund der weiten Formulierung in Art. 12 Abs. 1 EG bedarf es hinsichtlich der normativen Verbotswirkung keiner ausdrücklichen Anknüpfung der

44

Vgl. darüber hinaus die Erstreckung des Begriffs „Staatsangehörigkeit" auf natürliche und juristische Personen in Art. 183 Nr. 4 EG. 45 Vgl. zu dieser Gleichstellung gerade im Hinblick auf Art. 12 EG z.B. EuGH, Rs. C-398/92 (Mund & Fester), Slg. 1994, 1-467, Rn. 13 ff.; EuGH, Rs. C-43/95 (Data Delecta), Slg. 1996, 1-4661, Rn. 10 ff. In den genannten Entscheidungen hatte der Gerichtshof ohne weiteres das allgemeine Diskriminierungsverbot auf juristische Personen angewandt. 46 Näher zur Problematik z.B. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 33 ff.; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 19 f. 47 Ebenso Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 107. 48 Der EuGH hält das allgemeine Diskriminierungsverbot im Hinblick auf Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit jedenfalls dann für anwendbar, wenn diese auch Angehörige eines Mitgliedstaates sind; vgl. EuGH, Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992,1-4239, Rn. 15; EuGH, Rs. C-122/96 (Saldanha), Slg. 1997,1-5325, Rn. 15. 49 Ebenso z.B. Holoubek, in: Schwarze, Art. 12, Rn. 19; Lenz, in: ders., Art. 12, Rn. 2 mit Verweis auf EuGH, Verb. Rs. C-64/96 u. C-65/96 (Uecker u. Jacquet), Slg. 1997,1-3171, Rn. 21. 50 Vgl. Lenz, in: ders., Art. 12, Rn. 2; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 107. 51 Weiterführend von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 35; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12, Rn. 20; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (166 f.) m.w.N.

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betreffenden Maßnahme an das verpönte Kriterium; 52 vielmehr werden sämtliche Diskriminierungen „aus Gründen" der Staatsangehörigkeit erfasst. Mit diesem Tatbestandsmerkmal wird also auf alle Differenzierungen Bezug genommen, welche „wegen" der Staatsangehörigkeit erfolgen. 53 Neben Regelungen, welche direkt auf die Staatsangehörigkeit abstellen, verbietet Art. 12 Abs. 1 EG insofern die Anwendung anderer Differenzierungsmerkmale, wenn dies im Ergebnis einer ausdrücklichen Unterscheidung anhand der Staatsangehörigkeit gleichkommt. 54 Über die nähere Kennzeichnung der von Art. 12 EG erfassten Diskriminierungen „aus Gründen" der Staatsangehörigkeit kann die Ursache oder der Beweggrund der konkreten Maßnahme angesprochen sein.55 Hier entzündet sich der Streit um ein kausales oder finales Diskriminierungskonzept. 56 Es ist jedoch fraglich, ob bzw. inwieweit die Unterscheidung eines kausalen und eines finalen Diskriminierungsbegriffs ihre Berechtigung hat. 57 Als entscheidendes Argument für ein finales Diskriminierungskonzept wird angeführt, dass nur auf diese Weise „zufällige Diskriminierungen" aus dem Anwendungsbereich von Art. 12 EG ausgenommen werden könnten.58 Ungeachtet der schwierigen tatsächlichen Feststellung einer auf Zufall beruhenden Diskriminierung ließe sich dagegen einwenden, dass zur effektiven Verwirklichung der Vertragsziele eine solche Diskriminierung gar nicht von der Verbots Wirkung des Art. 12 EG ausgeschlossen sein soll. 59 Danach kann hier sowohl eine kausale als auch eine finale Verknüpfung relevant werden. 60 Ebenso differenziert der Gerichtshof

52

Dazu auch Hinter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 31. Näher zur Gleichsetzung der Begrifflichkeiten Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 44 mit Verweis auf den französischen, niederländischen u. italienischen Vertragstext. 54 Vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 31. 55 Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984,44. 56 Vgl. den Überblick bei Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 100 ff.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 52 f. m.w.N. 57 Ebenfalls krit. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 16; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 101 f. Abweichend freilich Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 52, der die Problematik als „zentrale Frage" charakterisiert. 58 So Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 45 mit dem Hinweis, dass die Erfassung zufalliger Diskriminierungen mit dem Verbotscharakter jener Vorschrift nicht vereinbar seien. 59 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 16; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 101; Ipsen, § 30, Rn. 16 f.; Zuleeg, in: GTE, Art. 6, Rn. 5. 60 Vgl. -mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit- auch Wölker, in: GTE, Art. 48, Rn. 13. 53

Α. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot

71

nicht zwischen den genannten Elementen, sondern rekurriert ohne weitergehende Problematisierung alternativ oder kumulativ auf kausale und finale Aspekte.61 So richtig es ist, dem Diskriminierungsbegriff durch bestimmte Restriktionen schärfere Konturen zu geben, so wenig sinnvoll erscheint es, diesbezüglich zwischen kausalen und finalen Konzeptionen zu unterscheiden. 62

3. Rechtfertigungsmöglichkeiten Gerade mit Blick auf eine umfassende Dogmatik der Grundfreiheiten ist abschließend der Frage nachzugehen, ob die von Art. 12 EG im Grundsatz verbotenen Maßnahmen einer Rechtfertigungsprüfung zugänglich sind oder stets eine unzulässige Diskriminierung darstellen. 63 Insofern wird der Charakter von Art. 12 EG als absolutes oder relatives Diskriminierungsverbot diskutiert. 64 Für ein Verständnis als absolutes Diskriminierungsverbot ohne Rechtfertigungsmöglichkeit wird zunächst der Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 EG angeführt, wonach ,jede Diskriminierung" verboten sei.65 Zudem wird auf Entscheidungen des Gerichtshofs verwiesen, 66 welche - trotz eines entsprechenden Parteivortrags - nicht auf Rechtfertigungsmöglichkeiten im Rahmen des allgemeinen Diskriminierungsverbotes Bezug nehmen.67

61 Zugebend Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 45 mit Verweis auf EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11; EuGH, Rs. 61/77 (Kommission/Irland), Slg. 1978, 417, Rn. 79/80; EuGH, Rs. 237/78 (Toia), Slg. 1979, 2645, Rn. 12; EuGH, Rs. 22/80 (Boussac/Gerstenmeier), Slg. 1980, 3427, Rn. 9. Vgl. darüber hinaus z.B. EuGH, Rs. 41/84 (Pinna), Slg. 1986, 1, Rn. 17 ff.; EuGH, Rs. 20/85 (Roviello), Slg. 1988, 2805, Rn. 13 ff.; EuGH, Rs. 313/86 (Lenoir), Slg. 1988, 5391, Rn. 15 f.; EuGH, Rs. 143/87 (Stanton), Slg. 1988, 3877, Rn. 9; EuGH, Verb. Rs. 154/87 u. 155/87 (Wolf), Slg. 1988, 3897, Rn. 9; EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591, Rn. 10 ff.; EuGH, Rs. C-175/88 (Biehl), Slg. 1990,1-1779, Rn. 13 ff. 62 Stattdessen kommt es darauf an, wie das Kriterium der Kausalität bzw. der Finalität im Einzelnen definiert wird. Zutreffend Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 101. 63 Zu dieser Problematik einerseits Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 52 ff.; andererseits Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 130 ff. 64 Vgl. nur Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 11 m.w.N.; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (167 f.). 65 In diesem Sinne etwa von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 23; Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 35 u. 43 f. 66 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 24 m.w.N. 67 So z.B. EuGH, Rs. 293/83 (Gravier), Slg. 1985, 593, Rn. 21 ff.; EuGH, Rs. C20/92 (Hubbard), Slg. 1993, 1-3777, Rn. 9 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-92/92 u. C-326/92

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Der Hinweis auf den Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 EG kann allerdings nicht überzeugen. Denn auch ein durch Rechtfertigungsmöglichkeiten eingeschränkter Begriff der Diskriminierung ließe den umfassenden Anwendungsbereich jener Vorschrift unberührt. 68 Ebenso kann die Judikatur des Gerichtshofs nicht für ein Verständnis des Art. 12 EG als absolutes Diskriminierungsverbot herangezogen werden. 69 Entgegen der früheren Rechtsprechung lassen die zuvor erwähnten Entscheidungen zwar eine solche Deutung zu; 70 neuere Urteile knüpfen hingegen wieder an die ursprüngliche Judikatur an und problematisieren ausdrücklich den Aspekt einer möglichen Rechtfertigung im Rahmen des allgemeinen Diskriminierungsverbotes. 71 Darüber hinaus spricht ein positives Argument für den Charakter des Art. 12 EG als relatives Diskriminierungsverbot: das bereits angesprochene Verhältnis des allgemeinen Diskriminierungsverbotes zum allgemeinen Gleichheitssatz.72 Wenn nämlich der allgemeine Gleichheitssatz die Möglichkeit einer Rechtfertigung impliziert, 73 so gilt dies auch für Art. 12 EG als dessen besondere Ausformung. 74 Im Ergebnis ist Art. 12 EG daher als relatives Diskriminierungsverbot zu charakterisieren, dessen Prüfung die Berücksichtigung von Rechtfertigungserwägungen grundsätzlich nicht ausschließt.75

(Phil Collins), Slg. 1993,1-5145, Rn. 29 ff.; EuGH, Rs. C-129/92 (Owen), Slg. 1994, I117, Rn. 17; EuGH, Rs. C-43/95 (Data Delecta), Slg. 1996,1-4661, Rn. 16 ff. 68 Zutreffend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 115, der in der genannten Argumentation einen auf der unzureichenden Trennung von Diskriminierungsbegriff und Diskriminierungsverbot beruhenden Zirkelschluss erblickt. 69 Vgl. auch Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (168). 70 ^Zur früheren Rechtsprechung vgl. nur EuGH, Rs. 147/79 (Hochstrass), Slg. 1980, 3005, Rn. 7. 71 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-398/92 (Mund & Fester), Slg. 1994,1-467, Rn. 17; EuGH, Rs. C-29/95 (Pastoors), Slg. 1997, 1-285, Rn. 19; EuGH, Rs. C-323/95 (Hayes), Slg. 1997, 1-1711, Rn. 20 ff.; EuGH, Rs. C-122/96 (Saldanha), Slg. 1997, 1-5325, Rn. 29. Vgl. zudem die Nachweise bei Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 52. 72 Dazu oben bei Fußn. 37. 73 Vgl. auch Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 132 ff. mit der weitergehenden Differenzierung zwischen sog. unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen, auf welche an dieser Stelle noch nicht weiter eingegangen werden soll. 74 Ebenso z.B. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 94 ff; Oppermann, Rn. 1742 f.; Rossi , EuR 2000, 197 ff. (212 f.); Zuleeg, in: GTE, Art. 6, Rn. 3. 75 Ebenso Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (168) m.w.N.

Α. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot

73

II. Die Grundfreiheiten als „besondere Bestimmungen" gemäß Art. 12 Abs. 1 EG Art. 12 Abs. 1 EG enthält mit dem Verweis auf besondere Bestimmungen des Vertrages ein wesentliches Verbindungselement zwischen dem allgemeinen Diskriminierungsverbot und den grundfreiheitlichen Vorschriften. Insofern können sich über dessen Betrachtung erste Folgerungen für die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs ergeben.

1. Vertragstext

und -systematik

Ohne nähere Konkretisierung gilt das allgemeine Diskriminierungsverbot gemäß Art. 12 Abs. 1 EG unbeschadet „besonderer Bestimmungen". Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in speziellen Bereichen (auch) Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbieten. 76 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird hierdurch insbesondere auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit sowie die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs Bezug genommen.77 Nach seinem Wortlaut verbietet Art. 12 Abs. 1 EG Diskriminierungen „unbeschadet" der besonderen Bestimmungen.78 Dies legt ein Subsidiaritätsverhältnis zwischen dem allgemeinen Diskriminierungsverbot und den angesprochenen grundfreiheitlichen Vorschriften nahe.79 Die Wortlautinterpretation wird mit Blick auf die systematische Stellung von Art. 12 EG im Gesamtgefüge des EG-Vertrages (Erster Teil, Grundsätze) bestätigt.80

76 Vgl. auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 57; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 11; Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, 74. 77 Dazu nur EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 6/7; EuGH, Rs. 186/87 (Cowan), Slg. 1989, 195, Rn. 14; EuGH, Rs. 305/87 (Kommission/Griechenland), Slg. 1989, 1461, Rn. 12 f. 78 Vgl. hier den Konkretisierungsversuch des Gerichtshofs in EuGH, Rs. 8/77 (Sagulo), Slg. 1977, 1495, Rn. 11: „vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen". 79 So auch Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 8; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (165); Streinz, in: ders., EUV/EGV-Kommentar, Art. 12, Rn. 14. 80 Vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 11.

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2. Rechtsprechung In der Rechtsprechung des EuGH ist das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Diskriminierungsverbot und den Grundfreiheiten allerdings unklar geblieben. 81 Vor allem in früheren Entscheidungen hat der Gerichtshof zur Beurteilung eines Sachverhaltes sowohl auf die besonderen Bestimmungen als auch auf das allgemeine Diskriminierungsverbot rekurriert. 82 Spätere Urteile stellen wiederum mehrheitlich darauf ab, dass Art. 6 EGV (jetzt Art. 12 EG) „nur auf vom Gemeinschaftsrecht geregelte Situationen angewendet werden [kann], für die der Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverböte vorsieht". 83 Zumindest besteht dahingehend eine einheitliche Linie in der Judikatur, als der EuGH in ständiger Rechtsprechung das allgemeine Diskriminierungsverbot als Auslegungsgrundsatz für die besonderen Bestimmungen heranzieht. 84

3. Stellungnahme Sind die besonderen Bestimmungen, hier vor allem die Grundfreiheiten, tatbestandlich berührt, 85 so sollten unter Berücksichtigung des Vertragstextes sowie der systematischen Stellung von Art. 12 EG allein diese herangezogen werden. 86 Die abweichende frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs überzeugt

81 Dazu von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 55; Streinz/ Leible, IPRax 1998, 162 ff. (165 f.). 82 Vgl. nur EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 26; EuGH, Rs. 1/78 (Kenny), Slg. 1978, 1489, Rn. 12; EuGH, Rs. 175/78 (Saunders), Slg. 1979, 1129, Rn. 8 f.; EuGH, Rs. 59/85 (Reed), Slg. 1986, 1283, Rn. 29. 83 So EuGH, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000,1-2681, Rn. 37. Vgl. zuvor bereits EuGH, Rs. C-213/90 (Asti), Slg. 1991,1-3507, Rn. 10; EuGH, Rs. C-l 12/91 (Werner), Slg. 1993, 1-429, Rn. 19; EuGH, Rs. C-379/92 (Peralta), Slg. 1994, 1-3453, Rn. 18; EuGH, Rs. C-l79/90 (Merci Convenzionali Porto di Genova), Slg. 1991,1-5889, Rn. 11 m.w.N. Unklar aber z.B. EuGH, Rs. C-45/93 (Kommission/Spanien), Slg. 1994, 1-911, Rn. 10; EuGH, Rs. C-334/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1996, 1-1307, Rn. 17. Näher zu neueren Tendenzen der Rechtsprechung z.B. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 9; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 102 f. 84 Siehe dazu die Nachweise oben in Fußn. 14. Vgl. darüber hinaus von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 56; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 9; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 7. 85 Zur weitergehenden Differenzierung, ob zwischen der Diskriminierung und der Ausübung der jeweiligen Grundfreiheit ein spezifischer Bezug besteht, vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 60; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 105; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (165 f.). 86 So auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 12; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 11; Streinz, in: ders., EUV/EGV-Kommentar, Art. 12, Rn. 17.

Α. Grundfreiheiten und allgemeines Diskriminierungsverbot

75

nicht. 87 Wird das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in speziellen Regelungsmaterien des EG-Vertrages gesondert normiert, 88 besteht auch unter teleologischen Aspekten keine Notwendigkeit, auf Art. 12 EG zurückzugreifen Richtig erscheint es allerdings, Art. 12 EG als Auslegungsmaxime für die besonderen Bestimmungen heranzuziehen. Dies folgt nicht zuletzt aus der (teilweise) gemeinsamen Zielrichtung von allgemeinem Diskriminierungsverbot und grundfreiheitlichen Vorschriften. 89 In diesem Zusammenhang ist auch die eigentümliche Wechselwirkung zwischen Art. 12 EG und den Grundfreiheiten zu beachten.90 Diese werden nicht nur von Art. 12 EG in ihrer Interpretation beeinflusst, sondern wirken ihrerseits auf das allgemeine Diskriminierungsverbot zurück. Dabei schränken die grundfreiheitlichen Vorschriften einerseits die (subsidiäre) Anwendung von Art. 12 EG in concreto ein. Zugleich vergrößern sie jedoch dessen abstrakte tatbestandliche Weite, indem sie allgemein den Anwendungsbereich des EG-Vertrages konstituieren. 91 Diese unterschiedlichen Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Tiefe und Breite des Anwendungsbereichs von Art. 12 EG führen zu einem eingeschränkten Bedeutungsgehalt des allgemeinen Diskriminierungsverbotes. 92 Schließlich ist auf einen letzten Zusammenhang zwischen Art. 12 EG und den grundfreiheitlichen Vorschriften hinzuweisen. Besondere Bestimmungen im Sinne von Art. 12 Abs. 1 EG zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Kriterium der Staatsangehörigkeit zum normativen Anknüpfungspunkt erheben. 93 Grundfreiheitliche Vorschriften ohne einen unmittelbaren Bezug zu diesem Kriterium stellen daher von vornherein keine solchen besonderen Bestimmungen dar. 94 So kann zum Beispiel die Warenverkehrsfreiheit nicht ohne weiteres

87

Vgl. darüber hinaus die Kritik bei von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 55; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (165 f.). 88 Vgl. insb. Artt. 39 Abs. 2,43 Abs. 2 u. 50 Abs. 3 EG. 89 Dazu etwa EuGH, Rs. 136/78 (Auer), Slg. 1979,437, Rn. 16. Trotz dieser gemeinsamen Zielrichtung erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, den Grundfreiheiten einen möglichen weitergehenden Gehalt beizumessen; vgl. auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 8 m.w.N. 90 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 56; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 106. 91 Art. 12 Abs. 1 EG entfaltet seine normative Wirkung expressis verbis nur im Anwendungsbereich des EG-Vertrages. 92 Näher Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 106 m.w.N. 93 Siehe dazu die in Fußn. 76 Genannten. 94 Vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 11.

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als besondere Bestimmung im Sinne von Art. 12 Abs. 1 EG angesehen werden; 95 nur soweit die Artt. 28 f. EG unterschiedliche Auswirkungen auf die Warenströme verbieten, welche sich auf Ungleichbehandlungen von Personen zurückfuhren lassen, tritt das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Subsidiaritätsgesichtspunkten zurück. 96

III. Folgerungen für den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff Aus den obigen Ausführungen ergeben sich bereits erste Folgerungen für die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs. 97 Diese sollen nachfolgend kurz zusammengefasst werden, bevor anschließend auf den Begriff der Diskriminierung, wie er speziell den Grundfreiheiten zugrunde liegt, näher eingegangen wird. Wenngleich die eigenständige normative Funktion des allgemeinen Diskriminierungsverbotes bereits betont wurde, 98 so bestehen doch keine grundlegenden Unterschiede zwischen dem Diskriminierungsbegriff nach Art. 12 EG und dem grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff. 99 Beiden gemeinsam ist nicht nur die teleologische Ausrichtung auf die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes bzw. Binnenmarktes, sondern auch die Anknüpfung an das verpönte Kriterium der Staatsangehörigkeit. Unter Heranziehung der bisherigen Ausführungen zu Art. 12 EG ergeben sich damit zwei entscheidende Konsequenzen für den Diskriminierungsbegriff der Grundfreiheiten: Zunächst ist eine Ungleichbehandlung im Sinne einer Differenzierung erforderlich; 100 die Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte stellt keine Diskriminierung dar, sondern wird lediglich über den allgemeinen Gleichheitssatz erfasst. 101 Zum anderen

95

Ähnlich - unter Bezugnahme auf die unmittelbare Anknüpfung einer Regelung an die Warenherkunft - z.B. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 16 m.w.N. auch zur Gegenansicht. 96 Vgl. auch die zutreffende Differenzierung bei Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 105. 97 Aufgrund der soeben bei Fußn. 94 ff. getroffenen Feststellungen gilt dies freilich nur, soweit die Grundfreiheiten einen personalen Bezug aufweisen. 98 Siehe oben bei Fußn. 36 (ggü. dem allgemeinen Gleichheitssatz) u. 86 ff. (ggü. den Grundfreiheiten). 99 Zunächst zurückhaltend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 103 f., in der Folge aber wie hier (a.a.O., 268 ff.). 100 Vgl. nur H inter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 8. 101 Siehe oben I. 1. b), bei Fußn. 33 ff. Weiterführend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 270 f.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

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muss die Rechtfertigung bestehender Ungleichbehandlungen im Grundsatz möglich sein. 102

B. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs I. Anforderungen an den Diskriminierungsbegriff Bevor auf die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs im Einzelnen eingegangen wird, ist zunächst an die abstrakten Ausführungen des ersten Kapitels anzuknüpfen. Hierbei soll vorab ein unbefangener Blick auf die Funktion des Diskriminierungsbegriffs innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten geworfen werden, deren mögliche Umsetzung in den folgenden Abschnitten diskutiert wird. Insofern ist wiederum maßgeblich die Perspektive des Rechtsanwenders zu berücksichtigen. 103 Will man den allgemeinen Vorgaben an eine Dogmatik gerecht werden, so darf der Diskriminierungsbegriff als Element grundfreiheitlicher Dogmatik nicht zu komplex in seinen Anwendungsmöglichkeiten werden. Ob eine Diskriminierung vorliegt oder nicht, sollte sich für den Rechtsanwender anhand einer eindeutigen und schnellen Prüfung ergeben. Ansonsten wäre der Diskriminierungsbegriff für die Praxis unbrauchbar; die mögliche Differenzierung zwischen diskriminierenden und diskriminierungsfreien Maßnahmen bliebe bei zu umfangreichen Kontrollerfordernissen ohne Wert. Andererseits ist darauf zu achten, dass über den Diskriminierungsbegriff möglichst viele Anwendungsfälle in die grundfreiheitliche Prüfung einbezogen werden können. Nur so lässt sich die Verengung auf Einzelaspekte vermeiden und das übergreifende Ziel einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten effektiv verfolgen. 104 Damit sind die wesentlichen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Entscheidung für einen bestimmten Begriff der Diskriminierung umschrieben. 105 Stellvertretend für jene Problematik steht hier der Streit zwischen den Vertretern eines (engeren) formellen und eines (weiteren) materiellen Diskriminierungsbegriffs. 106

102

Dazu bereits oben I. 3., bei Fußn. 75. Allg. zum Verhältnis von Rechtsdogmatik und Praxis bereits oben 1. Kapitel Α. I. l.u. 3. b) cc), S. 32 u. 47. 104 Zum Erfordernis einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten siehe oben I.Kapitel Α. I , S. 32 ff. 105 Zum Spannungsfeld zwischen maximaler Simplifizierung und notwendigem Maß an Komplexität siehe oben 1. Kapitel Α. I. 3. a) u. b) aa), S. 44 u. 46. 106 Weiterführend etwa Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 70 f. u. 270 f. 103

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Weitere Anforderungen ergeben sich schließlich aufgrund der notwendigen Orientierung am Text des EG-Vertrages sowie der Rechtsprechung des EuGH. 107 Diese sollen im Folgenden zunächst berücksichtigt werden (II., III.), bevor die grundlegende Fragestellung hinsichtlich einer formellen oder materiellen Betrachtungsweise des Diskriminierungsbegriffs vertieft wird (IV., V.).

II. Der Diskriminierungsbegriff im Wortlaut des EG-Vertrages Den Ausgangspunkt der folgenden begrifflichen Überlegungen bildet der Text des EG-Vertrages. Dabei ist zwischen den einzelnen vertraglichen Bestimmungen zu differenzieren. Teilweise enthalten diese eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Begriff der „Diskriminierung"; andererseits lassen sich mittelbare Folgerungen für den Diskriminierungsbegriff auch aus solchen grundfreiheitlichen Vorschriften ableiten, welche - ohne explizite Anknüpfung an eine Diskriminierung - Gleichbehandlungsgebote im weiteren Sinne normieren.

7. Ausdrückliche Bezugnahme auf „Diskriminierungen

"

Innerhalb der grundfreiheitlichen Bestimmungen des EG-Vertrages wird nur vereinzelt expressis verbis auf den Terminus der Diskriminierung Bezug genommen. So schränken hier allein die Ausnahmevorschriften der Art. 30 S. 2 EG und Art. 58 Abs. 3 EG Rechtfertigungsmöglichkeiten für Maßnahmen ein, 108 welche „ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung" darstellen. 109 Im Rahmen der tatbestandlichen Umschreibung der Grundfreiheiten wird der Begriff „Diskriminierung" hingegen nicht wörtlich genannt.110 Auch im übrigen

107 Siehe zu diesen Orientierungspunkten bereits oben 1. Kapitel Β. I. u. II., S. 49 ff. u. 55 ff. 108 Nicht zu übersehen ist hier freilich Art. 31 EG, wonach im Hinblick auf staatliche Handelsmonopole Jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen" ausgeschlossen werden soll. Aufgrund ihrer Sonderstellung ist diese Spezialvorschrift allerdings nicht geeignet, allgemeingültige Aussagen betreffend den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff zu belegen; vgl. auch Berg, in: Schwarze, Art. 31 EGV, Rn. 16; Lux, in: Lenz, Art. 31, Rn. 1. 109 Zu beachten ist hier zudem die attributive Verengung auf eine „willkürliche Diskriminierung" (Hervorh. d. Verf.); vgl. in diesem Zusammenhang auch Art. 95 Abs. 6 UAbs. 1 EG sowie die Kategorienbildung bei Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 30. 1,0 Dies gilt zumindest für die deutsche Textfassung. Vgl. demgegenüber z.B. Art. 39 Abs. 2 EG in der englischen Fassung („idiscrimination based on nationality"), der fran-

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

79

EG-Primärrecht findet sich nur selten die ausdrückliche Erwähnung von „Diskriminierung". 111 Ungeachtet des allgemeinen Diskriminierungsverbotes gemäß Art. 12 EG ist dabei ohnehin fraglich, ob textliche Aussagen jener übrigen Vorschriften auf den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff ohne weiteres übertragbar sind. 112 Daher sollen an dieser Stelle lediglich die Bestimmungen von Art. 30 S. 2 EG und Art. 58 Abs. 3 EG betrachtet werden. Vergleicht man den Wortlaut der zitierten Vorschriften mit den tatbestandlichen Umschreibungen der Warenverkehrsfreiheit bzw. der Freiheiten des Kapital· und Zahlungsverkehrs in Artt. 28, 29 bzw. 56 EG, so ergeben sich erste Anhaltspunkte für einen restriktiven Diskriminierungsbegriff. Die auf der Rechtfertigungsebene ausgeschlossene „willkürliche Diskriminierung" erscheint insofern als Unterfall der in Artt. 28, 29 und 56 EG erwähnten „Beschränkung"; 113 der unvoreingenommene Blick auf den Vertragstext spricht daher gegen ein extensives, den gesamten grundfreiheitlichen Tatbestand erfassendes Verständnis von „Diskriminierung". 114 Allerdings ist in dieser textlichen Betrachtung nur ein schwaches Indiz zu erblicken. Abgesehen von den erwähnten Rechtfertigungsvorschriften, fehlen weitere aussagekräftige grammatische Anknüpfungspunkte. Darüber hinaus gelten die obigen Ausführungen nicht für die Grundfreiheiten mit Personenbezug. 115 Deren Vorschriften lassen lediglich mittelbare Rückschlüsse auf den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff zu, indem sie Gleichbehandlungsgebote im weiteren Sinne normieren. Sie sollen im Folgenden in die Betrachtung einbezogen werden.

zösischen Fassung („discrimination , fondée sur la nationalité") sowie der italienischen Fassung (discriminazione , fondata sulla nazionalità"); Hervorh. d. Verf. 111 Siehe oben bei Fußn. 17. 112 Näher hierzu etwa Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 268 ff, insb. 274. 113 So Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 163. Vgl. auch EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1986, 3755, Rn. 25; EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 26 f. 114 Nichts anderes ergibt sich, wenn man die Diskriminierung nicht als Unterfall, sondern als aliud zur Beschränkung begreift. 115 Gemeint sind hier die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit sowie die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs.

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2. Gleichbehandlungsgebote im weiteren Sinne Die Personenverkehrsfreiheiten werden im Text des EG-Vertrages nicht ausdrücklich mit dem Begriff der Diskriminierung in Verbindung gebracht. 116 Dennoch besteht Einigkeit darüber, dass auch diese Grundfreiheiten ein Diskriminierungsverbot normieren. 117 Ausgehend allein vom Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften, wird die Gleichbehandlung im Hinblick auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit gefordert. 118 Hieraus lässt sich eine wesentliche Erkenntnis zur Präzisierung des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs ableiten: Es wird eine Parallele zum allgemeinen Diskriminierungsverbot gemäß Art. 12 EG sichtbar. Denn ebenso wie Art. 12 EG impliziert der Wortlaut der Personenverkehrsfreiheiten, dass die am Maßstab der Grundfreiheiten zu beurteilende Regelung überhaupt zwischen zwei Vergleichsgruppen tatbestandlich differenziert. So nimmt Art. 39 Abs. 2 EG auf eine „unter-schiedliche Behandlung" von Personen Bezug; gemäß Art. 43 Abs. 2 EG umfasst die Niederlassungsfreiheit Gewährleistungen „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen"; Art. 50 Abs. 3 EG bestimmt schließlich die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs „unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt". 119 Legt man allein den Vertragstext zugrunde, so reicht ein reiner Wirkungsunterschied zur Annahme einer Diskriminierung im Rahmen der Grundfreiheiten nicht aus. 120 Nach der Betrachtung allein des Wortlautes des EG-Vertrages lassen sich zusammenfassend folgende Ergebnisse festhalten. Zunächst scheint mit dem Begriff der Diskriminierung der tatbestandliche Anwendungsbereich der

116

Vgl. jedoch wiederum Art. 39 Abs. 2 EG in der englischen, französischen u. italienischen Textfassung; dazu oben Fußn. 110. 117 Aus der Lehrbuchliteratur z.B. Bleckmann, Rn. 1563; Herdegen, Rn. 308, 319 u. 324; Koenig/Haratsch, Rn. 539, 563 u. 596 ff.; Oppermann, Rn. 1582; Schweitzer/Hummer, Rn. 1157, 1172 u. 1186; Streinz, Rn. 667. Auf die Frage, ob sich der grundfreiheitliche Gewährleistungsgehalt in einem Diskriminierungsverbot erschöpft, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 118 Vgl. die Umschreibung in Art. 39 Abs. 2 EG: „Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung" sowie die Formulierungen in Art. 43 Abs. 2 EG („ [...] nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen") u. Art. 50 Abs. 3 EG („ [...] unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt"). 119 Die Hervorhebungen sind sämtlich solche d. Verf. 120 Mit Blick auf Art. 12 EG siehe bereits oben bei Fußn. 19.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

81

Grundfreiheiten nicht erschöpfend umschrieben; dies weist auf Restriktionen des Diskriminierungsbegriffs hin, welche Raum für weitergehende grundfreiheitliche Anwendungsfelder lassen. Gegen einen umfassenden Begriff der Diskriminierung, welcher allein auf die materielle Wirkung abstellt, spricht darüber hinaus die Tatsache, dass eine „Diskriminierung" bereits begrifflich eine Differenzierung voraussetzt.

III. Der (unbestimmte) Diskriminierungsbegriff des EuGH 1. Terminologische Differenzierungen Der Gerichtshof verwendet in seinen Entscheidungen zu den Grundfreiheiten den Begriff der Diskriminierung zum Teil expressis verbis; 121 teilweise wird stattdessen darauf rekurriert, ob die betreffende Maßnahme „unterschiedslos anwendbar" ist. 122 Inwiefern diese terminologischen Differenzierungen synonyme Umschreibungen darstellen oder aber einen Unterschied in der Sache bedingen, ist nicht hinreichend geklärt. Einige Entscheidungen deuten darauf hin, dass der Gerichtshof „unterschiedslos anwendbar" im Sinne von „diskriminierungsfrei" versteht. 123 Dies ließe sich zunächst für die oben gewonnene Erkenntnis anführen, den Diskriminierungsbegriff mit einem formalen Verständnis zu belegen: Sofern eine Regelung unterschiedslos anwendbar ist, liegt keine Diskriminierung vor; andernfalls kann eine diskriminierende Maßnahme gegeben sein. 124 Auf die - unterschiedliche oder unterschiedslose - Wirkung

121 Vgl. für den Bereich der Produktverkehrsfreiheiten z.B. EuGH, Rs. C-128/89 (Kommission/Italien), Slg. 1990, 1-3239, Rn. 11; EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-l76/90 (Aragonesa), Slg. 1991, 1-4151, Rn. 24; EuGH, Rs. C-387/93 (Banchero), Slg. 1995, I4663, Rn. 27; EuGH, Verb. Rs. C-321/94 bis C-324/94 (Pistre u.a.), Slg. 1997, 1-2343, Rn. 48 f.; EuGH, Rs. C-l89/95 (Franzén), Slg. 1997, 1-5909, Rn. 38; EuGH, Rs. C302/97 (Konle), Slg. 1999,1-3099, Rn. 23; EuGH, Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst Sass), Slg. 2000,1-151, Rn. 27; EuGH, Rs. C-423/98 (Albore), Slg. 2000,1-5965, Rn. 16 f. 122 Vgl. nur EuGH, Rs. C-124/97 (Läärä), Slg. 1999, 1-6067, Rn. 28; EuGH, Rs. C190/98 (Graf), Slg. 2000, 1-493, Rn. 23; EuGH, Rs. C-448/98 (Guimont), Slg. 2000, I10663, Rn. 20 f. 123 Neben den soeben genannten Urteilen z.B. EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 11; EuGH, Rs. 21/88 (Du Pont de Nemours Italiana), Slg. 1990, 1-889, Rn. 14; EuGH, Rs. 59/82 (Weinvertriebs-GmbH), Slg. 1983, 1217, Rn. 11; EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 32; EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-4431, Rn. 34; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999,1-2517, Rn. 16. 124 Zu dieser Gleichsetzung von „unterschiedslos anwendbar" und „diskriminierungsfrei" in der Terminologie des EuGH vgl. auch Défalqué , CDE 1987, 471 ff. (478); Kahl, 6 Mühl

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einer Regelung scheint es demnach nicht anzukommen. In den genannten Fällen fehlt jedoch zum Teil eine nähere Präzisierung des judikativen Diskriminierungsbegriffs dahingehend, in Bezug auf welches Kriterium eine unterschiedslose bzw. unterschiedliche Anwendung erfolgt. 125 Die „unterschiedliche Anwendung" einer Regelung als solche ist ohne Bezugnahme auf ein spezielles Kriterium jedoch ein inhaltsleerer Begriff. Indem der Gerichtshof hier nicht klar zu erkennen gibt, ob er dabei auf das Merkmal der Staatsangehörigkeit, der Waren- bzw. Dienstleistungsherkunft oder sonstige Aspekte abstellt, wird der von ihm gebrauchte Diskriminierungsbegriff nicht hinreichend offengelegt. 126 Auch ungeachtet der mangelnden Präzisierung wird in der Rechtsprechung des EuGH das Verhältnis von unterschiedsloser bzw. unterschiedlicher Anwendbarkeit einer Regelung und Diskriminierung nicht immer hinreichend deutlich. So ist der Gerichtshof in manchen Entscheidungen gerade umgekehrt vom Vorliegen einer Nichtdiskriminierung ausgegangen und hat damit die unterschiedslose Anwendung der betreffenden Maßnahme begründet. 127 Durch diese Argumentationsrichtung wird die Tauglichkeit des Versuchs, über die Art der Anwendbarkeit einer Regelung deren diskriminierenden Charakter zu bestimmen, wieder in Frage gestellt. Insgesamt trägt die uneinheitliche und wenig präzise Terminologie in der Rechtsprechung nicht dazu bei, spezifische Konturen des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs aufzuzeigen. 128

2. Erweiterung

des Diskriminierungsbegriffs

durch den EuGH

Die erwähnten Schwierigkeiten bei der Interpretation der Judikatur verstärken sich vor dem Hintergrund der erfolgten Ausdehnung des Diskriminierungsbegriffs durch den EuGH. 129 Angesprochen ist hier die Rechtsprechungslinie, wonach nicht nur offene Diskriminierungen, sondern auch so genannte ver-

Umweltprinzip, 1993, 182; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 48; Meyer, GRUR Int. 1996, 697 ff. (702); MüllerGraff, in: GTE, Art. 30, Rn. 196; Perau, Werbeverbote, 1997, 99; Weyer, Freier Warenverkehr, 1997, 127 ff. 125 Vgl. nur EuGH, Rs. C-124/97 (Läärä), Slg. 1999,1-6067, Rn. 31. 126 Ebenso i.E. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,40. 127 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-275/92 (Schindler), Slg. 1994,1-1039, Rn. 47, wonach die betreffenden Regelungen „keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit enthalten und deshalb als unterschiedslos anwendbar anzusehen sind"; Hervorh. d. Verf. 128 Vgl. auch Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (202) m.w.N. 129 Zu dieser Entwicklung auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38 ff.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 54.; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (209).

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

83

steckte Diskriminierungen der grundfreiheitlichen Verbotswirkung unterfallen. 130 Dort knüpft die betreffende Maßnahme nicht unmittelbar an verbotene Kriterien wie die Staatsangehörigkeit bzw. Waren- und Dienstleistungsherkunft an; sie führt jedoch durch die Verwendung anderer Differenzierungsmerkmale zum gleichen Ergebnis. 131 Diese Erweiterung macht es in besonderem Maße erforderlich, den näheren Zusammenhang zwischen der Anwendbarkeit der betreffenden Regelung und dem Vorliegen einer Diskriminierung hinreichend genau offenzulegen. Insbesondere ist zu klären, in Bezug auf welche Merkmale die unterschiedliche Anwendung zu einer solchen versteckten Diskriminierung führt und inwiefern ein spezifischer Zusammenhang zu den verbotenen Kriterien im Sinne einer offenen Diskriminierung bestehen muss. Auch hier fehlt jedoch eine entsprechende Konkretisierung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. 132 So vergrößern sich in erheblicher Weise die Interpretationsspielräume hinsichtlich einzelner Judikate, wodurch ein nicht geringes Maß an Rechtsunsicherheit entsteht. Beispielhaft sei dabei auf die Entscheidung Klopp verwiesen, 133 deren streitgegenständliche Regelung in der Literatur einerseits als diskriminierend, andererseits als nichtdiskriminierend gekennzeichnet wird. 1 3 4 Die Problematik intensiviert sich zudem dadurch, dass in der Diskussion die unterschiedlichsten Bezeichnungen fur jene erweiterte Form der Diskriminierung verwandt werden. Allein der EuGH spricht hier von „versteckten Formen der Diskriminierung", 135 von „mittelbarer Diskriminierung" 136 oder

130

Nachweise oben 1. Kapitel, Fußn. 36. Vgl. EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11. Weiterführend z.B. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 26. 132 Ebenso Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 55. 133 EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971. 134 Vgl. einerseits Everling, DB 1990, 1853 ff. (1855 ff.); Hailbronner, JuS 1991, 917 ff. (919); Jarass, RIW 1993, 1 ff. (6); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 65; Nachbaur, EuZW 1991, 470 ff. (471 f.); Troberg, in: GTE, Art. 52, Rn. 45; andererseits Benjes, Die Personenverkehrsfreiheiten des EWG-Vertrages, 1992, 134; Gornig, NJW 1989, 1120 ff. (1121 f.); Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 ff. (2575); Roth, RabelsZ 54 (1990), 63 ff. (81 f.); Sack, JuS 1990, 352 ff. (355); Schneider, NJ 1996, 512 ff. (514). 135 EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11; EuGH, Rs. 71/76 (Thieffry), Slg. 1977, 765, Rn. 13/14; EuGH, Rs. 237/78 (Toia), Slg. 1979, 2645, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. 62/81 u. 63/81 (Seco), Slg. 1982, 223, Rn. 8; EuGH, Rs. C-l75/88 (Biehl), Slg. 1990, 1-1779, Rn. 13; EuGH, Rs. C-330/91 (Commerzbank), Slg. 1993, 1-4017, Rn. 14; EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Slg. 1995, 1-225, Rn. 26; EuGH, Rs. C237/94 (O'Flynn), Slg. 1996,1-2617, Rn. 17; EuGH, Rs. C-29/95 (Pastoors), Slg. 1997, 1-285, Rn. 16; EuGH, Rs. C-131/96 (Mora Romero), Slg. 1997, 1-3659, Rn. 32; EuGH, Rs. C-254/97 (Baxter), Slg. 1999, 1-4809, Rn. 10; EuGH, Rs. C-l56/98 (Deutschland/Kommission), Slg. 2000,1-6857, Rn. 83. Mit Blick auf das allgemeine Diskriminie131

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

schlicht von „Diskriminierung", 137 ohne auf einen Unterschied in der Sache hinzuweisen.138 Noch deutlicher werden die Defizite in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn man die richterliche Weiterentwicklung der Grundfreiheiten zu so genannten Beschränkungsverboten einbezieht. Gerade hier hätte sich eine stärkere Konturierung des judikativen Diskriminierungsbegriffs angeboten, um insbesondere eine scharfe begriffliche Abgrenzung zum Terminus der „Beschränkung" zu ermöglichen. Auch diese Gelegenheit zur Präzisierung des vom EuGH zugrunde gelegten Begriffs der Diskriminierung ist jedoch bislang nicht genutzt worden; stattdessen wird weitere Verwirrung gestiftet, indem das Verhältnis von Diskriminierung und Beschränkung undurchsichtig bleibt. Während einige Urteile die Diskriminierung als Unterfall der Beschränkung erscheinen lassen,139 deuten andere Entscheidungen ein begriffliches Nebeneinander von Diskriminierung und Beschränkung an; 140 teilweise verwendet der Gerichtshof sogar den Ausdruck einer „diskriminierenden Beschränkung". 141 Auch und gerade unter Einbeziehung der erweiternden Tendenzen der Rechtsprechung entsteht in der Zusammenfassung somit weiterhin nur ein sehr unklares Bild des judikativen Diskriminierungsbegriffs.

3. Rechtfertigungsdogmatik Angesichts der besonderen Bedeutung des Diskriminierungsbegriffs innerhalb der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsdogmatik erscheint die Erwartung

rungsverbot des Art. 12 EG vgl. auch EuGH, Rs. 22/80 (Boussac/Gerstenmeier), Slg. 1980, 3427, Rn. 9; EuGH, Rs. C-398/92 (Mund & Fester), Slg. 1994,1-467, Rn. 14. 136 EuGH, Rs. 143/87 (Stanton), Slg. 1988, 3877, Rn. 9; EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999,1-345 ff, Rn. 41; EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998, 1-2521, Rn. 30; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999, 1-2517, Rn. 13; EuGH, Rs. C-l90/98 (Graf), Slg. 2000,1-493, Rn. 18. 137 Dazu Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 55 m.w.N. 138 Zur divergierenden Terminologie in der Literatur vgl. nur Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 25 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 56. 139 Aus jüngerer Zeit z.B. EuGH, Rs. C-367/98 (Kommission/Portugal), Slg. 2002,14731, Rn. 44; EuGH, Rs. C-483/99 (Kommission/Frankreich), Slg. 2002, 1-4781, Rn. 40. 140 Vgl. nur EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 96. 141 So etwa EuGH, Rs. C-302/97 (Konle), Slg. 1999, 1-3099, Rn. 23; EuGH, Rs. C423/98 (Albore), Slg. 2000,1-5965, Rn. 16.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

85

berechtigt, aus entsprechenden Entscheidungen des Gerichtshofs Schlussfolgerungen für den judikativen Diskriminierungsbegriff ableiten zu können. Ausgangspunkt ist dabei die Rechtsprechung des EuGH, wonach grundsätzlich zwischen zwei Rechtfertigungsstrukturen im Bereich der Grundfreiheiten zu differenzieren ist. 142 Einerseits wird allein auf die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des EG-Vertrages rekurriert; andererseits werden darüber hinaus die „immanenten Schranken" im Sinne der Cossw-Rechtsprechung herangezogen. 143 Das entscheidende Merkmal für diese Differenzierung bleibt in den einschlägigen Urteilen jedoch unklar. Zum Teil wird die unterschiedslose bzw. unterschiedliche Geltung der betreffenden Maßnahme als maßgebliches Kriterium herangezogen. 144 In anderen Entscheidungen stellt der EuGH darauf ab, ob die zu beurteilende Regelung „benachteiligt" bzw. „diskriminiert", ohne jedoch den zugrunde gelegten Diskriminierungsbegriff näher zu definieren. 145 Insbesondere wird in den letztgenannten Fällen nicht deutlich, wie sich versteckte Diskriminierungen in jenes richterliche Kategorienschema einordnen lassen. Eine entsprechende Differenzierung zwischen den verschiedenen Formen der Diskriminierung nimmt der Gerichtshof hier nicht vor. Einige Urteile setzen sich überhaupt nicht näher mit dem Charakter der streitgegenständlichen Maßnahme auseinander, 146 sondern gehen ohne weiteres jeweils von der einen oder anderen Rechtfertigungsstruktur aus. 147 Insgesamt wird durch die zitierte Rechtsprechung die oben geäußerte Erwartung somit enttäuscht.

142

Nachweise oben 1. Kapitel, Fußn. 44. Vgl. dazu EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8. Eine Einschränkung der Anwendbarkeit dieser immanenten Schranken wird allerdings erst in späteren Entscheidungen postuliert. 144 So in EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 12, EuGH, Rs. 25/88 (Wurmser), Slg. 1988, 1105, Rn. 11; EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-176/90 (Aragonesa), Slg. 1991, 1-4151, Rn. 13. Teilweise erfolgt eine begriffliche Verknüpfung mit dem Terminus der Diskriminierung; vgl. EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 11; EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 32; EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 34. 145 Vgl. EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc/Au blé vert), Slg. 1985, 1, Rn. 29; EuGH, Rs. C484/93 (Svensson), Slg. 1995,1-3955, Rn. 15; EuGH, Verb. Rs. C-321/94 bis C-324/94 (Pistre u.a.), Slg. 1997,1-2343, Rn. 52. 146 Der Gerichtshof spricht in diesen Fällen allg. von „Behinderung" oder „Beschränkung"; vgl. nur EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 19; EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1986, 3755, Rn. 28 f. 147 Vgl. EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1986, 3755, Rn. 28 ff.; EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999, 1-345 ff, Rn. 41 ff.; EuGH, Rs. C-120/95 (Decker), Slg. 1998,1-1831, Rn. 39 ff.; EuGH, Rs. C-158/96 (Kohll), Slg. 1998,1-1931, Rn. 35 ff.; EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 18 f. 143

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

Mit Blick auf die wünschenswerte Konkretisierung des Diskriminierungsbegriffs führt die Betrachtung der Judikatur im Ergebnis zu einem ernüchternden Befund. Konkrete Aussagen des Gerichtshofs zum grundfreiheitlichen Begriff der Diskriminierung fehlen durchgehend. 148 Zudem erschwert die uneinheitliche Terminologie des EuGH die Herausbildung wesentlicher Strukturelemente des judikativen Diskriminierungsbegriffs. 149 Als Leitlinie für eine Dogmatik der Grundfreiheiten ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs diesbezüglich nicht geeignet. Demgemäß haben sich in der Literatur vielfältige Erklärungsansätze zum grundfreiheitlichen Begriff der Diskriminierung herausgebildet, welche stattdessen teleologische Aspekte in den Vordergrund rücken. 150 Nachfolgend soll daher die Auseinandersetzung um einen materiellen bzw. formellen Diskriminierungsbegriff diskutiert werden.

IV. Die Ansicht Kingreens et al. - der sog. „materielle" Diskriminierungsbegriff Bei der Umschreibung grundfreiheitlicher Gewährleistungsgehalte wird im Schrifttum zunehmend auf den Begriff der „materiellen Diskriminierung" Bezug genommen.151 Auch der EuGH spricht in einigen Entscheidungen von „materieller Diskriminierung" bzw. „Diskriminierung im materiellen Sinne". 152 Dabei besteht über die konkrete Bedeutung jener Terminologie keineswegs Einigkeit. 153 Während einige hierin lediglich eine Bezeichnung für die besondere Form der versteckten Diskriminierung erblicken, 154 sehen andere in dem

148

Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 51, 62 u. 63 f. 149 Ebenso Streinz,, FS Rudolf, 199 ff. (216) m.w.N. 150 Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, Vgl. dazu Hintersteininger, 25 ff. 151 Vgl. etwa Défalqué, CDE 1987, 471 ff. (477,484); Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 26; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 120 ff; Körber, EuR 2000, 932 ff. (933); Marenco/Banks, ELR 1990, 224 ff. (238 f.); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 148; Müller-Graff, in: GTE, Art. 30, Rn. 196; Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984,45. 152 So z.B. EuGH, Rs. 13/63 (Italien/Kommission), Slg. 1963, 357 (384); EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Slg. 1995,1-225, Rn. 49. 153 Näher Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 25 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 56 u. 70. 154 So Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 26; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 148; Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984,45.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

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Konzept der materiellen Diskriminierung den umfassenden Gegenentwurf zu einem grundsätzlich formellen Diskriminierungsverständnis. 155 Insofern wird der Begriff der Diskriminierung vom Erfordernis einer tatbestandlichen Differenzierung gelöst; stattdessen soll allein auf die nachteilige Wirkung der betreffenden Maßnahme abzustellen sein. 156 Diesen Ansatz verfolgt vor allem Kingreen. 157 Danach sei die formale Ausgestaltung einer nationalen Regelung kein maßgebliches Kriterium für die grundfreiheitliche Prüfung. 158 Insbesondere komme es nicht auf die ausdrückliche Anknüpfung an bestimmte Merkmale wie die Staatsangehörigkeit oder die Warenherkunft an; entscheidend sei allein, ob eine bestimmte Maßnahme die grenzüberschreitend tätigen Wirtschaftsteilnehmer als schützenswerte Vergleichsgruppe in ihrer Wirkung stärker belastet als die übrigen Wirtschaftsteilnehmer. 159 Kingreen erkennt die Notwendigkeit einer weiteren Konkretisierung des so verstandenen Diskriminierungsbegriffs, da sich aufgrund der bestehenden unterschiedlichen Rechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt „fast immer zusätzliche Hemmnisse für die transnationale Vergleichsgruppe aufspüren" ließen. 160 Diesbezüglich sei zwischen marktregulierenden und marktsegmentierenden Wirkungen einer Maßnahme zu differenzieren; 161 allein Letztere sollen dem grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot unterfallen. 162 Zur Begründung verweist Kingreen auf vermeintliche Schwächen eines formellen Diskriminierungsbegriffs. So würde die Anknüpfung an die unterschied-

155

Vgl. hier die eingehende Darstellung von Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 70 ff, der freilich selbst anderer Meinung ist. 156 Siehe dazu oben bei Fußn. 120. 157 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 120 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Weyer, Freier Warenverkehr, 1997, 170 ff. 158 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 126. 159 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 121. 160 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 122. 161 Anknüpfungspunkt hierfür ist die /^c£-Rspr. des EuGH; vgl. dazu auch Becker, EuR 1994, 162 ff. (172 ff.); Ebenroth, FS Piper, 133 ff. (144 ff.); Joliet, GRUR Int. 1994, 979 ff. (983); Reuthal, WRP 1997, 1154 ff. (1158). 162 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 123: „Die Grundfreiheiten dienen mithin dem Abbau der Grenzen zwischen den nationalen Märkten, nicht aber der Reduzierung von Beschränkungen auf den nationalen Märkten"; Hervorh. dort.

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

liehe bzw. unterschiedslose Anwendung einer Regelung zu einer problematischen Differenzierung zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen führen. 163 Legte man einen solchen formellen Diskriminierungsbegriff nämlich auch der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung zugrunde, so ließen sich versteckte Diskriminierungen leichter rechtfertigen als offene Diskriminierungen. 164 Dies sei jedoch eine offensichtlich sachwidrige Privilegierung des versteckten Protektionismus. 165 Auch den übrigen Diskriminierungsverboten des EG-Vertrages liege ein materieller Diskriminierungsbegriff zugrunde. 166 Der eigentliche Grund für Kingreens Konzept der materiellen Diskriminierung dürfte allerdings darin zu sehen sein, dass sich nur so das von Kingreen propagierte Verständnis der Grundfreiheiten als reine Gleichheitsrechte aufrechterhalten lässt. 167 Dieses setzt die Verwendung eines weiten Begriffs der Diskriminierung voraus, um wesentliche Anwendungsfälle der Grundfreiheiten noch gleichheitsrechtlich erklären zu können. 168

163

Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 120 f. 164 Den Hintergrund dieser Argumentation bildet die differenzierende Rspr. des EuGH im Rahmen der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung; siehe dazu bereits oben bei Fußn. 142 sowie 1. Kapitel, Fußn. 44. 165 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 121. 166 Ebd. mit Verweis auf EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11 sowie auf von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 13. 167 Vgl. dazu Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 115 ff. 168 Verwiesen sei hier nur auf die sog. Anerkennungsfälle; vgl. EuGH, Rs. 104/75 (De Peijper), Slg. 1976, 613, Rn. 21 f.; EuGH, Rs. 71/76 (Thieffry), Slg. 1977, 765, Rn. 19; EuGH, Verb. Rs. 110/78 u. 111/78 (van Wesemael), Slg. 1979, 35, Rn. 30; EuGH, Rs. 279/80 (Webb), Slg. 1981, 3305, Rn. 17; EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1986, 3755, Rn. 27 u. 29; EuGH, Rs. 222/86 (Heylens), Slg. 1987, 4097, Rn. 13; EuGH, Rs. C-l80/89 (Kommission/Italien), Slg. 1991, 1-709, Rn. 17; EuGH, Rs. C-l98/89 (Kommission/Griechenland), Slg. 1991, 1-727, Rn. 18; EuGH, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Slg. 1991, 1-2357, Rn. 16; EuGH, Rs. C-76/90 (Säger), Slg. 1991, 1-4221, Rn. 15; EuGH, Rs. C-104/91 (Aguirre Borell u.a.), Slg. 1992, 1-3003, Rn. 10 ff.; EuGH, Rs. C-19/92 (Kraus), Slg. 1993, 1-1663, Rn. 28 ff.; EuGH, Rs. C319/92 (Haim), Slg. 1994, 1-425, Rn. 28 f.; EuGH, Rs. C-375/92 (Kommission/Spanien), Slg. 1994,1-923, Rn. 12 f.; EuGH, Rs. C-43/93 (Vander Eist), Slg. 1994,13803, Rn. 16; EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, 1-4165, Rn. 38; EuGH, Rs. C164/94 (Aranitis), Slg. 1996, 1-135, Rn. 31 f.; EuGH, Verb. Rs. C-369/96 u. C-376/96 (Arblade u.a.), Slg. 1999, 1-8453, Rn. 34; EuGH, Rs. C-234/97 (De Bobadilla), Slg. 1999,1-4773, Rn. 34; EuGH, Rs. C-31/00 (Dreessen), Slg. 2002,1-663, Rn. 24.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

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Gerade die Ausrichtung auf ein Verständnis der Grundfreiheiten als reine Gleichheitsrechte scheint zunächst fur das Konzept der materiellen Diskriminierung zu sprechen. Insofern ließe sich ein einheitliches Modell grundfreiheitlicher Dogmatik entwerfen, welches lediglich auf dem Begriff der Diskriminierung aufbaut und weitergehende Differenzierungen entbehrlich macht. 169 Dieser Vorteil besteht jedoch nur vordergründig. Auch unter Zugrundelegung eines weiten Diskriminierungsbegriffs können die notwendigen Unterscheidungen innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung letztlich nicht vermieden werden. Sie verlagern sich nur auf die Fragestellung, wie sich materielle Diskriminierungen, welche allein auf der Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen beruhen, aus dem Anwendungsfeld der Grundfreiheiten herauslösen lassen.170 Auch im Übrigen erscheint es nicht unproblematisch, mit Blick auf den Diskriminierungsbegriff isoliert auf die materiellen Auswirkungen einer Maßnahme abzustellen. Jene Auswirkungen müssen nämlich auf die jeweilige Maßnahme bzw. ihren Urheber zurückführbar sein. 171 Ansonsten besteht die Gefahr, allein auf Zufall beruhende unterschiedliche Zustände als Diskriminierung anzusehen; diesem Ergebnis ist der EuGH jedoch bereits im Griechischen Säuglingsnahrungsfall zu Recht entgegengetreten. 172 Das Konzept der materiellen Diskriminierung kann die erforderliche Rückführbarkeit indes nicht plausibel erklären. 173 Schließlich begegnet auch die so genannte erweiterte Vergleichsgruppenbildung im Rahmen des Konzepts der materiellen Diskriminierung Bedenken. 174 Indem dort auf klar umschriebene verbotene Differenzierungskriterien verzichtet wird und stattdessen abstrakt auf die Ungleichbehandlung transnationaler Sachverhalte gegenüber inländischen Sachverhalten rekurriert wird, 1 7 5 verschwimmt die Abgrenzung zwischen den grundfreiheitlichen Diskriminie-

169

Zu dem Vorteil der relativen Einfachheit dogmatischer Strukturen siehe oben 1. Kapitel, A, I, 1,S. 32 ff. 170 Siehe bereits oben bei Fußn. 160 f. 171 Vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 71. 172 Vgl. EuGH, Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995,1-1621, Rn. 17. 173 Die Gefahr einer reinen Zustandsbetrachtung sehen denn auch einige Vertreter des materiellen Diskriminierungsbegriffs. Als Konsequenz wird teilweise die Verknüpfung mit finalen Aspekten gefordert; vgl. dazu Müller-Graff, in: GTE, Art. 30, Rn. 196; Schilling, EuR 1994, 50 ff. (69). 174 Näher zu dieser Problematik Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 72 f. 175 Vgl. z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 84 ff. Teilweise wird hier noch weiter abstrahiert und auch die Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte als materielle Diskriminierung gekennzeichnet; vgl. die Nachweise bei Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 73.

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

rungsverboten und dem allgemeinen Gleichheitssatz.176 Insgesamt überdehnt jene „materielle" Betrachtungsweise den Diskriminierungsbegriff und erscheint im Rahmen einer Dogmatik der Grundfreiheiten nicht als geeigneter Ansatzpunkt. I m Folgenden soll daher ein Diskriminierungskonzept entworfen werden, welches auf einem eher formalen begrifflichen Verständnis aufbaut.

V. Diskriminierung aufgrund formaler Kriterien Die reine Wirkungsbetrachtung Kingreens scheitert letztlich an ihrer nicht mehr fassbaren Weite. Dadurch würden nicht nur notwendige Restriktionen des grundfreiheitlichen Anwendungsbereichs unzureichend berücksichtigt; zugleich erschwerte sich auch die praktische Anwendung der Grundfreiheiten. Die Frage, ob eine bestimmte Regelung (materiell) diskriminierend ist oder nicht, ließe sich beispielsweise aus der abstrakten Perspektive des Normgebers nicht ohne weiteres beantworten. Hierzu müsste eine Vielzahl von Vergleichssituationen antizipiert werden, um einen potentiellen Verstoß gegen die grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages auszuschließen. Auch konkrete Entscheidungen des Rechtsanwenders der Exekutive bzw. Judikative blieben diesbezüglich mit Unsicherheiten behaftet, da der diskriminierende bzw. nichtdiskriminierende Charakter der betreffenden Maßnahme von zukünftigen Änderungen der Umgebungsvariablen abhängig wäre. Will man den zuvor erkannten Schwierigkeiten eines materiellen Diskriminierungskonzepts wirksam begegnen, muss daher auf einen engeren, klar umrissenen Begriff der Diskriminierung abgestellt werden. Auch die Untersuchung des Vertragstextes ergab bereits Anhaltspunkte für ein restriktiveres Verständnis des Diskriminierungsbegriffs. 177 Insoweit wird zwei wesentlichen Vorgaben für eine grundfreiheitliche Dogmatik und insbesondere für den Begriff der Diskriminierung Rechnung getragen. 178 Zum einen erfolgt die Anlehnung an textliche Strukturen des EG-Vertrages, 179 zum anderen berücksichtigt ein formelles Diskriminierungskonzept gerade auch die Erfordernisse der Rechtsanwendung in der Praxis. 180 Diese beiden Leitlinien gilt es hier im be-

176

Zu den strukturellen Unterschieden zwischen Diskriminierungsverboten und allgemeinem Gleichheitssatz siehe bereits oben bei Fußn. 30 ff. 177 Siehe oben II. 1., S. 79. 178 Zu den Anforderungen an den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff siehe oben I., S. 77 f. 179 Vgl. dazu die Ausführungen oben 1. Kapitel Β. I. 1., S. 49 ff. 180 Siehe oben 1. Kapitel Α. I. 1. u. 3. b) cc), S. 32 f. u. 47.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

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sonderen Maße zu beachten, da hinsichtlich des judikativen Diskriminierungsbegriffs keine aussagekräftige Rechtsprechung des EuGH vorliegt. 181 Bevor im folgenden Abschnitt auf verschiedene Formen der Diskriminierung näher eingegangen wird (C.), sollen nunmehr einzelne Aspekte des hier vertretenen formellen Diskriminierungskonzepts kurz erläutert werden.

1. Ungleichbehandlung Wesentliches Merkmal des - formellen wie materiellen - Diskriminierungsbegriffs ist die erforderliche Ungleichbehandlung. Jedoch unterscheidet sich der formelle Ansatz an dieser Stelle in zwei maßgeblichen Punkten von der materiellen Sichtweise. Zum einen geht er von einer nur einseitigen Wirkrichtung der Diskriminierungsverbote aus. Zum anderen ist unter Zugrundelegung des formellen Begriffs der Diskriminierung nicht allein die Wirkung einer Maßnahme entscheidend; vielmehr bedarf es auch einer tatbestandlichen Differenzierung zwischen den betreffenden Vergleichsgruppen.

a) Einseitige Wirkrichtung Indem sich das formelle Diskriminierungskonzept eng an die jeweils verbotenen Unterscheidungskriterien anlehnt, wird zugleich die Wirkrichtung der Diskriminierungsverböte begrenzt. 182 Damit erfolgt eine erste Abgrenzung zum materiellen Diskriminierungsbegriff sowie zum allgemeinen Gleichheitssatz.183 Letzterer verbietet es im Grundsatz, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln.184 Im Gegensatz dazu

181

Eingehend dazu oben III, S. 81 ff. Vgl. - mit Blick auf Art. 3 GG - Sachs, in: HStR V, § 126, Rn. 23; ders, Grenzen des Diskriminierungsverbotes, 1987, 39 ff. m.w.N. 183 Ähnlich dem allgemeinen Gleichheitssatz wird von Vertretern eines materiellen Diskriminierungsbegriffs teilweise eine unbegrenzte (zweiseitige) Wirkrichtung der Diskriminierungsverbote postuliert; vgl. dazu Hailbronner, JuS 1991, 917 ff. (919); Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 20 u. 26 f.; Marenco, CDE 1984, 291 ff. (306); Nachbaur, EuZW 1991,470 ff. (471); Ulmer, GRUR Int. 1973, 502 ff. (507). 184 St. Rspr. des EuGH; vgl. nur EuGH, Verb. Rs. 117/76 u. 17/77 (Quellmehl), Slg. 1977, 1753, Rn. 7; EuGH, EuGH, Rs. C-217/91 (Spanien/Kommission), Slg. 1993, I3923, Rn. 37; Rs. C-280/93 (Deutschland/Rat), Slg. 1994,1-4973, Rn. 67; EuGH, Rs. C306/93 (SMW Winzersekt), Slg. 1994,1-5555, Rn. 30; EuGH, Rs. C-56/94 (SCAC), Slg. 1995, 1-1769, Rn. 27; EuGH, Rs. C-354/95 (National Farmers' Union), Slg. 1997, I4559, Rn. 61. Aus Sicht des nationalen Verfassungsrechts vgl. BVerfGE 86, 81 (87). 182

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

zielen die Diskriminierungsverbote, insbesondere die Grundfreiheiten, einseitig nur auf die Gleichbehandlung bestimmter Rechtssubjekte.185 Ein Unterscheidungsgebot im Hinblick auf ungleich gelagerte Sachverhalte kann über formell verstandene Diskriminierungsverbote nicht vermittelt werden; hier wird die Kongruenz mit den vorangegangenen Ausführungen zum allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG sichtbar. 186

b) Differenzierung Mit der vorgenannten einseitigen Wirkrichtung der Diskriminierungsverbote unmittelbar verbunden ist das Erfordernis der tatbestandlichen Differenzierung. Eine Diskriminierung im formellen Sinne liegt demnach nur vor, wenn eine bestimmte Maßnahme über die verbotenen Differenzierungskriterien auf die Vergleichsgruppen unterschiedliche Anwendung findet. Dies entspricht nicht nur dem herkömmlichen Begriffsverständnis, 187 sondern berücksichtigt zugleich textliche Vorgaben des EG-Vertrages. 188 Vor allem aber wird es dem Rechtsanwender dadurch ermöglicht, eine Diskriminierung schnell und sicher feststellen zu können. Schwierigkeiten bestehen allein in der Feststellung, inwiefern eine Verbindung zwischen den konkreten Differenzierungsmerkmalen der betreffenden Maßnahme und den verbotenen Kriterien existieren muss. Die den diskriminierenden Charakter einer Maßnahme begründende Ungleichbehandlung setzt schließlich voraus, dass überhaupt eine entsprechende Vergleichsgruppe existiert. Die bloße Möglichkeit einer zukünftigen Ungleichbehandlung ist hierfür nicht ausreichend. 189 So kann zum Beispiel ein nationales Vertriebsverbot nur dann importierte Waren diskriminieren und damit gegen Art. 28 EG verstoßen, wenn überhaupt eine entsprechende inländische Produktion dieser Waren existiert. 190

185

So zutreffend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 269 f. Siehe oben Α. I. l.b), S. 66 f. 187 Dazu oben bei Fußn. 19. 188 Vgl. dazu die Ausführungen oben II. 2., S. 80. 189 Ebenso Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 272, wonach „potentielle Ungleichbehandlungen" keine Diskriminierung begründen können. 190 Vgl. EuGH, Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995,1-1621, Rn. 17. Anders freilich die Argumentation von GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995,1-1621, Rn. 23 ff. 186

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

2. Begründungsverbote

93

oder Anknüpfungsverbote?

An dieser Stelle ist die Problematik anzusprechen, inwieweit die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote oder Anknüpfungsverbote aufzufassen sind. 191 Nach dem Modell der Anknüpfungsverbote muss die betreffende Maßnahme an das jeweilige verbotene Kriterium im formalen Sinne belegbar anknüpfen, um dem Diskriminierungsverbot zu unterfallen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine nationale Regelung tatbestandlich anhand der verbotenen Merkmale differenziert und dementsprechend unterschiedliche Rechtsfolgen im Hinblick auf die Vergleichsgruppen normiert. Weitergehend erfasst die Theorie der Begründungsverbote sämtliche Differenzierungen, welche zwar nicht ausdrücklich auf das verpönte Kriterium Bezug nehmen, sich aber nur unter Rückgriff auf dieses Kriterium begründen lassen. Insofern erfassen die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote auch solche Regelungen, welche äußerlich an scheinbar „neutrale" Kriterien anknüpfen, jedoch nach Zweck und Begründung auf die Unterscheidung anhand der verbotenen Differenzierungsmerkmale zielen. 192 Zumindest der Wortlaut von Art. 39 Abs. 2 EG spricht für ein Verständnis der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote, 193 indem dort „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung" genannt wird. 1 9 4 Mithin werden hier konvergente Strukturen zwischen den Grundfreiheiten und Art. 12 EG sichtbar. 195 Die übrigen grundfreiheitlichen Vorschriften lassen eine entsprechénde textliche Interpretation jedoch nicht zu; die Untersuchung des Vertragstextes kann daher nur als schwaches Indiz gelten. Entscheidend ist die Berücksichtigung teleologischer Vorgaben grundfreiheitlicher Dogmatik. Begreift man die Diskriminierungsverbote der Grundfrei-

191 Näher zu dieser aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Problematik einerseits z.B. Huster, Rechte und Ziele, 1993, 315 ff.; Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbotes, 1987, 428 ff.; ders, in: HStR V, § 126, Rn. 29 ff.; andererseits etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 141 ff.; Michael, Gleichheitssatz, 1997, 229; Pieroth/Schlink, Rn. 447. 192 Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 143 f. 193 Vgl. auch H inter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 33; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 283. 194 Hervorh. d. Verf. 195 Nach Art. 12 Abs. 1 EG ist ,jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten"; Hervorh. d. Verf.

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

heiten als Anknüpfungsverbote, so führt dies zu einem streng formalen Diskriminierungsbegriff. 196 Nach diesem Verständnis kann das Vorliegen einer Diskriminierung besonders leicht festgestellt werden. Mit Blick auf die Anwendung der Grundfreiheiten in der Rechtspraxis liegt hierin der wesentliche Vorteil jener Auffassung. 197 Zugleich entfernt man sich jedoch zu sehr von der Rechtsprechung des EuGH als einer wichtigen Leitlinie grundfreiheitlicher Dogmatik. 198 Denn über die Theorie der Anknüpfungsverbote lässt sich die in der Judikatur entwickelte Rechtsfigur der versteckten Diskriminierung nicht erklären. 199 Damit wird der genannte Vorteil letztlich überkompensiert. Insgesamt ist das Modell der Anknüpfungsverbote somit für das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungskonzept zu eng gefasst. Das Verständnis der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote umgeht die erwähnten Nachteile. Indem dort eine Diskriminierung bereits dann vorliegt, wenn sich die betreffende Differenzierung nur über den Rückgriff auf das verbotene Merkmal begründen lässt, können versteckte Diskriminierungen ohne weiteres mit diesem Ansatz erklärt werden. Berücksichtigt man zudem die vorgenannten textlichen Anhaltspunkte, so entspricht eine Auffassung als Begründungsverbote am ehesten den Vorgaben grundfreiheitlicher Dogmatik. 200 Für den Bereich der so genannten offenen Diskriminierungen bedarf dies jedoch einer Modifizierung. Differenziert die betreffende Maßnahme ausdrücklich anhand der verbotenen Kriterien, so kann deren diskriminierender Charakter nicht dadurch beseitigt werden, dass zur

196

Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 282. Vgl. auch Huster, Rechte und Ziele, 1993, 316 f. 198 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 141 ff. 199 Nachweise zur Rspr. oben in Fußn. 130. 200 Zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 143. Im Ansatz ebenso Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 285, allerdings mit der Weiterentwicklung zu einem finalen Differenzierungskonzept. Ähnlich Schilling, EuR 1994, 50 ff. (63). Dagegen wiederum Becker, EuR 1994, 162 ff. (171) m.w.N. zur Rspr. des EuGH. Ungeachtet der Schwierigkeiten, subjektive Zwecke im Einzelnen feststellen zu können, spricht gegen die Verwendung eines finalen Diskriminierungsbegriffs der Gedanke einer objektiven Rechtsauslegung; vgl. näher Kling, EuZW 2002, 229 ff. (233) m.w.N.; allg. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 333. Insoweit kann es nicht allein auf die nach außen dokumentierte Absicht des Urhebers der betreffenden Maßnahme ankommen. Ebenso z.B. EuGH, Verb. Rs. C-49/98, C-50/98, C-52/98 bis C54/98 und C-68/98 bis C-71/98 (Finalarte), Slg. 2001, 1-7831, Rn. 40; EuGH, Rs. C164/99 (Portugaia), Slg. 2002,1-787, Rn. 27. 197

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

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Begründung auf anderweitige Eigenschaften verwiesen wird, welche gerade mit den verpönten Kriterien in Verbindung gebracht werden. 201

5. Verbotene Differenzierungskriterien Zuvor wurde lediglich abstrakt von verbotenen Differenzierungskriterien gesprochen. Im Folgenden soll nunmehr konkret untersucht werden, welche Merkmale insofern von den grundfreiheitlichen Vorschriften erfasst werden. Teilweise wird hier allein das Kriterium der Staatsangehörigkeit genannt.202 Dies erscheint zu undifferenziert. Richtigerweise ist hier zwischen Merkmalen mit Personenbezug und solchen mit Produktbezug zu unterscheiden. 203

a) Staatsangehörigkeit Als personenbezogenes Differenzierungsmerkmal ist zunächst die Staatsangehörigkeit zu nennen.204 Dieses verbotene Kriterium ergibt sich im Hinblick auf die Personenverkehrsfreiheiten unmittelbar aus dem Text des EGVertrages. 205 Innerhalb der Warenverkehrsfreiheit sowie der produktbezogenen Aspekte von Dienstleistungs-, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit kann indes nicht auf jenes Merkmal abgestellt werden; 206 eine „Staatsangehörigkeit" von Waren, Dienstleistungen bzw. Kapital ist bereits begrifflich ausgeschlos-

201

So darf etwa eine anhand der Warenherkunft differenzierende Regelung nicht mit dem eigentlich dahinter stehenden Argument begründet werden, hierdurch solle Gefahren für die inländische Wirtschaft begegnet werden. Ebenso unzulässig wäre es z.B., eine anhand der Staatsangehörigkeit differenzierende Regelung damit zu begründen, dass dadurch bestimmte persönliche Eigenschaften wie die Leistungsfähigkeit oder die charakterliche Zuverlässigkeit sichergestellt werden sollten; hierdurch wird nur auf das dahinter stehende Vorurteil Bezug genommen. Vgl. zu der gesamten Problematik - mit Blick auf die Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 2 u. 3 GG - Huster, Rechte und Ziele, 1993, 317 f. 202 So etwa Mortelmans, DCSI 1980, 1 ff. (3 f.). 203 Ebenso Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 26 ff.; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 13. 204 Vgl. auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 13; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 137. 205 Aus dem Bereich der grundfreiheitlichen Vorschriften vgl. Artt. 39 Abs. 2, 43 Abs. 2, 50 Abs. 3 EG. 206 Vgl. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 29; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 147; Weyer, Freier Warenverkehr, 1997, 91.

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

sen. 207 Auch kommt es insoweit nicht auf die Staatsangehörigkeit der am Waren-, Dienstleistungs- bzw. Kapitalverkehr beteiligten Personen an. 208 Neben der Staatsangehörigkeit sind keine weiteren verbotenen Differenzierungskriterien mit Personenbezug zu bilden. Wenn hier auf die Merkmale der Niederlassung, des Wohnsitzes oder den Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes rekurriert wird, 2 0 9 so handelt es sich um keine selbständigen verbotenen Merkmale. Vielmehr ist es in diesen Fällen erforderlich, über die Rechtsfigur der versteckten Diskriminierung einen Bezug zur Staatsangehörigkeit als dem allein maßgeblichen verbotenen Differenzierungskriterium herzustellen. 210

b) Produktherkunft bzw. -destination Hinsichtlich der produktbezogenen Grundfreiheiten nennt der Text des EGVertrages kein ausdrücklich verbotenes Differenzierungskriterium. 211 Einen Hinweis liefern zumindest die Vorschriften der Warenverkehrsfreiheit, wonach Einfuhr- bzw. Aws/w/zrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind. 212 Danach kann als verpöntes Merkmal die Herkunft 213 bzw. Destination

207

Zumindest ungenau insofern Art. 2 Abs. 1 der RL 70/50/EWG: „inländische und eingeführte Waren". Noch missverständlicher ist die in ständiger Rspr. gebrauchte Terminologie des Gerichtshofs: „einheimische Erzeugnisse"; vgl. nur EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 10; EuGH, Rs. 6/81 (Beele), Slg. 1981, 707, Rn. 7; EuGH, Rs. 21/88 (Du Pont de Nemours Italiana), Slg. 1990, 1-889, Rn. 14; EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 12; EuGH, Rs. 16/83 (Prantl), Slg. 1984, 1299, Rn. 22; EuGH, Rs. 177/83 (Kohl/Ringelhan), Slg. 1984, 3651, Rn. 12; EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc/Au blé vert), Slg. 1985, 1, Rn. 23; EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 28; EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 6; EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 34; EuGH, Rs. C-470/93 (Mars), Slg. 1995,1-1923, Rn. 12; EuGH, Rs. C-313/94 (Graffione), Slg. 1996, 6039, Rn. 17; EuGH, Rs. C-l89/95 (Franzén), Slg. 1997,1-5909, Rn. 40. 208 Näher hierzu Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 171 ff. m.w.N. 209 Vgl. H inter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 14. 210 Unzutreffend daher Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 14 mit Verweis auf Art. 59 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 49 Abs. 1 EG), um den Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes als eigenständiges verbotenes Merkmal zu kreieren. Über Art. 49 Abs. 1 EG wird insoweit allein der erforderliche grenzüberschreitende Bezug betont. 211 Wenn in entsprechenden Vorschriften überhaupt der Terminus der Diskriminierung gebraucht wird, so erfolgt dort keine Konkretisierung im Hinblick auf ein verbotenes Differenzierungsmerkmal; vgl. z.B. Art. 30 S. 2 EG. 212 Vgl. Artt. 28 u. 29 EG.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

97

von Waren gelten. 214 Diese Interpretation deckt sich mit dem Regelungszweck der Warenverkehrsfreiheit. 215 Entsprechendes gilt für produktbezogene Aspekte der Dienstleistungsfreiheit bzw. der Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs. 216 Kapital und Zahlungsmittel können dabei als Waren im weiteren Sinne angesehen werden, so dass im Rahmen der Artt. 56 ff. EG ebenfalls die Warenherkunft das maßgebliche verbotene Differenzierungskriterium darstellt. Mit Blick auf Artt. 49 ff. EG ist insoweit auf die Dienstleistungsherkunft abzustellen.217 Insgesamt lassen sich die beiden genannten Merkmale unter dem Begriff der Produktherkunft zusammenfassen. 218

c) Sonstige Kriterien (insb. der Grenzübertritt) Teilweise werden über die genannten Kriterien hinaus weitere verbotene Merkmale genannt.219 An dieser Stelle soll lediglich auf die im Schrifttum vertretene Ansicht eingegangen werden, wonach der Grenzübertritt als solcher ein verbotenes Differenzierungskriterium sei. 220 Als argumentative Basis dienen dabei die so genannten Rückkehrerfälle. 221 Diese zeichnen sich dadurch aus,

213 Die Warenherkunft ist nicht immer deckungsgleich mit dem Ursprung der Ware im Sinne des Herstellungsortes. Zur Unterscheidung sowie zur Maßgeblichkeit allein des erstgenannten Kriteriums vgl. EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc/Au blé vert), Slg. 1985, 1, Rn. 26 ff.; EuGH, Rs. C-240/95 (Schmit), Slg. 1996,1-3179, Rn. 10. 2,4 Ebenso i.E. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 14; Weyer, Freier Warenverkehr, 1997, 139 ff. 215 Die Warenverkehrsfreiheit ist wie die übrigen Grundfreiheiten auf das Binnenmarktziel ausgerichtet, vgl. Artt. 3 Abs. 1 lit. c u. 14 Abs. 2 EG. Die Herkunft bzw. Destination von Waren darf in einem Binnenmarkt mit frei zirkulierenden Waren jedoch kein erlaubtes Unterscheidungsmerkmal mehr sein. 216 Wie im Einzelnen noch darzulegen sein wird, besitzen die genannten Grundfreiheiten einen Doppel Charakter, indem sie produktbezogene und personenbezogene Strukturen aufweisen. 217 Vgl. auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 14. 218 Während Waren, Kapital und Zahlungsmittel als materielle Produkte anzusehen sind, stellen Dienstleistungen immaterielle Produkte dar. 219 Siehe bereits oben bei Fußn. 209. 220 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 138. 221 So z.B. EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299; EuGH, Rs. 115/78 (Knoors), Slg. 1979, 399; EuGH, Rs. 246/80 (Broekmeulen), Slg. 1981, 2311; EuGH, 7 Mühl

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

dass eine Person durch Regelungen seines eigenen Heimatstaates an der uneingeschränkten Ausübung des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs gehindert wird. Um jene Sachverhalte noch unter das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot subsumieren zu können, sei es erforderlich, den Kreis der verbotenen Kriterien auszudehnen.222 Richtig ist zunächst die Erkenntnis eines notwendigerweise zu berücksichtigenden transnationalen Bezugs. Dessen Eingliederung in Strukturelemente des Diskriminierungsbegriffs begegnet jedoch Bedenken. Der Grenzübertritt ist als Differenzierungskriterium zu abstrakt. Damit wären die vorgenannten verbotenen Merkmale der Staatsangehörigkeit sowie der Produktherkunft bzw. -destination hinfällig; es bestünde die „Gefahr einer Unschärfe bei der Vergleichsgruppenbildung". 223 Zudem bliebe die Unterscheidung von offenen und versteckten Diskriminierungen sinnentleert. 224 Letztlich führte diese Erweiterung der verbotenen Differenzierungsmerkmale wiederum zu einer bedenklichen Annäherung der Diskriminierungsverbote an den allgemeinen Gleichheitssatz. Griffige Kriterien innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung fehlten. Insgesamt bleibt es daher allein bei den vorgenannten verbotenen Differenzierungsmerkmalen. Sonstige Charakteristika können allenfalls über die Konstruktion der versteckten Diskriminierung berücksichtigt werden. Der transnationale Bezug ist als Element grundfreiheitlicher Dogmatik gänzlich von dem zugrunde gelegten Diskriminierungsbegriff zu trennen.

4. Vergleichsrichtung Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs wird maßgeblich von seiner Vergleichsrichtung bestimmt. Zwei grundsätzlich verschiedene Ausgestaltungen sind hierbei denkbar. 225 So kann der Begriff der Diskriminierung Ungleichbehandlungen von Personen, Waren und Dienstleistungen sowohl ausländischer als auch inländischer Staatsangehörigkeit/Herkunft/

Rs. C-61/89 (Bouchoucha), Slg. 1990,1-3551; EuGH, Rs. C-19/92 (Kraus), Slg. 1993,11663; EuGH, Rs. C-l07/94 (Asscher), Slg. 1996,1-3089. 222 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 139. 223 So die treffende Formulierung von Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 303. 224 Sämtliche Beeinträchtigungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs wären offene Diskriminierungen, da sie unmittelbar an das verbotene Merkmal des Grenzübertritts anknüpften. 225 Vgl. zu dieser Problematik Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 273 ff.

Β. Die Struktur des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs

99

Destination erfassen (symmetrischer Diskriminierungsbegriff). Andererseits lässt sich vertreten, die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote schützen nur Personen, Waren und Dienstleistungen ausländischer Staatsangehörigkeit/Herkunflt/Destination (asymmetrischer Diskriminierungsbegriff). 226 Während anderen Diskriminierungsverboten des Gemeinschafitsrecht ein symmetrischer Diskriminierungsbegriff zugrunde liegt, 227 besitzen die Grundfreiheiten eine asymmetrische Ausrichtung. 228 Teilweise ergibt sich dies unmittelbar aus dem Vertragstext. 229 Im Übrigen kann hier auf den notwendigen grenzüberschreitenden Bezug abgestellt werden. Für die produktbezogenen Grundfreiheiten folgt daraus ohne weiteres deren asymmetrischer Charakter; allein Produkte ausländischer Herkunft bzw. Destination geben dem jeweiligen Sachverhalt eine transnationale Prägung. Gleiches gilt im Grundsatz für die Personenverkehrsfreiheiten. Dort besteht allerdings die Besonderheit, dass der grenzüberschreitende Bezug auch bei Beteiligung nur inländischer Personen gegeben sein kann; wiederum ist auf die so genannten Rückkehrerfälle zu verweisen. 230 Die in ihren Heimatstaat zurückkehrenden Personen besitzen insoweit jedoch keinen grundfreiheitlich vermittelten Anspruch auf Gleichbehandlung gegenüber ausländischen Personen. 231 Vielmehr ergibt sich die Rechtsposition der Rückkehrer aus der (absoluten) Prüf- und Anerkennungspflicht der Mitgliedstaaten hinsichtlich im Herkunftsstaat erworbener Qualifikationen. 232

5. Konvergenz der Grundfreiheiten Die vorangegangenen Ausführungen enthalten vordergründige Hinweise auf heterogene Strukturen des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs, wobei sich eine Kategorisierung in produktbezogene Grundfreiheiten einerseits und Personenverkehrsfreiheiten andererseits vornehmen ließe. Textliche Anhalts-

226 Hierin besteht die besondere Bedeutung des Begriffs der Inländergleichbehandlung; vgl. nur Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 21; Schlag, in: Schwarze, Art. 43 EGV, Rn. 33 227 Siehe etwa Art. 12 EG oder Art. 141 EG. 228 Vgl. - auch mit Blick auf die völkerrechtlichen Ursprünge der Inländergleichbehandlung - z.B. Hammerl, Inländerdiskriminierung, 1996, 138. 229 Vgl. dazu Art. 43 Abs. 2 EG u. Art. 50 Abs. 3 EG. Die übrigen grundfreiheitlichen Vorschriften sind insofern neutral ausgestaltet. 230 Siehe dazu die Nachweise oben in Fußn. 221. 231 Nur dann könnte von einer symmetrischen Ausrichtung der Personenverkehrsfreiheiten gesprochen werden. 232 Näher zu dieser Problematik Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 275.

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

punkte für die Notwendigkeit einer tatbestandlichen Differenzierung oder ein Verständnis der Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote bestehen zum Beispiel allein im Rahmen der grundfreiheitlichen Vorschriften mit Personenbezug;233 die produktbezogenen Grundfreiheiten sind ihrem Wortlaut nach hingegen eher neutral ausgestaltet. Noch deutlicher werden die Unterschiede, wenn man sich die jeweils verbotenen Differenzierungsmerkmale vergegenwärtigt. Die Personenverkehrsfreiheiten stellen auf die Staatsangehörigkeit ab. 234 Demgegenüber ist bei produktbezogenen Aspekten der Grundfreiheiten die Herkunft bzw. Destination der Produkte entscheidend.235 Ferner wurden bei der obigen Betrachtung der Vergleichsrichtung zunächst Divergenzen zwischen produkt- und personenbezogenen Grundfreiheiten sichtbar. 236 Trotz der erwähnten Spezifika scheint es jedoch möglich, sämtlichen Grundfreiheiten einen einheitlichen Begriff der Diskriminierung zugrunde zu legen. Der unterschiedliche Wortlaut steht dem nicht entgegen.237 Auch die Tatsache, dass hinsichtlich der produktbezogenen Grundfreiheiten andere verbotene Differenzierungskriterien bestehen als bei den personenbezogenen Grundfreiheiten, ändert nichts an der grundsätzlich gleichen Struktur des Diskriminierungsbegriffs. Innerhalb des hier vertretenen Diskriminierungsmodells erscheint insofern das verbotene Differenzierungskriterium als eine Variable, welche im konkreten Anwendungsfall - gegebenenfalls unterschiedlich - ausgefüllt werden muss. 238 Schließlich zeichnen sich sämtliche Grundfreiheiten durch eine asymmetrische Vergleichsrichtung aus, auch wenn im Rahmen der Personenverkehrsfreiheiten Besonderheiten bestehen. Nach alledem lässt sich somit ein einheitliches Diskriminierungskonzept für alle Grundfreiheiten entwerfen, wodurch die Herausbildung konvergenter Strukturen innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik gefordert wird.

233

Vgl. zur tatbestandlichen Differenzierung oben II. 2., S. 80, zum Begründungsverbot oben bei Fußn. 193. 234 Siehe oben 3. a), S. 95 f. 235 Siehe oben 3. b), S. 96 f. 236 Dazu soeben bei Fußn. 229 u. 230. 237 Die neutral gefassten Vorschriften der Produktverkehrsfreiheiten implizieren keinen einheitlichen Diskriminierungsbegriff, schließen diesen allerdings auch nicht aus. 238 Im Übrigen beruhen die konstatierten Unterschiede letztlich nur darauf, dass eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit bei den Produktverkehrsfreiheiten begrifflich ausgeschlossen ist. Indem stattdessen auf die Produktherkunft bzw. -destination abgestellt wird, sind dort der Staatsangehörigkeit vergleichbare Kriterien anzuwenden.

C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung

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VI. Zwischenergebnis Hinsichtlich des Diskriminierungsbegriffs der Grundfreiheiten existieren nur wenige textliche Anhaltspunkte im EG-Vertrag. Darüber hinaus sind nicht unerhebliche Dissonanzen in der entsprechenden Judikatur des EuGH festzustellen. Die Ausrichtung an den genannten Leitlinien grundfreiheitlicher Dogmatik wird so erheblich erschwert. Dies führt fast zwangsläufig zu einer Fülle unterschiedlicher Begriffsverständnisse im europarechtlichen Schrifttum; abstrahiert betrachtet stehen sich dabei die Vertreter eines (restriktiveren) formellen und eines (extensiveren) materiellen Diskriminierungsbegriffs gegenüber. Das Konzept der materiellen Diskriminierung ist aufgrund seiner Unschärfe abzulehnen. Stattdessen wird vorliegend ein einheitliches Modell entworfen, welches innerhalb der Grundfreiheiten auf einem formellen Diskriminierungsbegriff basiert. Dies ermöglicht die Abgrenzung von grundfreiheitlichen Diskriminierungsverboten einerseits und dem allgemeinen Gleichheitssatz andererseits. Auch werden dem Rechtsanwender dadurch griffige Anwendungskriterien für die praktische Prüfung der Grundfreiheiten zur Verfügung gestellt. Der formelle Begriff der Diskriminierung setzt im Hinblick auf das Strukturmerkmal der Ungleichbehandlung eine tatbestandliche Differenzierung der betreffenden Maßnahme voraus. Die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten sind dabei als Begründungsverbote aufzufassen. Danach liegt eine Diskriminierung vor, wenn sich die Differenzierung nur unter Rückgriff auf verbotene Kriterien begründen lässt. Verbotene Merkmale sind insoweit die Staatsangehörigkeit sowie die Herkunft bzw. Destination von Produkten. Gegenüber anderen Diskriminierungsverboten des Gemeinschaftsrechts zeichnen sich die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote durch eine asymmetrische Vergleichsrichtung aus.

C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung Indem vorgehend der grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff in seinen wesentlichen Strukturmerkmalen charakterisiert wurde, kann zum Abschluss dieses Kapitels eine detailliertere Betrachtung der Diskriminierung und ihrer einzelnen Ausprägungen erfolgen. Hierbei soll auf zwei Aspekte näher eingegangen werden. Zum einen werden mit der offenen und versteckten Diskriminierung die beiden wesentlichen Diskriminierungsformen angesprochen (I.). Darüber hinaus ist der Sonderfall der so genannten Inländerdiskriminierung kurz zu beleuchten (II.).

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

I. Offene und versteckte Diskriminierung Innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik ist die begriffliche Trennung zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen von entscheidender Bedeutung. Konsequenzen daraus können sich auf der Tatbestandsebene sowie im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung ergeben. Obwohl weitgehende Einigkeit über diese Differenzierung zwischen zwei wesentlichen Diskriminierungsformen besteht,239 sind deren Ausprägungen im Einzelnen durchaus umstritten. Bereits die Terminologie ist hier in hohem Maße uneinheitlich. Die vorliegend als offene Diskriminierung bezeichnete Form wird zum Teil als unmittelbare, formale, formelle oder direkte Diskriminierung bezeichnet.240 Entsprechend wird die versteckte Diskriminierung auch als mittelbare, materielle, verschleierte oder indirekte Diskriminierung charakterisiert. 241 Der Gerichtshof hat Letztere in seiner Leitentscheidung Sotgiu als „versteckte Form der Diskriminierung" umschrieben, 242 weshalb nachfolgend am Begriffspaar der offenen und versteckten Diskriminierungen festgehalten wird. 2 4 3

1. Offene Diskriminierung Relativ einfach zu erfassen ist die Form der offenen Diskriminierung. Hier erlangen die vorgenannten verbotenen Differenzierungskriterien ihre unmittelbare Bedeutung. Eine offene Diskriminierung liegt danach vor, wenn die betreffende Regelung ausdrücklich anhand der verpönten Merkmale zwischen zwei Vergleichsgruppen differenziert. 244 Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages zielen primär auf diese Form der Diskriminierung. 245 Dass grundsätzlich die

239

Ebenso Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 277. Vgl. die Nachweise bei Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 25. 241 Teilweise wird innerhalb der „unmittelbaren" sowie der „mittelbaren" Diskriminierung noch weiter zwischen offenen u. versteckten Formen differenziert; so etwa Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (348 f.). 242 EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11. 243 Die nachfolgende Rspr. ist diesbezüglich allerdings nicht immer konsequent; vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 25 f., Fußn. 80. 244 Ebenso Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (348); Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 26; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 277. 245 Vgl. auch Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (348): „Prototyp der diskriminierenden Maßnahme". 240

C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung

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tatbestandliche Ungleichbehandlung, nicht aber die materielle Wirkung der Maßnahme im Mittelpunkt der vertraglichen Vorschriften steht, ergibt sich aus der Existenz eigenständiger Normen, welche - abweichend von diesem Grundsatz - gesondert auf die nachteilige Wirkung abstellen.246 Gleichwohl besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen der primären Zielrichtung der grundfreiheitlichen Vorschriften einerseits und der Bedeutung offener Diskriminierungen für die praktische Anwendung der Grundfreiheiten andererseits. Jene Diskriminierungsform ist in der Rechtspraxis nur noch selten anzutreffen. 247 Dies mag auf einem zunehmenden „grundfreiheitlichen Bewusstsein" der Mitgliedstaaten oder aber einem verstärkten Ausweichen auf protektionistische Maßnahmen anderer Qualität beruhen. 248 Wesentlich wichtiger als die Untersuchung offener Diskriminierungen erscheint daher die nähere Betrachtung versteckter Diskriminierungen.

2. Versteckte Diskriminierung Das Verbot offener Diskriminierungen kann relativ leicht dadurch umgangen werden, dass anstelle der verpönten Unterscheidungsmerkmale andere Kriterien Verwendung finden, wodurch - bewusst oder unbewusst - eine vergleichbare Differenzierung eintritt. 249 Dies hat auch der Gerichtshof bereits früh erkannt. 250 Wesen und Anwendungsvoraussetzungen dieser Form der Diskriminierung sind dabei deutlich schwieriger zu fassen als die streng formellen Kriterien der offenen Diskriminierung. 251

a) Begriff und Begründung Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sowie der überwiegenden Stimmen im Schrifttum liegt eine versteckte Diskriminierung dann vor, wenn zwar

246

Zutreffend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 277. Vgl. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 147. 248 Ähnlich die Vermutung bei Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38. 249 Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, Vgl. auch Hintersteininger, 26 ff.; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 278; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (209). 250 EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11. 251 Ebenso Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999,26. 247

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nicht unmittelbar an die verbotenen Differenzierungskriterien angeknüpft wird, die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale jedoch tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führt. 252 Zur Begründung dieser Rechtsfigur ist zunächst auf den Wortlaut des EGVertrages zu rekurrieren. 253 Soweit im Vertragstext überhaupt auf den Terminus der Diskriminierung Bezug genommen wird, 2 5 4 findet sich in der jeweiligen Umschreibung keine Beschränkung auf (offene) Diskriminierungen, welche ausdrücklich an die verbotenen Differenzierungsmerkmale anknüpfen. 255 Maßgeblich dürfte allerdings auf Sinn und Zweck der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote abzustellen sein. 256 Diese sollen jegliche auf den verbotenen Differenzierungskriterien beruhende Ungleichbehandlungen unterbinden. 257 Zur effektiven Zielverfolgung bedarf es dabei der Einbeziehung auch versteckter Diskriminierungen, 258 da ansonsten den bestehenden Umgehungsmöglichkeiten nicht wirksam begegnet werden kann. 259

b) Differenzierung anhand „neutraler" Merkmale Von entscheidender Bedeutung für die Handhabung versteckter Diskriminierungen ist die Frage nach der erforderlichen Verknüpfung zwischen „neutralen" Merkmalen und verbotenen Differenzierungskriterien. Hierbei gilt zunächst,

252

Nachweise zur Rspr. oben 1. Kapitel, Fußn. 36. Aus der Literatur vgl. nur Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (349); Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 26; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 148; Streinz, Rn. 667. 253 Zutreffend Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 30. Oftnjals wird hingegen in diesem Zusammenhang - der Rspr. des EuGH folgend - allein auf teleologische Aspekte verwiesen. Dazu sogleich. 254 Vgl. etwa Art. 39 Abs. 2 EG. Außerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften siehe z.B. Art. 12 EG. 255 Nach der Wortlautinterpretation ist die Einbeziehung versteckter Diskriminierungen somit nicht ausgeschlossen. Der Vertragstext offenbart hier allerdings auch keine positiven Anhaltspunkte für ein extensives Verständnis. 256 Vgl. auch Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 103 f. 257 Ebenso Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 34. 258 Vgl. auch EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11, wonach diese Auslegung „geboten ist, um die Wirksamkeit eines der Grundprinzipien der Gemeinschaft zu wahren". Seitdem st. Rspr.; näher dazu etwa Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 42; Kewenig, JZ 1990, 20 ff. (22); Zuleeg, in: GTE, Art. 6, Rn. 4. 259 Siehe bereits oben bei Fußn. 249.

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dass es keine bestimmten Merkmale gibt, welche als solche von vornherein den verbotenen Differenzierungskriterien gleichzustellen sind. 260 Umgekehrt können keine Differenzierungsmerkmale genannt werden, welche a priori zulässig sind. Es kommt allein darauf an, den besonderen Zusammenhang zwischen jenen Merkmalen und den absolut verbotenen Differenzierungskriterien näher zu charakterisieren.

aa) Typisierende Betrachtungsweise In der Judikatur hat sich bereits früh eine Rechtsprechungslinie herausgebildet, wonach es darauf ankommen soll, ob sich die Anknüpfung an das jeweilige „neutrale" Merkmal typischerweise so auswirkt wie die Unterscheidung anhand der verbotenen Differenzierungskriterien. 261 Die Argumentation in jenen Entscheidungen beruht insofern nicht auf absoluten Zahlenverhältnissen, sondern auf der Basis bestimmter Lebenserfahrungen. 262 Dieser typisierende Ansatz erscheint berechtigt. 263 Zum einen wird dadurch eine möglicherweise zufällige Faktenlage außer Betracht gelassen. Darüber hinaus bleibt der Anwendungsbereich der versteckten Diskriminierungen auf ein notwendiges Maß beschränkt. Insbesondere richtet sich der Fokus damit weiterhin auf die ursprüngliche Zielrichtung der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote, Unterscheidungen anhand der verbotenen Differenzierungskriterien auszuschließen. Eine Erweiterung der Zielrichtung findet nicht statt; lediglich Umgehungsmöglichkeiten sollen diesbezüglich eingeschränkt werden.

260

So stellt z.B. die Anknüpfung an den Wohnsitz nicht stets eine verbotene Differenzierung anhand „neutraler" Merkmale dar, obwohl hier die Nähe zum verbotenen Differenzierungskriterium der Staatsangehörigkeit besonders deutlich wird. 261 Die Terminologie des EuGH ist hier allerdings uneinheitlich. Bzgl. des verbotenen Differenzierungskriteriums der Staatsangehörigkeit wird zum Teil darauf abgestellt, dass „in erster Linie" die Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten betroffen seien; so z.B. EuGH, Rs. 22/80 (Boussac/Gerstenmeier), Slg. 1980, 3427, Rn. 10. Andere Entscheidungen betonen, dass die betreffende Maßnahme „hauptsächlich" zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten wirke; vgl. EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Slg. 1995, 1-225, Rn. 28; EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998, I2521, Rn. 29; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999, 1-2517, Rn. 14. Wieder anders EuGH, Rs. 237/78 (Toia), Slg. 1979, 2645, Rn. 13, wonach Ausländer bestimmte Begünstigungen „nur ausnahmsweise" beziehen könnten. 262 Vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 278. 263 Ebenso die Bewertung bei Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 36 ff. Vgl. auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 6, Rn. 17.

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bb) Statistische Betrachtungsweise? Die Aufweichung gerade der genannten Grenzlinien wird dem Gerichtshof vorgeworfen, 264 nachdem dieser in einigen Entscheidungen darauf abstellt, ob die betreffende Maßnahme nurmehr eine statistisch signifikante Auswirkung zu Lasten der jeweiligen Vergleichsgruppe bewirke. 265 Dieser Kritik ist zu folgen; 266 die erwähnte Rechtsprechung begegnet in zweierlei Hinsicht Bedenken. Zunächst fehlt der notwendige Bezug zu den verbotenen Differenzierungskriterien, wenn es als ausreichend erachtet wird, dass die Vergleichsgruppe von der betreffenden Maßnahme lediglich „oft" betroffen ist. 267 Entgegen der ursprünglichen Zielrichtung der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote, erfolgt insofern eine kaum mehr fassbare Ausweitung des Anwendungsbereichs versteckter Diskriminierungen. 268 Die statistische Betrachtungsweise erscheint zudem nicht nur bei weitreichenden Maßnahmen kaum durchführbar, 269 sondern birgt auch die Gefahr der Berücksichtigung rein zufälliger Fakten. Nach alledem sind daher im Hinblick auf den erforderlichen Zusammenhang zwischen „neutralen" Unterscheidungsmerkmalen und verbotenen Differenzierungskriterien statistische Signifikanzen unerheblich; stattdessen ist eine typisierende Sichtweise angebracht.

264

Vgl. Behrens, EuR 1992, 145 ff. (154); Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 105; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 37 ff.; Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 ff. (2576 f.); Steindorff JZ 1994, 94 ff. (96). 265 So insbesondere EuGH, Rs. C-175/88 (Biehl), Slg. 1990,1-1779, Rn. 14; dort genügt dem Gerichtshof die Tatsache, dass die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten von der zu beurteilenden Regelung „oft" betroffen seien. Ähnlich auch EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C-259/91, C-331/91 u. C-332/91 (Allué II), Slg. 1993, 1-4309, Rn. 12; EuGH, Rs. C-272/92 (Spotti), Slg. 1993, 1-5185, Rn. 18. In diesen Fällen wird nach Aussage des Gerichtshofs die Vergleichsgruppe der Ausländer zwar „im wesentlichen" bzw. „ganz überwiegend" von der betreffenden Maßnahme erfasst, zur Begründung werden jedoch statistische Untersuchungen angeführt. 266 Abweichend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 278. 267 Vgl. EuGH, Rs. C-175/88 (Biehl), Slg. 1990,1-1779, Rn. 14. 268 Nach Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 105, wird dadurch „das Erfordernis der 'typischen' Betroffenheit bis ins Unkenntliche ausgedehnt". 269 Zugebend insoweit Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 278.

C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung

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II. Sonderfall: Inländerdiskriminierung Neben offenen und versteckten Formen der Diskriminierung besitzt die so genannte Inländerdiskriminierung besondere Bedeutung fur die praktische Anwendung der Grundfreiheiten. 270 Dabei handelt es sich zwar nicht um eine Diskriminierungsform im engeren Sinne, 271 sondern um die Kennzeichnung einer bestimmten Situation, welche sich aus dem spezifischen Zusammenwirken von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht ergibt. Gleichwohl soll die Problematik der Inländerdiskriminierung hier im Rahmen des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs behandelt werden, da sie insoweit nicht unerhebliche Berührungspunkte mit den vorangegangenen Ausführungen aufweist.

7. Begriff und Entstehungsvoraussetzungen Mit der Bezeichnung als Inländerdiskriminierung wird üblicherweise der Zustand beschrieben, dass Inländer in der Jurisdiktion ihres Heimatstaates aufgrund des eingeschränkten Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten mitunter schlechter behandelt werden als EG-Ausländer. 272 Anstelle der vorliegenden Terminologie findet sich im Schrifttum teilweise der Begriff der „umgekehrten Diskriminierung" („reverse discrimination", „discrimination à rebours"). 273 Dadurch soll zwar kein wesentlicher Unterschied in der Sache begründet werden; 274 allerdings wird so treffend zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine von der typischen Diskriminierung zum Nachteil auslandsbezogener Sachverhalte abweichende Form der Ungleichbehandlung handelt. 275

270 Vgl. monographisch zu diesem Thema z.B. Burmester, Inländerdiskriminierungen, 1994; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995; Hammerl, Inländerdiskriminierung, 1996. 271 Insbesondere darf aus der Bezeichnung als Diskriminierung nicht sogleich auf deren gemeinschaftsrechtliche Unzulässigkeit geschlossen werden; vgl. näher Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 77 f. 272 Vgl. statt aller nur Streinz, Rn. 682. Zu einer übergreifenden, über dieses spezifisch gemeinschaftsrechtliche Verständnis hinausgehenden Begriffsbildung vgl. Hammerl, Inländerdiskriminierung, 1996, 51 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 75. 273 Zahlreiche Nachweise bei Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 57. 274 Zur Synonymie der Begriffe vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 74; Schöne, RIW 1989, 450 ff. (452). Vgl. aber auch Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 18 u. 33 f.; Hammerl, Inländerdiskriminierung, 1996, 52 f.; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 58, Fußn. 180. 275 Vgl. dazu auch Bleckmann, RIW 1985, 917 ff. (918).

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Die Situation der Inländerdiskriminierung entsteht vor allem dann, wenn bestimmte nationale Regelungen - etwa wegen der grundfreiheitlichen Verbotswirkung - auf Sachverhalte mit Auslandsbezug nicht mehr angewandt werden dürfen, im reinen Inlandsfall jedoch nach wie vor zu beachten sind. 276 Damit ist das Phänomen der Inländerdiskriminierung gerade im Bereich der Grundfreiheiten besonders häufig anzutreffen; 277 denn deren Anwendung setzt das Bestehen eines transnationalen Bezugs voraus. 278 Berücksichtigt man zudem den bloßen Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, 279 kann sich insofern eine Diskrepanz zwischen inländischen und grenzüberschreitenden Sachverhalten ergeben, wenn der betreffende Mitgliedstaat seine Regelungen nicht auch hinsichtlich der Inlandssachverhalte anpasst. Obige Ausführungen machen deutlich, dass Inländerdiskriminierungen vorrangig eine Folge der beschränkten normativen Wirkung des Gemeinschafts-

276

Allein diese Entstehungsform soll vorliegend näher interessieren. Darüber hinaus sind natürlich auch solche Inländerdiskriminierungen denkbar, die direkt auf einer den Sachverhalt mit Auslandsbezug begünstigenden Regelung beruhen. Vgl. näher zu „direkten" und „indirekten" Inländerdiskriminierungen z.B. Hammerl, Inländerdiskriminierung, 1996, 27 ff. 277 Zur gesteigerten Bedeutung der Inländerdiskriminierung im grundfreiheitlich determinierten Bereich vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 58 f. 278 St. Rspr. des Gerichtshofs; vgl. EuGH, Rs. 115/78 (Knoors), Slg. 1979, 399, Rn. 24; EuGH, Rs. 175/78 (Saunders), Slg. 1979, 1129, Rn. 11; EuGH, Rs. 52/79 (Debauve), Slg. 1980, 833, Rn. 9; EuGH, Verb. Rs. 35/82 u. 36/82 (Morson), Slg. 1982, 3723, Rn. 15 f.; EuGH, Rs. 180/83 (Moser), Slg. 1984, 2539, Rn. 15; EuGH, Rs. 44/84 (Hurd), Slg. 1986, 29, Rn. 55; EuGH, Rs. 298/84 (Iorio), Slg. 1986, 247, Rn. 14; EuGH, Verb. Rs. 80/85 u. 159/85 (Brotpreis), Slg. 1986, 3359, Rn. 18; EuGH, Rs. 355/85 (Cognet), Slg. 1986, 3231, Rn. 11; EuGH, Rs. 98/86 (Mathot), Slg. 1987, 809, Rn. 7 f.; EuGH, Rs. 90/86 (Pasta), Slg. 1988, 4285, Rn. 25; EuGH, Rs. 20/87 (Gauchard), Slg. 1987, 4879, Rn. 12; EuGH, Rs. 147/87 (Zaoui), Slg. 1987, 5511, Rn.15; EuGH, Rs. 204/87 (Bekaert), Slg. 1988, 2029, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C-54/88, C-91/88 u. C14/89 (Nino), Slg. 1990, 1-3537, Rn. 10 f.; EuGH, Verb. Rs. C-297/88 u. C-197/89 (Dzodzi), Slg. 1990, 1-3763, Rn. 23 f.; EuGH, Rs. C-61/89 (Bouchoucha), Slg. 1990, I3551, Rn. 11; EuGH, Verb. Rs. C-330/90 u. C-331/90 (Lopez Brea u. Hidalgo Palacios), Slg. 1992, 1-323, Rn. 7 ff.; EuGH, Rs. C-332/90 (Steen I), Slg. 1992, 1-341, Rn. 9; EuGH, Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992,1-4265, Rn. 21 ff.; EuGH, Rs. C-60/91 (Batista Morais), Slg. 1992,1-2085, Rn. 7; EuGH, Rs. C-l 12/91 (Werner), Slg. 1993,1429, Rn. 16 f.; EuGH, Rs. C-153/91 (Petit), Slg. 1992, 1-4973, Rn. 8; EuGH, Rs. C206/91 (Poirezz), Slg. 1992, 1-6685, Rn. 10 f.; EuGH, Verb. Rs. C-277/91, C-318/91 u. C-319/91 (Ligur Carni), Slg. 1993,1-6621, Rn. 41; EuGH, Rs. C-l32/93 (Steen II), Slg. 1994, 1-2715, Rn. 9 f.; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 89; EuGH, Verb. Rs. C-29/94 bis C-35/94 (Aubertin), Slg. 1995,1-301, Rn. 9. 279

Vgl. dazu nur Streinz, Rn. 200.

C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung

109

rechts sind und gerade nicht auf einer gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe beruhen. 280 Gilt dagegen aufgrund von Harmonisierungsmaßnahmen in einem bestimmten Bereich einheitliches europäisches Sachrecht, so können dort Inländerdiskriminierungen nicht auftreten. 281 Mit fortschreitender europäischer Integration verliert das Phänomen der Inländerdiskriminierung daher zunehmend an Bedeutung.282

2. Lösung der Problematik Zur Beseitigung der nach dem Binnenmarktgedanken unerwünschten Inländerdiskriminierungen werden in der Literatur verschiedene Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. 283 So wird aus der Tatsache, dass Art. 12 EG Jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" verbietet, 284 teilweise ein gemeinschaftsrechtliches Verbot der Inländerdiskriminierung deduziert. 285 Diesem Ansatz ist der Gerichtshof jedoch ausdrücklich entgegengetreten; 286 er soll hier nicht weiter verfolgt werden. Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit erscheinen hingegen solche Vorschläge besonders interessant, welche die Inländerdiskriminierungen über die grundfreiheitlichen Vorschriften verbieten wollen. Dabei sind grundsätzlich zwei verschiedene Wege denkbar: Zunächst ließe sich an die von den Grundfreiheiten normierten Rechtsfolgen anknüpfen. Anstelle des oben genannten Anwendungsvorrangs wird hier zum Teil eine Ausweitung der grundfreiheitlichen Rechtsfolgen auf ein allgemeines Verbot (Nichtigkeit) befürwortet. 287 Dies widerspricht jedoch nicht nur der

280 281

Ebenso Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 77 m.w.N. Vgl. H inter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 67

m.w.N. 282

Vgl. auch Burmester, Inländerdiskriminierungen, 1994, 103 ff; Hammerl, Inländerdiskriminierung, 1996, 125 ff. Entgegengesetzt argumentierend allerdings Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 58. 283 Zum Verhältnis von Binnenmarkt und Inländerdiskriminierung vgl. Kewenig, JZ 1990, 20 ff. (23); Nicolaysen, EuR 1991, 95 ff. (101 f.); Reich, EuZW 1991, 203 ff. (204). 284 Hervorh. d. Verf. 285 Nachweise bei Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 64. Gegen eine solche Lösung über Art. 12 EG z.B. Kewenig, JZ 1990, 20 ff. (22). 286 Vgl. etwa EuGH, Rs. 44/84 (Hurd), Slg. 1986, 29, Rn. 55. 287 So Nicolaysen, EuR 1991, 95 ff. (102), der jedoch zugleich auf entgegenstehende Positionen des EuGH verweist. Als Ausweg wird von ihm die Auslegung der Vertragsbestimmungen anhand des Wettbewerbsprinzips gem. Art. 3 Abs. 1 lit. g EG diskutiert (Inländerdiskriminierung als Wettbewerbsnachteil).

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r grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff

Judikatur des Gerichtshofs; 288 zugleich wird so der Vorrang des Gemeinschaftsrechts über das notwendige Maß ausgedehnt, indem die nationalen Rechtsordnungen entgegen der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung unnötig beeinträchtigt werden. 289 Im Ergebnis ist der Rechtsfolgenansatz daher abzulehnen. Die zweite Lösungsmöglichkeit zielt demgegenüber auf die Tatbestandsseite der Grundfreiheiten. Diesbezüglich wird das spezifisch transnationale Element im Rahmen der grundfreiheitlichen Prüfung teilweise für obsolet gehalten.290 Indem der Binnenmarkt nach der Legaldefinition des Art. 14 Abs. 2 EG „einen Raum ohne Binnengrenzen" umfasst, 291 erscheint die Frage nach dem grenzüberschreitenden Bezug in der Tat berechtigt. Allerdings bestehen die Europäischen Gemeinschaften nach wie vor aus eigenständigen Mitgliedstaaten, weshalb - in Anknüpfung an das Territorialitätsprinzip des allgemeinen Völkerrechts - die noch existierenden Staatsgrenzen ihre begriffliche Legitimation erhalten; der Terminus „Raum ohne Binnengrenzen" muss folglich anders gedeutet werden. Auch über die tatbestandliche Betrachtungsweise kann somit ein grundfreiheitliches Verbot von Inländerdiskriminierungen nicht begründet werden. Das Gemeinschaftsrecht verbietet Inländerdiskriminierungen daher nicht. 292 Vielmehr ist insofern eine Lösung über das nationale Verfassungsrecht zu suchen; 293 aus deutscher Sicht werden hier insbesondere die Artt. 3 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG zu beachten sein. 294 Die Problematik der Inländerdiskriminierung wird gemeinschaftsrechtlich allerdings dadurch entschärft, dass sich in bestimmten Fällen auch Inländer gegenüber ihrem Heimatstaat auf die Grundfreiheiten berufen können, sofern nur ein transnationaler Sachverhalt vorliegt. 295

288

Vgl. EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1269. Vgl. wiederum nur Streinz, Rn. 200. 290 So z.B. Heydt, EuZW 1993, 105 ff. (105); Kewenig, JZ 1990, 20 ff. (23). 291 Hervorh. d. Verf. 292 Vgl. Streinz, Rn. 685 mit der treffenden Feststellung: „Die Inländerdiskriminierung widerspricht zwar dem Binnenmarktgedanken, nicht aber dem Binnenmarktrecht". 293 Ebenso Becker, EuR 1994, 162 ff. (170 f.); Classen, EWS 1995, 97 ff. (105); Everling, ZLR 1989, 304 ff. (311); Fastenrath, JZ 1987, 170 ff. (177 f.); Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 ff. (2576) m.w.N. zum Streitstand; diff. Weis, NJW 1983, 2721 ff. (2725); Kleier, RIW 1988, 623 ff. (628). Zur nationalen Rspr. vgl. Nicolaysen, EuR 1991, 95 ff. (96 f.) m.w.N. 294 Dazu Nicolaysen, EuR 1991, 95 ff. (107 ff.). 295 Vgl. näher Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.l, Rn. 52; Streinz, in: Blaurock (Hrsg.), Binnenmarkt undfreie Berufe, 1997, 57 ff. (75). 289

C. Die verschiedenen Formen der Diskriminierung

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Mit der Betrachtung einzelner Formen der Diskriminierung sollen die Ausfuhrungen zum grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff abgeschlossen werden. Die notwendigen begrifflichen Präzisierungen sind geleistet, so dass diskriminierende Maßnahmen erkannt und mit Blick auf die Grundfreiheiten in bestehende Strukturen eingeordnet werden können. Indem der Begriff der Diskriminierung dabei Teile der grundfreiheitlichen Tatbestandsebene und Rechtfertigungsprüfung tangiert, erscheint er als wesentliches Element einer Dogmatik der Grundfreiheiten. 296 Zugleich ist er aber auch nur ein Element neben mehreren zu berücksichtigenden Aspekten. Im folgenden Kapitel sollen daher weitere wichtige Leitlinien grundfreiheitlicher Dogmatik abstrahiert dargestellt werden, bevor in den anschließenden Kapiteln konkrete Vorgaben für die Anwendung der Grundfreiheiten in der Rechtspraxis anzusprechen sind.

296

Ebenso Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 72.

3. Kapitel

Diskriminierung und Beschränkung - Die Grundfreiheiten im teleologisch-systematischen Kontext des EG-Vertrages Bereits die Frage, wieviele Grundfreiheiten der EG-Vertrag enthalte, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. 1 Für eine dogmatisch weiterführende Betrachtung ist hingegen weniger die - als solche wenig aussagekräftige - enumerative Angabe als vielmehr die korrekte systematische Einteilung der Grundfreiheiten von Bedeutung. In Verbindung mit der erforderlichen Berücksichtigung teleologischer Aspekte2 bildet diese systematische Betrachtungsweise die Basis für eine fundierte Dogmatik der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EGVertrages. Im vorliegenden Kapitel soll daher versucht werden, die Einbetttung der Grundfreiheiten in den teleologisch-systematischen Gesamtzusammenhang des EG-Vertrages aufzuzeigen. Ziel ist es, für die in den nachfolgenden drei Kapiteln dargestellten Elemente der grundfreiheitlichen Prüfung argumentative Vorgaben bereitzustellen; 3 nur so lässt sich ein unkontrollierter Rückgriff auf die Argumentationsfigur des „effet utile" vermeiden. 4 Dabei wird zunächst auf erkennbare systembildende Strukturen der Grundfreiheiten eingegangen (I.), bevor im Anschluss daran die materiellen Verbindungslinien zwischen den Grundfreiheiten und übergeordneten Prinzipien des EG-Vertrages diskutiert werden (II.). Dies fuhrt schließlich zur Diskussion der Kernproblematik, in-

1

Z.B. Ahlt, 82; Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (347); Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 28; Koenig/Haratsch, Rn. 530; Mestmäcker, FS Böhm, 353 ff. (354); Troberg, in: GTE, Vorbemerkung zu Artt. 59 bis 66, Rn. 2; Ihnen, 69; Kapteyn/Verloren van Themaat, 355; Matt hies, GS Sasse, 115 ff. (116); Schilling, EuR 1994, 50 ff. (55); Schneider, NJ 1996, 512 ff. (512): vier Grundfreiheiten. Bleckmann, Rn. 755; Carstens, ZaöRV 18 (1958), 459 ff. (461); Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 146; Schütz, Jura 1998, 631 ff. (631): ßnf Grundfreiheiten. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 20: sechs Grundfreiheiten. 2 Dazu oben 1. Kapitel Β. I. 3., S. 53 ff. 3 Vgl. auch Pieroth, AöR 114 (1989), 422 ff. (438): „Das mühselige Geschäft vollständiger, offener und rationaler Normkonkretisierung, hier vor allem mittels systematischer Interpretation, kann durch die Berufung auf die Einheit nicht ersetzt werden." 4 Eingehend zur „effet utile"-Rechtsprechung des EuGH etwa Streinz, FS Everling, 1491 ff.

Α. Systembildende Strukturen der Grundfreiheiten

113

wieweit Diskriminierungen und Beschränkungen den Gewährleistungsinhalt der Grundfreiheiten tangieren (III.).

A. Systembildende Strukturen der Grundfreiheiten I. Das äußere System5 des EG-Vertrages Der den Maßstab des EG-Vertrages heranziehende Rechtsanwender wird zunächst mit dessen Ordnungsbegriffen konfrontiert. Daher soll, obwohl das äußere System im Hinblick auf die innere Folgerichtigkeit und Einheit einer Rechtsordnung nur beschränkte Aussagekraft besitzt,6 zunächst ein unbefangener Blick auf die abstrakt-begriffliche Systematik des EG-Vertrages geworfen werden, soweit diese den grundfreiheitlichen Nexus berührt.

1. Einteilung der wirtschaftlichen

Grundfreiheiten

im Vertragstext

Der rechtstechnische Begriff der „Grundfreiheiten" wird im Wortlaut des EG-Vertrages nicht genannt;7 er ist inzwischen jedoch in der europarechtlichen Literatur 8 und Rechtsprechung9 etabliert. Üblicherweise werden hierunter ledig-

5

Zum Begriff des äußeren Systems vgl. Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983, 19; Heck, Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, 1932, 52 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 437 ff. 6 Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1983, 19. 7 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (266). Monographisch zum Rechtsbegriff der Grundfreiheiten Pfeil, Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegrifs der „Vier Grundfreiheiten 1' im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1998. 8 Aus der Lehrbuchliteratur z.B. Ahlt, 82; Arndt, 112; Emmert, § 23, Rn. 13; Herdegen, Rn. 281 ff.; Huber, § 17, Rn. 38 ff.; Ihnen, 69 ff.; Koenig/Haratsch, Rn. 483 ff.; Lecheler, 219 ff.; Schweitzer!Hummer, Rn. 1074 ff; Streinz, Rn. 652 ff. In der älteren Literatur wird demgegenüber oftmals nur von „Freiheiten" gesprochen; vgl. Hallstein, 68; Ipsen, § 34, Rn. 1. 9 Aus der neueren Rechtsprechung vgl. nur EuGH, Rs. C-250/95 (Futura Participations), Slg. 1997, 1-2473, Rn. 31; EuGH, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, 1-2681, Rn. 42; EuGH, Rs. C-264/96 (Imperial Chemical Industries), Slg. 1998,1-4695, Rn. 29; EuGH, Rs. C-274/96 (Bickel u. Franz), Slg. 1998,1-7637, Rn. 17; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999,1-1459, Rn. 34; EuGH, Rs. C-424/97 (Haim II), Slg. 2000,1-5123, Rn. 57; EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 35. Zur teilweise abweichenden Terminologie früherer Urteile vgl. Zuleeg, in: GTE, Art. 3, Rn. 3. 8 Mühl

114

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

lieh die in Art. 3 Abs. 1 lit. c EG und Art. 14 Abs. 2 EG genannten binnenmarktspezifischen Gewährleistungen verstanden. 10

a) Art. 3 Abs. 1 lit. c EG als Ausgangspunkt Ungeachtet grammatikalischer Dissonanzen11 verweist die Vertragszielbestimmung 12 des Art. 3 Abs. 1 lit. c EG auf die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Zwar wird der freie Warenverkehr bereits in Art. 3 Abs. 1 lit. a EG angesprochen, indem dort auf das Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren Bezug genommen wird. Nachdem der freie Warenverkehr jedoch durch den EU-Vertrag in die Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 lit. c EG eingegliedert wurde, kommt Art. 3 Abs. 1 lit. a EG diesbezüglich keine eigenständige Bedeutung mehr zu. 13 Ausgangspunkt ist daher allein Art. 3 Abs. 1 lit. c EG; die Grundfreiheiten werden so zu Grundfreiheiten des Binnenmarktes. Damit ist zugleich die systematische Verknüpfung mit Art. 14 Abs. 2 EG zu beachten, dessen Wortlaut in zweifacher Hinsicht von Art. 3 Abs. 1 lit. c EG abweicht. Die in Art. 14 Abs. 2 EG niedergelegte Legaldefinition des Binnenmarktes enthält einerseits nicht die einschränkende Kennzeichnung der Grundfreiheiten des Art. 3 Abs. 1 lit. c EG: dort wird auf den freien wirtschaftlichen Verkehr lediglich „zwischen den Mitgliedstaaten" Bezug genommen. Andererseits werden die in Art. 14 Abs. 2 EG angesprochenen Grundfreiheiten nur „gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags" gewährleistet. Dies kann als bloßer Verweis auf die konkretisierenden Vorschriften der Artt. 28 ff., 39 ff., 43 ff., 49 ff. und 56 ff. EG interpretiert werden; mit gleicher Berechtigung ließe sich hieraus jedoch auch ein restriktives Verständnis der den Binnenmarkt charakterisierenden Grundfreiheiten dahingehend ableiten, dass diese sich in den gesamten normativen Funktionsrahmen des EG-Vertrages einfügen müs-

10

Vgl. dazu die in Fußn. 8 Genannten. „Die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 umfaßt [...] einen Binnenmarkt". 12 Dazu nur Ukrow, in: Calliess/Ruffert, Art. 3 EGV, Rn. 1 m.w.N. 13 Vgl. dazu Zuleeg, in: GTE, Art. 3, Rn. 3; Ukrow, in: Calliess/Ruffert, Art. 3 EGV, Rn. 5. 14 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Art. 14 Abs. 1 EG, wonach der Binnenmarkt „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrages" zu verwirklichen ist. 11

Α. Systembildende Strukturen der Grundfreiheiten

115

b) Die Systematik innerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften des Dritten Teils des EG-Vertrages Eine Konkretisierung der in der Vertragszielbestimmung des Art. 3 Abs. 1 lit. c EG genannten Tätigkeitsfelder der Gemeinschaft erfolgt im Rahmen von Titel I und I I I des Dritten Teils des EG-Vertrages. 15

aa) Titel I des Dritten Teils des EG-Vertrages Titel I des Dritten Teils des EG-Vertrages behandelt den freien Warenverkehr. Dieser untergliedert sich in die Zollunion (Kapitel 1) und das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten (Kapitel 2). Die Vorschriften über die Zollunion sollen aufgrund ihrer deutlich abweichenden Struktur 16 in der vorliegenden Arbeit ausgeklammert bleiben. 17 Mit dem hier verwendeten Begriff der Warenverkehrsfreiheit wird daher einzig auf die Artt. 28 ff. EG Bezug genommen.

bb) Titel III des Dritten Teils des EG-Vertrages In Titel I I I des Dritten Teils des EG-Vertrages werden die übrigen grundfreiheitlich geschützten Bereiche genannt: die Arbeitskräfte (Kapitel 1), das Niederlassungsrecht (Kapitel 2), die Dienstleistungen (Kapitel 3) sowie der Kapital- und Zahlungsverkehr (Kapitel 4). Angesichts der Überschrift von Titel III des Dritten Teils des EG-Vertrages lassen sich die beiden zunächst genannten Grundfreiheiten gegenüber der Dienstleistungsfreiheit sowie den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs formal zu den so genannten Freizügigkeitsregeln oder Personenverkehrsfreiheiten konzentrieren. Die Zusammenschau von Art. 56 Abs. 2 EG und Art. 3 Abs. 1 lit. c EG lässt wiederum den freien Zahlungsverkehr begriffssystematisch als Unterfall der Kapitalverkehrsfreiheit erscheinen. 18

15

Die übrigen Titel des Dritten Teils des EG-Vertrages konkretisieren Tätigkeitsfelder, welche nicht in Art. 3 Abs. 1 lit. c EG genannt sind und damit nach den zuvor gemachten Ausführungen nicht zu den eigentlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages zählen. 16 Zu den strukturellen Divergenzen zwischen dem Verbot der Erhebung zollgleicher Abgaben und dem Verbot mengenmäßiger Beschränkungen vgl. Lux, in: GTE, Art. 12, Rn. 29. 17 Zu entsprechenden Restriktionen siehe oben 1. Kapitel Α. II., S. 48. 18 So in der Tat Jarass, EuR 1995, 202 ff. (207). 8'

116

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Mit den Vorschriften der Artt. 43 Abs. 2, 51 Abs. 2 und 58 Abs. 2 EG werden im äußeren System des EG-Vertrages weitere Verbindungslinien zwischen der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit sowie der Freiheit des Kapitalverkehrs erkennbar. Zumindest der Wortlaut der Artt. 43 Abs. 2 und 58 Abs. 2 EG spricht dafür, im Verhältnis der Niederlassungsfreiheit zur Kapitalverkehrsfreiheit einen grundsätzlichen Vorbehalt zugunsten Letzterer anzunehmen, soweit es zu Überschneidungen im Anwendungsbereich kommt; 19 die grundsätzliche Parallelität der Grundfreiheiten steht dem nicht entgegen.20 Durch Art. 51 Abs. 2 EG offenbart die vertragliche Systematik ebenso Verflechtungen zwischen der Dienstleistungsfreiheit und der Freiheit des Kapitalverkehrs, wenngleich auch das Verhältnis dieser beiden Grundfreiheiten zueinander im Einzelnen noch nicht geklärt ist. 21 Titel I I I des Dritten Teils des EG-Vertrages erwähnt die Personenverkehrsfreiheiten, die Dienstleistungsfreiheit sowie die Kapitalverkehrsfreiheit nebeneinander, ohne übergeordnete Strukturen explizit anzusprechen. Dennoch wird bereits im Vertragsgefüge eine Affinität der Dienstleistungsfreiheit zu den Personenverkehrsfreiheiten, insbesondere zum Niederlassungsrecht, deutlich. So verweist Art. 55 EG auf die niederlassungsrechtlichen Bestimmungen der Artt. 45 bis 48 EG; auch enthalten die Vorschriften zur Dienstleistungs- wie zur Niederlassungsfreiheit mit Art. 52 Abs. 1 EG und Art. 44 Abs. 1 EG vergleichbare Ermächtigungen zur sekundärrechtlichen Normsetzung. 22

19

Während Art. 43 Abs. 2 EG bereits bei der Umschreibung des Gewährleistungsbereichs der Niederlassungsfreiheit auf das Kapitel über den Kapitalverkehr verweist, ist die Regelung in Art. 58 Abs. 2 EG als Rechtfertigungsvorschrift konzipiert. Insgesamt ergänzen sich die beiden Normen dahingehend, dass einerseits die zur Niederlassung erforderlichen Investitionen, Finanzierungen und Kapitaltransfers nicht nach den Artt. 43 ff. EG, sondern nach den Artt. 56 ff. EG zu behandeln sind, andererseits aber vertraglich zulässige Beschränkungen des Niederlassungsrechts unberührt bleiben; vgl. i.E. dazu Eckhoff, in: Birk, § 19, Rn. 35; Bleckmann, Rn. 1671; Troberg, in: GTE, Art. 52, Rn. 8; Kiemel, in: GTE, Art. 73d, Rn. 32; Koenig/Haratsch, Rn. 556; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Art. 58, Rn. 44; Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1995, 161; Schollmeier, EWS 1992, 137 ff. (141); Weber, EuZW 1992, 561 ff. (565). Abweichend Freitag, EWS 1997, 186 ff. (190); Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, 1997, 143. 20 Weber, EuZW 1992, 561 ff. (564 f.); a.A. Ohler, WM 1996, 1801 ff. (1802). 21 Vgl. Streinz, Rn. 766. 22 Zur Dienstleistungs- und zur Niederlassungsfreiheit wurden denn auch teilweise identische sekundärrechtliche Bestimmungen erlassen, welche sich auf beide Rechtsgrundlagen stützten; vgl. z.B. die Richtlinien 64/427/EWG (ABl.EG 1964, Nr. L 117), 68/366/EWG (ABl.EG 1968, Nr. L 260/12) u. 75/368/EWG (ABl.EG 1975, Nr. L 167/22). Die Tatsache, dass Art. 44 Abs. 1 EG und Art. 52 Abs. 1 EG dabei auf unter-

Α. Systembildende Strukturen der Grundfreiheiten

117

2. Kritik Die abstrakt-begriffliche Kategorienbildung des EG-Vertrages offenbart zweierlei: zum einen die Gegenüberstellung des freien Warenverkehrs und der übrigen Grundfreiheiten, zum anderen verschiedenartige Verbindungslinien zwischen den in Titel I I I genannten Grundfreiheiten. Die innerhalb des Dritten Teils des EG-Vertrages erkennbare Dichotomie von Warenverkehrsfreiheit einerseits und den verbleibenden Grundfreiheiten andererseits lässt sich zunächst historisch erklären. Bevor das Binnenmarktkonzept der Kommission durch Art. 13 EEA in den Gründungsvertrag gehoben wurde, 23 stand die Abschaffung mengenmäßiger Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten dem Ziel der Errichtung einer Zollunion näher als dem Freiheitsprogramm der Gemeinschaft. 24 Die Hervorhebung des freien Warenverkehrs gegenüber anderen Formen wirtschaftlichen Handelns zeigt sich darüber hinaus auch an anderer Stelle im heutigen Vertragstext: Die kompetenzrechtlich bedeutsame Bestimmung des Art. 133 Abs. 1 EG differenziert über den Terminus der Gemeinsamen Handelspolitik zwischen warenbezogenen Aspekten und sonstigen Handelsmaterien. 25 Soweit die historische bedingte Ausgliederung der Warenverkehrsfreiheit in Art. 3 Abs. 1 lit. a EG zum Ausdruck kommt, ist sie überholt. 26 Auch Art. 133 EG lässt lediglich mittelbare Rückschlüsse auf die grundfreiheitliche Systematik zu; darüber hinaus wurde mit dem Vertrag von Nizza die Vorschrift des Art. 133 Abs. 5 EG eingeführt, 27 wodurch die strikte Trennung zwischen Warenhandel und sonstigen Wirtschaftsmaterien an Bedeutung verliert. Unter

schiedliche Rechtsetzungsverfahren verweisen, erscheint demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. 23 Zur historischen Entwicklung des Binnenmarktkonzepts vgl. Streinz, Rn. 35 ff. u. 947. 24 Vgl. Ipsen, § 28, Rn. 2 u. 3. 25 Wegweisend in diesem Zusammenhang EuGH, Gutachten 1/94 (GATS/TRIPS), Slg. 1994,1-5276, Rn. 22 ff. u. 35 ff. Im Hinblick auf gemeinschaftsrechtliche Vertragsschlusskompetenzen entschied der Gerichtshof, dass Art. 113 EGV (jetzt Art. 133 EG) zwar eine ausschließliche Gemeinschaftskompetenz für den Bereich des Warenhandels (GATT 1994) begründe, die Handelsmaterien in GATS u. TRIPS dagegen den Abschluss gemischter Abkommen voraussetzten. Näher dazu Hahn, in: Calliess/Ruffert, Art. 133 EGV, Rn. 30 ff.; Müller-Ibold, in: Lenz, Vorbem. Art. 131-134, Rn. 6. 26 Näher dazu oben 1. a), S. 114. 27 Vgl. Hahn, in: Calliess/Ruffert, Art. 133 EGV, Rn. 68 ff.; Streinz, Rn. 629a.

118

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

diesen Umständen verringert sich die Aussagekraft der äußeren Vertragssystematik im Hinblick auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten. 28 Es sind ebenfalls entstehungsgeschichtliche Erwägungen, welche den durch die äußere Vertragssystematik hervorgerufenen Eindruck, die Freiheit des Zahlungsverkehrs sei als bloßer Unterfall der Kapitalverkehrsfreiheit konzipiert, relativieren. Ursprünglich war der Zahlungsverkehr in Art. 106 EWGV geregelt, dessen Funktion sich im Wesentlichen darauf beschränkte, die Transferliberalisierung im Einklang mit der Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs gleichlaufen zu lassen.29 Erst durch den Unionsvertrag von Maastricht wurde der Zahlungsverkehr in Titel I I I des Dritten Teils des EG-Vertrages eingegliedert. Neben der Übernahme des Art. 106 EWGV in den späteren Art. 73h EGV wurden der Kapital- und Zahlungsverkehr dabei in einem Kapitel zusammengefasst und einer parallelen Regelungsstruktur unterworfen. Dies spricht für eine Aufwertung des Zahlungsverkehrs von einer bloßen Hilfsfreiheit zu einer der Kapitalverkehrsfreiheit gleichberechtigten Grundfreiheit. 30 Auch die übrigen vertragssystematischen Verflechtungen ergeben letztlich kein hinreichend klares Bild der grundfreiheitlichen Strukturen; so sind mit den Artt. 43 Abs. 2, 51 Abs. 2 und 58 Abs. 2 EG die verknüpfenden Vorschriften zwischen der Kapitalverkehrsfreiheit einerseits sowie der Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit andererseits gleichermaßen geeignet, neue Unsicherheiten hervorzurufen. 31 Insgesamt zeigt der unbefangene Blick auf die abstrakt-begriffliche Vertragssystematik eine deutlich relativierte Aussagekraft des äußeren Systems des EG-Vertrages. Daher sollen im Folgenden - losgelöst von der formalen Strukturebene - die sachlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen

28

Hiervon unberührt bleibt die Frage nach der inneren Ordnung der Grundfreiheiten; dazu sogleich unter II. 29 Näher Börner, EuR 1966, 97 ff. (106, 110, 114). 30 Ebenso Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 3; Ressi Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Art. 56, Rri. 1; Kiemel, in: GTE, Art. 73a, Rn. 2. Abweichend z.B. Ohler, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, Art. 56 EGV, Rn. 313 mit Verweis auf EuGH, Verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, 377, Rn. 21. Letztgenannte Entscheidung betraf jedoch die ursprüngliche Vorschrift des Art. 106 EWGV, weshalb sie nur mit der gebotenen Zurückhaltung zur Interpretation der geänderten vertraglichen Bestimmungen zur Zahlungsverkehrsfreiheit herangezogen werden kann. 31 Vgl. den Überblick bei Streinz, Rn. 765 f.

Α. Systembildende Strukturen der Grundfreiheiten

119

Grundfreiheiten einer genaueren Betrachtung unterzogen und so eine innere Ordnung derselben entworfen werden.

II. Die innere Ordnung der Grundfreiheiten 7. Auffassungen im Schrifttum Die Grundfreiheiten sind als Wirtschaftsfreiheiten konzipiert. Nachdem in den Kapitelüberschriften des Vertragstextes zudem von „Waren", „Dienstleistungen", „Arbeitskräften" und,»Kapital" gesprochen wird, erscheint es zunächst naheliegend, in Anlehnung an volkswirtschaftliche Lehren 32 eine zweiteilige Untergliederung der Grundfreiheiten in Produktfreiheiten und Freiheiten der Produktionsfaktoren vorzunehmen. 33 Ersteren würden dann Waren (Artt. 28 ff. EG) und - als immaterielle Produkte - Dienstleistungen (Artt. 49 ff. EG) unterfallen, während die übrigen Grundfreiheiten die Produktionsfaktoren Arbeit (Artt. 39 ff. und 43 ff. EG) und Kapital (Artt. 56 ff. EG) erfassten. 34 Häufiger vertreten wird demgegenüber eine Dreiteilung der Grundfreiheiten in Produktverkehrsfreiheiten, Personenverkehrsfreiheiten und die Kapitalverkehrsfreiheit. 35 Hierbei wird die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs allerdings uneinheitlich in die vorgenommene Dreiteilung eingepasst. Von manchen wird sie - entsprechend der oben genannten volkswirtschaftlichen Betrachtungsweise - durchgehend als Produktverkehrsfreiheit aufgefasst, 36 andere betonen allein ihre Nähe zu den Personenverkehrsfreiheiten; 37 differenzierende Ansichten sind

32

Vgl. nur Siebert, Volkswirtschaftslehre, 2000, 48 ff.; Woll, Volkswirtschaftslehre, 2000, 54. 33 So Troberg, in: GTE, Vorbemerkung zu Artt. 59 bis 66, Rn. 3 f.; Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 2. 34 Troberg, in: GTE, Vorbemerkung zu Artt. 59 bis 66, Rn. 3 f. 35 So Jarass, EuR 1995, 202 ff. (204 ff.); ähnlich Arndt, 112 sowie Streinz, Rn. 656: Waren Verkehrsfreiheit, Personen Verkehrsfreiheiten und Kapital Verkehrsfreiheit. Vgl. zu dieser Dreiteilung auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 20 ff., der zwar formal lediglich die Kategorien der Produktund Personenverkehrsfreiheiten bildet, gleichzeitig aber der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs eine - von den zuvor gebildeten Kategorien abweichende - Sonderrolle zugesteht. 36 Hailbronner/Nachbaur, EuZW 1992, 105 ff. (106); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (205); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 22; Seidel, EuR 1988, 129 ff. (133); ders., in: Schwarze, Der Gemeinsame Markt, 1987, 113 ff. (116 f.); Steindorff, RIW 1983, 831 ff. (832). 37 So - allerdings ohne weitere Begründung -Arndt, 112.

120

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

selten anzutreffen. 38 Der Kapitalverkehrsfreiheit wird im Rahmen dieser Dreiteilung stets eine Sonderrolle zuerkannt.

2. Eigene Ansicht Die zuvorderst genannte Auffassung besitzt den Vorteil der Reduzierung auf lediglich zwei unterschiedliche systembildende Strukturen; sie hat zudem den Charme der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Allerdings wird bei der Einteilung der Grundfreiheiten in Produktfreiheiten und Freiheiten der Produktionsfaktoren die Tatsache vernachlässigt, dass eine Dienstleistung nur in dem seltenen Fall der Korrespondenzdienstleistung als bloßes immaterielles Produkt fungiert, welches - losgelöst von Dienstleistungserbringer und -empfänger - die Grenze überschreitet; im Übrigen ist eine Dienstleistung nicht ohne personenbezogene Elemente fassbar. Letzteres zeigt sich auch im Vertragstext, indem die Vorschrift des Art. 50 Abs. 3 EG an das Kriterium der Staatsangehörigkeit anknüpft. 39 Damit wird bereits deutlich, dass sich die Dienstleistungsfreiheit nicht in eine bestimmte der oben genannten Kategorien einordnen lässt, sondern vielmehr sowohl produktbezogene als auch personenbezogene Aspekte aufweist. Dies wird von den Vertretern einer Dreiteilung der Grundfreiheiten teilweise gesehen,40 allerdings begegnet hier die Erfassung der Kapitalverkehrsfreiheit in einer eigenständigen Ordnungsklasse Kritik. Denn hinsichtlich der Freiheit des Kapitalverkehrs lassen sich - analog zur Dienstleistungsfreiheit - parallele Strukturen zu Produkt- wie zu Personenverkehrsfreiheiten erkennen; eine weitergehende Kategorienbildung erscheint dagegen nicht notwendig. Die Nähe der Kapitalverkehrsfreiheit zum Produktverkehr zeigt sich darin, dass sich der Kapitaltransfer - analog zur Korrespondenzdienstleistung - losgelöst von den beteiligten Personen betrachten lässt; in Artt. 56 ff. EG wird zudem nicht auf die Staatsangehörigkeit abgestellt.41 Dieser Aspekt wird jedoch durch entstehungsgeschichtliche Erwägungen relativiert, wodurch sich zugleich erhellt, dass die Freiheit des Kapitalverkehrs gleichermaßen Parallelen zu den Perso-

38

Eine Ausnahme bildet Streinz, Rn. 656; ders., FS Rudolf, 199 ff. (206). Vgl. auch Jarass, EuR 2000, 705 ff. (707). 39 Das Kriterium der Staatsangehörigkeit ist bereits begrifflich mit einem notwendigen Personenbezug verbunden; eine „Staatsangehörigkeit" von Dienstleistungen und sonstigen Produkten gibt es nicht. Vgl. dazu bereits die Ausführungen oben 2. Kapitel, Β, V, 3, b, S. 96 ff. 40 Ebd. 41 Vgl. Streinz, Rn. 656.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

121

nenverkehrsfreiheiten aufweist. Denn in der ursprünglichen Fassung des Art. 67 EWGV waren unter anderem „Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit" verpönt. 42 Der so umschriebene Gewährleistungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit, welcher den transnationalen Bezug der handelnden Person betont,43 ist aufgrund der Verstärkung dieser Grundfreiheit, wie sie in der Neuformulierung des Art. 73b EGV (jetzt Art. 56 EG) zum Ausdruck kommt, weiterhin zu berücksichtigen. 44 Nachdem für die Freiheit des Zahlungsverkehrs aufgrund ihrer Eingliederung in die Vorschriften der Artt. 56 ff. EG nichts anderes als für die Kapitalverkehrsfreiheit gelten kann, ist es daher ausreichend, insgesamt zwei unterschiedliche systembildende Strukturen der Grundfreiheiten hervorzuheben. Ausgehend von den Gegenbegriffen „Produkt" und „Person" lassen sich Produktverkehrsfreiheiten und Personenverkehrsfreiheiten unterscheiden. Als reine Produktverkehrsfreiheit erscheint die Freiheit des Warenverkehrs. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie die Niederlassungsfreiheit lassen sich den reinen Personenverkehrsfreiheiten zuordnen. Demgegenüber besitzen die Freiheiten des Dienstleistungs-, Kapital- und Zahlungsverkehrs einen Doppelcharakter, indem sie produkt- wie personenbezogene Aspekte aufweisen; sie bilden gleichsam die Schnittmenge der reinen Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten.

B. Materielle Verbindungslinien zwischen den Grundfreiheiten und übergeordneten Prinzipien des EG-Vertrages Die Struktur der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages lässt sich in ihrer Abstraktheit nur dann adäquat erfassen, wenn zugleich übergeordnete vertragliche Prinzipien in die Betrachtung mit einbezogen werden. 45 Entsprechend dieser Zielrichtung soll nachfolgend auf drei übergreifende Aspekte 42 Einschränkend ist allerdings zu bemerken, dass Art. 67 EWGV nicht unmittelbar anwendbar war. Der personelle Bezug ist daher im Vergleich zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, zur Niederlassungsfreiheit sowie zur Dienstleistungsfreiheit weniger offensichtlich. Eine weitere Kategorienbildung, welche diesen abgestuften personellen Bezug im Detail berücksichtigt, soll jedoch vorliegend mit Blick auf die anfänglich erwähnten Grundprinzipien praktischer Dogmatik unterbleiben; vgl. bereits oben 1. Kapitel Α. I. 3., S. 43. 43 Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208). 44 Vgl. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 56, Rn. 13; Weber, in: Lenz, Art. 56, Rn. 17. 45 Zur Berücksichtigung von Prinzipien des EG-Vertrages im Rahmen einer Dogmatik der Grundfreiheiten siehe oben 1. Kapitel Β. I. 3., S. 53 f.

122

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

rekurriert werden, welche als elementar für das Verständnis der Grundfreiheiten angesehen werden können: die Binnenmarktkonzeption (I.), Kompetenzfragen (II.) sowie der Gedanke des Umweltschutzes (III.).

I. Die Binnenmarktkonzeption als Interpretationsansatz Ausgangspunkt für eine Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages ist Art. 3 Abs. 1 lit. c EG. 46 Hierdurch ergibt sich in doppelter Hinsicht eine herausragende Bedeutung der Binnenmarktkonzeption für das Verständnis der Grundfreiheiten. Zum einen werden durch die genannte Vorschrift - in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 EG - die Grundfreiheiten mit dem Rechtsbegriff des Binnenmarktes legislatorisch auf das Engste verknüpft; 47 die Gewährleistung der Freiheiten wird per definitionem zu dessen Wesensmerkmal. Andererseits wird deutlich, dass die Grundfreiheiten über eine formale Verbindung hinaus der Verwirklichung des Binnenmarktes als Vertragsziel dienen. Die Binnenmarktkonzeption wird so zum Bezugspunkt einer teleologischen Auslegung der grundfreiheitlichen Vorschriften.

1. Die Wechselwirkung

von Binnenmarkt und Grundfreiheiten

Indem das Binnenmarktziel für die Interpretation der Grundfreiheiten wesentliche Bedeutung erlangt, der Rechtsbegriff des Binnenmarktes sich gleichzeitig jedoch über die Grundfreiheiten definiert, entsteht eine eigentümliche Wechselwirkung zwischen beiden Rechtsinstituten. Auf diesen hermeneutischen Zirkel wurde im Rahmen der allgemeinen Ausführungen des ersten Kapitels bereits hingewiesen.48 Die Lösung der vorliegenden Rückwirkungsproblematik ergibt sich jedoch nicht nur aufgrund allgemeiner rechtstheoretischer Aspekte, sondern auch durch die Auslegung einzelner Bestimmungen des EG-Vertrages. Über jene abstrakten Erwägungen hinaus zeigt zum Beispiel der konkrete Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 EG, wonach die Grundfreiheiten „gemäß den Bestimmungen des Vertrags" gewährleistet werden, dass der Rechtsanwender hier nicht in einer infiniten juristischen Verweisungsfalle gefangen ist. 49 Damit wird zugleich die - oben noch offen gelassene - Frage nach einer sinnvollen Auslegung jener Formulierung dahingehend beantwortet, dass diese

46

Siehe oben Α. I. l.a),S. 114. Zum Binnenmarkt als Rechtsbegriff Reich, EuZW 1991, 203 ff. 48 Siehe oben 1. Kapitel Β. I. 2. b), S. 52. 49 I.E. ebenso Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,40 f. 47

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

123

als Öffnungsklausel im Hinblick auf übergeordnete Vertragsprinzipien zu interpretieren ist. 50 Insgesamt ist die eigentümliche Wechselwirkung von Binnenmarkt und Grundfreiheiten nur ein Beispiel für das im europäischen Primärrecht grundsätzlich anzutreffende Phänomen hermeneutischer Rückkopplungseffekte. 51 Im Rahmen einer zu entwickelnden Dogmatik der Grundfreiheiten werden hierdurch Interpretationsspielräume nicht begrenzt, sondern erweitert.

2. Entwicklung des Binnenmarktziels Das Binnenmarktziel als Interpretationsansatz lässt sich nur dann richtig verstehen und sinnvoll in eine Dogmatik der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages einfügen, wenn die rechtshistorischen Entwicklungen vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt nachvollzogen werden. Da in der heutigen Fassung des EG-Vertrages sowohl der „Gemeinsame Markt" als auch der Binnenmarkt" begrifflich existent sind, entsteht so zugleich die Notwendigkeit einer Abgrenzung dieser beiden Rechtsbegriffe. 52

a) Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt Art. 2 EG beschreibt die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes als eine der grundlegenden Aufgaben der Gemeinschaft; der Gemeinsame Markt ist mithin Ausgangspunkt aller Entwicklungen in der Gemeinschaft. 53 Mit Blick auf die Übernahme des Binnenmarktkonzeptes in den EG-Vertrag kommt dabei der Judikatur des EuGH entscheidende Bedeutung zu. 54 In den Urteilen Polydor und Schul hat der Gerichtshof ausgeführt, der Gemeinsame Markt ziele auf eine Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem

50

Siehe oben Α. I. 1. a), bei Fußn. 14. Wie hier Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 55. 51 Näher Bleckmann, Rn. 444; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 7. 52 Wie der „Binnenmarkt" ist auch der „Gemeinsame Markt" als Rechtsbegriff zu charakterisieren, da ihm über seine ökonomisch-räumliche Faktizität hinaus ein spezifisch rechtlicher Gehalt zukommt. Vgl. dazu bereits Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (645 f.); Ipsen, § 28, Rn. 12 m.w.N.; aus neuerer Zeit z.B. Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 136. 53 Everling, ZLR 1989, 304 ff. (309). 54 Vgl. Reich, EuZW 1991, 203 ff. (203).

124

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahekommen.55 Demgegenüber ist mit Inkrafttreten der EEA am 1.7.1987 der Binnenmarkt selbst zum Zielobjekt gemeinschaftlicher Tätigkeit geworden. 56

b) Gemeinsamer Markt vs. Binnenmarkt In der heutigen Fassung des Vertragstextes wird sowohl auf den Binnenmarkt als auch auf den Gemeinsamen Markt Bezug genommen.57 Dies zeigt bereits, dass eine Begriffskongruenz nicht vorliegen kann. 58 Die Abgrenzung beider Rechtsbegriffe ist nicht lediglich theoretischer Natur, da sie insbesondere kompetentielle Konsequenzen bedingt. 59 Für eine Dogmatik der Grundfreiheiten ist die Abgrenzung daneben deshalb von besonderer Bedeutung, weil jene ursprünglich als Freiheiten des Gemeinsamen Marktes konzipiert waren, 60 nunmehr aber mit dem Binnenmarkt unmittelbar verknüpft sind. Das Verhältnis der Rechtsbegriffe „Gemeinsamer Markt" und „Binnenmarkt" ist in der Literatur nach wie vor umstritten. Ungeachtet der soeben abgelehnten Synonymitätsthese finden sich primär zwei gegensätzliche Auffassungen:61 Während die einen dem Binnenmarkt im Vergleich zum Gemeinsa-

55

Vgl. EuGH, Rs. 270/80 (Polydor), Slg. 1982, 329, Rn. 18; EuGH, Rs. 15/81 (Schul), Slg. 1982, 1409, Rn. 33. 56 Vgl. auch Everling, FS Steindorff, 1155 ff. (1160); Steindorff, ZHR 150 (1986), 687 ff. (689). 57 Vgl. einerseits Artt. 4, 14, 37, 65, 93, 95, 114, 116, 146, 153, 159, 163, 299 EG, andererseits Artt. 2, 32, 71, 81 f., 84, 87 f., 94, 96, 119 f., 134, 136, 211, 267, 296-298, 308 EG. In den Formulierungen der Artt. 3 und 15 EG werden beide Begriffe sogar innerhalb der jeweiligen Vorschrift nebeneinander genannt. 58 So aber Glaesner, in: Ress (Hrsg.), Rechtsprobleme der Rechtsangleichung, 1987, 35 ff. (37); Kilian, Rn. 12; Langeheine, EuR 1988, 235 ff. (239); ders., in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 100a, Rn. 23; Middeke, Umweltschutz, 1994, 235 f.; Oliver, Free Movements of Goods in the EEC, 1996, 394. Weitere Nachweise zu dieser sog. Synonymitätsthese finden sich bei Müller-Graff EuR 1989, 107 ff. (123). 59 Vgl. dazu nur Artt. 94 u. 95 EG. 60 Vgl. Grabitz, in: ders./Hilf (Archivband II), Art. 3, Rn. 5; Zuleeg, in: GTE4, Art. 3, Rn. 6. 61 Vgl. Streinz, Rn. 949 ff. sowie den Überblick bei Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 EGV, Rn. 8 ff.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

125

men Markt eine weitergehende Funktion zuerkennen (Erweiterungsthese), 62 sehen andere im Binnenmarkt lediglich einen Ausschnitt des Gemeinsamen Marktes (Einschränkungsthese). 63 Beide Ansätze liegen argumentativ weit weniger auseinander als dies ihre Schlussfolgerungen vermuten lassen. Vielmehr erscheint sogar eine Verbindung von Erweiterungsthese und Einschränkungsthese möglich. Dies setzt allerdings voraus, dass eine differenziertere Betrachtung vorgenommen wird. Dabei ist zwischen Regelungsgegenstand und Regelungsziel zu unterscheiden.

aa) Regelungsgegenstand Bereits der Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 EG spricht für ein im Verhältnis zum Gemeinsamen Markt restriktiveres Verständnis des Binnenmarktes, soweit dessen gegenständlicher Anwendungsbereich in das Blickfeld gerückt wird. 64 Zwar ist gegenüber Art. 14 Abs. 2 EG der Begriff des Gemeinsamen Marktes nicht ausdrücklich im EG-Vertrag definiert; allerdings besteht Einigkeit darüber, dass dieser neben den Freiheiten des Waren-, Personen-, Dienstleistungsund Kapitalverkehrs auch eine Zollunion, eine gemeinsame Außenhandels-, Landwirtschafts-, Fischerei- und Verkehrspolitik sowie ein System unverfälschten Wettbewerbs umfasst. 65 Bestätigt wird dies durch einen Blick auf den systematischen Zusammenhang der Rechtsangleichungsvorschriften in den Artt. 94 und 95 EG. So wird für die Rechtsangleichung betreffend den Binnenmarkt in Art. 95 EG „abweichend von Art. 94 [EG]" ein gesondertes Verfahren normiert. Indem Art. 94 EG weiterhin neben der Vorschrift des Art. 95 EG anwendbar bleibt, existieren nach der vertraglichen Systematik Harmonisierungsbereiche, welche über den

62

So Montag, R1W 1987, 935 ff. (940); Müller-Graff Binnenmarktziel, 1989, 13; Pernice , NVwZ 1990, 201 ff. (204 f.); Schröer, EuR 1991, 356 ff. (357). Vgl. zu zahlreichen weiteren Nachweisen Kahl, in: Calliess/ Ruffert, Art. 14 EGV, Rn. 10. 63 Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (379); Kupfer, AgrarR 1989, 57 ff. (59); Palme, EWS 1991, 377 ff. (381); Ritter, BB 1989, 77 ff. (80); Rögge, WRP 1986, 459 ff. (460). Weitere Nachweise wiederum bei Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 EGV, Rn. 8. 64 Ebenso Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (379, Fußn. 70) für den damaligen Art. 8a EWGV. 65 Vgl. Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 94 EGV, Rn. 11; Geiger, Art. 2 EGV, Rn. 6; Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 100, Rn. 25; Lenz, in: ders., Art. 14, Rn. 3.

126

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Regelungsgegenstand des Binnenmarktes hinaus dem Gemeinsamen Markt zuzuordnen sind. 66 Auch die rechtshistorische Entwicklung der Binnenmarktkonzeption spricht für einen im Verhältnis zum Gemeinsamen Markt engeren gegenständlichen Anwendungsbereich des Binnenmarktes. Zunächst ist hier auf das Weißbuch der Kommission zur Vollendung des Binnenmarktes zu verweisen. 67 Daneben bleiben nach dem Kommissionspapier zum Verhältnis von Binnenmarkt und EWG-Vertrag vom 23.9.1985 bestimmte Elemente des Gemeinsamen Marktes unangetastet.68 Schließlich stehen einer solchen Auffassung auch die zuvor erwähnten Urteile Polydor und Schul nicht entgegen. Denn die dortigen Ausführungen des Gerichtshofs zum Gemeinsamen Markt betreffen nicht die Frage des Regelungsgegenstandes, sondern die des Regelungsziels.69 Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass zumindest bezüglich des Regelungsgegenstandes der Gemeinsame Markt umfassender ist als der Binnenmarkt. 70

bb) Regelungsziel Nicht weniger berechtigt sind allerdings die Argumente der Vertreter der Erweiterungsthese, soweit diese sich auf das Regelungsziel der Vorschriften zum Binnenmarkt und Gemeinsamen Markt beziehen. Sofern man als Maßstab für das Regelungsziel den gemeinschaftsrechtlichen Integrationsstand heranzieht, erscheint der Binnenmarkt gegenüber dem Gemeinsamen Markt keineswegs zwingend als ein Minus.

66

I.E. ebenso Streinz, Rn. 953; Zacker, RIW 1989,489 f. (490). Dort werden Aspekte des Gemeinsamen Marktes genannt, die über die Schaffung eines Binnenmarktes hinaus reichen; vgl. Dok. KOM (85) 310, Rn. 133 f. 68 Vgl. Nr. 1 Abs. 2 Spiegelstrich 2 des Kommissionspapiers; abgedruckt z.B. bei Ehlermann, CMLRev. 1987, 361 ff. (406). Vgl. hierzu auch Zacker, RIW 1989, 489 f. (490) sowie die Nachweise bei Hatje, in: Schwarze, Art. 14 EGV, Rn. 5. 69 Der EuGH spricht von den zu verwirklichenden „Bedingungen" eines Gemeinsamen Marktes, vgl. EuGH, Rs. 270/80 (Polydor), Slg. 1982, 329, Rn. 18; EuGH, Rs. 15/81 (Schul), Slg. 1982, 1409, Rn. 33. 70 A.A. - auch in gegenständlicher Hinsicht - Schröer, Kompetenzverteilung, 1992, 163 f. 67

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

127

Die Urteile Polydor und Schul enthalten judikative Aussagen zur relativen Integrationsdichte, welche mit dem Binnenmarktziel bzw. dem Ziel des Gemeinsamen Marktes angestrebt wird. Wenn in den Urteilsgründen erwähnt wird, dass die Bedingungen des Gemeinsamen Marktes denjenigen eines Binnenmarktes möglichst nahekommen,71 wird hierin ein richterliches Verständnis deutlich, welches dem Binnenmarkt einen im Verhältnis zum Gemeinsamen Markt höheren anzustrebenden Integrationsgrad zuerkennt. 72 Auch Art. 14 Abs. 1 EG, wonach die Verwirklichung des Binnenmarktes „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrages" erfolgt, 73 spricht für eine zielbezogene Fortentwicklung des Gemeinsamen Marktes zum Binnenmarkt. 74 Mit der dortigen Implementierung der Binnenmarktkonzeption soll der bislang erreichte acquis communautaire primärrechtlich abgesichert werden; die weitere Umschreibung des Binnenmarktes bedeutet inhaltlich keinen Rückschritt, sondern zielt auf einen im Vergleich zum früheren gemeinschaftsrechtlichen Bestand höheren Integrationsgrad. 75 Zudem kommt in den Harmonisierungsvorschriften der Artt. 94 und 95 EG eine im Rahmen der Entwicklung vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt

71

EuGH, Rs. 270/80 (Polydor), Slg. 1982, 329, Rn. 18; EuGH, Rs. 15/81 (Schul), Slg. 1982, 1409, Rn. 33. 72 Vgl. Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 50. Diesem Argumentationsmuster kann man sich allein dadurch entziehen, wenn man ein differierendes begriffliches Verständnis der (früheren) Rechtsprechung einerseits und dem (nunmehr) vertraglich implementieren Binnenmarktkonzept andererseits postuliert. So Streinz, Rn. 953; Zacker, RIW 1989,489 f. (489). 73 Vgl. i.Ü. auch die Legaldefmition in Art. 14 Abs. 2 EG, welche die Grundfreiheiten nur „gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages" gewährleistet. 74 Ebenso Bardenhewer!Pipkorn, in: GTE, Art. 7a, Rn. 6; Everting, , FS Steindorff, 1155 ff. (1162). 75 Diese Auffassung steht nicht im Widerspruch zu der oben vertretenen These, dass in den zitierten Wendungen des Art. 14 Abs. 1 u. 2 EG ein Verweis auf den übergeordneten Funktionszusammenhang des EG-Vertrages zu sehen ist; siehe oben bei Fußn. 50. Denn jener Verweis ist gegenständlich zu interpretieren, während hier in einem anderen Zusammenhang auf den gemeinschaftsrechtlichen Integrationsgrad Bezug genommen wird. An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass sich Einschränkungs- und Erweiterungsthese nicht - wie zumeist angenommen - unvereinbar gegenüberstehen. Auch die Vertreter der Einschränkungsthese nehmen den hier herangezogenen Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 u. 2 EG für sich in Anspruch; siehe oben bei Fußn. 64. Dies ist richtig, soweit es um den Anwendungsbereich des Binnenmarktes und des Gemeinsamen Marktes geht und so auf die gegenständliche Teilmenge des Binnenmarktes im Verhältnis zum Gemeinsamen Markt hingewiesen wird; vgl. Streinz, Rn. 953 f.

128

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

verstärkte Integrationsabsicht zum Ausdruck. Während Harmonisierungsmaßnahmen betreffend den Gemeinsamen Markt nach Art. 94 EG einstimmig erlassen werden, ermöglicht Art. 95 EG für die binnenmarktbezogene Rechtsangleichung ein effizienteres Vorgehen, indem dort auf das Verfahren der Mitentscheidung verwiesen wird. Aus teleologischer Sicht wird damit zugleich der Rechtsangleichungsprozess insgesamt aufgewertet, weshalb in der primärrechtlichen Verankerung des Binnenmarktkonzeptes einschließlich des Art. 95 EG ein angestrebter höherer Integrationsgrad zu erblicken ist. 76 Beschränkt man die Sicht auf das verfolgte Regelungsziel, so zeigt sich insgesamt eine mit dem Binnenmarkt verbundene intensivierte Zielverfolgung.

cc) Zusammenfassung Die Argumentationsrichtungen der Einschränkungs- und Erweiterungsthese können für sich genommen das Verhältnis des Binnenmarktes zum Gemeinsamen Markt nicht hinreichend genau erfassen, da sie jeweils nur einen Ausschnitt der Problematik beleuchten. Einschränkungs- und Erweiterungsthese stehen sich keineswegs unvereinbar gegenüber, 77 sondern lassen sich durchaus verbinden. Die vorliegend vertretene Verknüpfung von Einschränkungs- und Erweiterungsthese kann begrifflich als Konkretisierungsthese gekennzeichnet werden. Danach umfasst der Binnenmarkt gegenständlich nur einen Teilbereich des Gemeinsamen Marktes, inhaltlich ist mit ihm jedoch eine höhere Integrationsstufe verbunden. 78

c) Folgerungen für eine Dogmatik der Grundfreiheiten Die primärrechtliche Implementierung des Binnenmarktziels bedingt einen Perspektivenwechsel hinsichtlich der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-

76

Vgl. auch Bardenhewer/Pipkom, in: GTE, Art. 100a, Rn. 8 f.; Dauses, EuZW 1990, 8 ff. (10); Haag, in: BBPS, Rn. 692; Bieber, ÖZöRV 1988, 211 ff. (230); Grabitz, FS Steindorff, 1229 ff. (1235); ders.lv. Bogdandy, JuS 1990, 170 ff. (175); Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 100a, Rn. 7; Schröer, Kompetenzverteilung, 1992, 163; Steindorff, ZHR 150 (1986), 687 ff. (692). 77 So aber z.B. Schröer, Kompetenzverteilung, 1992, 161: „diametral entgegengesetzt". 78 Ähnlich - in einem obiter dictum - bereits Zacker, RIW 1989,489 f. (490 a.E.).

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

129

Vertrages. 79 Aus der oben entwickelten Konkretisierungsthese ergeben sich dabei zwei wesentliche Konsequenzen fur eine Dogmatik der Grundfreiheiten. Die fur eine Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften wesentliche Frage nach dem Inhalt der Binnenmarktkonzeption kann unter Rückgriff auf Strukturelemente des Gemeinsamen Marktes beantwortet werden. 80 Darüber hinaus ist als Folge des höheren Integrationsstandards eine prinzipielle Funktionsänderung der Grundfreiheiten zu diskutieren. 81 Hier werden bereits Entwicklungslinien sichtbar, welche die grundsätzliche Problematik des rechtstheoretischen Überbaus der wirtschaftlichen Grundfreiheiten tangieren. Konkret geht es um die - am Ende dieses Kapitels zu behandelnde - Frage, ob den Grundfreiheiten ein gleichheitsrechtliches oder freiheitsrechtliches Verständnis zugrunde liegt.

3. Inhalt der Binnenmarktkonzeption Mit der Erkenntnis eines höheren Integrationsstandards ist zwar das Verhältnis des Binnenmarktes zum Gemeinsamen Markt bestimmt, allerdings noch keine Aussage zur inhaltlichen Charakterisierung der Binnenmarktkonzeption getroffen. Dies soll im Folgenden geschehen, wobei die Blickrichtung auf die Grundfreiheiten fokussiert wird, um die Thematik der vorliegenden Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren.

a) Marktfreiheit und Marktgleichheit Die oben erkannte besondere Entwicklung vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt erlaubt es, bei der inhaltlichen Bestimmung des Binnenmarktes auf grundlegenden Strukturelementen des Gemeinsamen Marktes aufzubauen. 82 Hierbei kann auf eine frühe Aussage Ipsens zurückgegriffen werden, welche von Grabitz später konkretisiert wurde; danach ist der Gemeinsame Markt durch drei Elemente gekennzeichnet: Marktfreiheit, Marktgleichheit und ein

79

Siehe bereits oben bei Fußn. 60. Dazu sogleich unten 3. 81 Vgl. z.B. für Art. 28 EG Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (21); Steindorff ZHR 158 (1994), 149 ff. (163) mit Verweis auf Donner, SEW 1982, 362ff; Wils, ELR 1993, 478 ff. 82 Vgl. hierzu sowie zum Folgenden auch Huber, § 17, Rn. 27 ff. 80

9 Mühl

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3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

System unverfälschten Wettbewerbs. 83 Auf Letzteres soll an anderer Stelle gesondert eingegangen werden; zunächst sind die Aspekte der Marktfreiheit und Marktgleichheit einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

aa) Marktfreiheit Der europäische Binnenmarkt besteht in seiner ökonomischen Faktizität zumindest auch - aus nationalen Teilmärkten. 84 Will man einem Wirtschaftsteilnehmer die binnenmarktweite Tätigkeit zugestehen,85 müssen ihm dafür die einzelnen nationalen Teilmärkte grundsätzlich offen stehen. Auf die Funktion, den Zugang zu den nationalen Teilmärkten überhaupt erst zu öffnen, wird mit dem Element der Marktfreiheit Bezug genommen.86 Es wird somit der Charakter des Binnenmarktes als offener Markt angesprochen. Primärrechtliche Anknüpfungspunkte finden sich diesbezüglich bereits in der Präambel des EGVertrages, 87 aber auch in Artt. 4 Abs. 1 und 14 Abs. 2 EG. 88 Diese marktöffnende Dimension muss eine binnenmarktfinale Interpretation der Grundfreiheiten berücksichtigen, 89 da die mit dem Rechtsbegriff Binnenmarkt" verbundene Ordnungsvorstellung zugleich einen normativen Auslegungsmaßstab kreiert. Hierüber besteht im Grundsatz Einigkeit; so wird von Vertretern unterschiedlichster dogmatischer Ansätze auf ein Kriterium des Marktzugangs rekurriert, 90 und auch der EuGH verschließt sich dieser Erkennt-

83

Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (646); ders., FS Steindorff, 1229 ff. (1233). Dieser Ansatz geht zurück auf Ipsen, § 28, Rn. 12 mit Verweis auf Carstens, ZaöRV 18 (1958), 459 ff. (460). 84 Ob dem Binnnenmarktbegriff darüber hinaus der Anspruch entnommen werden kann, einen einheitlichen Gemeinschaftsmarkt zu schaffen, ist umstritten. Vgl. einerseits Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 45 f., andererseits Steindorff,\ ZHR 158 (1994), 149 ff. (160). 85 Vgl. dazu den sechsten Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrages: „Beseitigung der Beschränkungen im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr". 86 Vgl. Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (647). 87 Vgl. den zweiten u. sechsten Erwägungsgrund. 88 Vgl. Art. 4 Abs. 1 EG: „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft"; Art. 14 Abs. 2 EG: „Raum ohne Binnengrenzen". Hervorh. d. Verf. 89 Nach Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (646 f.) ist dies die einzige Funktion der Grundfreiheiten. Krit. hierzu Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,43 (Fußn. 150). 90 Vgl. - mit teilweise abweichender Terminologie, aber ohne Unterschied in der Sache - Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, 1997, 50; Becker, EuR 1994, 162 ff. (172 f.);

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

131

nis nicht. 91 An diesem Punkt darf eine Dogmatik der Grundfreiheiten jedoch nicht stehen bleiben. 92 Denn das Kriterium des Marktzugangs ist als solches eine Leerformel, welche sich ohne weitergehende Konkretisierung fur die Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften als wenig hilfreich erweist. 93 Entscheidend für das Verständnis der Grundfreiheiten ist daher die Frage nach der konkreten Reichweite der marktöffnenden Dimension bzw. ihrem materiellen Gehalt.94

Ebenroth, FS Piper, 133 ff. (144); Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (352); Everting , ZLR 1994, 221 ff. (222); van Gerven, Schlussanträge in der Rs. 145/88 (Torfaen Borough Council), Slg. 1989, 3885, Rn. 17; Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 59; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 44; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 122; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 51 ff; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 173; Reich, EuZW 1991, 203 ff. (207 f.); Reuthal, WRP 1997, 1154 ff. (1158); Streinz, Rn. 681a u. 733 a.E.; Tesauro, Schlussanträge in der Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, 6787 ff., Rn. 25 a.E. 91 EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche), Slg. 1979,461, Rn. 48; EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, 1-6097, Rn. 17; EuGH, Rs. C292/92 (Hünermund), Slg. 1993, 1-6787, Rn.21; EuGH, Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995, 1-1621, Rn. 13 u. 20; EuGH, Verb. Rs. C-401/92 u. C402/92 Ο Heukske u. Boermans), Slg. 1994,1-2199, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C-69/93 u. C-258/93 (Punto Casa), Slg. 1994, 1-2355, Rn. 12; EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995, 1-1141, Rn. 37; EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-l 1/94, C-14/94, C-15/94, C-23/94, C24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996, 1-2975, Rn. 13; EuGH, Rs. C-405/98 (Gourmet International Products), Slg. 2001,1-1795, Rn. 18. 92 So aber Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 51 ff. u. 106 f., die von den Begrifflichkeiten der £ec£-Rspr. ausgeht und das Kriterium des Marktzugangs lediglich als Auslegungshilfe für die Termini „Produktmodalitäten" und „Verkaufsmodalitäten" heranzieht, ohne eine weitergehende Konkretisierung vorzunehmen. Wie noch zu zeigen sein wird, verhält es sich nach dem hier vertretenen Ansatz genau umgekehrt: die Keck-Rspr. und damit die Differenzierung zwischen Produktmodalitäten und Verkaufsmodalitäten ist ein judikativer Konkretisierungsmaßstab für das Kriterium des Marktzugangs, wodurch (auch) auf die freiheitliche Komponente der binnenmarktfinalen Interpretation der Grundfreiheiten Bezug genommen wird. 93 Vgl. die Kritik bei Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 ff. (162) mit Verweis auf Roth, Freier Warenverkehr, 1977, 125. Ohne Gehalt bleibt auch die Formulierung, es gehe darum, den Marktzugang „nicht mehr als notwendig zu hemmen"; vgl. Joliet, GRUR Int. 1994, 979 ff. (983). 94 Im Hinblick auf die praktische Prüfung der Grundfreiheiten kommt dieser Diskussion besondere Bedeutung zu, da der Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften bezüglich des Marktzugangskriteriums wenig aussagekräftig ist. *

132

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Marktöffnung bedeutet einen potentiellen Zuwachs zur Gruppe der Wettbewerber. 95 Aus der Perspektive des in den nationalen Teilmarkt drängenden Wirtschaftsteilnehmers erscheint dabei der Eintritt in einen vollständig offenen Markt wünschenswert. 96 Es zeigt sich jedoch, dass die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten eine solche Tiefe nicht erreicht. Restriktionen bestehen in mehrfacher Hinsicht: zunächst durch den Ausschluss rein ökonomischer Marktzugangshemmnisse, zweitens durch die föderale Komponente des Binnenmarktes sowie drittens durch das spezifisch transnationale Element der Marktfreiheit.

(1) Ökonomisch indizierte Hindernisse Der Marktzugang kann sowohl durch ökonomisch indizierte Hemmnisse als auch durch nichtökonomische Ursachen verhindert werden. 97 In die erste Kategorie fallen z.B. - auf die Wirtschaftsleistung bezogenes - mangelndes fachliches Wissen oder fehlendes Kapital. Diese ökonomischen Hemmnisse werden von der marktöffnenden Dimension der Grundfreiheiten nicht erfasst; sie betreffen die vorgelagerte Ebene der individuellen Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsteilnehmers. Die Berücksichtigung jener rein ökonomischer Hindernisse wäre mit den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundlagen der Europäischen Union nicht zu vereinbaren. Denn - anders als im deutschen Verfassungsrecht - 9 8 findet sich im Primärrecht ein ausdrückliches Bekenntnis zur Marktwirtschaft als dem zugrunde liegendem Wirtschaftsmodell. 99 Wesentliches Kennzeichen einer Marktwirtschaft ist jedoch gerade der LeistungsWettbewerb, 100 welcher individuelle ökonomische Markzugangshindernisse unberührt lässt. 101

95

Vgl. Machlup, HdSW, Bd. 12,41. Zur Unterscheidung von offenen und geschlossenen Märkten vgl. nur Siebert, Volkswirtschaftslehre, 2000, 112 f. 97 Ebd. 98 Zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes vgl. BVerfGE 4, 7 (17 f.); 50, 290 (337 ff, 388). 99 Vgl. Arn. 4 Abs. 1 u. 2, 98, 105 EG. 100 Vgl. Kilian, Rn. 202. 101 Dies gilt ungeachtet der primärrechtlich zulässigen Verfälschungen des reinen Leistungswettbewerbs. Vgl. dazu z.B. die genehmigten Unterstützungstarife gem. Art. 76 Abs. 2 EG oder die genehmigten Ausgleichszahlungen nach dem früheren Art. 62 EGKSV. 96

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

133

Besitzt der betreffende Wirtschaftsteilnehmer umgekehrt eine ausreichende individuelle Wettbewerbsfähigkeit, ist es ohne Belang, wo er diese Qualifikation erworben hat. Es kann ihm der Marktzugang in diesem Fall nicht mit der Begründung verwehrt werden, dass ihm die erforderliche Wettbewerbsfähigkeit schon deshalb fehle, weil er diese nicht im Bestimmungsland erworben habe.

(2) Die föderale Komponente des Binnenmarktes Ungeachtet rein ökonomischer Marktzugangshindernisse wird der in den nationalen Teilmarkt drängende Wirtschaftsteilnehmer jede Rechtsordnung, welcher er sich nicht bereits unterworfen hat, in ihrer Gesamtheit als Hemmnis des Marktzugangs empfinden. 102 Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs wäre die Marktfreiheit nur verwirklicht, wenn im gesamten Wirtschaftsraum einheitliches Sachrecht oder die konsequente Anwendung des Herkunftslandprinzips gelten würde. 103 Die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten erfährt hier indes eine weitere Einschränkung. Entscheidend ist dabei das Erkennen einer föderalen Komponente des Binnenmarktes. 104 Hierzu hilft ein Blick auf die binnenmarktfunktionale Vorschrift des Art. 95 EG. Eine Ermächtigung zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Sinne eines europaweit einheitlichen Sachrechts ist von Art. 95 EG nicht umfasst. 105 Auch lässt diese Vorschrift Bedenken gegen die konsequente Anwendung des Herkunftslandprinzips erkennen. 106 Zunächst normiert Art. 95 Abs. 3 EG die materiellrechtliche Verpflichtung, in den dort genannten Bereichen von

102

In der europarechtlichen Praxis führte diese Sichtweise bekanntlich zu weitgehenden Vorlagefragen nationaler Gerichte; vgl. beispielhaft EuGH, Rs. 145/88 (Torfaen Borough Council), Slg. 1989, 3885; EuGH, Rs. C-312/89 (Conforama), Slg. 1991, I997; EuGH, Rs. C-l69/91 (Stoke on Trent), Slg. 1993, 1-6635; EuGH, Rs. C-93/92 (CMC Motorradcenter), Slg. 1993, 5009. 103 Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,46. 104 Vgl. in diesem Zusammenhang Ehricke, WuW 1994, 108 ff. (114); Everling, ZLR 1994, 221 ff. (221 f. u. 230); Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 59; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 212 m.w.N.; Reich, EuZW 1991, 203 ff. (207). 105 Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 6 m.w.N. 106 Für eine strikte Anwendung des Herkunftslandprinzips als kennzeichnendes Element des Binnenmarktes aber Behrens, EuR 1992, 145 ff. (156); Donner, SEW 1982, ZHR 158 (1994), 149 ff. 362 ff. (363); Langer, ZG 1993, 193 ff. (200); Steindorff (163 ff.).

134

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

einem hohen Schutzniveau auszugehen.107 Wird jedoch das Herkunftslandprinzip strikt angewandt,108 besteht die Gefahr einer Nivellierung jenes Schutzniveaus auf dem niedrigsten Standard; das Herkunftslandprinzip ist daher bereits mit Art. 95 Abs. 3 EG nicht ohne weiteres vereinbar. 109 Entscheidender ist allerdings die in Art. 95 Abs. 4 und 5 EG vorgesehene Möglichkeit des opting out der Mitgliedstaaten im Rahmen des Rechtsangleichungsprozesses. Danach ist es trotz einer bestehenden Harmonisierungsmaßnahme zulässig, einzelstaatliche Bestimmungen beizubehalten bzw. einzuführen, welche über Art. 95 Abs. 4 EG gerechtfertigt sind bzw. gemäß Art. 95 Abs. 6 EG durch die Kommission gebilligt werden. 110 Hier wird unmittelbar anhand des Vertragstextes deutlich, dass der Binnenmarkt nicht mit dem Herkunftslandprinzip gleichgesetzt werden darf. 111 Denn in der ausnahmslosen Anwendung dieses Prinzips sind verbleibende einzelstaatliche Regelungen (des Bestimmungslandes) nicht vorgesehen. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch auf die in Art. 95 Abs. 10 EG normierte Schutzklauselbestimmung zu verweisen, welche neben Art. 95 Abs. 4 und 5 EG Anwendung findet; 112 auch hierin kommt die föderale Komponente des Binnenmarktes zum Ausdruck. Im Erkennen einer solchen föderalen Komponente liegt zugleich eine Einschränkung der marktöffnenden Dimension der Grundfreiheiten. Den Mitgliedstaaten müssen danach auch im binnenmarktfunktionalen Bereich bestimmte Regelungskompetenzen verbleiben. Diese schließen es aus, dass sich ein Wirtschaftsteilnehmer in jedem Fall auf die Grundfreiheiten berufen kann, nur weil er im Rahmen seiner Leistungserbringung der Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates unterliegt. Zur Bestimmung der konkreten Reichweite der Marktfreiheit ist daher ein Ausgleich zwischen den binnenmarktfunktionalen

107

Vgl. dazu Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 16. Auf die im Einzelnen ungelösten Fragen hinsichtlich der Orientierung am Herkunftslandprinzip soll nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu Steindorff, FS Lorenz, 561 ff. (570 f.). 109 Ebenso i.E. Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 55 f. 110 Mit der Neufassung von Art. 95 Abs. 4 u. 5 EG werden diesbezügliche Unklarheiten des früheren Art. 100a Abs. 4 EGV nunmehr beseitigt; vgl. dazu nur Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 53 ff.; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 29 ff., jeweils m.w.N. 111 Wenn man stattdessen - wie beispielsweise Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 ff. (160) - einen „unvollkommenen Binnenmarkt" konstatiert, so ist dies lediglich eine Folge unterschiedlicher Perspektiven. Nach dem hier vertretenen Verständnis ist der europäische Binnenmarkt a priori nicht vollkommen i.S.e. strikten Geltung des Herkunftslandprinzips. Vgl. dazu auch Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 186: „kontrollierter Binnenmarkt". 112 Vgl. zu Letzterem nur Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 45 m.w.N. 108

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

135

Rechtssetzungskompetenzen der Mitgliedstaaten und dem zugleich geforderten hohen Integrationsniveau zu finden. 113 Hinsichtlich dieses Ausgleichs finden sich keine ausdrücklichen Vorgaben im Vertragstext. Vorliegend wird die These aufgestellt, dass sich die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten darin erschöpft, dass der Wirtschaftsteilnehmer seine Leistung auf dem nationalen Teilmarkt anbieten kann. Der Weitervertrieb bzw. die Marktetablierung wird hiervon nicht mehr erfasst; diese Aspekte betreffen eine der grundfreiheitlich geschützten Tätigkeit nachgelagerte Ebene. Indem allein auf das Anbieten einer Wirtschaftsleistung abgestellt wird, kann bereits eine wesentliche Abschichtung nicht erfasster Stufen der Marktteilnahme erreicht werden. Es bleibt die Notwendigkeit einer weiteren Konkretisierung des entscheidenden Begriffs des ,Anbietens"; auch ist anschließend eine Überprüfung der hier vorgeschlagenen These anhand der Judikatur des EuGH vorzunehmen. Bereits im Rahmen dieser abstrakten Ausführungen wird allerdings deutlich, dass eine solche Restriktion der marktöffnenden Dimension der Grundfreiheiten durchaus sachgerecht ist. Dies zeigt sich insbesondere bei den Personenverkehrsfreiheiten; dort begibt sich der Wirtschaftsteilnehmer freiwillig und dauerhaft in einen anderen Mitgliedstaat und unterwirft sich somit einem neuen Regelungsregime. 114

(3) Restriktion

durch grenzüberschreitenden

Bezug

Schließlich wird die Marktfreiheit im europäischen Binnenmarkt noch durch ein spezifisch transnationales Kriterium eingeschränkt. 115 Der Zugang zum nationalen Teilmarkt kann einem Wirtschaftsteilnehmer zwar auch bei reinen Inlandssachverhalten versperrt sein; 116 das binnenmarktbezogene Element der Marktfreiheit wird jedoch von solchen Fällen ohne jeglichen grenzüberschreitenden Bezug nicht tangiert. 117 Dies zeigt die Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 lit. c EG, welche bereits oben als Ausgangspunkt für eine binnenmarktfinale Inter-

113

Vgl. Ehricke, WuW 1994, 108 ff. (114); Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (19). Zutreffend Streinz, Rn. 678. 115 Vgl. Ebenroth, FS Piper, 133 ff. (144 ff.). 1,6 So z.B., wenn spanischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Spanien der Zugang zum spanischen Dienstleistungsmarkt aufgrund einer spanischen Vorschrift verwehrt wird, wenn jene nicht die notwendigen Befähigungsnachweise besitzen; vgl. dazu EuGH, Verb. Rs. C-330/90 u. C-331/90 (Lopez Brea u. Hidalgo Palacios), Slg. 1992,1323, Rn. 2 f. 117 Ähnlich der Gerichtshof im oben zitierten Beispielsfall, vgl. EuGH, Verb. Rs. C330/90 u. C-331/90 (Lopez Brea u. Hidalgo Palacios), Slg. 1992,1-323, Rn. 9. 114

136

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

pretation genannt wurde. 118 Danach ist der Binnenmarkt durch die Beseitigung der Hindernisse fur den Wirtschaftsverkehr „zwischen den Mitgliedstaaten" gekennzeichnet. In gleicher Weise ergeben sich Restriktionen für die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten. 119 Auch diese knüpfen bereits ihrem konkreten Wortlaut nach an grenzüberschreitende Sachverhalte an. 120 Bestätigt wird dies durch die systematische Verknüpfung der Grundfreiheiten mit dem Binnenmarktziel, insbesondere durch Art. 3 Abs. 1 lit. c EG. Der grenzüberschreitende Bezug ist somit notwendiger Bestandteil der grundfreiheitlichen Prüfung. 121

(4) Zwischenergebnis Bevor im Folgenden auf die Marktgleichheit als das zweite kennzeichnende Element des Binnenmarktes eingegangen wird, sollen die obigen Ausführungen zur Marktfreiheit kurz zusammengefasst werden. Mit dem binnenmarktbezogenen Begriff der Marktfreiheit wird der Zugang zu den nationalen Teilmärkten in seiner öffnenden Funktion angesprochen. Der Marktzugang ist für den Wirtschaftsteilnehmer kein zeitlich und räumlich fixiertes Ereignis; er stellt sich vielmehr als Prozess dar. Es ist daher nicht ausreichend, allein auf den Terminus des Marktzugangs als Anwendungskriterium der Grundfreiheiten zu rekurrieren, ohne eine weitere Konkretisierung vorzunehmen. Nach der hier vertretenen Auffassung wird von den grundfreiheitlichen Vorschriften lediglich ein Ausschnitt jenes Marktzugangsprozesses erfasst. Die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten erschöpft sich darin, dem in den nationalen Teilmarkt drängenden Wirtschaftsteilnehmer das Recht zu vermitteln, seine Wirtschaftsleistung in diesem Teilmarkt anbieten zu können. Diesem Anbieten der Leistung vor- und nachgelagerte Aspekte bleiben außer Betracht; das gleiche gilt für Marktzugangshindernisse, welche reine Inlandssachverhalte betreffen, also keinerlei grenzüberschreitenden Bezug aufweisen.

1,8 119 120

Siehe oben Α. I. l.a), S. 114. Diff. dazu Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (650 f.). Vgl. Streinz, Rn. 683 mit Hinweis auf Artt. 28, 43 Abs. 1, 49 Abs. 1 u. 56 Abs. 1

EG. 121

Nachweise zur Rechtsprechung oben 2. Kapitel, Fußn. 278.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

137

bb) Marktgleichheit Der notwendige Marktzugang soll dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer nicht nur in seiner Absolutheit eröffnet werden, 122 sondern wird auch durch einen modalen Aspekt näher bestimmt. In der Beantwortung der Frage nach dem „Wie" des Marktzugangs liegt die funktionale Bedeutung der Marktgleichheit als dem zweiten charakteristischen Element des Binnenmarktes. 123 Diese ist auf die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen gerichtet, soll also Wettbewerbsneutralität innerhalb der Ordnung des Binnenmarktes sicherstellen. 124 Einen primärrechtlichen Anhaltspunkt liefert Art. 14 Abs. 2 EG mit seinem Verweis auf den normativen Funktionsrahmen des EG-Vertrages. 125 Ausprägungen des binnenmarktbezogenen Elements der Marktgleichheit sind in den Vorschriften der Artt. 12, 34 Abs. 2 UAbs. 2, 76, 87 und 90 EG zu erkennen; vor allem aber ist auf das Instrumentarium der Rechtsangleichung nach Artt. 94 und 95 EG zu verweisen. 126 Daneben werden gleiche Teilmarktbedingungen erreicht, wenn nationale Regelungen des Wirtschaftsverkehrs diskriminierungsfrei angewendet werden. Der Aspekt der Marktgleichheit berührt mithin auch die Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften, soweit diese als Diskriminierungsverbote ausgestaltet sind. 127 Damit wird jenes Strukturelement des Binnenmarktes für die vorliegende Arbeit interessant.

122 Siehe dazu die obigen Ausführungen zur Marktfreiheit. Nach a.A. wird ein absoluter Gehalt der Marktzugangsrechte auch mit Blick auf das binnenmarktbezogene Element der Marktfreiheit abgelehnt, vgl. etwa Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EGVertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,44. 123 Vgl. Grabitz, FS Steindorff, 1229 ff. (1233). 124 Borchardt, 208; Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (646); Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 60; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,44. 125 Dazu bereits oben 1, bei Fußn. 50. Darüber hinaus wird z.T. auch Art. 3 Abs. 1 lit. c EG als Grundlage für die Wettbewerbsgleichheit herangezogen; vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,45 mit Hinweis auf Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (32). 126 Vgl. Borchardt, 208 f.; Grabitz, FS Steindorff, 1229 ff. (1236 f.). 127 A.A. offenbar Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (646 f.), der die Grundfreiheiten lediglich mit dem Aspekt der Marktfreiheit verknüpft, dem Element der Marktgleichheit hingegen nur andere Normkomplexe des EG-Vertrages zuordnet. Vgl. aber auch Grabitz, FS Steindorff, 1229 ff. (1236). Gegen eine Ausblendung der Grundfreiheiten in der Perspektive der Marktgleichheit zu Recht Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 43 (Fußn. 150).

138

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Mit der Komponente der Marktgleichheit ist gegenüber den obigen Ausführungen zur Marktfreiheit eine qualitativ andere Dimension der Grundfreiheiten angesprochen. Es geht nicht mehr um die Gewährleistung eines absoluten Rechts auf Eröffnung des Marktzugangs; die hier zu behandelnde Dimension der Grundfreiheiten erfasst vielmehr die Modalitäten des Marktzugangs des einzelnen Wirtschaftsteilnehmers im Verhältnis zu potentiellen Wettbewerbern. Die Marktgleichheit im Binnenmarkt besitzt somit eine relative Struktur. Allen Wirtschaftsteilnehmern soll der Zugang zum Markt in gleicher Weise ermöglicht werden. Im Anwendungsfeld der Grundfreiheiten wird dabei auf die Schaffung eines einheitlichen europäischen Sachrechts verzichtet. 128 Dies macht es erforderlich, einen geeigneten Maßstab für den gleichen Marktzugang zu entwickeln. Hierin liegt die besondere Bedeutung des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs. 129 Weitergehende Formen der Verwirklichung der Marktgleichheit ergeben sich über die Rechtsangleichung gemäß Artt. 94 f. EG. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Anwendung der Grundfreiheiten nicht unter dem Vorbehalt einer vorherigen Angleichung nationaler Rechtsvorschriften steht. 130 Umgekehrt wird die Rechtsangleichung über Art. 95 EG nicht dadurch ausgeschlossen, dass die entsprechende nationale Maßnahme nicht dem Anwendungsbereich einer Grundfreiheit unterliegt. 131 Die gegenteilige Argumentation verkennt, dass mit dem Instrumentarium der Rechtsangleichung gerade ein höherer Grad der Marktgleichheit verwirklicht werden soll als dies über die Geltung der Grundfreiheiten geschieht.132 Auch differenziert die Gegenansicht nicht hinreichend zwischen den unterschiedlichen Dimensionen der Grundfreiheiten, welche von den Elementen der Marktfreiheit einerseits und der Marktgleichheit andererseits angesprochen werden. 133 Insgesamt verbleiben für den

128

Hierin liegt der wesentliche strukturelle Unterschied zwischen den Grundfreiheiten und den Rechtsangleichungsvorschriften. 129 Vgl. zum Diskriminierungsbegriff ausführlich bereits oben 2. Kapitel, S. 62 ff. 130 EuGH, Rs. 193/80 (Kommission/Italien), Slg. 1982, 3019, Rn. 17. Diese Aussage ist im Grunde trivial; dennoch wurde im zitierten Verfahren von der italienischen Regierung Gegenteiliges vertreten. 131 So aber Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 62 im Hinblick auf einen möglichen Ausschluss von „Verkaufsmodalitäten" aus dem Anwendungsbereich von Art. 28 EG. 132 Vgl. Grabitz, FS Steindorff, 1229 ff. (1236). 133 Die von Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 62 angesprochenen „Verkaufsmodalitäten" nach der Konzeption Whites , CMLRev. 1989, 235 ff. betreffen den Versuch einer Einschränkung der marktöffhenden Dimension der Grundfreiheiten i.S.d. Marktfreiheit, nicht aber den Aspekt der Marktgleichheit.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

139

Bereich der Rechtsangleichung gerade diejenigen Materien, für welche die Grundfreiheiten kein Verbot normieren. 134 Der funktional auf den Binnenmarkt begrenzte Anwendungsbereich von Art. 95 EG fuhrt mithin nicht dazu, dass dem Verbot der Grundfreiheiten nicht unterliegende Maßnahmen auch einer Rechtsharmonisierung nach Art. 95 EG unzugänglich wären. Gegenüber der marktöffnenden Dimension der Grundfreiheiten im Sinne der (absolut wirkenden) Marktfreiheit stellt sich im Rahmen der (relativ wirkenden) Marktgleichheit nicht das Problem der konkreten Reichweite bzw. Tiefe. Die hier relevante Frage nach dem Modus des Marktzugangs verlangt lediglich einen horizontalen Maßstab. 135 Gleichwohl gilt in Bezug auf die Marktgleichheit des Binnenmarktes eine der Marktfreiheit entsprechende Restriktion. Der bestimmte Modus des Marktzugangs wird von den Grundfreiheiten nur in dem Fall sichergestellt, wenn der Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist. Dies ergibt sich aus der - den Binnenmarkt in seiner Gesamtheit ansprechenden - Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 lit. c EG sowie aus dem Wortlaut der Grundfreiheiten, welche diesbezüglich nicht zwischen Marktfreiheit und Marktgleichheit differenzieren. Insofern gelten die obigen Ausführungen zur Marktfreiheit mutatis mutandis für das hier diskutierte Element der Marktgleichheit. 136

b) System unverfälschten Wettbewerbs Als drittes Strukturelement des Binnenmarktes bzw. des Gemeinsamen Marktes wird häufig ein System unverfälschten Wettbewerbs genannt.137 Ohne die Absicherung des durch die Verwirklichung von Marktfreiheit und Marktgleichheit erzielten potentiellen Wettbewerbs der Wirtschaftsteilnehmer bliebe die Binnenmarktkonzeption auf halbem Wege stehen. In jener Sicherungsfunktion besteht die besondere Bedeutung des Systems unverfälschten Wettbewerbs für den Binnenmarkt. 138 Dieser ökonomische Gesichtspunkt wird primärrecht-

134

Vgl. Streinz,, Rn. 956. Dazu bereits oben bei Fußn. 129 sowie eingehend die Ausführungen im 2. Kapitel, S. 62 ff. 136 Vgl. dazu oben aa) (3), S. 135. 137 Vgl. Bardenhewer/PipJcorn, in: GTE, Art. 7a, Rn. 34; Borchardt, 209; Grabitz, FS Steindorff, 1229 ff. (1233); ders., FS Ipsen, 645 ff. (646); Hatje, in: Schwarze, Art. 14 EGV, Rn. 10; Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 63; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 EGV, Rn. 20; Mestmäcker, FS Böhm, 345 ff. (348); 1997, 63; Huber, § 17, Rn. 27; a.A. Everting, FS Steindorff, 1155 ff. (1170 f.). 138 Dazu Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (647); Mestmäcker, FS Böhm, 345 ff. (353). 135

140

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

lieh insbesondere über die Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 lit. g EG zum Ausdruck gebracht, 139 welche den Binnenmarkt mit dem Wettbewerbssystem des EGVertrages verknüpft. 140 Damit ist der Schutz vor Wettbewerbsverfälschungen zwar systemimmanenter Bestandteil der Binnenmarktkonzeption; dennoch ist dieses Strukturelement des Binnenmarktes von den Grundfreiheiten grundlegend zu unterscheiden. 141 Während die binnenmarktbezogenen Aspekte der Marktfreiheit und Marktgleichheit die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften direkt beeinflussen, 142 steht das System unverfälschten Wettbewerbs in der Binnenmarktkonzeption gleichsam neben den Grundfreiheiten. 143 Hierfür spricht zunächst ein rein formales Argument. Denn in Abgrenzung zu den in Artt. 3 Abs. 1 lit. c und 14 Abs. 2 EG genannten Grundfreiheiten unterstreicht Art. 3 Abs. 1 lit. g EG die gesonderte Bedeutung des Wettbewerbssystems für den Binnenmarkt. 144 Entscheidend für die grundsätzliche Trennung von Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln ist jedoch deren unterschiedliche strukturelle Ausrichtung. Zunächst besitzen die grundfreiheitlichen Vorschriften und die Artt. 81 ff. EG zumindest ihrem Wortlaut nach eine andere Adressatenrichtung. Während Letztere sich unmittelbar an Unternehmen richten, 145 sind Adressaten der Grund-

139

Weitere Anknüpfungspunkte für die Einbindung des Wettbewerbssystems in den Binnenmarkt bzw. den Gemeinsamen Markt sind z.B. Artt. 296 Abs. 1 lit. b, 298 EG sowie der vierte Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrages. 140 Näher Hatje, in: Schwarze, Art. 3 EGV, Rn. 13 f.; Zuleeg, in: GTE, Art. 3, Rn. 7 m.w.N. 141 Vgl. auch Basedow, FS Mestmäcker, 347 ff. (353 f.); Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (646 f.); Hatje, in: Schwarze, Art. 14 EGV, Rn. 10; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 99 f.; Steindorff Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990, 98; Veelken, EWS 1993, 377 ff. (382 ff.). 142 Siehe oben a), 129 ff. 143 A.A. Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 65, wonach „Art. 30 EGV [jetzt Art. 28 EG] [...] die Aufgabe zukommt, ein System des unverfälschten Wettbewerbs für den grenzüberschreitenden Warenverkehr zu errichten." Vgl. auch Nicolaysen, EuR 1991, 95 ff. (102 ff.). 144 Bestätigt wird dies durch die unterschiedliche Bezugnahme auf Grundfreiheiten und Wettbewerbssystem im vierten und sechsten Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrages. 145 Vgl. Weiß, in: Calliess/Ruffert, Art. 81 EGV, Rn. 13 ff. Eine Ausnahme bildet freilich Art. 86 Abs. 1 EG. Die dort normierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist jedoch nur eine notwendige Ausweitung des Adressatenkreises für den Fall, dass der Staat beherrschenden Einfluss auf ein Unternehmen ausübt. Indem

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

141

freiheiten primär die Mitgliedstaaten. 146 Damit wird zugleich deutlich, dass sich Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln hinsichtlich ihrer kompetentiellen Konsequenzen maßgeblich unterscheiden. Die grundfreiheitlichen Vorschriften begrenzen originär den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten; 147 demgegenüber besteht im System der Wettbewerbsregeln die Besonderheit einer grundsätzlichen Parallelität von nationalem und europäischem Kartellrecht. 148 Die prinzipielle Unterscheidung zwischen den Grundfreiheiten einerseits und dem System unverfälschten Wettbewerbs als dem dritten Strukturelement des Binnenmarktes andererseits besagt allerdings nicht, dass dem Grundsatz der Wettbewerbsneutralität im Hinblick auf die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften keinerlei Bedeutung zukommt. 149 So können Verfälschungen des Wettbewerbs beispielsweise durch diskriminierende nationale Regelungen des Wirtschaftsverkehrs eintreten, 150 weshalb das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot mithin auch Schutz vor Wettbewerbsbeschränkungen bietet. Nur wird die primärrechtliche Forderung nach einem unverfälschten Wettbewerb im Hinblick auf die Grundfreiheiten bereits über den Aspekt der Marktgleichheit hinreichend berücksichtigt. 151 Des gesonderten Rückgriffs auf das System unverfälschten Wettbewerbs bedarf es insoweit nicht. Zugleich zeigen diese Betrachtungen aber auch die engen funktionalen Verschränkungen zwischen den einzelnen Strukturelementen des Binnenmarktes. 152

Art. 86 Abs. 1 EG auf das unternehmerische Handeln des Staates Bezug nimmt, fügt sich auch diese Vorschrift widerspruchslos in die genannte Struktur der Artt. 81 f. EG. 146 Inwieweit die Grundfreiheiten über ihren Wortlaut hinaus auch private Rechtssubjekte verpflichten, bleibt an dieser Stelle außer Betracht. 147 Dazu sogleich unten II. 148 Näher Weiß, in: Calliess/Ruffert, Art. 81 EGV, Rn. 16 ff. 149 Vgl. auch Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,43. 150 Vgl. Everting, , EuR 1982, 301 ff. (303). 151 Die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten i.S.d. Marktfreiheit kann hier nicht herangezogen werden, denn der Schutz vor Wettbewerbsverfälschungen setzt begrifflich das Bestehen eines potentiellen Wettbewerbs voraus. Der Vollzug der Marktfreiheitsrechte eröffnet jedoch erst die Wettbewerbsmöglichkeit des in den Markt drängenden Wirtschaftsteilnehmers. 152 Dazu Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (647).

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3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

c) Zusammenfassung In einer bildhaften Umschreibung des Binnenmarktes wird dessen Konstruktion von drei tragenden Säulen bestimmt. Sie lassen sich als Marktfreiheit, Marktgleichheit sowie ein System unverfälschten Wettbewerbs kennzeichnen. Alle drei Strukturelemente weisen untereinander Überschneidungen und enge funktionale Bezüge auf; das Fehlen einer dieser Komponenten nimmt den anderen ihre Tragkraft. Während mit dem System unverfälschten Wettbewerbs auf die besonderen Bestimmungen der Artt. 81 ff. EG Bezug genommen wird, berühren die Aspekte der Marktfreiheit und Marktgleichheit maßgeblich die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften. Innerhalb des Marktzugangsprozesses wird mit der marktöffnenden Dimension der Grundfreiheiten im Sinne der Marktfreiheit ein absoluter Gewährleistungsgehalt angesprochen, welcher in seiner Reichweite begrenzt ist. Bezogen auf die Marktgleichheit vermitteln die Grundfreiheiten dagegen einen relativen Maßstab für den Marktzugang. Die genannten binnenmarktbezogenen grundfreiheitlichen Funktionen werden durch das Instrumentarium der Rechtsangleichung gemäß Art. 95 EG ergänzt und erweitert; 153 dies betrifft sowohl die Marktfreiheit als auch die Marktgleichheit. Schließlich ist ein die Elemente der Marktfreiheit und Marktgleichheit übergreifendes, diese gleichsam einschränkendes Kriterium zu berücksichtigen. Es handelt sich hierbei um das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs, welches als spezifisch transnationales Element in eine Dogmatik der Grundfreiheiten einzufügen ist.

4. Zwischenergebnis Die Betrachtung des ersten von drei wichtigen Prinzipien des EG-Vertrages, in welche die Grundfreiheiten eingebettet sind, soll hiermit abgeschlossen werden. Die vorangegangenen Ausführungen lassen die besondere Bedeutung der Binnenmarktkonzeption als Interpretationsansatz für die grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages erkennen, wobei sich schon an dieser Stelle bedeutende Weichenstellungen für das - noch zu konkretisierende - strukturelle Verständnis der Grundfreiheiten andeuten.

153

Die Vertragssystematik offenbart dabei ein grundsätzliches Nebeneinander von Grundfreiheiten und Rechtsangleichung; vgl. nur Art. 3 Abs. 1 lit. h EG ggü. Art. 3 Abs. 1 lit. c EG.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

143

Wesentlich für eine Dogmatik der Grundfreiheiten ist dabei zunächst die Erkenntnis der eigentümlichen Wechselwirkung zwischen dem Binnenmarkt als Rechtsbegriff einerseits und den Grundfreiheiten andererseits. 154 Die Diskussion der Entwicklung des Binnenmarktziels hat gezeigt, dass hierbei auf wesentliche Strukturelemente des Gemeinsamen Marktes (Marktfreiheit, Marktgleichheit, System unverfälschten Wettbewerbs) zurückgegriffen werden kann. 155 Die anschließende genauere Untersuchung des Inhalts der Binnenmarktkonzeption offenbarte Anhaltspunkte für eine grundsätzlich zweifache Ausrichtung der Grundfreiheiten. 156 Dieser Entwicklungslinie soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. Insbesondere wird zu untersuchen sein, ob bzw. inwieweit sich die beiden angesprochenen Dimensionen der Grundfreiheiten gegenseitig beeinflussen. Auch sind die Ausführungen zur Reichweite eines möglichen absoluten Gehalts der Grundfreiheiten zu konkretisieren. Dabei soll zunächst auf die kompetentielle Ordnung des EG-Vertrages näher eingegangen werden.

II. Kompetenzfragen Neben der Binnenmarktkonzeption bildet die Kompetenzordnung im Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht einen zweiten, das gesamte materielle EG-Recht übergreifenden Aspekt. Die Einbettung der Grundfreiheiten in das teleologisch-systematische System des EGVertrages kann nur dann umfassend dargestellt werden, wenn auch kompetentielle Fragestellungen angesprochen werden. 157 Hierbei ist eine vertikale und eine horizontale Betrachtungsebene zu unterscheiden. 158 Letztere betrifft die funktionale Aufteilung zwischen den Gemeinschaftsorganen; 159 in der vorlie-

154

Dazu oben 1, S. 122 f. Dazu oben 2, S. 123 ff. 156 Dazu oben 3., S. 129 ff. 157 Vgl. daher auch die Ausführungen bei Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 90 ff. und Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 203 ff. 158 Zu dieser Differenzierung vgl. die im deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht übliche Trennung von Verbands- und Organkompetenz. 159 Als primärrechtliche Grundnorm des institutionellen Systems dient Art. 7 EG. Zur Einbindung in die übergeordnete Struktur der Europäischen Union siehe Artt. 3 u. 5 EU. 155

144

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

genden Arbeit sollen hingegen allein die Auswirkungen im vertikalen Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten interessieren. 160 Schon die obigen Ausführungen zur Binnenmarktkonzeption offenbarten das Bestehen zweier gegenläufiger Zielverfolgungsstrategien im Hinblick auf die Beseitigung binnenmarktfeindlicher Hemmnisse des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs. 161 Einerseits wird Homogenität im Sinne eines einheitlichen europäischen Marktes angestrebt, 162 andererseits wird über die föderale Komponente des Binnenmarktes die Neutralität gegenüber den nationalen Teilmarktordnungen hervorgehoben. 163 Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich in der vielgestaltigen Kompetenzordnung des Gemeinschaftsrechts wider. Unter Berücksichtigung der zur Binnenmarktkonzeption gewonnenen Erkenntnisse sollen im Folgenden die Verbindungslinien zwischen gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzordnung und grundfreiheitlicher Dogmatik näher untersucht werden. Ausgehend von den primärrechtlichen Vorgaben wird dabei zunächst auf die Vorschrift des Art. 5 EG eingegangen (1.), bevor die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 EG untersucht werden (2.). Die Rechtsangleichungsvorschriften der Artt. 94 und 95 EG bilden den abschließend anzusprechenden Normkomplex im Kompetenzgefüge des EG-Vertrages (3.).

160

Zur Verzahnung horizontaler und vertikaler Kompetenzproblematik vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,37. 161 Siehe oben bei Fußn. 84. 162 Den Zusammenschluss der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt betont der Gerichtshof in ständiger Rspr.; siehe z.B. EuGH, Rs. 78/70 (Tonträger), Slg. 1971, 487, Rn. 12; EuGH, Rs. 192/73 (Hag), Slg. 1974, 731, Rn. 12/13; EuGH, Rs. 31/74 (Galli), Slg. 1975, 47, Rn. 14; EuGH, Rs. 270/80 (Polydor), Slg. 1982, 329, Rn. 16; EuGH, Rs. 15/81 (Schul), Slg. 1982, 1409, Rn. 33; EuGH, Rs. 207/83 (Kommission/ Vereinigtes Königreich), Slg. 1985, 1201, Rn. 17; EuGH, Rs. C-381/93 (Kommission/Frankreich), Slg. 1994, 1-5145, Rn. 17; EuGH, Rs. C-l 18/96 (Safir), Slg. 1998, I1897, Rn. 23. Vgl. auch Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 44; Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff.

(21).

163

Aus der Rechtsprechung etwa EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8; EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 12; EuGH, Rs. 94/82 (De Kikvorsch), Slg. 1983, 947, Rn. 6; EuGH, Rs. 16/83 (Prantl), Slg. 1984, 1299, Rn. 25; EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 28; EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 6. Vgl. auch Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 45; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 87 f.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

1. Die Anforderungen

145

des Art. 5 EG

Art. 5 EG kann angesichts seiner Abstraktheit als eine der grundlegenden kompetenzrechtlichen Normen des EG-Vertrages bezeichnet werden. Die Vorschrift enthält mit der Verankerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EG eine Kompetenzverteilungsregel und stellt über das Subsidiaritätsprinzip sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Art. 5 Abs. 2 bzw. 3 EG Kompetenzausübungsschranken auf. 164 Wenn in Art. 5 EG teilweise nur eine Positivierung des Subsidiaritätsprinzip gesehen wird, 165 stellt dies eine - der differenzierten Normstruktur nicht hinreichend gerecht werdende - verkürzte Sichtweise dar. 166 Die erwähnten drei Grundprinzipien des Art. 5 EG sollen nun im Einzelnen näher betrachtet werden.

a) Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung Zunächst ist auf das Prinzip der begrenzten Ermächtigung einzugehen, welches in Art. 5 Abs. 1 EG normiert ist und durch die Regelung des Art. 308 EG sowie die Lehre der „implied powers" ergänzt wird. 1 6 7

aa) Art. 5 Abs. 1 EG als Ausgangspunkt Nach Art. 5 Abs. 1 EG wird die Gemeinschaft nur innerhalb der Grenzen der ihr im EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. 168 Wird der Gemeinschaft somit im EG-Vertrag keine konkrete Kompetenz zugewiesen, 169 so sind hinsichtlich der betreffenden Materie allein die Mitgliedstaaten handlungsbefugt; insofern dokumentiert Art. 5 Abs. 1 EG eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten.170 Diese Kompetenzverteilungsregel des Art. 5 Abs. 1 EG kann nur von den Mitgliedstaaten geändert werden, wel-

164

Vgl. statt vieler Streinz, Rn. 145 ff. So Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 1 ff. 166 Vgl. auch die Kritik bei Lienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn. 1. 167 Vgl. Langguth, in: Lenz, Art. 5, Rn. 4 ff. 168 Vgl. auf Ebene der Europäischen Union Art. 5 EU. 169 Im Gegensatz zum Grundgesetz enthält der EG-Vertrag keinen ausdrücklichen Kompetenzvertei 1 ungskatal og. 170 Ebenso Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 12; Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff. (175); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 90. 165

10 Mühl

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

146

che allein „Herren der Verträge" geblieben sind. 171 Die Gemeinschaften verfugen mithin nicht über die so genannte Kompetenz-Kompetenz, wodurch sie sich von einem Staat grundlegend unterscheiden. 172

bb) Ergänzungen Hinsichtlich der Frage, ob bzw. inwieweit der Gemeinschaft Handlungskompetenzen zugewiesen sein müssen, ist ergänzend auf die Bestimmung des Art. 308 EG sowie auf die Lehre der „implied powers" zurückzugreifen.

(1) Art. 308 EG Nach Art. 308 EG kann die Gemeinschaft zur Verwirklichung der Ziele im Rahmen des Gemeinsamen Marktes auch dann tätig werden, wenn die hierfür erforderlichen Befugnisse im EG-Vertrag nicht vorgesehen sind. 173 Dies scheint zunächst der Regelung in Art. 5 Abs. 1 EG zu widersprechen. 174 Allerdings lässt sich Art. 308 EG auch widerspruchsfrei in das System des Art. 5 Abs. 1 EG einfügen, wenn man jene Vorschrift als Teil der „zugewiesenen Befugnisse" im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EG interpretiert. 175 Art. 308 EG wird damit integrierender Bestandteil einer auf dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung beruhenden institutionellen Ordnung. 176 Indem diese Vorschrift nicht an einen bestimmten Sachbereich anknüpft, wird zwar eine Sonderstellung gegenüber dem übrigen Kompetenzverteilungssystem des EG-Vertrages geschaf-

171

Vgl. BVerfGE 89,155 (190).

172

Dazu Streinz, Rn. 121.

173 Mit Art. 203 EAGV und dem früheren Art. 95 EGKSV existierten ähnliche Vorschriften für die übrigen Gemeinschaften. 174 So sehen Schweitzer/Hummer, Rn. 339 in Art. 235 EGV (jetzt Art. 308 EG) auch eine Durchbrechung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung. Dagegen Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, 1996, 69; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 91; Schreiber, in: Schwarze, Art. 308 EGV, Rn. 3. 175 176

Vgl. auch Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 16 m.w.N.

So die Formulierung des Gerichtshofs in EuGH, Gutachten 2/94 (EMRK-Beitritt), Slg. 1996,1-1759, Rn. 30.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

147

fen, 177 dennoch wird die Ermächtigung zur Kompetenzerweiterung im Sinne einer Kompetenz-Kompetenz durch Art. 308 EG nicht begründet. 178

(2) Lehre der „ implied powers " Neben der Vorschrift des Art. 308 EG wird auf die Lehre der „implied powers" rekurriert, um Gemeinschaftskompetenzen zu begründen, welche nicht ausdrücklich im Primärrecht genannt sind. 179 Solche „implied powers" lassen sich jedoch nicht als zusätzliche Kompetenzen der Gemeinschaft auffassen; vielmehr muss an bestehende Kompetenzvorschriften des EG-Vertrages angeknüpft werden. 180 Es handelt sich demnach um die Bereitstellung von Hilfskompetenzen,181 wodurch das Prinzip der begrenzten Ermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 1 EG nicht in Frage gestellt wird.

177

Vgl. Grabitz, in: ders./Hilf, Art. 235, Rn. 2 a.E.; Rossi , in: Calliess/Ruffert, Art. 308 EGV, Rn. 3; Schreiber, in: Schwarze, Art. 308 EGV, Rn. 3. 178 Ebenso Grabitz, in: ders./Hilf, Art. 235, Rn. 2; Ipsen, § 20, Rn. 41; Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff. (177); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 90 f.; Rossi , in: Calliess/Ruffert, Art. 308 EGV, Rn. 3; Röttinger, in: Lenz, Art. 308, Rn. 2; Schreiber, in: Schwarze, Art. 308 EGV, Rn. 4. A.A. v. Meibom, NJW 1968, 2165 ff. (2167 a.E.). Vgl. auch die nicht eindeutige Formulierung in BVerfGE 89, 155 (196): „Kompetenzerweiterungsvorschrift". 179 Vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, 1996, 66 f.; Ipsen, §20, Rn. 43; Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff. (176 f.); Schweitzer/Hummer, Rn. 338. Für die frühere EGKS hat der Gerichtshof solche impliziten Kompetenzen neben der damals geltenden Vorschrift des Art. 95 EGKSV angenommen; vgl. EuGH, Rs. 8/55 (Fédération Charbonnière de Belgique), Slg. 1955/56, 297 (312). Hinsichtlich der völkerrechtlichen Vertragsschlusskompetenz der Gemeinschaften vgl. EuGH, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, 263, Rn. 15/19; EuGH, Gutachten 1/76 (Stillegungsfonds), Slg. 1977, 741, Rn. 4 f. 180 Vgl. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 14; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 91. 181 Ähnlich Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff. (176 f.), der die „implied powers" mit einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs bzw. einer Annexkompetenz vergleicht. Vgl. auch Lienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn. 10. 10*

148

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

cc) Konsequenzen für eine Dogmatik der Grundfreiheiten (1) Die föderale Struktur der Gemeinschaft Untersucht man die Auswirkungen des Prinzips der begrenzten Ermächtigung auf die Auslegung der Grundfreiheiten, so ist die erkannte föderale Struktur der Gemeinschaft von besonderer Bedeutung.182 Hierin liegt eine Parallele zu der oben aufgezeigten föderalen Komponente des Binnenmarktes. 183 Die in der Kompetenzverteilungsregel des Art. 5 Abs. 1 EG zum Ausdruck kommende Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten zeigt, dass im europäischen Binnenmarkt das Fortbestehen nationaler Regelungsunterschiede grundsätzlich gebilligt wird. 1 8 4 Innerhalb des oben 185 aufgezeigten Spannungsverhältnisses zwischen der Homogenität im Sinne eines einheitlichen europäischen Marktes und der Teilmarktneutralität genießt Letzteres Vorrang. 186 Hinsichtlich der Auswirkungen auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten ist zwischen den zuvor gebildeten Kategorien der Marktgleichheit und Marktfreiheit zu differenzieren. A u f der (horizontalen) Ebene der Marktgleichheit bedingt das Prinzip der begrenzten Ermächtigung keine Konsequenzen im Hinblick auf die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften. Entscheidend hierfür ist die obige Erkenntnis, dass angesichts der vertikalen Kompetenzstruktur absolute Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Auf der Ebene der Marktgleichheit liefern die Grundfreiheiten über den Diskriminierungsbegriff jedoch lediglich einen relativen Maßstab, wonach nationale Regelungen gegenüber dem grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr neutral zu fassen sind. 187 Den Mitgliedstaaten steht es unter dem Aspekt der Marktgleichheit daher nach wie vor frei, in ihrer Absolutheit uneingeschränkte Anforderungen an die Wirtschaftsteilnehmer im nationalen Markt zu stellen - nur müssen diese diskriminierungsfrei ausgestaltet sein. Hieran änderte sich auch unter Annahme einer

182

Zurföderalen Struktur der Gemeinschaft vgl. auch Everling, FS Doehring, 179 ff. (181 ff.); Kahl, AöR 118 (1993), 414 ff. (416 f.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 26; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001,202; Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, passim. 183 Siehe oben I. 3. a) aa) (2), S. 133 ff. 184 Ebenso Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 ff. (160). 185 Siehe oben bei Fußn. 162 f. 186 I.E. ebenso Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 47. 187 Siehe bereits oben I. 3. a) bb), S. 137.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

149

modifizierten vertikalen Kompetenzverteilungsordnung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nichts. Somit wird deutlich, dass das Prinzip der begrenzten Ermächtigung als Kompetenzverteilungsregel die grundfreiheitliche Ebene der Marktgleichheit nicht erreicht. Anderes gilt unter dem Gesichtspunkt der Marktfreiheit. Über die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten können bestimmte mitgliedstaatliche Anforderungen an die Wirtschaftsteilnehmer in ihrer Absolutheit beschränkt werden. Unter Geltung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung bedingt die lückenhafte vertragliche Kompetenzzuweisung an die Gemeinschaft jedoch das Verbleiben absoluter Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten. Die Kompetenzverteilungsregel des Art. 5 Abs. 1 EG erfordert daher eine Begrenzung der marktöffnenden Dimension der Grundfreiheiten im Sinne der Marktfreiheit. 188 Insoweit werden die obigen Ausführungen zur Binnenmarktkonzeption bestätigt. 189 Hierdurch ist noch keine Aussage darüber getroffen, wie weit die notwendige Restriktion dieser grundfreiheitlichen Dimension reicht; allerdings kann allein über die abstrakte gemeinschaftsrechtliche Kompetenzverteilungsordnung eine solche Grenzziehung im Detail auch nicht erwartet werden. 190 Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, die im vorangegangenen Abschnitt zur Binnenmarktkonzeption gewonnenen Erkenntnisse zu konkretisieren. 191 Ausgehend von der Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten lässt sich die Behauptung aufstellen, dass es den Mitgliedstaaten im Grundsatz erlaubt sein muss, Anforderungen an die Wirtschaftsteilnehmer im nationalen Markt zu stellen. Hieraus kann eine Beweislastregel abgeleitet werden, wonach zumindest die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten eine entsprechende mitgliedstaatliche Regelung im Zweifel nicht verbietet. Darüber hinaus ergeben sich Konsequenzen für die Kontrolldichte innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung. Diese ist insofern eingeschränkt, als die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten im Sinne der Marktfreiheit berührt wird. Als Anknüpfungspunkt für eine solche geringere Kontrolldichte bietet sich innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten die Rechtfertigungsebene an; dies wird innerhalb der späteren Ausführungen, insbesondere bei der

188

Vgl. allg. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 99. 189 Siehe oben I. 3. a) aa) (2), S. 133. 190 Dieser Erwartungshorizont relativiert den von Kingreen konstatierten „ernüchternden Befund" hinsichtlich der Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzverteilungsregeln in eine Dogmatik der Grundfreiheiten; vgl. dazu Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 99. 191 Siehe wiederum oben I. 3. a) aa) (2), S. 133.

150

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Diskussion um einen einheitlichen Rechtfertigungsstandard, zu berücksichtigen sein.

(2) Rückwirkung der Grundfreiheiten auf die Kompetenzverteilungsordnung Zuvor wurden die Auswirkungen des Prinzips der begrenzten Ermächtigung auf die Grundfreiheiten untersucht. In gleicher Weise wirken die Grundfreiheiten jedoch auch auf die Kompetenz Verteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zurück. Hierdurch wird die Qualifizierung der Grundfreiheiten als Kontrollkompetenz der Gemeinschaft angesprochen, 192 welche im vorliegenden Zusammenhang mit der vertikalen Kompetenzverteilungsordnung des Art. 5 Abs. 1 EG behandelt werden soll. Kingreen trifft die Aussage, dass ein grundfreiheitenbezogenes Urteil des EuGH die vertikale Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten überhaupt nicht berühre. 193 Dies lässt in seiner Absolutheit falsche Rückschlüsse auf das Verständnis der Grundfreiheiten zu. Hier gilt es vielmehr, drei Problemkreise auseinander zu halten. Zunächst ist der Hinweis auf Judikativakte des EuGH irreführend. Denn eine etwaige Verbotswirkung der Grundfreiheiten ist nicht von einem entsprechenden Urteil des EuGH abhängig; die betreffende nationale Maßnahme ist ipso iure zulässig bzw. unzulässig.194 Richtig ist sodann die Erkenntnis des bloßen Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht. 195 Dies ändert indes nichts daran, dass der mitgliedstaatliche Kompetenzbereich durch materielles Gemeinschaftsrecht, hier die Geltung der Grundfreiheiten, eingeschränkt wird. 1 9 6 Frag-

192

Vgl. dazu Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 26. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 99. 194 Insoweit hat ein entsprechendes Urteil des EuGH lediglich deklaratorischen Charakter. Für die Klagen aus Artt. 226, 227 EG ergibt sich dies bereits aus Art. 228 Abs. 1 EG. Nichts anderes gilt für die praxisrelevante Vorabentscheidung; vgl. Art. 234 Abs. 1 lit. a EG. 195 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 99 (Fußn. 134). Zum gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang vgl. nur Streinz, Rn. 200 m.w.N. 196 Vgl. Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff. (194); Streinz, Rn. 137. Gegen einen materiellrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten allerdings Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000,44. 193

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

151

lieh ist allein, wie diese Kompetenzeinschränkung der Mitgliedstaaten innerhalb der kompetentiellen Begriffssystematik (Kompetenzverteilung 197, Kompetenzausübung198, Kompetenz sui generis 199) einzuordnen ist. 200 Nach dem hier vertretenen Verständnis erscheint die Einordnung in die gemeinschaftsrechtliche Kompetenzverteilungsstruktur sachgerecht. 201 Im Gesamtkomplex der Handlungsspielräume von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gibt es keinen kompetenzfreien Raum. Wenn den Mitgliedstaaten nun für einen bestimmten Regelungsbereich über die Anwendung grundfreiheitlicher Vorschriften die Handlungsmöglichkeit genommen wird, verbleibt ein entsprechender Kompetenzbereich auf Gemeinschaftsebene. 202 Damit wird, soweit der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts reicht, die Rechtssetzungsbefugnis allein auf die gemeinschaftliche Ebene gehoben. Auch wenn man mit Calliess die Grundfreiheiten einer eigenständigen Kategorie der Kontrollkompetenzen der Gemeinschaft zuordnete, auf welche Art. 5 EG sachlogisch keine Anwendung finden könne, 203 ändert dies nichts an den dargestellten Auswirkungen der Grundfreiheiten auf die vertikale Kompetenzverteilungsstruktur. 204

197

So Bleckmann, Rn. 740; Streinz, Rn. 137. So Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff. (194). 199 Vgl. z.B. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 26 a.E. 200 Nicht verwechselt werden darf dies mit der Sperrwirkung gesetzten Gemeinschaftsrechts ähnlich der aus dem amerikanischen Recht stammenden „pre-emtion"Lehre; vgl. dazu Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 31; Jarass, AöR 121 (1996), 173 ff. (188 f.). 201 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 99 f. hingegen negiert die kompetenzeinschränkende Wirkung der Grundfreiheiten als solche und weist lediglich auf einen faktischen Zwang der Mitgliedstaaten zur Kooperation und Koordination hin. 202 Zur Verdeutlichung sei beispielhaft auf das deutsche „Reinheitsgebot für Bier" verwiesen. Eine nationale Regelung wie die §§ 9, 10 BierStG a.F. wurde bekanntlich für unvereinbar mit Art. 30 EWGV (jetzt Art. 28 EG) erklärt; vgl. EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 54. Dennoch bliebe die Möglichkeit der Einführung eines europaweiten Reinheitsgebotes über die gemeinschaftliche Rechtssetzung nach Art. 95 EG. 203 Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 26. 204 Den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Kontrollkompetenzen und vertikaler Kompetenzverteilung vermittelt die stete Diskussion um verbleibende Zuständigkeitsreserven der Mitgliedstaaten im Kompetenzkonflikt zwischen BVerfG u. EuGH; vgl. statt aller nur Streinz, Rn. 202 ff. 198

152

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

(3) Wechselwirkungen Kombiniert man die bislang zur Kompetenzverteilung getroffenen Aussagen, so lässt sich auch im Rahmen der kompetentiellen Betrachtung eine besondere Wechselwirkung feststellen: 205 Einerseits beeinflusst die grundlegende Kompetenzverteilungsordnung das Verständnis der Grundfreiheiten, andererseits wird über die Auslegung grundfreiheitlicher Vorschriften eine Rückwirkung auf die vertikale Kompetenzstruktur erzielt. 206 Diese Wechselwirkung bedingt einen sensiblen Umgang mit dem die Kompetenzen beeinflussenden Instrumentarium der Grundfreiheiten. Die grundsätzliche Kompetenzverteilung, insbesondere die oben festgestellte Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten, darf nicht über eine zu extensive Auslegung grundfreiheitlicher Vorschriften in ihr Gegenteil verkehrt werden. 207 Will man dem vielbeschworenen „horror iuris" einer umfassenden europarechtlichen Überprüfung nationaler Rechtsordnungen entgehen,208 muss daher die Forderung nach einer im Grundsatz eingeschränkten Verbotswirkung der Grundfreiheiten gestellt werden. 209 Diese Forderung ist insofern übergreifend, als sie die zuvor gebildeten Kategorien Marktgleichheit und Marktfreiheit gleichermaßen betrifft. Ihre Umsetzung innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten ist daher vorzugsweise bereits auf der jeweiligen Tatbestandsebene vorzunehmen.

(4) Konvergente Strukturen Bevor nachfolgend auf die Kompetenzausübungsschranken des Art. 5 Abs. 2 u. 3 EG eingegangen wird, sollen die vorangegangenen Ausführungen zu Art. 5 Abs. 1 EG als Kompetenzverteilungsregel mit einem abstrakten Ausblick auf die Anforderungen an eine Dogmatik der Grundfreiheiten abgeschlossen werden. Wenn nämlich über die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften auf die vertikale Kompetenzverteilungsordnung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten eingewirkt werden kann, ergibt sich in besonderem Maße die Not-

205

Zur - offensichtlicheren - Wechselwirkung zwischen Grundfreiheiten und Binnenmarkt siehe oben I, 1, S. 122 f. 206 Vgl. auch Reich, EuZW 1991, 203 ff. (207): „zirkulärer Prozeß". 207 Vgl. auch - unter einem anderen Blickwinkel - von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 3b, Rn. 29; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 24. 208

Dazu Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 217; Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (4); Steindorff, JZ 1994, 94 ff. (97). 209 Zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,99.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

153

wendigkeit, konvergente Strukturen im Sinne einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten herauszuarbeiten. Andernfalls werden die ohnehin existierenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzverteilungsstrukturen noch erhöht. Anschaulich wird dies z.B. im Bereich des so genannten Euro-Marketings unter Einbeziehung der Produktverkehrsfreiheiten. Werbung für ein Produkt kann diesem als Begleiterscheinung zuzurechnen sein (Art. 28 EG) oder als eigenständiges immaterielles Produkt dem Anwendungsbereich von Art. 49 EG unterfallen. 210 Die Abgrenzung erfolgt nach h.M. anhand des Schwerpunktes der erbrachten Leistung; 211 dies ist jedoch oft nur eine Frage der gewählten Perspektive. 212 Wenn nun die Zuweisung zwischen Art. 28 EG und Art. 49 EG aufgrund divergenter Strukturen der Produktverkehrsfreiheiten zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, impliziert dies über die kompetentielle Wirkrichtung der Grundfreiheiten zugleich Dissonanzen in der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzverteilungsordnung. Positiv gewendet bedeutet dies: die Herausarbeitung einheitlicher dogmatischer Strukturen der Grundfreiheiten trägt dazu bei, das vertikale Kompetenzgleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Gemeinschaft zu stabilisieren. 213

b) Subsidiaritätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Mit dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EG sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 5 Abs. 3 EG wird ein qualitativ anderer Aspekt der kompetentiellen Ordnung berührt. Im Gegensatz zum Prinzip der begrenzten Ermächtigung beeinflussen die Regelungen des Art. 5 Abs. 2 u. 3 EG nicht die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten; sie setzen als Kompetenzausübungsschranken vielmehr bereits bestehende Zuständigkeiten voraus. 214

210

Vgl. zu dieser Doppelnatur von Werbemaßnahmen Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (22); Troberg, in: GTE, Art. 59, Rn. 30. 211 Vgl. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 9; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 15 m.w.N. 212 So werden Produzent und Verbraucher die einem Produkt als Etikett anhaftende Werbebotschaft eher als Akzessorium der Ware qualifizieren, während eine mit Entwicklung und Ausarbeitung der Werbebotschaft beauftragte Marketing-Agentur den Dienstleistungscharakter betonen wird. 213 Ebenso i.E. Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 183. 214 Vgl. dazu das Protokoll (Nr.30) zum EG-Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, insb. dessen Nr. 3.

154

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung aa) Art. 5 Abs. 2 EG

Besteht keine ausschließliche Gemeinschaftskompetenz, so „wird die Gemeinschaft [...] nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können", Art. 5 Abs. 2 EG. Nachdem das Subsidiaritätsprinzip durch den Vertrag von Maastricht so ausdrücklich im EGVertrag verankert wurde, 215 haben die Diskussionen um dessen Gehalt eher zuals abgenommen.216 Vorliegend ist dabei lediglich von Interesse, ob bzw. inwieweit sich aus dem Subsidiaritätsprinzip Konsequenzen für eine Dogmatik der Grundfreiheiten ergeben. 217 Hier sind zwei Aspekte zu unterscheiden, welche beide in der umstrittenen Frage nach der Justitiabilität des Art. 5 Abs. 2 EG wurzeln. 218 Zum einen ist das Problem anzusprechen, ob der Gerichtshof bei der Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften selbst formal an das Subsidiaritätsprinzip gebunden ist (1); zum anderen geht es um materielle Ausstrahlungswirkungen des Subsidiaritätsprinzips auf die Grundfreiheiten (2). Abschließend werden mögliche Folgerungen für die dogmatische Struktur der Grundfreiheiten aufgezeigt (3).

(1) Formale Bindung des EuGH an Art. 5 Abs. 2 EG? Die Einbeziehung des Subsidiaritätsprinzips als Erkenntnisbehelf für eine Dogmatik der Grundfreiheiten ist umstritten; 219 im Vordergrund steht dabei

2,5

Zur vorangegangenen Entwicklung eingehend Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, 1996, 31 ff. Vgl. auch Kahl, AöR 118 (1993), 414 ff. (415 f.) m.w.N. 216 Ursächlich dürfte dabei die „Kompromissformer des Art. 5 Abs. 2 EG sein; vgl. in diesem Zusammenhang von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 3b, Rn. 23 u. 31 ff.; Lienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn. 21 u. 25. 217 Vgl. auch die Ausführungen bei Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 106 ff.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 207 ff. 218 Eingehend zur Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 60 ff. sowie Zuleeg, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, 1997, 185 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand. Zu unterschiedlichen Beurteilungen der Rechtslage vor und nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages vgl. EuG, Rs. T-29/92 (SPO), Slg. 1995,11-289, Rn. 12; EuGH, Rs. C-233/94 (Einlagensicherungssysteme), Slg. 1997,1-2405, Rn. 22 ff. 219 Bejahend z.B. Ackermann, RIW 1994, 189 ff. (193); Jickeli, JZ 1995, 57 ff. (61 ff.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 110; Remien, JZ 1994, 349 ff. (353); Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (13).

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

155

zumeist die Frage, ob der Gerichtshof selbst formal an die Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 EG gebunden ist oder nicht. 220 Teilweise wird eine solche Bindungswirkung schon deshalb verneint, weil die Vorgaben des Art. 5 Abs. 2 EG prinzipiell nicht justitiabel seien.221 Im Übrigen beschränken sich die gegensätzlichen Argumentationen im Kern auf apodiktische Aussagen: Der Gerichtshof sei wie jedes Organ der Gemeinschaft an primärrechtliche Vorgaben gebunden;222 die Rechtsprechungstätigkeit des EuGH falle in die - vom Subsidiaritätsprinzip nicht erfasste - ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit. 223 Jede dieser Aussagen beschreibt zutreffend (nur) einen Teil der Problematik. So ist aus dem allgemein gehaltenen Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 EG nicht ersichtlich, warum dessen Bindungswirkung auf einzelne Gemeinschaftsorgane beschränkt sein sollte. Bestätigt wird dies durch Nr. 1 S. 1 des Subsidiaritätsprotokolls in Verbindung mit Art. 7 EG. 2 2 4 Unklar bleibt allerdings, welche weitergehenden Erkenntnisse hieraus gewonnen werden können. Denn wie auch immer man die formale Bindungswirkung von Art. 5 Abs. 2 EG und die grundsätzliche Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips beurteilen mag - im

Verneinend Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 52; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 211 , Müller-Graff, ZHR 159 (1995), 34 ff. (73 ff.). Diff. - zwischen Anwendungsbereich u. Rechtfertigungsebene - Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 229. 220 Vgl. einerseits von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 3b, Rn. 26; Borchardt, GS Grabitz, 1995, 29 ff. (33); Everling, DB 1990, 1853 ff. (1858); ders., FS Doehring, 179 ff. (195 ff.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 109; Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (12 f.). Tendenziell ebenso Kahl, AöR 118 (1993), 414 ff. (441). Dagegen z.B. Gonzales, ELR 1995, 355 ff. (366 f.); Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 52 f.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 211; Müller-Graff ZHR 159 (1995), 34 ff. (74); Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 210 f.; Zuleeg, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, 1997,185 ff. (204). 221 Beispielsweise Gonzales, ELR 1995, 355 ff. (366 f.) mit Hinweis auf die Rspr. d. BVerfG zu Art. 72 GG. 222 So Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 109. 223 So Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 53; Müller-Graff, ZHR 159 (1995), 34 ff. (74); Zuleeg, in: Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität, 1997, 185 ff. (204). 224 Vgl. Nr. 1 S. 1 des Protokolls (Nr.30) zum EG-Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit: Jedes Organ gewährleistet [...] die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips"; Hervorh. d. Verf.

156

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Hinblick auf die mögliche Bindung des EuGH fehlt eine entsprechende Kontrollinstanz. Allein der Gerichtshof entscheidet gemäß Art. 46 EU in Verbindung mit Art. 220 EG über die Auslegung des Subsidiaritätsprinzips. 225 Hierin liegt die eigentliche Bedeutung der These von der ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit. In der Zusammenschau jener gegensätzlichen Argumentationsrichtungen wird die begrenzte Aussagekraft dieser Auseinandersetzung deutlich. Zumindest im Hinblick auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten führt die Frage nach einer formalen Bindung des Gerichtshofs an das Subsidiaritätsprinzip als solche daher nicht weiter.

(2) Materielle Ausstrahlungswirkung des Subsidiaritätsprinzips auf die Grundfreiheiten Hiervon zu unterscheiden ist das Problem einer möglichen materiellen Ausstrahlungswirkung des Subsidiaritätsprinzips auf die Grundfreiheiten. Dabei sollte nicht lediglich an die - ohnehin problematische - Bindungswirkung des Art. 5 Abs. 2 EG angeknüpft werden; 226 vielmehr sind unabhängig davon die klassischen Auslegungsmethoden heranzuziehen. 227 Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 EG bezieht sich nicht ausdrücklich auch auf die grundfreiheitlichen Vorschriften. Allerdings wird mit der allgemeinen Formulierung des Subsidiaritätsprinzips auf den gesamten Bereich gemeinschaftlicher Tätigkeit Bezug genommen,228 was eher für als gegen den Einschluss der Grundfreiheiten in den weiteren Wirkungsbereich des Subsidiaritätsprinzips spricht. Berücksichtigt man zudem die systematische Stellung des Art. 5 Abs. 2 EG im Ersten Teil des EG-Vertrages („Grundsätze"), so wird dieser Eindruck noch verstärkt. Auch das bereits erwähnte Subsidiaritätsprotokoll steht einer restriktiven Interpretation des Art. 5 Abs. 2 EG insoweit entgegen.229 Schließ-

225

Vgl. auch von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 3b, Rn. 21. 226 Vgl. aber z.B. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001,211. 227 Dazu bereits oben 1. Kapitel Β. I. 2., S. 51 ff. 228 Anders als z.B. Art. 72 Abs. 2 GG enthält Art. 5 Abs. 2 EG keine Einschränkung auf die Gesetzgebungstätigkeit. 229 Vgl. wiederum Nr. 1 S. 1 des Protokolls (Nr.30) zum EG-Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie dessen Präambel, wonach die »kohärente Anwendung dieser Grundsätze durch alle Organe zu gewährleisten [ist]"; Hervorh. d. Verf.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

157

lieh ist folgende abstrakte Überlegung zu berücksichtigen: Wenn - wie im vorliegenden Kapitel - die Einbettung der Grundfreiheiten in den systematischteleologischen Gesamtzusammenhang des EG-Vertrages untersucht wird, bildet grundsätzlich jede vertragliche Vorschrift ein geeignetes Auslegungskriterium; 230 für eine Ausnahme hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips finden sich angesichts obiger Ausführungen keine Anhaltspunkte. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass auch von Art. 5 Abs. 2 EG Ausstrahlungswirkungen auf die Grundfreiheiten ausgehen können.

(3) Präzisierungen

im Hinblick auf eine grundfreiheitliche

Dogmatik

Soll die zuvor gewonnene Erkenntnis für eine grundfreiheitliche Dogmatik nutzbar gemacht werden, sind jene Ausstrahlungswirkungen des Subsidiaritätsprinzips konkreter zu untersuchen und im Hinblick auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten zu präzisieren. Wenn Art. 5 Abs. 2 EG die vorrangige Zuständigkeit der kleineren Einheit vor der jeweils größeren Einheit normiert, 231 so lässt sich dieser Gedanke auf die Grundfreiheiten als gemeinschaftliche Kontrollkompetenz übertragen. Die Grundfreiheiten entfalten dort ihre Wirkung, wo die alleinige nationale Regelungsgewalt endet. Die Mitgliedstaaten als die gegenüber der Gemeinschaft kleineren Einheiten werden im Übrigen in ihrer Jurisdiktion nicht beschränkt. In der grundfreiheitlichen Dogmatik erhält das so verstandene Subsidiaritätsprinzip eine zweifache Ausprägung: Zunächst liegt im Subsidiaritätsprinzip ein Bekenntnis zu stärkerer Dezentralisierung der Normgebung. 232 Damit kann an die obigen Ausführungen zur föderalen Komponente der Binnenmarktkonzeption angeknüpft werden, wonach die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten bestimmten Restriktionen unterliegt. 233 An dieser Stelle bestätigt sich nun die zuvor aufgestellte These, dass der diesbezügliche Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten insoweit eingeschränkt ist, als der Wirtschaftsteilnehmer seine Leistung auf dem nationalen Teilmarkt lediglich anbieten kann. 234 Sofern nur der Marktzugang des

230

Zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 110. 231 Vgl. Langer, ZG 1993, 193 ff. (194). 232 Ebenso Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (13 f.) mit Blick auf EuGH, Verb. Rs. C267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,1-6097. 233 Siehe oben I. 3. a) aa) (2), S. 133. 234 Ebd.

158

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Wirtschaftsteilnehmers in dieser Weise eröffnet wird, ist eine grundfreiheitliche Kontrolle nationaler Anforderungen im Übrigen nicht erforderlich. 235 Dem Subsidiaritätsprinzip im Sinne von Art. 5 Abs. 2 EG entspricht es eher, wenn hier die Regelungsbefugnis auf der sachnäheren Ebene der Mitgliedstaaten verbleibt. Die Grundfreiheiten können mithin nicht die Errichtung einer bestimmten Jurisdiktion auf einem nationalen Teilmarkt vermitteln. 236 Darüber hinaus wird den Ausstrahlungswirkungen des Subsidiaritätsprinzips dadurch Rechnung getragen, dass innerhalb der Dogmatik der Grundfteiheiten eine spezifisch transnationale Komponente betont wird. 2 3 7 Insofern bestätigt die vorliegende kompetentielle Betrachtung die bisherigen Ausführungen sowohl zu einem positiven als auch zu einem negativen Element grundfreiheitlicher Dogmatik. In positiver Hinsicht kommt das allgemeine - die Aspekte der Marktgleichheit und Marktfreiheit übergreifende - Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs zum Ausdruck. 238 Sofern kein zwischenstaatlicher Sachverhalt zu beurteilen ist, besteht danach kein Grund, von der Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 5 Abs. 2 EG abzuweichen.239 Negativ folgt hieraus unmittelbar, dass die so genannte Inländerdiskriminierung nicht der gemeinschaftsrechtlichen Kontrollkompetenz unterliegt. Über die Anwendung der Grundfreiheiten lassen sich Inländerdiskriminierungen daher nicht beseitigen.240 Ohne den späteren Ausführungen hierzu vorgreifen zu wollen, soll bereits an dieser Stelle noch auf eine in der Literatur vertretene Auffassung eingegangen werden, welche grundlegende Strukturfragen der Grundfreiheiten betrifft. So sieht Kingreen im Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EG und insbesondere in dem hieraus abgeleiteten Erfordernis des transnationalen Bezugs den Beleg

235 Diese Aussage bezieht sich freilich nur auf den binnenmarktbezogenen Aspekt der Marktfreiheit; vgl. dazu oben I. 3. a) aa), S. 130. 236 Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 111. 237 Vgl. auch Jarass, EuGRZ 1994, 209 ff. (215); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 111; Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (56 f.). 238 Siehe hierzu oben I. 3. a) aa) (3) u. I. 3. a) bb), S. 135 u. 137. 239 Ähnlich Jarass, EuGRZ 1994, 209 ff. (215); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 111. Dagegen leitet Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (56 f.) aus der spezifisch transnationalen Komponente die Notwendigkeit einer de-minimis-Regel ab. 240 Siehe bereits oben 2. Kapitel C. II. 2., S. 109.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

159

für ein rein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten. 241 Zwar ist dieser Ansicht zuzugeben, dass die Grundfreiheiten als Freiheitsrechte unter Verzicht auf ein transnationales Kriterium dogmatisch fassbar wären. 242 Der Umkehrschluss Kingreens ist indes nicht zwingend; weiterhin bleibt die Möglichkeit, auch ein freiheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten mit dem übergreifenden Erfordernis des grenzüberschreitenden Bezugs zu verknüpfen. 243 Der Versuch, aus dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EG die Grundfreiheiten auf Grundgleichheiten zu reduzieren, kann folglich nicht hinreichend überzeugen.

bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Vorschriften in Art. 5 Abs. 1 und 2 EG werden ergänzt durch die primärrechtliche Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 5 Abs. 3 EG. 2 4 4 Wenn - wie im vorliegenden Abschnitt - die Einbettung der Grundfreiheiten in das Kompetenzgefüge des EG-Vertrages betrachtet wird, ist zunächst auf die Frage einzugehen, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz überhaupt den kompetentiellen Nexus berührt (1). Anschließend sind die sich hieraus ergebenden Deduktionen darzustellen (2).

(I) Art. 5 Abs. 3 EG als Kompetenzausübungsregel Ausgehend von der entsprechenden Problemstellung im nationalen Verfassungsrecht, 245 wird die Frage diskutiert, ob der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaften bestehende Kompetenzordnung von Bedeutung ist. 246 Dass der Ver-

241 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 115 ff. 242 Vgl. auch Marenco/Banks, ELR 1990, 224 ff. (238 ff.). 243 Dies gilt umso mehr, wenn man innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten sowohl die freiheitsrechtliche als auch die gleichheitsrechtliche Betrachtungsweise für zulässig erachtet. 244 Vgl. Jarass, EuGRZ 1994, 209 ff. (214); diff. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 112 ff. 245 Vgl. nur Stettner, Kompetenzlehre, 1983, 397 ff. m.w.N. 246 Die h.L. bejaht dies; vgl. von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 3b, Rn. 46 u. 48; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 47; Geiger, Art. 5 EGV, Rn. 13; Jarass, EuGRZ 1994, 209 ff. (214); Langguth, in: Lenz, Art. 5, Rn. 30;

160

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

hältnismäßigkeitsgrundsatz nicht nur die Beziehung zwischen Bürger und Gemeinschaft betrifft, 247 sondern auch kompetentielle Konsequenzen bedingt, ergibt sich jedoch bereits aus der systematischen Stellung in Art. 5 EG. 248 Zugleich unterstreicht das Subsidiaritätsprotokoll diese Zielrichtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 249 Schließlich deckt sich ein solches Kompetenzverständnis mit der neueren bundesdeutschen Verfassungsjudikatur; 250 auch der Europäische Rat erblickt im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Aussage zum kompetentiellen Spannungsfeld zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. 251 Wie das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 Abs. 2 EG setzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestehende Kompetenzen bereits voraus; 252 die Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 EG enthält demnach keine Kompetenzverteilungs-, sondern eine Kompetenzausübungsregel.

(2) Folgerungen Das oben aufgezeigte Verständnis des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Kompetenzausübungsregel bedingt primär Konsequenzen für die gemeinschaftliche Rechtssetzung nach Art. 249 EG 2 5 3 sowie für die Anwendung der Rechts-

Lienbacher, in: Schwarze, Art. 5 EGV, Rn. 38; Zuleeg, DVB1. 1992, 1329 ff. (1334); ders., in: GTE, Art. 3b, Rn. 29. Dagegen z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 114; Rujfert, EuR 1996, 332 ff. (333). 247 Dies dürfte unstreitig sein; vgl. z.B. EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rn. 23; EuGH, Verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst), Slg. 1989, 2859, Rn. 19; EuGH, Rs. 265/87 (Schräder), Slg. 1989, 2237, Rn. 21; EuGH, Rs. C-8/89 (Zardi), Slg. 1990,12515, Rn. 10. 248 Den Zusammenhang von Art. 5 Abs. 2 u. 3 EG betont auch Kahl, AöR 118 (1993), 414 ff. (427). 249 Vgl. dazu Nr. 6 u. 7 des Protokolls (Nr.30) zum EG-Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 250 Vgl. BVerfGE 89, 155 (212) gegenüber der älteren Rspr. in BVerGE 19, 342 (348 f.); 67, 256 (289); 77, 308 (334); 79, 311 (314); 81, 310 (338). 251 Bull.BReg 1992, 1277 ff. (1282). 252 Dazu näher Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, 1996, 107 f. m.w.N. auch zur Gegenansicht. 253 Gem. Nr. 6 S. 3 des Protokolls (Nr.30) zum EG-Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ist z.B. die Richtlinie einer Verordnung grds. vorzuziehen.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

161

angleichungsvorschriften der Artt. 94 ff. EG. 2 5 4 Insgesamt wird damit der Vorrang gegenseitiger Anerkennung gegenüber gemeinschaftlicher Harmonisierung als Ziel betont. 255 Auch für eine Dogmatik der Grundfreiheiten kann dieser Gehalt des Art. 5 Abs. 3 EG nutzbar gemacht werden. Hier dient der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Verbindung mit Art. 10 EG als Anknüpfungspunkt für eine besondere Prüf- und Akzeptanzpflicht der Mitgliedstaaten im Rahmen des Marktzugangsprozesses. 256 Hinsichtlich nationaler Qualitätsanforderungen hat der betreffende Mitgliedstaat bei jedem in den nationalen Teilmarkt drängenden Wirtschaftsteilnehmer eine Gleichwertigkeitsprüfung vorzunehmen. Demgemäß ist zu untersuchen, ob jener Wirtschaftsteilnehmer den nationalen Anforderungen nicht bereits durch die Erfüllung andersstaatlicher Vorgaben gerecht wird; gegebenenfalls sind die Qualifikationen des Wirtschaftsteilnehmers anzuerkennen. 257 Eine solche Prüf- und Akzeptanzpflicht unterstreicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 3 EG und liegt im föderalen Interesse der Mitgliedstaaten. Sie ist notwendige Begleiterscheinung im Alternativmodell zu einer vollständig homogenisierten Gemeinschaftsrechtsordnung. Indes darf sie nicht gleichgesetzt werden mit der strikten Anwendung des Herkunftslandprinzips. 258 Gegenüber dem reinen Herkunftslandprinzip vermeidet das Postulat einer Prüf- und Akzeptanzpflicht die Gefahr einer Nivellierung auf niedrigstem Standard, 259 ohne zugleich die föderale Struktur der Gemeinschaft aus den Augen zu verlieren.

2. Verpflichtungen

der Mitgliedstaaten

nach Art. 10EG

Anders als die Vorschrift des Art. 5 EG enthält Art. 10 EG keine Kompetenzregel im engeren Sinne. 260 Dennoch betrifft dessen Norminhalt unmittelbar die Beziehungen zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten,261 weshalb eine

254

Vgl. Langgut h, in: Lenz, Art. 5, Rn. 31. Zu der hieraus entstehenden „Mittelhierarchie" vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, 1996, 108 ff. Krit. dagegen Pescatore, FS Everling, 1071 ff. (1079). 256 Vgl. dazu bereits oben I. 3. a) aa) (1) a.E, S. 132 f. 257 Nachweise zur Rspr. oben 2. Kapitel, Fußn. 168. 258 Abweichend Langer, ZG 1993, 193 ff. (199 ff.). 259 Siehe oben I. 3. a) aa) (2), S. 133. 260 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 35. 261 Zu dieser wechselseitigen Adressatenrichtung vgl. EuGH, Rs. 230/81 (Luxemburg/EP), Slg. 1983, 255, Rn. 37; EuGH, Rs. 44/84 (Hurd/Jones), Slg. 1986, 29, Rn. 38; 255

11 Mühl

162

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Untersuchung der Verbindungslinien zwischen Grundfreiheiten einerseits und Art. 10 EG andererseits im Rahmen der vorliegenden kompetentiellen Betrachtungen sinnvoll erscheint. 262 Art. 10 EG normiert in seiner Gesamtheit den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. 263 Dabei ist zwischen den Handlungspflichten des Art. 10 Abs. 1 EG und der Unterlassungspflicht nach Art. 10 Abs. 2 EG zu differenzieren. 264 Letztere verbietet es in allgemeiner Umschreibung, die einheitliche Anwendung sowie die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts durch mitgliedstaatliche Maßnahmen zu gefährden. 265 Für die Grundfreiheiten können hieraus indes keine wesentlich weitergehenden Erkenntnisse gewonnen werden. Im Verhältnis zur lex generalis des Art. 10 Abs. 2 EG normieren die grundfreiheitlichen Vorschriften lediglich ein spezielles Unterlassungsgebot; dadurch wird unmittelbar ein den freien Wirtschaftsverkehr einschränkendes Handeln der Mitgliedstaaten pönalisiert. 266 Des Rückgriffs auf Art. 10 Abs. 2 EG bedarf es insoweit nicht. 267 Interessanter im Hinblick auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten sind demgegenüber die in Art. 10 Abs. 1 EG genannten Handlungspflichten. Zunächst ist hierbei auf die oben angesprochene Prüf- und Akzeptanzpflicht der Mit-

EuGH, Rs. C-2/88 Imm. (Zwartfeld), Slg. 1990, 1-3367, Rn. 17; EuGH, Verb. Rs. C36/97 u. C-37/97 (Kellinghusen u. Ketelsen), Slg. 1998,1-6337, Rn. 30. 262 Vgl. auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 5, Rn. 67 ff. 263 So die Terminologie in EuGH, Rs. 14/88 (Italien/Kommission), Slg. 1989, 3677, Rn. 20; EuGH, Rs. C-l65/91 (van Munster), Slg. 1994, 1-4661, Rn. 32; EuGH, Rs. C72/95 (Kraaijeveld), Slg. 1996,1-5403. Teilweise wird in diesem Zusammenhang auch von „Gemeinschaftstreue" gesprochen; vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 6; Koenig/Haratsch, Rn. 119; Lück, Gemeinschaftstreue, 1992, 23; Zuleeg, in: GTE, Art. 5, Rn. 1 m.w.N. Dagegen zu Recht krit. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 5, Rn. 6. 264 Vgl. dazu von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 5, Rn. 10; Streinz, Rn. 140. 265 Vgl. Hatje, in: Schwarze, Art. 10 EGV, Rn. 47; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 45. Aus der Rechtsprechung vgl. EuGH, Rs. 14/68 (Walt Wilhelm), Slg. 1969, 1, Rn. 6; EuGH, Rs. 13/77 (GB-INNO/ATAB), Slg. 1977, 2115, Rn. 30/35; EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc/Au blé vert), Slg. 1985, 1, Rn. 14; EuGH, Rs. 231/83 (Cullet), Slg. 1985, 305, Rn. 16; EuGH, Rs. C-213/89 (Factortame), Slg. 1990, 1-2433, Rn. 19 f.; EuGH, Rs. C60/91 (Batista Morais), Slg. 1992,1-2085, Rn. 11. 266 Vgl. z.B. den eindeutigen Wortlaut von Art. 28 EG. 267 Vgl. Zuleeg, in: GTE, Art. 5, Rn. 10 a.E.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

163

gliedstaaten im Rahmen der so genannten Anerkennungsfälle zu verweisen. 268 Vor allem aber bietet Art. 10 Abs. 1 EG den Anknüpfungspunkt für folgende fundamentale Frage grundfreiheitlicher Dogmatik, welche sowohl die Adressatenrichtung der Grundfreiheiten als auch die Qualität grundfreiheitlich verbotener „Maßnahmen" berührt: Ist für die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten ein positives Tun erforderlich oder kann diesbezüglich auch ein Unterlassen der Mitgliedstaaten genügen? Die Fragestellung offenbart Parallelen zur deutschen Strafrechtsdogmatik; 269 insofern kann auf allgemeine Grundsätze der Rechtstheorie zurückgegriffen werden, 270 welche dort bei den unechten Unterlassungsdelikten ihre konkrete Anwendung finden. Bezogen auf die Grundfreiheiten gilt: Wird ein mitgliedstaatliches Unterlassen zur Grundlage für einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten gemacht, so setzt dies eine entsprechende Rechtspflicht zum Handeln voraus. 271 In der abstrakten Bereitstellung einer solchen Handlungspflicht liegt die funktionale Bedeutung des Art. 10 Abs. 1 EG für die dogmatische Struktur der Grundfreiheiten. 272 Konkret ist die Pflicht zum mitgliedstaatlichen Handeln im Bereich der Grundfreiheiten gegebenenfalls aus Art. 10 Abs. 1 S. 1 EG abzuleiten.273 Die danach grundsätzlich bestehende Möglichkeit, den Verstoß gegen grundfreiheitliche Vorschriften an ein Unterlassen der Mitgliedstaaten zu knüpfen, wurde vom Gerichtshof in praxi zur Entscheidungsbegründung genutzt, 274 ohne jedoch zwischen den verschiedenen Pflichten des Art. 10 EG zu differenzieren. 275 Eine entsprechende Regelung findet sich nunmehr auch in Art. 1 derVONr. 2697/98. 270

268

Dazu oben 1. b) bb) (2), S. 160. Grundlegend Herzberg, Unterlassung im Strafrecht, 1972,49 ff. 270 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 142 f. 271 Vgl. auch Schwarze, EuR 1998, 53 ff. (54). 272 Vgl. die parallele Funktion des § 13 StGB für die unechten Unterlassungsdelikte im deutschen Strafrecht. 273 Die grundfreiheitlichen Vorschriften normieren insofern „Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag [...] ergeben", Art. 10 Abs. 1 S.l EG. 274 EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997,1-6959, Rn. 32. 275 Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 48 ordnet die genannte Entscheidung des EuGH sogar den Unterlassungspflichten der Mitgliedstaaten i.S.v. Art. 10 Abs. 2 EG zu. Zutreffend hingegen GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997,1-6959, Rn. 40 f. 276 Vgl. Art. 1 der VO Nr. 2679/98 des Rates vom 7.12.1998 (ABl.EG 1998, Nr. L 337/8). Näher dazu Schorkopf EWS 2000, 156 ff. 269

II*

164

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Die Frage nach der Beeinträchtigungsqualität grundfreiheitlich verbotener „Maßnahmen" der Mitgliedstaaten berührt zugleich eine Folgeproblematik allgemeiner Lehren der Grundfreiheiten. Mittelbar können hier Erkenntnisse zur Adressatenrichtung der Grundfreiheiten gewonnen werden; insbesondere betrifft dies die umstrittene Frage nach einer möglichen Drittwirkung der Grundfreiheiten. Ohne den späteren Ausführungen hierzu vorgreifen zu wollen, wird bereits an dieser Stelle sichtbar, dass über die Einbeziehung mitgliedstaatlicher Handlungspflichten nach Art. 10 Abs. 1 EG ein Alternativmodell zur umfassenden unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten begründet werden kann. 277 Werden potentielle Defizite der praktischen Wirksamkeit der Grundfreiheiten auf privatrechtlicher Ebene erkannt, 278 so ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten der Gegensteuerung. Einerseits könnten private Rechtssubjekte in bestimmten Fällen als Adressaten der Grundfreiheiten angesehen werden. Andererseits ließe sich aber auch eine originäre Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten begründen, indem eine allgemeine staatliche Handlungspflicht zur Abwehr grundfreiheitswidriger Zustände postuliert wird. 2 7 9

3. Grundfreiheiten

und Rechtsangleichung

Mit den Artt. 94 ff. EG ist schließlich ein dritter Normkomplex anzusprechen, welcher die vorliegende Betrachtung der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung abschließt. Auf die Rechtsangleichungsvorschriften wurde bereits in den Ausführungen zur Binnenmarktkonzeption vereinzelt Bezug genommen, 280 denn die Rechtsangleichung dient gemäß Art. 14 Abs. 1 EG der Verwirklichung des Binnenmarktes. 281 Gleichwohl sollen die Artt. 94 ff. EG im Hinblick auf Wechselwirkungen zwischen Grundfreiheiten und Kompetenzordnung nochmals gesondert untersucht werden, da jene Bestimmungen primär kompetentielle Vorschriften im Hinblick auf die gemeinschaftliche Rechtssetzung enthalten.282

277

Dazu auch Burgi, EWS 1999, 327 ff. (329 ff.). Vgl. EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 18; EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 17/18; EuGH, Rs. C-47/90 (Delhaize), Slg. 1992,1-3669, Rn. 29; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 83. 279 Denkbar ist auch eine kumulative Berücksichtigung beider Aspekte. 280 Vgl. insb. oben I. 2. b) aa) u. bb) sowie I. 3. a) aa) (2) u. bb), S. 125 ff. u. 133 ff. 281 Auch Art. 3 lit. h EG betont den Integrationszweck der Rechtsangleichung; vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 94 EGV, Rn. 2 m.w.N; Röttinger, in: Lenz, Art. 94, Rn. 7. 282 Vgl. Kilian, Rn. 344; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 91. 278

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

165

Zunächst werden die Rechtsangleichungsvorschriften primärrechtlich über Art. 14 Abs. 1 und 2 EG unmittelbar mit den Grundfreiheiten verknüpft. 283 In der Literatur wird daher oftmals die parallele Zielrichtung beider Rechtsinstitute im Hinblick auf den Binnenmarkt betont. 284 Grundfreiheiten und Rechtsangleichungsvorschriften erscheinen so als unterschiedliche Instrumentarien zur Beseitigung heterogener Strukturen im europäischen Binnenmarkt. 285 In dieser Existenz mehrerer Rechtsinstitute bestätigt sich die oben gewonnene Erkenntnis, dass die Grundfreiheiten mit Rücksicht auf die föderale Struktur der Gemeinschaft nicht allumfassend im Sinne des vielzitierten „horror iuris" ausgelegt werden dürfen. 286 Die Artt. 94 ff. EG blieben sinnentleert, wenn infolge eines uneingeschränkten Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten die Rechtsprechung des EuGH eine umfassende faktische Rechtsangleichung bewirkte. 287 Weitergehende Folgerungen dürften sich aus der Koexistenz von Grundfreiheiten und Rechtsangleichungsvorschriften indes nicht ergeben. Dies gilt zunächst für den teilweise konstatierten abstrakten Zusammenhang zwischen beiden Rechtsinstituten, wonach die restriktive/extensive Interpretation der Grundfreiheiten eine korrespondierende Grenzverschiebung zu Gunsten/zu Lasten der Rechtsangleichung bedinge. 288 Eine solche Korrelation setzt voraus, dass der europäische Integrationsprozess abgeschlossen ist; nur in einem isolierten System lässt sich ausschließlich diese Grenzverschiebung beobachten. Hält man den europäischen Integrationsprozess dagegen für nicht abgeschlossen, 289 so ergibt sich neben jener systeminternen Grenzverschiebung ein weite-

283

Die Rechtsangleichung dient gem. Art. 14 Abs. 1 EG der Verwirklichung des Binnenmarktes, welcher sich nach Art. 14 Abs. 2 EG über die Grundfreiheiten definiert. 284 Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 48; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 92; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 194; Schwartz , FS Everling, 1331 ff. (1339); Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 172 f. 285 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 92. Weitergehend Schwartz , FS Everling, 1331 ff. (1339), wonach erst über die Rechtsangleichung eine Wirkungsverstärkung der Grundfreiheiten ermöglicht wird: „Ohne diese Rechtsangleichung bliebe die reale Ausübung der Grundfreiheit[en] unmöglich oder eingeschränkt". 286 Dazu bereits oben 1. a) cc) (3), S. 152. 287 Zutreffend insoweit Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 92. 288 So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 36; Schwartz , FS v. d. Groeben, 333 ff. (356). 289 Zur Dynamik der europäischen Integration vgl. den ersten Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrages sowie Artt. 1 Abs. 2 u. 48 Abs. 2 EUV.

166

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

rer möglicher Zusammenhang zwischen den grundfreiheitlichen Vorschriften und Artt. 94 ff. EG. Danach kann ein eingeschränkter Anwendungsbereich der Grundfreiheiten auch zu einer geringeren Bedeutung der Artt. 94 ff. EG führen, die extensive Auslegung grundfreiheitlicher Vorschriften dagegen ein Mehr an Rechtsangleichung implizieren. Dies ergibt sich daraus, dass eine restriktive Interpretation der Grundfreiheiten aufgrund der Legaldefinition des Art. 14 Abs. 2 EG zugleich das Anwendungsfeld der Rechtsangleichungsvorschriften beschränkt. 290 Inwiefern Grundfreiheiten und Rechtsangleichung korrelieren, wird primärrechtlich jedoch nicht bestimmt; 291 auch die Judikatur des Gerichtshofs ist insoweit nicht eindeutig. 292 Nach Hoffmann soll aus der Sachgebietsüberschneidung von Grundfreiheiten und Rechtsangleichungsvorschriften sogar folgen, dass die Grundfreiheiten nur als modale Rechte bestehen können. 293 Indem das EG-Primärrecht Rechtsangleichungsvorschriften für alle von den Grundfreiheiten erfassten Sachgebiete zur Verfügung stelle, könne den grundfreiheitlichen Vorschriften kein materieller Gehalt zukommen. 294 Allein die Koexistenz beider Rechtsinstitute lässt indes einen solchen Schluss nicht zu. So ist es durchaus vorstellbar, die funktionale Bedeutung der Grundfreiheiten innerhalb eines abgestuften Integrationsprozesses darin zu sehen, Rechtssubjekten gerade unter Verzicht auf eine einheitliche europäische Rechtsordnung bestimmte materielle Rechtspositionen zu

Aus der Literatur z.B. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 1 EUV, Rn. 6 ff.; Huber, § 6, Rn. 11; Lenz, in: ders., Art. 3, Rn. 13; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 206; Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 89. 290 Vgl. zu diesen unterschiedlichen Wechselwirkungen von positiver und negativer Integration die Ausführungen von Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 172 ff. Eine ähnliche Problemsicht findet sich bereits bei Friedbacher, ELJ 1996, 226 ff. (240 ff.). 291 Ebenso Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 173. 292 Wenig aussagekräftig z.B. EuGH, Rs. C-300/89 (Titandioxid), Slg. 1991, 1-2867, Rn. 15: „Zur Verwirklichung der in Artikel 8a [jetzt Art. 14 EG] genannten Grundfreiheiten müssen wegen der zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede Harmonisierungsmaßnahmen in den Bereichen getroffen werden, in denen die Gefahr besteht, daß diese Unterschiede verfälschte Wettbewerbsbedingungen schaffen oder aufrechterhalten. Aus diesem Grund ermächtigt Artikel 100a [jetzt Art. 95 EG] die Gemeinschaft, nach dem dort vorgesehenen Verfahren die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und VerwaltungsVorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen." 293 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 49 ff. Vgl. auch Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 216 a.E. 294 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 51.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

167

vermitteln. Ist nach den obigen Ausführungen bereits die Korrelation von grundfreiheitlichen Vorschriften und den Artt. 94 ff. EG nicht eindeutig, so sollten die Rechtsangleichungsvorschriften erst recht nicht als weitergehender Beleg für ein Verständnis der Grundfreiheiten als modale Rechte herangezogen werden.

4. Zwischenergebnis Die Betrachtung der vertikalen Kompetenzproblematik im Gemeinschaftsrecht und insbesondere deren Einwirkung auf eine grundfreiheitliche Dogmatik steht in engem Zusammenhang mit den zuvor getroffenen Aussagen zur Binnenmarktkonzeption. Gerade das in Art. 5 Abs. 1 EG normierte Prinzip der begrenzten Ermächtigung unterstreicht die bereits herausgearbeitete föderale Struktur der Gemeinschaft. 295 Wesentlich für die Interpretation der Grundfreiheiten ist dabei die Erkenntnis, dass die Neutralität gegenüber nationalen Teilmarktordnungen grundsätzlich Vorrang vor der Schaffung einheitlichen europäischen Sachrechts genießt. Die Grundfreiheiten dürfen daher in ihrem Anwendungsbereich nicht uneingeschränkt sein, sollen mitgliedstaatliche Jurisdiktionen nicht vollumfänglich der grundfreiheitlichen Kontrollkompetenz unterliegen. Im Übrigen ist die zur Binnenmarktkonzeption entwickelte Differenzierung zwischen Marktgleichheit und Marktfreiheit aufrechtzuerhalten. Bezogen auf das Element der Marktfreiheit lässt sich eine Beweislastregel formulieren, wonach die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten eine mitgliedstaatliche Regelung im Zweifel nicht verbietet. Dogmatischer Anknüpfungspunkt für eine geringere grundfreiheitliche Kontrolldichte im Bereich der Marktfreiheit ist vorzugsweise die Rechtfertigungsebene. 296 Die Herausarbeitung konvergenter Strukturen im Sinne einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten trägt dazu bei, das vertikale Kompetenzgleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Gemeinschaft zu stabilisieren. 297 Insofern bestätigt die Einbeziehung kompetentieller Fragestellungen auch die obigen allgemeinen Ausführungen zur juristischen Dogmatik. 298

295 Vgl. die obigen Ausführungen zur Binnenmarktkonzeption unter I. 3. a) aa) (2), S. 133 ff. 296 Oben l.a) cc) (1), S. 148. 297 Oben l.a) cc)(4), S. 152. 298 Siehe dazu I.Kapitel Α. I. 1.

168

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Über das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5 Abs. 2 EG wird die Bedeutung eines spezifisch transnationalen Elements innerhalb der Dogmatik der Grundfreiheiten noch deutlicher hervorgehoben. Die weitere Untersuchung primärrechtlicher Kompetenzverteilungsregeln lässt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Art. 5 Abs. 3 EG in Verbindung mit Art. 10 EG als normativen Ausdruck für besondere Verpflichtungen der Mitgliedstaaten erscheinen. Innerhalb einer grundfreiheitlichen Dogmatik kann hierauf bei der Statuierung einer Akzeptanzpflicht im Rahmen der Anerkennungsfälle Bezug genommen werden; 299 auch ermöglichen jene mitgliedstaatlichen Verpflichtungen die Konstruktion eines Alternativmodells zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten. 300 Weitergehende grundlegende Strukturfragen der Grundfreiheiten können jedoch allein durch die Heranziehung kompetentieller Betrachtungen nicht beantwortet werden. Dies gilt insbesondere für die in der Literatur anzutreffenden Ansichten, wonach aus den Kompetenzverteilungsregeln auf ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten geschlossen wird 3 0 1 oder die Rechtsangleichungsvorschriften als Beleg dafür herangezogen werden, dass die grundfreiheitlichen Vorschriften lediglich als modale Rechte bestehen könnten. 302

III. Grundfreiheiten und Umweltschutz Das dritte und letzte der hier zu besprechenden Prinzipien, in welche die Grundfreiheiten primärrechtlich eingebettet sind, ist das Umweltprinzip des EG-Vertrages. 303 Die Verankerung des Umweltschutzgedankens im Gemeinschaftsrecht unterliegt einer spezifischen Dynamik; so wurde insbesondere die Querschnittsklausel des heutigen Art. 6 EG in Wortlaut und systematischer Stellung mehrfach verändert. 304 Diese Querschnittsklausel bildet in ihrer heutigen Ausgestaltung den Anknüpfungspunkt für eine spezielle Berücksichtigung umweltbezogener Aspekte innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik. Zu

299

Oben 1. b) bb) (2), S. 160. Oben 2., S. 161 ff. 301 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 115 ff. 302 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 49 ff. 303 Monographisch zu diesem gemeinschaftsrechtlichen Prinzip z.B. Kahl, Umweltprinzip, 1993. 304 Vgl. Breier/Vygen, in: Lenz, Art. 6, Rn. 3; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 6 EGV, Rn. 1. 300

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

169

beachten ist allerdings, dass der EG-Vertrag hinsichtlich anderer Politikbereiche der Gemeinschaft ebenfalls Querschnittsaufgaben definiert. 305 Somit bedarf es zunächst einer näheren Begründung, warum allein der Umweltschutz die Dogmatik der Grundfreiheiten in jenem hohen Maße tangiert, die übrigen vertraglichen Querschnittsklauseln hier jedoch keine solch herausragende Rolle spielen. Bereits der Wortlaut des Art. 6 EG unterstreicht indes die besondere Bedeutung des Umweltgedankens: „Erfordernisse des Umweltschutzes müssen [...] einbezogen werden". 306 Demgegenüber erscheinen die sonstigen Querschnittsklauseln des EG-Vertrages abgeschwächt formuliert. 307 Darüber hinaus dokumentiert die vertragliche Systematik eine hervorgehobene Stellung gemeinschaftsweiter Umweltpolitik. Während Art. 6 EG im Ersten Teil des EGVertrages („Grundsätze") steht, befinden sich die übrigen Querschnittsklauseln als Spezialvorschriften sektorieller Gemeinschaftspolitiken im Dritten Teil des EG-Vertrages. Letztere sind daher nicht im gleichen Maße wie der Umweltschutz in die grundfreiheitliche Dogmatik einzubeziehen. Der Stellenwert des Umweltprinzips und insbesondere dessen mögliche Auswirkungen auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten werden erst unter Berücksichtigung des zuvor erwähnten rechtshistorischen Prozesses hinreichend verständlich. Demgemäß soll im Folgenden der Inhalt des gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzips in seiner historischen Entwicklung grob skizziert werden (1.), bevor anschließend auf allgemeine Konsequenzen für eine grundfreiheitliche Dogmatik eingegangen wird (2.).

1. Die Entwicklung des Umweltprinzips

als Prozess

Die Untersuchung des gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzips unter Einbeziehung rechtshistorischer Entwicklungen hat sich in erster Linie an den entsprechenden Vertragstexten [a)] sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofs [b)] zu orientieren.

305

Vgl. Artt. 151 Abs. 4, 152 Abs. 1, 153 Abs. 2, 157 Abs. 3, 159 Abs. 1 S. 2, 178

EG. 306

Hervorh. d. Verf. Vgl. Artt. 151 Abs. 4 („trägt [...] Rechnung"), 152 Abs. 1 („wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt"), 153 Abs. 2 („wird [...] Rechnung getragen"), 157 Abs. 3 („trägt [...] zur Erreichung der Ziele [...] bei"), 159 Abs. 1 S. 2 („berücksichtigen die Ziele"), 178 EG („berücksichtigt die Ziele"). 307

170

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

a) Primärrecht aa) Implementierung des Umweltschutzgedankens durch die EEA Vor Inkrafittreten der EEA am 1.7.1987 war der Umweltschutz als Vertragsziel im Text des damaligen EWG-Vertrages nicht ausdrücklich genannt. Wenn dennoch überwiegend ein Gemeinschaftsziel des Umweltschutzes angenommen wurde, 308 so musste hierzu an den dritten Erwägungsgrund der Präambel des EWG-Vertrages bzw. an die allgemeine Formulierung des Art. 2 EWGV angeknüpft werden. 309 Daneben konnte auf die ersten drei Umweltaktionsprogramme von 1973, 1977 und 1983 rekurriert werden, 310 welche jedoch keine rechtliche Bindungswirkung entfalteten. 311 Nachdem bereits damals zahlreiche gemeinschaftliche Rechtsakte auf dem Gebiet der Umweltpolitik erlassen worden waren, 312 entstand das Bedürfnis nach einer bindenden Regelung im Primärrecht. 313 Durch die EEA wurden solche primärrechtlichen Vorschriften geschaffen, welche den Umweltschutz ausdrücklich im damaligen EWG-Vertrag verankerten. 314 Zwar blieben die grundsätzlichen Vorschriften der Artt. 2 und 3 EWGV unberührt; 315 wesentliche Neuerungen brachte aber insbesondere die Implementierung von Art. 130r EWGV und Art. 100a EWGV. Ungeachtet sonstiger Aspekte 316 soll im Folgenden darauf eingegangen werden, inwieweit diese beiden eingefügten Rechtsvorschriften zum einen materielle Vorgaben des Umweltschutzes normierten und zum anderen das kompetentielle Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten diesbezüglich regelten.

308

Nachweise bei Kahl, Umweltprinzip, 1993, 10 (Fußn. 4). Im dritten Erwägungsgrund der Präambel wird auf die „stetige Besserung der Lebens· und Beschäftigungsbedingungen" Bezug genommen. Art. 2 EWGV enthielt in seiner damaligen Fassung lediglich den Hinweis auf „eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens" sowie „eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung". 310 AB1.EG 1973, Nr. C 112/1; 1977, Nr. 139/1; 1983, Nr. C 46/1. 311 Vgl. Epiney, in: BBPS, Rn. 1173; Bleckmann, Rn. 2813; Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), vor Art. 130r, Rn. 13. 312 Dazu Bleckmann, Rn. 2814; Herdegen, Rn. 413; Oppermann, Rn. 1999 ff.; Schweitzer/Hummer, Rn. 1565; Streinz, Rn. 929. 313 Breier/Vygen, in: Lenz, Art. 6, Rn. 3. 314 Vgl. Artt. 18 u. 25 EEA. 315 Damit wurde der entsprechenden Forderung des EP nicht gefolgt, welche eine Erweiterung des Aufgabenkatalogs in Art. 2 EWGV bzw. der Tätigkeitsfelder in Art. 3 EWGV vorgesehen hatte; vgl. ABl.EG 1986, Nr. C 68/47. 316 Weiterführend z.B. Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (160 ff.). 309

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

171

(1) Handlungsprinzipien, Querschnittsklause und Berücksichtigungsgebote Zunächst wurden durch Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV besondere Grundsätze im Hinblick auf die gemeinschaftliche Tätigkeit im Bereich der Umwelt festgelegt. Mit dem Vorbeugeprinzip, dem Ursprungsprinzip sowie dem Verursacherprinzip enthielt Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV dabei drei Rechtsprinzipien, 317 welche nicht nur politische Handlungsmaximen darstellten. 318 Durch das Vorbeugeprinzip wird auf dem Gebiet der Umweltpolitik ein antizipatorisch-präventives Vorgehen in den Mittelpunkt gerückt. 319 Danach soll möglichen Gefahren für die Umwelt bereits im Ansatz begegnet werden; die Beseitigung umweltgefährdender Zustände ist als reaktiver Zielverfolgungsmaßstab demgegenüber nachrangig. Dem Vorbeugeprinzip des Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV entspricht insbesondere die Abfallvermeidung (vor Abfallbeseitigung), 320 die Emissionsverhinderung (vor Emissionsminderung), 321 die Öffentlichkeitsaufklärung (vor repressiver Inanspruchnahme) 322 sowie allgemein die Förderung umweltfreundlicher Technologien und regenerativer Energien. A n dieser Stelle wird bereits ein grundfreiheitlich relevantes Spannungsfeld sichtbar: ein Mitgliedstaat kann zum Beispiel durch gezielte Förderung erneuerbarer Energieträger einerseits dem Vorbeugeprinzip entsprechen, zugleich aber den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr einschränken. Das in Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV normierte Ursprungsprinzip zielt als eigenständiges323 Prinzip darauf, möglichen Beeinträchtigungen der Umwelt dort entgegenzuwirken, wo sie konkret auftreten. 324 Angestrebt wird so eine Verminderung umweltbelastender Einflüsse „an der Quelle". 325 Ursprungsprinzip und Vorbeugeprinzip verstärken sich in ihrer Zielrichtung gegenseitig; beide

317

Kahl, Umweltprinzip, 1993, 21 bezeichnet sie als „Spezialprinzipientrias". Dazu Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), vor Art. 130r, Rn. 32; Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (174). Abweichend Krämer, EuGRZ 1989, 353 ff. (356). 319 Vgl. Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 13Or, Rn. 37; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 22; Krämer, in: GTE, Art. 130r, Rn. 22. 320 Kahl, Umweltprinzip, 1993, 22. 321 Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 37. 322 Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (174). 323 Vgl. Oppermann, Rn. 2010. 324 Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 43; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 22. 325 So die Formulierung im 3. Umweltaktionsprogramm; vgl. ABl.EG 1983, Nr. C 46/1 f. 318

172

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Prinzipien können parallel verwirklicht werden, indem Präventivmaßnahmen an möglichen Gefahrenquellen ansetzen.326 Auch dadurch wird deutlich, dass mit der primärrechtlichen Verankerung des Ursprungsprinzips in Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV vorrangig ein punktueller Umweltschutz gefördert wird. Hieraus ließen sich möglicherweise Konsequenzen für die - grundfreiheitlich eingeschränkte - Regelungsautonomie einzelner Regionen oder Gemeinden eines Mitgliedstaates ableiten. Als drittes Prinzip des Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV ist das Verursacherprinzip zu nennen. Überwiegend wird hierunter ein - extensiv zu interpretierender Kostentragungsgrundsatz verstanden. 327 Im Gegensatz zum Gemeinlastprinzip soll der (potentielle) Verursacher einer Umweltbelastung finanziell zur Verantwortung gezogen werden, 328 ohne dass hierbei an ein etwaiges Tatbestandsmerkmal der Illegalität anzuknüpfen ist. 329 Da allerdings konkrete Kriterien für die Umsetzung des Verursacherprinzips fehlen, 330 ist es als solches nicht operabel und kann nur als materielles Zurechnungsprinzip interpretiert werden. 331 Besondere Bedeutung erlangt es diesbezüglich im Bereich der Rechtfertigung von Umweltabgaben.332 Über das Verursacherprinzip des Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV wird mithin vor allem der Bereich der steuerlichen Vorschriften angesprochen. 333 Nachdem dort jedoch strukturelle Parallelitäten zu den klassischen Grundfreiheiten bestehen,334 ließe sich auch im Rahmen einer grundfreiheitlichen Dogmatik daran anknüpfen. Zur Verdeutlichung sei auf den Fall verwiesen, dass ein Mitgliedstaat Getränkeherstellern und -Importeuren die kosten-

326 Der Wortlaut des Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV unterschied die beiden genannten Prinzipien allerdings dahingehend, dass das Urprungsprinzip nur „nach Möglichkeit" zu verwirklichen sei. 327 Vgl. Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 13Or, Rn. 46; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 26; Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (174); restriktiver dagegen Krämer, EuGRZ 1989, 353 ff. (361). 328 Deutlicher war insoweit Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV in der englischen bzw. französischen Textfassung: „the polluter should pay" bzw. „pollueur-payeur". Ähnlich auch die italienische Fassung: „qui inquina paga". 329 Kahl, Umweltprinzip, 1993, 23; a.A. Krämer, EuGRZ 1989, 353 ff. (361). 330 Näher Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 48. 331 Vgl. allg. Kloepfer, Umweltrecht, 1998, § 4, Rn. 36 sowie speziell im Hinblick auf Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (173). 332 Vgl. Breuer, DVB1. 1992, 485 ff. (494 ff.); Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 49 ff. 333 Damals Artt. 95 ff. EWGV, nunmehr Artt. 90 ff. EG. 334 Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (204) sowie bereits oben 1. Kapitel A. II., S. 48.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

173

Pflichtige Errichtung eines Pfand- und Rücknahmesystems für Leergut auferlegt." 5 Neben den vorgenannten drei Handlungsprinzipien wurde durch die EEA die Querschnittsklausel des Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV implementiert: 336 „Die Erfordernisse des Umweltschutzes sind Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft". Der Gedanke des Umweltschutzes diente so nicht nur als Grundlage einer bestimmten sektoriellen Gemeinschaftspolitik, sondern wurde darüber hinaus ein integrierender Faktor im Hinblick auf alle übrigen Politiken der Gemeinschaft. 337 Eine solche normativ abgesicherte Vernetzung gemeinschaftlicher Politikbereiche war zum damaligen Zeitpunkt einmalig. 338 Hieraus wurde die umfassende und herausragende Bedeutung des Umweltschutzes für die gemeinschaftliche Rechtssetzungstätigkeit abgeleitet;339 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entwickelte sich so zu einer Umweltgemeinschaft. 340 Mit Einführung der Querschnittsklausel wurde indes kein allgemeiner Vorrang des Umweltschutzgedankens vor anderen Gemeinschaftszielen begründet. 341 Der Wortlaut des Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV bietet für ein solches Rangverhältnis keinen Anhaltspunkt, 342 sondern betont lediglich mögliche Zielkollisionen. 343 Die Querschnittsklausel wird somit zum wesentlichen Anknüpfungspunkt eines UmwQÌtprinzips, 344 welches im Sinne eines Optimierungsge-

335

In Anlehnung an EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988,4607. Vgl. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 6 EGV, Rn. 1; Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 13Or, Rn. 58ff; Hailbronner, EuGRZ 1989, 101 ff. (104); Kahl, Umweltprinzip, 1993, 26 f.; Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (176 f.). 337 Daher wird statt der Bezeichnung als Querschnittsklausel auch die Formulierung „Integrationsklausel" oder „Integrationsprinzip" verwendet; vgl. Breier/Vygen, in: Lenz, Art. 6, Rn. 3; Krämer, in: GTE, Art. 130r, Rn. 29. 338 Dies betont z.B. Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (176) m.w.N. Aktuell finden sich im EG-Vertrag weitere Querschnittsklauseln; vgl. Artt. 151 Abs. 4, 153 Abs. 2, 157 Abs. 3, 178 EG. 339 Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 58; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 26. Vgl. dazu bereits das dritte Umweltaktionsprogramm: „Entwicklung einer umfassenden Strategie", ABl.EG 1983, Nr. C 46/5. 340 Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (176). 341 So aber Hailbronner, EuGRZ 1989, 101 ff. (104); Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (176 f.). 342 Wenn danach die Erfordernisse des Umweltschutzes „Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft" sind, so wird über die Gewichtung dieses Bestandteiles keine Aussage getroffen. 343 Vgl. auch Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 59. 344 Zur Bedeutung von Rechtsprinzipien siehe bereits oben 1. Kapitel Β. I. 3, S. 53 f. 336

174

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

bots auf jene Zielkonflikte einwirkt. 345 Kollisionen sind im Wege der Abwägung zu lösen, 346 wobei von einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit zwischen Umweltschutz und sonstigen Gemeinschaftszielen auszugehen ist. 347 Der Charakter der Querschnittsklausel als ökologischer Transmissionsriemen erhellt sich insbesondere im gemeinschaftsrechtlichen Interessenkonflikt zwischen Wirtschaft einerseits und Umwelt andererseits. 348 Gerade im ökonomisch-ökologischen Spannungsfeld vermittelt die Querschnittsklausel zugleich die besondere Bedeutung des Umweltprinzips fur eine Dogmatik der Grundfreiheiten. Die grundfreiheitlichen Vorschriften sind in ihrer Interpretation zunächst an der gemeinschaftlichen Binnenmarktkonzeption auszurichten; 349 sie erhalten insofern eine spezifisch ökonomische Prägung. Aufgrund der umweltpolitischen Querschnittsklausel sind jedoch auch im Bereich der Grundfreiheiten ökologische Aspekte zu berücksichtigen. Die systemgerechte Verbindung jener teilweise unterschiedlichen Zielrichtungen muss eine grundfreiheitliche Dogmatik bewältigen. Als weitere materielle umweltpolitische Regelung brachte die EEA die primärrechtliche Normierung der so genannten Berücksichtigungsgebote in Art. 130r Abs. 3 EWGV, welche im Zusammenhang mit der - ebenfalls durch die EEA eingeführten - Regelung des damaligen Art. 100a Abs. 3 EWGV zu sehen sind. 350 Die vier Berücksichtigungsgebote des Art. 130r Abs. 3 EWGV wurden auf Wunsch einiger Mitgliedstaaten kodifiziert, 351 um mitgliedstaatlichen Bedenken gegenüber einer gemeinschaftlichen Umweltpolitik Rechnung zu tragen. 352 Im Einzelnen beziehen sie sich auf die verfugbaren Daten, 353 die

345

Näher Kahl, Umweltprinzip, 1993, 72. Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 59. 347 In anderer Richtung abweichend Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. (617), wonach „die Gemeinschaft [...] vorrangig eine Wirtschaftsgemeinschaft" sei. Dieser Vorrang wirtschaftlicher Zielsetzung ist mit der umweltpolitischen Querschnittsklausel jedoch schwerlich zu vereinbaren. 348 Speziell zum Verhältnis von Binnenmarkt und Umweltschutz vgl. Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 61. 349 Vgl. dazu die obigen Ausführungen unter I, S. 122 ff 350 Allg. zu den Berücksichtigungsgeboten des Art. 130r Abs. 3 EWGV z.B. Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 65 ff.; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 172 ff.; Krämer, in: GTE, Art. 130r, Rn. 33; Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (177 f.). 351 Vgl. i.E. Kahl, Umweltprinzip, 1993, 172 f. m.w.N. 352 Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 66; Oppermann, Rn. 2013; Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (177). 346

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

175

regionalen Umweltbedingungen,354 die Vor- und Nachteile einer umweltpolitischen Maßnahme bzw. ihrer Unterlassung 355 sowie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gemeinschaft insgesamt.356 Als Gegengewicht zur Querschnittsklausel des Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV kommt den Berücksichtigungsgeboten jedoch nur ein begrenzter Gehalt zu. 357 Bereits der Wortlaut des Art. 130r Abs. 3 EWGV bietet hierfür einen ersten Anhaltspunkt. 358 Ebenso verdeutlichen die einzelnen Kriterien selbst ihre relativierte Bedeutung. So ist die Berücksichtigung der verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Daten eine Selbstverständlichkeit; 359 auch die erforderliche Kosten-Nutzen-Analyse 360 stellt nur eine Ausprägung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. 361 Im vorliegenden Kontext ist darüber hinaus die Regelung des Art. 100a Abs. 3 EWGV zu berücksichtigen. Mit dieser Vorschrift wurde über die EEA ein hohes Umweltschutzniveau für die binnenmarktbezogene Rechtsangleichung als Bezugsrahmen normiert. Dieses hohe Schutzniveau kann über die als bloße Abwägungsleitlinien gefassten Berücksichtigungsgebote des Art. 13Or Abs. 3 EWGV nicht beeinträchtigt werden. 362 Neben der Querschnittsklausel ist gerade die Verpflichtung auf ein hohes Umweltschutzniveau im Regelungsbereich des Binnenmarktes wesentlicher Anknüpfungspunkt für eine Dogmatik der Grundfreiheiten. 363 Die in Art: 130r

353

Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 1 EWGV. Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 2 EWGV. 355 Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 3 EWGV. 356 Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 4 EWGV. 357 Ebenso die h.L.; vgl. dazu die Nachweise bei Kahl, Umweltprinzip, 1993, 173. 358 Gem. Art. 130r Abs. 3 EWGV werden von der Gemeinschaft bestimmte Kriterien lediglich „berücksichtigt", während nach der Querschnittsklausel die Erfordernisse des Umweltschutzes „Bestandteil" der anderen Politiken der Gemeinschaft sind. 359 Die weitergehende britsche Forderung nach eindeutigen wissenschaftlichen Kausalitätsnachweisen vor Ergreifung umweltpolitischer Maßnahmen ist dagegen gerade nicht in Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 1 EWGV umgesetzt worden; vgl. Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (177). 360 Die englische Fassung des Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 3 EWGV enthielt die Formulierung „potential benefits and costs". 361 Ebenso Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 72; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 173 m.w.N. 362 Zutreffend Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130r, Rn. 66. 363 Die besondere Bedeutung des Art. 100a EWGV für eine grundfreiheitliche Dogmatik ergibt sich daraus, dass diese Vorschrift - wie die Grundfreiheiten selbst - im Schnittpunkt der Leitlinien Umweltschutz und Binnenmarkt liegt. 354

176

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Abs. 3 EWGV erstmals kodifizierten Berücksichtigungsgebote sind demgegenüber von untergeordneter Bedeutung.

(2) Aufgabenverteilung

zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten

Neben den oben genannten Vorgaben wurden über die EEA einige notwendige primärrechtliche Regelungen in den EWG-Vertrag eingefügt, welche die umweltpolitische Aufgabenverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten berühren. Zu nennen ist hier insbesondere das umweltpolitische Subsidiaritätsprinzip 364 des Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV. 3 6 5 Ähnlich der heutigen Diskussion um Art. 5 Abs. 2 EG war zunächst dessen Justitiabilität umstritten; 366 insofern kann auf die obigen Ausführungen zur gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung verwiesen werden. 367 Entscheidend ist aber der normative Gehalt des Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV. Der Wortlaut dieser Vorschrift fordert zunächst, mitgliedstaatliche Handlungsspielräume nicht mehr als notwendig zu begrenzen. 368 Eine an teleologischen Aspekten ausgerichtete Interpretation relativiert dieses rein kompetentielle Verständnis dahingehend, dass mit Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV weniger eine strikte Trennung von Zuständigkeitsbereichen als vielmehr ein spezifisches Zusammenwirken von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten intendiert wurde. 369 Über eine Vereinbarung der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten war diesbezüglich schon vor der EEA ein Konzept in die Praxis umgesetzt worden, wonach die Initiative umweltpolitischer Maßnahmen zu-

364

Teilweise werden für Art. 130r Abs. 4 EWGV andere Bezeichnungen verwendet, um dem Normverständnis im Sinne einer strikten Trennung von gemeinschaftlichen und mitgliedstaatlichen Zuständigkeitsbereichen entgegenzuwirken; vgl. z.B. Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (164): „Besserklausel", Pernice , DV 1989, 1 ff. (34): „Optimierungsregel". 365 Eingehend hierzu Kahl, Umweltprinzip, 1993, 27 ff. 366 Für eine nur politische Orientierung z.B. Krämer, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 1988, 137 ff. (142); dagegen Pernice, DV 1989, 1 ff. (34, Fußn. 181); Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (64). 367 Siehe oben II. 1. b) aa), S. 154 ff. 368 Zahlreiche Nachweise zu diesem Verständnis als strikter Subsidiaritätsklausel bei Kahl, Umweltprinzip, 1993, 29. 369 Vgl. mit Unterschieden im Detail Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 13Or, Rn. 83; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 35 f.; Pernice , DV 1989, 1 ff. (34 f.); Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (165 f.).

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

177

meist von nationaler Ebene ausging, die Umsetzung anschließend aber unter gemeinschaftsweiter Koordination erfolgte. 370 Auch die Schutzverstärkungsklauseln in Art. 100a Abs. 4 EWGV und Art. 130t EWGV tangieren den von der EEA neu strukturierten Bereich umweltpolitischer Aufgabenverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten; 371 sie sind im Zusammenhang mit der vorgenannten Subsidiaritätsklausel zu sehen.372 Durch ihre primärrechtliche Verankerung sollte der Gefahr einer Nivellierung umweltpolitischer Schutzstandards auf niedrigstem gemeinsamen Niveau begegnet werden. 373 Mit den Schutzverstärkungsklauseln wird erneut das Spannungsfeld zwischen ökonomischer und ökologischer Zielverwirklichung angesprochen, 374 wodurch sich deren Relevanz fur eine grundfreiheitliche Dogmatik erhellt. Hier zeigt sich wiederum die Relativität des Umweltschutzgedankens im Gemeinschaftsrecht; 375 der Umweltschutz wird nicht in ein absolutes Rangverhältnis zu anderen Gemeinschaftszielen gestellt, sondern in Form eines Umweltprinzips als Abwägungsleitlinie berücksichtigt. 376 Besonders deutlich kommt dies in Art. 100a Abs. 4 EWGV zum Ausdruck, indem dort die funktionale Bedeutung von Umweltschutzaspekten als Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten betont wird. 3 7 7 Bemerkenswer-

370

Vereinbarung der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 5.3.1973 über die Unterrichtung der Kommission und der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die etwaige Harmonisierung von Dringlichkeitsmaßnahmen im Bereich des Umweltschutzes für das gesamte Gebiet der Gemeinschaft, ABl.EG 1973, Nr. C 9/1. Vgl. dazu auch Titel I, Nr. 23 des zweiten Umweltaktionsprogramms von 1977; ABl.EG 1977, Nr. 139/8. 371 Vgl. Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (167 ff.); Zuleeg, NVwZ 1987, 280 ff. (284). 372 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, 1998, § 9, Rn. 39. 373 Näher Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (168) mit Verweis auf die bisherige Richtlinienpraxis. 374 Mit Blick auf Art. 100a Abs. 4 EWGV ebenso Pernice , DV 1989, 1 ff. (10). Vgl. auch Krämer, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 1988, 137 ff. (153 ff.). 375 Siehe bereits die obigen Ausführungen unter (1) zur umweltpolitischen Querschnittsklausel, S. 171 ff. 376 Vgl. auch Pernice, DV 1989, 1 ff. (10) unter Bezugnahme auf Art. 100a Abs. 4 EWGV. 377 Dazu auch Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 100a, Rn. 64; Lietzmann, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 1988, 163 ff. (175); Pernice, DV 1989, 1 ff. (10 ff.); Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (169 f.). 12 Mühl

178

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

terweise werden hier in einer primärrechtlichen Vorschrift die Erfordernisse des Umweltschutzes und die Rechtfertigungsgründe des damaligen Art. 36 EWGV ohne weitergehende Differenzierung nebeneinander genannt.378 In abstrakterer Formulierung bestätigt auch Art. 130t EWGV den Zusammenhang zwischen Umweltschutz und anderen Gemeinschaftszielen. 379 Danach sind den Mitgliedstaaten lediglich solche Schutzverstärkungsmaßnahmen erlaubt, welche „mit diesem Vertrag vereinbar sind". 380 Insgesamt werden damit die obigen Ausführungen betreffend Handlungsprinzipien, Querschnittsklausel und Berücksichtigungsgebote bestätigt.381 Sowohl die umweltpolitische Subsidiaritätsregel des Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV als auch die Schutzverstärkungsklauseln in Art. 100a Abs. 4 EWGV und Art. 130t EWGV verdeutlichen eine dort bereits zum Ausdruck gekommene doppelte Tendenz: Die primärrechtliche Implementierung des Umweltschutzgedankens durch die EEA führte zur Festigung des hohen Stellenwerts gemeinschaftsweiter Umweltpolitik und zur Aufwertung des Umweltschutzes insgesamt; 382 zugleich war sie Ausdruck des Versuchs, mitgliedstaatliche Regelungskompetenzen nur im notwendigen Maße zu beschränken. 383

378 Anders bekanntlich die differenzierende EuGH-Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit, wonach der Umweltschutz als „zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses" einen engeren Anwendungsbereich besitzen soll als die in Art. 36 EWGV (jetzt Art. 30 EG) kodifizierten Rechtfertigungsgründe; vgl. unter Geltung des EWGVertrages EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 6 ff., aus späterer Zeit etwa EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-4431, Rn. 32 u. 34; EuGH, Rs. C-284/95 (Safety Hi-Tech), Slg. 1998, 1-4301, Rn. 64; EuGH, Rs. C341/95 (Bettati), Slg. 1998, 1-4355, Rn. 62; EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 20 ff. 379 Ebenso Lietzmann, in: Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, 1988, 163 ff. (175); Scheuing,, EuR 1989, 152 ff. (169 f.). 380 Zur Frage, ob aufgrund dieser Formulierung eine Vereinbarkeit der Schutzmaßnahme nur mit dem Primärrecht oder auch mit dem Sekundärrecht gefordert wird, vgl. einerseits Hailbronner, EuGRZ 1989, 101 ff. (112); Zuleeg, NVwZ 1987, 280 ff. (284); andererseits Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 130t, Rn. 14. 381 Siehe oben (1), S. 171. 382 Vgl. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 174 EGV, Rn. 3; Zuleeg, NVwZ 1987, 280 ff. (286). 383 Näher zum arbeitsteiligen Zusammenwirken von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten im Bereich der Umweltpolitik z.B. Pernice , DV 1989, 1 ff. (42 ff.); Scheuing, EuR 1989, 152 ff. (167).

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

179

bb) Neuorientierung nach Maastricht Über den Unionsvertrag von Maastricht wurden weitere Ergänzungen des EG-Primärrechts im Umweltbereich vorgenommen. 384 Zum Teil wurden die oben angesprochenen umweltpolitischen Grundlagen modifiziert, teilweise sind neue Aspekte hinzugetreten. Unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse soll dies im Folgenden näher untersucht werden, soweit Berührungspunkte mit der grundfreiheitlichen Dogmatik nicht ausgeschlossen werden kön-

(1) Grundsatzbestimmungen Mit der Eingliederung des Umweltschutzziels in die Grundsatzbestimmungen von Art. 2 EGV 3 8 6 und Art. 3 lit. k EGV 3 8 7 erfolgte eine erste wesentliche Neuerung durch den Maastrichter EU-Vertrag. 388 Dadurch wurde nicht nur der früheren Forderung des Europäischen Parlamentes (verspätet) Rechnung getragen; 389 vielmehr hat der Umweltschutzgedanke im Gemeinschaftsrecht über die Verankerung in Art. 2 EGV und Art. 3 lit. k EGV insgesamt eine Aufwertung erfahren. 390 Über die speziellen Regelungen in Artt. 130r bis 130t EGV hinaus wurden damit für den Bereich der Umweltpolitik weitere Auslegungsmaßstäbe zur Verfügung gestellt. 391 Konkrete Rechtsfolgen dürften sich allein aus der

384

Vgl. i.E. den Überblick bei Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. u. Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 258 ff. 385 Ausgeklammert bleiben beispielsweise wesentliche Änderungen primärrechtlicher Verfahrensregeln durch den Vertrag von Maastricht. Weiterführend insoweit die in der vorgehenden Fußn. Genannten. 386 Art. 2 EGV spricht von einem „umweltverträglichen Wachstum" als Ziel. 387 Über Art. 3 lit. k EGV wurde eine „Politik auf dem Gebiet der Umwelt" in Aufzählung gemeinschaftlicher Tätigkeitsfelder aufgenommen. 388 Vgl. darüber hinaus die Erwähnung des zu stärkenden Umweltschutzes im siebten Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages. 389 Dazu bereits oben bei Fußn. 315. 390 Ebenso Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 259; Voß/Wenner, NVwZ 1994, 332 ff. (334). 391 Zur Bedeutung der Grundsatzartikel als Interpretationshilfe vgl. nur EuGH, Rs. 32/65 (Italien/Kommission), Slg. 1966, 457 (483); EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche), Slg. 1979, 461, Rn. 125; EuGH, Rs. 15/81 (Schul), Slg. 1982, 1409, Rn. 33; EuGH, Rs. 53/81 (Levin), Slg. 1982, 1035, Rn. 15; EuGH, Rs. 299/86 (Drexl), Slg. 1988, 1213, Rn. 24. 1*

180

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Erwähnung des Umweltschutzes als Gemeinschaftsziel allerdings nicht ergeben. 392

(2) Hohes Schutzniveau mit regionalem Bezug Durch den EU-Vertrag hinzugekommen war auch die Regelung in Art. 130r Abs. 2 S. 1 EGV, wonach im Rahmen der Umweltpolitik ein hohes Schutzniveau unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Gemeinschaft angestrebt wurde. 393 Obwohl mit Art. 100a Abs. 3 EWGV bereits eine Schutzniveauklausel im EG-Primärrecht existierte, 394 stellte Art. 130r Abs. 2 S. 1 EGV insoweit ein Novum dar. 395 Erstmals wurde hierdurch das Gebot eines hohen umweltbezogenen Schutzniveaus mit der erforderlichen Berücksichtigung regionaler Besonderheiten verknüpft. 396 Wenngleich eine Legaldefinition des hohen Schutzniveaus fehlte, 397 so wurde mit der Neufassung durch den Vertrag von Maastricht klargestellt, dass jenes keinen absoluten, sondern einen relativen Charakter trägt. 398

(3) Handlungsprinzipien, Querschnittsklause und Berücksichtigungsgebote Der Maastrichter Unionsvertrag brachte zudem geringfügige Änderungen im Hinblick auf die Handlungsprinzipien in Art. 130r Abs. 2 S. 2 EGV. Die ursprüngliche Prinzipientrias wurde grundsätzlich beibehalten.399 Das in der Fas-

392

Ebenso Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (373). Näher dazu Krämer, in: GTE, Art. 130r, Rn. 18 ff. 394 Siehe oben bei Fußn. 362. 395 Der eigenständige Gehalt von Art. 130r Abs. 2 S. 1 EGV zeigt sich schon daran, dass die ursprüngliche Vorschrift des Art. 100a Abs. 3 EWGV unverändert in Art. 100a Abs. 3 EGV übernommen wurde. 396 Die normativ geforderte Berücksichtigung der Regionen im Rahmen gemeinschaftlicher Umweltpolitik war isoliert bereits in Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 4 EWGV enthalten. Zur Abgrenzung zwischen Art. 130r Abs. 2 S. 1 EGV und Art. 130r Abs. 3, Spiegelstricht 4 EGV vgl. Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (383). Dass Art. 130r Abs. 2 S. 1 EGV insoweit die ursprüngliche Regelung lediglich wiederholt, dürfte nicht anzunehmen sein; so aber Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 261. 397 Krämer, in: GTE, Art. 130r, Rn. 19. 398 Zutreffend Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (383 f.). 399 Siehe bereits oben aa) (1 ), S. 171. 393

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

181

sung der EEA erwähnte Vorbeugeprinzip ergänzten die Vertragsparteien um den Grundsatz der Vorsorge, wodurch sich indes keine weitreichenden Änderungen ergeben haben. 400 Eine Aufwertung der Handlungsprinzipien erfolgte jedoch dadurch, dass das Ursprungsprinzip nun nicht mehr nur „nach Möglichkeit" zu verfolgen ist, 401 sondern „Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem Ursprung zu bekämpfen [sind]". 402 Die Querschnittsklausel des früheren Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV findet sich im Anschluss an den Vertrag von Maastricht umformuliert in Art. 130r Abs. 2 S. 3 EGV. Während nach der EEA die umweltpolitische Querschnittsklausel einen eher feststellenden Charakter hatte, 403 wurde die übergreifende Berücksichtigung von Umweltschutzaspekten in einen noch zu verwirklichenden Zustand umgeschrieben. 404 Ungeachtet der Frage, ob dadurch eine Änderung der Rechtslage gegenüber der EEA impliziert wurde, 405 dokumentiert die Neuregelung in Art. 130r Abs. 2 S. 3 EGV nach außen einen erhöhten Stellenwert des Umweltschutzes.406 Insbesondere wurde primärrechtlich klargestellt, 407 dass die umweltpolitische Querschnittsaufgabe auch die mitgliedstaatlichen Vollzugskompetenzen im Gemeinschaftsrecht berührt. 408 Die oben angesprochenen Berücksichtigungsgebote sind durch die Einwirkungen des Maastrichter Unionsvertrages nahezu unverändert geblieben.409 Die

400

Krit. zu diesem Nebeneinander von Vorbeuge- u. Vorsorgeprinzip Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 261 f.; Krämer, in: GTE, Art. 130r, Rn. 21; a.A. Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (384 ff.). 401 Dazu oben bei Fußn. 326. 402 Art. 130r Abs. 2 S. 2 EGV (Hervorh. d. Verf.). 403 Vgl. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 6 EGV, Rn. 2. 404 „Die Erfordernisse des Umweltschutzes müssen [...] einbezogen werden", Art. 130r Abs. 2 S. 3 EGV. 405 Verneinend z.B. Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (386). 406 Vgl. dazu Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 262 mit Verweis u.a. auf das fünfte Umweltaktionsprogramm der Gemeinschaft. 407 Vgl. Art. 130r Abs. 2 S. 3 EGV: „Die Erfordernisse des Umweltschutzes müssen bei der Festlegung und Durchßhrung anderer Gemeinschaftspolitiken einbezogen werden"; Hervorh. d. Verf. 408 Näher dazu Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 6 EGV, Rn. 12; Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (387 f.) m.w.N.; Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 262. 409 Siehe oben bei Fußn. 350.

182

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

diesbezüglich allein neu formulierte Vorschrift des Art. 130r Abs. 3, Spiegelstrich 3 EGV dürfte keine substantielle Veränderung gebracht haben.410

(4) Aufgabenverteilung

zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten

Schließlich wurde durch den EU-Vertrag von Maastricht das normative Konzept der umweltpolitischen Aufgabenverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten geringfügig geändert. Das umweltbezogene Subsidiaritätsprinzip nach der EEA ist in dem durch den Vertrag von Maastricht kodifizierten allgemeinen Subsidiaritätsprinzip des Art. 3b Abs. 2 EGV aufgegangen. 411 Gegenüber der ursprünglichen Vorschrift des Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV kommt dem allgemeinen Subsidiaritätsprinzip ein eigenständiger Gehalt zu. 4 1 2 Hierin ist eine korrespondierende Entwicklung zu der bereits erwähnten Implementierung des Umweltschutzes in den primärrechtlichen Grundsatzbestimmungen zu erblicken. 413 Entsprechend der Aufwertung des Umweltschutzgedankens durch Art. 2 EGV und Art. 3 lit. k EGV haben die Mitgliedstaaten den gemeinschaftlichen Umweltschutz in ihre Politik zu integrieren; erfolgt dies nur unzureichend, so kann die Gemeinschaft diese Kompetenz an sich ziehen. 414 Die Schutzverstärkungsklauseln der früheren Art. 100a Abs. 4 EWGV und Art. 130t EWGV sind hingegen durch den Unionsvertrag von Maastricht inhaltlich nicht verändert worden. 415 Lediglich Art. 130t EGV enthält gegenüber der früheren Formulierung einen abweichenden Wortlaut, 416 ohne jedoch sachliche Modifikationen zu implizieren. 417

410

Ebenso Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (380, Fußn. 85). Näher Krämer, in: GTE, Vorbemerkung zu Artt. 130r bis 130t, Rn. 61 ff.; Steinberg, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 293 ff. 412 Vgl. Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (374); Steinberg, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 293 ff. (294). 413 Dazu oben (1), S. 179. 414 So Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff (374). 415 Zu den Schutzverstärkungsklauseln siehe bereits oben bei Fußn. 371. 416 V g l . zur Vereinbarkeitsklausel des Art. 130t S.2 EGV sowie zur Notifizierungspflicht nach Art. 130t S. 3 EGV Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (402). 417 Ebenso z.B. Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 269; Krämer, in: GTE, Art. 130t, Rn. 1. 411

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

183

In der Gesamtbetrachtung wird deutlich, dass durch den Vertrag von Maastricht sowohl ältere Fragestellungen gelöst als auch neue Problemfelder geschaffen wurden. 418 Im Vergleich zu den umweltpolitischen Regelungen der EEA zeigt sich jedoch eine gewisse Kontinuität; die dort konstatierte zweigleisige Tendenz setzt sich nach Maastricht in verstärktem Maße fort. 419 Zum einen wird der Umweltschutzgedanke weiter primärrechtlich festgeschrieben und insgesamt aufgewertet. Zugleich erhöht sich demgegenüber die Sensibilität hinsichtlich der Einschränkung mitgliedstaatlicher Regelungskompetenzen; die Möglichkeiten, vom gemeinschaftlichen Umweltschutzstandard abzuweichen, werden nach oben und unten erweitert. 420

cc) Primärrechtliche Verankerung des Umweltprinzips nach Amsterdam Auch der Vertrag von Amsterdam brachte eine Umgestaltung der primärrechtlichen Vorschriften im Bereich europäischer Umweltpolitik. 421 Dabei wurde weniger eine grundlegende Reform des bestehenden Normgefüges angestrebt, sondern der bislang festgeschriebene hohe Stellenwert gemeinschaftsweiten Umweltschutzes im Primärrecht konsolidiert. 422

(1) Art. 2 EG Innerhalb der Grundsatzbestimmung des Art. 2 EG ist zunächst der Umweltschutz als Gemeinschaftsziel deutlicher hervorgehoben worden. 423 Hierzu zählt auch die Ausrichtung der Gemeinschaftspolitiken auf eine „nachhaltige Entwicklung". 424 Wenngleich das Nachhaltigkeitskonzept noch einer weiteren

418

Vgl. Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (406 f.). Ähnlich die ambivalente Bewertung der umweltpolitischen Neuorientierung nach Maastricht von Jahns-Böhm, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht, 1996, 269 f. 419 Siehe oben bei Fußn. 382 u. 383. 420 Zutreffend Epiney/Furrer, EuR 1992, 369 ff. (407). 421 Einen Überblick geben Breier/Vygen, in: Lenz, Vorbem. Art. 174-176, Rn. 1 ff.; Schräder, UPR 1999, 201 ff; Schröder, NuR 1998, 1 ff. 422 Vgl. Jahns-Böhm, in: Schwarze, Art. 174 EGV, Rn. 1; Schröder, NuR 1998, 1 ff.

(1).

423

Während Art. 2 EGV lediglich ein „umweltverträgliches Wachstum" forderte, ist nach Art. 2 EG „ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität" anzustreben. 424 In Art. 2 EG wird der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung expressis verbis nur auf das Wirtschaftsleben bezogen. Anders insoweit das Unionsrecht; vgl. dazu den

184

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Konkretisierung bedarf, 425 so wird doch durch die Umformulierungen des Art. 2 EG der Umweltschutz in der primärrechtlichen Programmatik nach Amsterdam weiter aufgewertet. 426

(2) Schutzniveauklausel Darüber hinaus wurde der früheren Schutzniveauklausel des Art. 100a Abs. 3 EGV ein zweiter Satz angefügt; 427 danach „streben das Europäische Parlament und der Rat dieses Ziel ebenfalls an". 428 Hierdurch wird klargestellt, dass die Verpflichtung auf ein hohes Schutzniveau alle wichtigen Gemeinschaftsorgane betrifft. 429 Art. 95 Abs. 3 EG enthält insofern keine grundlegend neuen Aspekte, 430 festigt jedoch die gebotene Ausrichtung gemeinschaftlicher Tätigkeit auch an strengen umweltpolitischen Maßstäben.

(3) Art. 6 EG Besondere Erwähnung verdient eine Änderung des Primärrechts durch den Amsterdamer Vertrag bezüglich der umweltpolitischen Querschnittsklausel. 431 Diese betrifft sowohl den Wortlaut als auch die systematische Stellung der entsprechenden Norm. 432

achten Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages sowie Art. 2, Spiegelstrich 1 EUV. Näher zu dieser differenzierten Umsetzung Breier/Vygen, in: Lenz, Vorbem. Art. 174-176; Schröder, NuR 1998, 1 ff. (2). 425 Vgl. Schräder, UPR 1999, 201 ff. (201); Schröder, NuR 1998, 1 ff. (2); Streinz,, EuZW 1998, 137 ff. (144). 426 Ähnlich Hatje, in: Schwarze, Art. 2 EGV, Rn. 12 f. 427 Zu dem ebenfalls eingefügten Halbsatz in Art. 95 Abs. 3 S. 1 EG, wonach alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen zu berücksichtigen sind, vgl. nur Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 34 sowie Schröder, NuR 1998, 1 ff. (3). 428 Vgl. nunmehr Art. 95 Abs. 3 S. 2 EG. 429 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 15; Schröder, NuR 1998, 1 ff. (3). 430 Entsprechende Inhalte lassen sich bereits aus dem umformulierten Art. 2 EG deduzieren. 431 Dazu oben bei Fußn. 336 u. 404. 432 Vgl. insgesamt Breier/Vygen, in: Lenz, Art. 6, Rn. 4; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 6 EGV, Rn. 1; Freytag,, Europarechtliche Anforderungen an Umweltabgaben, 2001, 209 ff.; Jahns-Böhm, in: Schwarze, Art. 6 EGV, Rn. 7 f.; Schräder, UPR 1999, 201 ff. (203); Schröder, NuR 1998, 1 ff. (2 f.).

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

185

Zunächst wurde die frühere Vorschrift des Art. 13Or Abs. 2 S. 3 EGV dem speziellen Regelungssystem der Artt. 130r ff. EGV entnommen und als Art. 6 EG vor die Klammer der gesamten gemeinschaftlichen Tätigkeit gezogen. Durch die Einbettung der umweltpolitischen Querschnittsklausel in den Ersten Teil des EG-Vertrages („Grundsätze") wird eine erneute Stärkung gemeinschaftsweiten Umweltschutzes erreicht. 433 Beachtenswert erscheint die veränderte systematische Stellung vor allem deshalb, weil die sonstigen Querschnittsklauseln im EG-Vertrag eine entsprechende Verlagerung nicht erfahren haben.434 Neben dieser systematischen Betrachtung ist auf eine Ergänzung im Wortlaut des Art. 6 EG hinzuweisen. Korrespondierend zur Umformulierung des Art. 2 EG ist demgemäß der Umweltschutz als Querschnittsaufgabe „insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung" in die gesamte gemeinschaftliche Tätigkeit einzubeziehen. Hier wird wiederum - diesmal ohne die Verengung auf das Wirtschaftsleben - das Schlagwort des „sustainable development" bemüht, um den gestiegenen Stellenwert des Umweltschutzes im Rechtssystem des EG-Vertrages zu dokumentieren. 435 Insgesamt wird durch die Änderungen der umweltpolitischen Querschnittsklausel dem Rechtsprinzip des Umweltschutzes zwar kein Vorrang eingeräumt; 436 dennoch wird so die Relevanz umweltbezogener Aspekte noch stärker als bisher betont.

(4) Nationale Schutzverstärkung

nach Art. 95 Abs. 4 und 5 EG

Der letzte hier anzusprechende Punkt tangiert die Regelung nationaler Schutzverstärkung in Art. 95 Abs. 4 und 5 EG. 437 Mit dem Amsterdamer Vertrag wird die frühere normative Grundlage des Art. 100a Abs. 4 UAbs. 1 EGV in eine differenziertere Vorschrift überführt, welche wesentliche Streitfragen

433

Ebenso Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 6 EGV, Rn. 3. Vgl. Artt. 151 Abs. 4, 153 Abs. 2, 157 Abs. 3, 178 EG. 435 Ähnlich Freytag, Europarechtliche Anforderungen an Umweltabgaben, 2001, 209 m.w.N.; Schräder, UPR 1999, 201 ff. (203); Schröder, NuR 1998, 1 ff. (2). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Umweltbericht 1998 der Bundesregierung, BTDrucks. 13/10735, 191. 436 Zutreffend Schröder, NuR 1998, 1 ff. (3). 437 Vormals Art. 100a Abs. 4 EGV; vgl. dazu oben bei Fußn. 371. 434

186

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

ausräumt. 438 Dies betrifft insbesondere die primärrechtliche Klarstellung, dass weiterreichende Umweltregelungen im nationalen Alleingang nicht nur beibehalten, sondern auch neu eingeführt werden können. 439 Zwar unterliegt ein solcher Erlass einzelstaatlicher Bestimmungen gemäß Art. 95 Abs. 5 EG strengen Voraussetzungen, 440 wodurch der Anwendungsbereich für einen nationalen Alleingang denkbar eng sein dürfte. 441 Mit Blick auf die - ebenfalls durch den Amsterdamer Vertrag implementierte - Vorschrift des Art. 11 EG ergibt sich insofern jedoch die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit mehrerer Mitgliedstaaten.442 Daher ist die Begründung höherer umweltbezogener Standards auf mitgliedstaatlicher Ebene auch in praxi nicht bedeutungslos. Zusammenfassend zeigt die Betrachtung der primärrechtlichen Grundlagen im rechtshistorischen Prozess eine stetige Aufwertung des Umweltschutzgedankens auf Gemeinschaftsebene. 443 Gegenüber der früheren Ausgestaltung des EG-Primärrechts ergeben sich nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages nunmehr vielfältige umweltpolitische Bezugspunkte, welche den besonderen Stellenwert des Umweltschutzes im Gemeinschaftsrecht zum Ausdruck bringen. Zu nennen sind hier Präambel, 444 Grundsatzbestimmungen, 445 Kompetenznormen 446 sowie Spezialregelungen betreffend die gemeinschaftliche Umweltpolitik. 447

438 in: Lenz, Vorbem. Art. 174-176, Rn. 1; Calliess, in: Vgl. Breier/Vygen, ders./Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 20. 439 Dazu Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 53; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 30; Schräder, UPR 1999, 201 ff. (204). Abweichend zuvor wohl noch EuGH, Rs. C-41/93 (Kommission/ Frankreich), Slg. 1994,1-1829, Rn. 26. 440 Näher Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 61 ff. 441 Dies gilt freilich nur im Hinblick auf bereits harmonisierte Bereiche; vgl. Schräder, UPR 1999, 201 ff. (204); Schröder, NuR 1998, 1 ff. (3). 442 Vgl. auch Breier/Vygen, in: Lenz, Vorbem. Art. 174-176, Rn. 1; Schröder, NuR 1998, 1 ff. (3). 443 Zur daraus abgeleiteten Diskussion um die Fortenwicklung der Europäischen Union zu einer Umweltunion vgl. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 174 EGV, Rn. 6 m.w.N. 444 Siehe den dritten Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrages. 445 Artt. 2 u. 3 lit. 1 EG. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Art. 2 Abs. 1, Spiegelstrich 1 EUV. 446 Insb. Art. 95 EG. 447 Artt. 174 ff. EG. Als sonstige Vorschrift ist darüber hinaus noch auf Art. 161 Abs. 2 EG zu verweisen.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

187

b) Rechtsprechung des Gerichtshofs Die zum positivierten EG-Recht gewonnenen Erkenntnisse sollen nachfolgend mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu umweltpolitischen Fragestellungen abgestimmt werden, um in der Zusammenschau möglicherweise weitergehende Tendenzen und insbesondere Konsequenzen fur eine grundfreiheitliche Dogmatik erfassen zu können.

aa )ADBHU Während der EuGH bereits in der Entscheidung Inter-Huiles 448 die Akzeptanz eines gemeinschaftsweiten Umweltschutzes zu erkennen gab, 449 nannte er im späteren Urteil ADBHU erstmals - soweit ersichtlich - den Umweltschutz expressis verbis als „wesentliches Ziel der Gemeinschaft". 450 Damit wurde in der Rechtspraxis des Gerichtshofs die vor Inkrafttreten der EEA bestehende faktische Entwicklung im Umweltbereich mit einer gewissen Verzögerung nachvollzogen.451 Zugleich hat der EuGH in abstrakter Weise den Umweltschutz mit Zielen des Allgemeininteresses verknüpft, um Beschränkungen handelsfreiheitlicher Grundsätze rechtfertigen zu können. 452 Auch wenn die Entscheidung ADBHU nicht unmittelbar zu den Grundfreiheiten erging, 453 sondern die sekundärrechtlich konkretisierten Grundsätze der Handelsfreiheit, des freien Warenverkehrs und des Wettbewerbs betraf, 454 werden hier bereits erste Parallelen zur grundfreiheitlichen Cassw-Rechtsprechung deutlich. 455

448

Vgl. EuGH, Rs. 172/82 (Inter-Huiles), Slg. 1983, 555, Rn. 14. Dazu sowie zu früheren Entscheidungen vgl. nur Kahl, Umweltprinzip, 1993, 12. 450 EuGH, Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531, Rn. 13 u. 15. 451 Vgl. Frey tag, Europarechtliche Anforderungen an Umweltabgaben, 2001, 239, Fußn. 102; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 12. Zur Rechtsentwicklung vor der EEA siehe oben bei Fußn. 312. 452 EuGH, Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531, Rn. 12 f. 453 Der Gerichtshof hatte gem. Art. 177 EWGV über die Auslegung der RL 75/439 des Rates vom 16.6.1975 über die Altölbeseitigung (AB1.EG 1975, Nr. L 194/31) zu entscheiden; vgl. EuGH, Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531, Rn. 1. Näher zur Richtlinienpraxis im Umweltbereich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH z.B. Everling, NVwZ 1993, 209 ff. (211 ff.). 454 Vgl. EuGH, Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531, Rn. 9. 455 Ebenso Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992, 25. Vgl. aus der früheren Rechtsprechung insoweit auch EuGH, Verb. Rs. 3/76, 4/76 u. 6/76 (Kramer), Slg. 1976, 1279, Rn. 28 ff.; EuGH, Rs. 272/80 (Biologische Producten), Slg. 1981, 3277, Rn. 11 ff. 449

188

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung bb) Dänische Pfandflaschen

Die vorgenannte Entwicklung hat der Gerichtshof mit der Entscheidung Dänische Pfandflaschen* 56 fortgeführt und präzisiert. 457 Dort judizierte der EuGH im Verfahren nach Art. 169 EWGV (jetzt Art. 226 EG) zur Auslegung von Art. 30 EWGV (jetzt Art. 28 EG) im Hinblick auf nationale Umweltbestimmungen.458 Unter Bezugnahme auf das Urteil ADBHU und den Rechtssetzungsprozess der EEA charakterisierte der Gerichtshof den Umweltschutz nunmehr ausdrücklich als zwingendes Erfordernis im Sinne eines Ca&s/s-Kriteriums. 459 Dies wurde in der Folgerechtsprechung bestätigt. 460 Im Anschluss an die Einordnung des Umweltschutzes in die Cassis Rechtsprechung hat der EuGH die dänischen Bestimmungen am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen.461 Hier findet die oben gewonnene Erkenntnis, wonach die besondere Bedeutung des Umweltprinzips in der Bereitstellung einer Abwägungsleitlinie besteht,462 ihre richterliche Bestätigung.463 Die weitergehende Frage, ob bzw. inwiefern das Urteil Dänische Pfandflaschen eine konkrete Prioritätsregel zu Gunsten des Umweltschutzes enthält, 464 dürfte zwar nicht eindeutig zu beantworten sein. 465 Dennoch zeigt sich hierin die Herausbil-

456

EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988,4607. Ausführlich zu dieser Entscheidung z.B. Kahl, Umweltprinzip, 1993, 166 ff. m.w.N.; Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. 458 EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988,4607, Rn. 1. 459 EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 8 f.; vgl. dazu auch GA Slynn, Schlussanträge in der Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607,4622. 460 Siehe z.B. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-4431, Rn. 32; EuGH, Rs. C-284/95 (Safety Hi-Tech), Slg. 1998,1-4301, Rn. 64. Vgl. auch Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992, 27; Hailbronner, EuGRZ 1989, 101 ff. (106); Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 19; Montag, RIW 1987, 935 ff. (938); Rüge, EuZW 2001,247 f. (248). 461 EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 12 ff. 462 Dazu oben bei Fußn. 331, 344 u. 376. 463 Ähnlich Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992, 72 f.; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 169; Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. (616 f.); Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996,274 f. 464 In der Entscheidung wird z.T. der Ausdruck eines absoluten Vorrangs des Umweltschutzes gesehen. Andere erblicken hierin umgekehrt eine Präferenzregel zu Gunsten des Warenverkehrs. Nachweise zu diesem entgegengesetzten Meinungsbild sowie zu vermittelnden Ansichten bei Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 174 EGV, Rn. 17; Kahl, Umweltprinzip, 1993, 169 f. 465 Ebenso Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. (615 u. 617). 457

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

189

dung eines judikativen Netzwerkkonzepts, 466 in welchem der Umweltschutz eine hervorgehobene Rolle spielt. Indem das Urteil Dänische Pfandflaschen direkt das Spannungsfeld zwischen freiem Warenverkehr und Umweltschutz berührt, 467 wird ihm bisweilen eine fundamentale Bedeutung für diesen Bereich zugemessen.468 Dies ist insoweit richtig, als nunmehr eine neue Qualität umweltbezogener Aspekte innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik angesprochen wird. 4 6 9 Gleichwohl stellt das Urteil keinen überraschenden Schritt dar. Nicht zuletzt mit Blick auf die vorgenannten Entscheidungen erscheint es nur folgerichtig, wenn auch der Gerichtshof seine Judikatur gemäß der gestiegenen Bedeutung des Umweltschutzes im primärrechtlichen System des EG-Vertrages adaptiert.

cc) Titandioxid

et al.

Unter einem anderen Aspekt zeigt auch die Rechtsprechung des EuGH zu kompetentiellen Grundlagen den gewandelten Stellenwert des Umweltschutzes im Gemeinschaftsrecht; 470 konkret betrifft dies die Abgrenzung zwischen der binnenmarktfinalen Vorschrift des Art. 95 EG und der Umweltkompetenz nach Artt. 174 ff. EG. 471 Den Anfangspunkt dieser Entwicklung markiert insoweit das TitandioxidUrteil 4 7 2 des Gerichtshofs vom 11.6.1991.473 Während der EuGH in früheren Entscheidungen auf das kompetentielle Spannungsfeld zwischen Umweltschutz und Binnenmarkt nicht eingegangen war, 474 postulierte er nun einen grundsätz-

466

So die Formulierung bei Kahl, Umweltprinzip, 1993, 170; vgl. in diesem Zusammenhang auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1996, (143). 467 Vgl. Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992,25 f. 468 So Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. (614); Kahl, Umweltprinzip, 1993, 166 m.w.N.; Krämer, in: GTE, Vorbem. zu Artt. 130r bis 130t, Rn. 69. 469 Vgl. Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 274. 470 Hier werden wiederum Überschneidungen zwischen den die Grundfreiheiten beeinflussenden Kompetenzgrundlagen und Umweltschutzgesichtspunkten sichtbar. 471 Vgl. i.E. Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 14 f.; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 46 ff. 472 EuGH, Rs. C-300/89 (Titandioxid), Slg. 1991,1-2867. 473 Ausführlicher zu diesem Urteil z.B. Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992, 11 ff.; Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 97 ff. 474 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 91/79 (Detergentien), Slg. 1980, 1099, Rn. 8. Näher dazu Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996,42 f.

190

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

liehen Vorrang des Art. 100a EWGV (jetzt Art. 95 EG) vor Art. 130s EWGV (jetzt Art. 175 EG). 475 Dadurch würde die Vorschrift des Art. 130s EWGV (jetzt Art. 175 EG) in ihrem Anwendungsbereich indes weitgehend obsolet. 476 Nach dem Titandioxid-Ürteii schien der gemeinschaftliche Umweltschutz gegenüber der Binnenmarktkonzeption somit lediglich von untergeordneter Bedeutung zu sein. Von dieser rigorosen Position rückte der Gerichtshof in der knapp vier Monate später ergangenen Tschernobyl-Entscheidung 477 bereits wieder ab. 478 Zumindest erfolgte dort die Klarstellung, dass nicht jeglicher Binnenmarktbezug für die Anwendung des Art. 100a EWGV ausreiche. 479 Darüber hinaus präzisierte der EuGH seine im Titandioxid-Urteil allgemein gehaltenen Ausführungen. Für die Kompetenzabgrenzung ist danach maßgebend, ob der Binnenmarktbezug bezweckt sei oder „nur nebenbei" bewirkt werde. 480 Spätestens mit der Abfallrichtlinien-Entscheidung 481 vom 17.3.1993 ist die anklingende Privilegierung des Binnenmarktkonzeptes im Titandioxid-Uiteil revidiert worden. 482 Anders als in der vorgenannten Entscheidung Tschernobyl judizierte der Gerichtshof wiederum unmittelbar zur Abgrenzung zwischen Art. 100a EWGV (jetzt Art. 95 EG) und Art. 130s EWGV (jetzt Art. 175 EG). 483 Allein der Umstand, dass die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes tangiert sei, erfordere nicht die Anwendung von Art. 100a

475

EuGH, Rs. C-300/89 (Titandioxid), Slg. 1991,1-2867, Rn. 21 ff. Ebenso Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992, 12; Schmidt, JZ 1993, 1086 ff. (1089). Krit. zu einer uneingeschränkten Auslegung des Art. 95 EG auch Streinz, Rn. 946. 477 EuGH, Rs. C-70/88 (Tschernobyl), Slg. 1990,1-2041. 478 Vgl. Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 102. Ähnlich Kahl, Umweltprinzip, 1993, 305. 479 EuGH, Rs. C-70/88 (Tschernobyl), Slg. 1990, 1-2041, Rn. 17. Die Entscheidung betraf insoweit zwar die Abgrenzung zwischen Art. 100a EWGV und Art. 31 EAGV. Dennoch dürfte das Urteil für die Auslegung des Art. 100a EWGV insgesamt von Bedeutung gewesen sein und so insb. auch das Verhältnis von Umweltschutz und Binnenmarkt berührt haben. 480 EuGH, Rs. C-70/88 (Tschernobyl), Slg. 1990, 1-2041, Rn. 17. Vgl. auch Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 15; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 48. 481 EuGH, Rs. C-l55/91 (Abfallrichtlinie), Slg. 1993,1-939. 482 Vgl. Freytag, Europarechtliche Anforderungen an Umweltabgaben, 2001, 132 m.w.N.; Schmidt, JZ 1993, 1086 ff. (1089); Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 106. 483 Vgl. EuGH, Rs. C-l55/91 (Abfallrichtlinie), Slg. 1993,1-939, Rn. 2 f. 476

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

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EWGV (jetzt Art. 95 EG). 484 Indem so der Schwerpunkt der betreffenden Regelung zum Anknüpfungspunkt für eine Abgrenzung zwischen Binnenmarkt- und Umweltkompetenzen gemacht wird, 485 erhält die primärrechtlich vorgenommene Aufwertung des gemeinschaftlichen Umweltschutzes ihre judikative Absicherung. 486

dd) Wallonien Von besonderer Bedeutung ist im vorliegenden Zusammenhang die Wallow'ew-Entscheidung487 des EuGH vom 9.7.1992.488 Dort rekurrierte der Gerichtshof auf Umweltschutzaspekte, um eine den freien Warenverkehr beeinträchtigende Maßnahme rechtfertigen zu können. 489 Beachtenswert ist das Urteil insbesondere deshalb, weil hierin der Ausdruck einer Sonderstellung des Umweltschutzgedankens in der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsdogmatik gesehen werden kann. 490 Unter Bezugnahme auf das Ursprungsprinzip des Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV (jetzt Art. 174 Abs. 2 S. 2 EG) begründete der EuGH den nichtdiskriminierenden Charakter der zu beurteilenden nationalen Regelung,491 weshalb der Umweltschutz als Ca^w-Kriterium überhaupt Anwendung finden konnte. 492 Da das Ursprungsprinzip jedoch nur spezifisch für die Umweltpolitik

484 EuGH, Rs. C-l55/91 (Abfallrichtlinie), Slg. 1993, 1-939, Rn. 19 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-70/88 (Tschernobyl), Slg. 1990, 1-2041, Rn. 17. Vgl. dazu auch GA Tesauro, Schlussanträge in der Rs. EuGH, Rs. C-l55/91 (Abfallrichtlinie), Slg. 1993, I939, 956 f. 485 Ebenso Voß/Wenner, NVwZ 1994, 332 ff. (337). 486 Vgl. darüber hinaus die Folgeentscheidung EuGH, Rs. C-l87/93 (Parlament/Rat), Slg. 1994,1-2857. 487 EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431. 488 Näher dazu etwa Kah\, Umweltprinzip, 1993, 22 f.; Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 276 ff. 489 EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 32. 490 Auf diesen Aspekt wird in der Literatur zumeist nicht eingegeangen; ähnlich zumindest Oppermann, Rn. 2012. Diskutiert wird regelmäßig nur die Frage, ob der Gerichtshof seine differenzierte Rechtfertigungsstruktur im Bereich der Grundfreiheiten prinzipiell zu Gunsten eines einheitlichen Rechtfertigungsstandards aufgegeben hat; vgl. dazu Everling, NVwZ 1993, 209 ff. (210); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200); von Wilmowsky, EuR 1992, 414 ff. (416). 491 EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 34. 492 Der Gerichtshof bestätigte insofern seine bisherige Judikatur, wonach die CassisKriterien lediglich auf diskriminierungsfreie Maßnahmen anwendbar seien; vgl. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-4431, Rn. 34 mit Verweis auf EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-176/90 (Aragonesa), Slg. 1991,1-4151, Rn. 13.

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3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

gilt, 4 9 3 erhält der Rechtfertigungsgrund des Umweltschutzes gegenüber den übrigen Cass/s-Kriterien einen weitergehenden Anwendungsbereich. Durch die Wallonien-Entscheidung wird somit nicht nur die umweltbezogene Entwicklung des EG-Rechts seit der EEA nachvollzogen, indem die Vorschrift des Art. 130r Abs. 2 S. 1 EWGV (jetzt Art. 174 Abs. 2 S. 2 EG) angewandt wird. Darüber hinaus zeigt sich eine tendenzielle Herauslösung des Umweltschutzes aus dem System der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe, welche mit einer insgesamt stärkeren Stellung umweltpolitischer Aspekte korrespondiert. 494

ee) PreussenElektra Die sich in der ffW/omew-Entscheidung abzeichnende Entwicklung bestätigt der Gerichtshof in dem aktuellen Urteil PreussenElektra. 495 Ähnlich jener Entscheidung rechtfertigt er hier einen mitgliedstaatlichen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit über Umweltschutzaspekte. Wiederum bezieht sich der Gerichtshof auf den Umweltschutz als Casszs-Kriterium, 496 obwohl die betreffende nationale Maßnahme diskriminierenden Charakter besaß. Letzteres stellt der EuGH zwar nicht - wie noch im Wallonien-Urteil - ausdrücklich fest. Jedoch verweist er hier auf seine Ausführungen in den Urteilen Campus Oil und Du Pont de Nemours Italiana ,497 weshalb davon auszugehen ist, dass auch der Gerichtshof hier von einer diskriminierenden Maßnahme ausgeht.498 Denn in der letztgenannten Entscheidung hat der EuGH expressis verbis festgestellt,

Neben dem Ursprungsprinzip rekurrierte der EuGH auf die - ebenfalls umweltspezifischen - Grundsätze der Entsorgungsautarkie und Entsorgungsnähe; vgl. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 35. 493 Dies folgt aus der besonderen systematischen Stellung des Ursprungsprinzips; vgl. aktuell Art. 174 Abs. 2 S. 2 EG. Näher Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 174, Rn. 31 ff. 494 Bemerkenswert erscheint hier die Tatsache, dass der Gerichtshof in der Wallort/en-Entscheidung von den Anträgen sowohl der Kommission als auch des Generalanwalts abgewichen ist; vgl. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 33 ff. sowie GA Jacobs, Schlussanträge vom 10.1.1991 in der Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 20. 495 EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099. 496 EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 72 f. 497 EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001, 1-2099, Rn. 70 mit Verweis auf EuGH, Rs. 72/83 (Campus Oil), Slg. 1984, 2727, Rn. 16; EuGH, Rs. 21/88 (Du Pont de Nemours Italiana), Slg. 1990,1-889, Rn. 11. 498 Ebenso im Ergebnis Dederer, BayVBl. 2001, 366 ff. (367); Leible, EuZW 2001, 253 ff. (254); Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 316; Rüge, EuZW 2001, 247 f. (248).

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

193

dass die betreffende Maßnahme Waren aus anderen Mitgliedstaaten „diskriminiert". 499 Erneut wird die extensive Anwendung des ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes mit spezifisch umweltbezogenen Aspekten begründet, welche - insoweit vom Urteil Wallonien abweichend - dem umweltpolitischen Vorbeugeprinzip gemäß Art. 174 Abs. 2 S. 2 EG entspringen. 500 Vor allem aber zieht der EuGH die umweltpolitische Querschnittsklausel heran, 501 wobei er deren durch den Vertrag von Amsterdam erhöhten Stellenwert einbezieht.502 Die Entscheidung PreussenElektra lässt den richterlichen Versuch erkennen, eine speziell auf den Umweltschutz als grundfreiheitlichen Rechtfertigungsgrund zugeschnittene Rechtsprechungslinie zu entwickeln. 503 Die im Wallonien-Urteil bereits angelegte Herauslösung des Umweltschutzes aus dem System ungeschriebener Rechtfertigungsgriinde wird dadurch weiter fortgeführt. Im Falle PreussenElektra ist insoweit besonders bemerkenswert, dass der Gerichtshof die Nähe des Umweltschutzes zu den geschriebenen Rechtfertigungsgründen der Warenverkehrsfreiheit betont. 504 Mit der Entscheidung PreussenElektra übernimmt der Gerichtshof den hohen Stellenwert umweltpolitischer Belange, wie er im primärrechtlichen Rechtssetzungsprozess bis zum Vertrag von Amsterdam zum Ausdruck kommt.

499

EuGH, Rs. 21/88 (Du Pont de Nemours Italiana), Slg. 1990,1-889, Rn. 11. Vgl. EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 74. Daneben verweist der Gerichtshof auf die „Besonderheiten des Strommarktes" sowie die „Natur der Elektrizität"; vgl. EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 72 u. 79. Die Parallelen zur Argumentation in der Wallonien-Entscheidung sind hier unverkennbar. 501 EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 76. 502 Dies ist deshalb beachtenswert, weil der EuGH in der Rs. PreussenElektra die Amsterdamer Fassung des EG-Vertrages noch nicht heranzuziehen hatte. Auf die gesteigerte Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Umweltschutzes hatte der GA indes hingewiesen; vgl. G A Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 230 ff. 503 Vgl. auch Dederer, BayVBl. 2001, 366 ff. (367). Über das dogmatische Ziel dieser Rechtsprechungslinie ist damit freilich noch keine Aussage getroffen. 504 EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 75. Vgl. dazu auch EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607. Teilweise wird bereits in dieser Pionierentscheidung die richterlich betonte Nähe von Umweltschutz und Rechtfertigungsgründen des Art. 36 EWGV (jetzt Art. 30 EG) gesehen (insb. Gesundheitsschutz); vgl. dazu Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 275 mit Verweis auf Montag, RIW 1987, 935 ff. (938); Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. (617). 500

13 Mühl

194

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Nicht zuletzt mit Blick auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten markiert dieses Urteil den bisherigen Höhepunkt in der judikativen Aufwertung gemeinschaftsweiten Umweltschutzes.

c) Ergebnis Die Untersuchung des gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzips im rechtshistorischen Prozess hat gezeigt, wie der Umweltschutz sowohl in der Entwicklung des EG-Primärrechts als auch in der Judikatur des EuGH einen immer höheren Stellenwert eingenommen hat. Zutreffend fuhrt Calliess resümierend aus, der ursprünglichen gemeinschaftlichen Kompetenz zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes sei im Rahmen des Integrationsprozesses die Kompetenz zu einer europäischen Umweltpolitik gefolgt. 505 Bezogen auf die Grundfreiheiten lässt sich diese Aussage weiter konkretisieren. Neben dem Binnenmarktprinzip und der zu berücksichtigenden Kompetenzordnung des EG-Vertrages wird nunmehr ein stark entwickeltes Umweltprinzip im Gemeinschaftsrecht verankert, welches als Abwägungsleitlinie auch und gerade die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften tangiert. Pars pro toto für dieses allgemein zu berücksichtigende Prinzip im Gemeinschaftsrecht steht die Querschnittsklausel des Art. 6 EG. 5 0 6 Sie ist Ausdruck der Überwindung einer auf sektorielle Gemeinschaftspolitik beschränkten Berücksichtigung des Umweltschutzes.507

2. Konsequenzen fiir eine grundfreiheitliche

Dogmatik

Bereits die vorangegangenen Ausführungen zum gemeinschaftsrechtlichen Umweltschutz haben jeweils Berührungspunkte mit der grundfreiheitlichen Dogmatik erkennen lassen. Im Folgenden soll darüber hinaus kurz auf die grundlegende Frage eingegangen werden, wie die besonderen Ausprägungen des gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzips, insbesondere das Erfordernis der Querschnittsklausel gemäß Art. 6 EG, innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten umgesetzt werden können. Dabei sind zwei grundsätzlich verschiedene Ansatzpunkte zu unterscheiden:

505 506 507

Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 174 EGV, Rn. 1 a.E. Dazu insb. oben a) aa) (2); a) bb) (3) u. a) cc) (3), S. 176, 180 u. 184. Vgl. auch Streinz,, Rn. 932.

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

195

a) Tatbestandsebene Denkbar wäre zunächst eine Berücksichtigung des Umweltschutzgedankens bereits auf der Tatbestandsebene der Grundfreiheiten. Analog der KeckRechtsprechung ließe sich vertreten, nationale Maßnahmen mit umweltpolitischer Zweckrichtung verstießen prinzipiell nicht gegen grundfreiheitliche Vorschriften. Gegen diese radikale Lösung auf der Tatbestandsebene sprechen indes gewichtige Gründe. Die Annahme einer solchen umweltpolitisch determinierten immanenten Tatbestandsschranke begründete die Gefahr einer weitgehenden Aushöhlung grundfreiheitlicher Vorschriften, da der Begriff der umweltpolitischen Maßnahme nicht eindeutig fassbar ist. 508 Die Berücksichtigung des Umweltschutzes innerhalb der tatbestandlichen Prüfung erscheint insgesamt als ein zu grober Ansatz, welcher dem sensiblen Bereich Umweltschutz nicht gerecht wird. Darüber hinaus folgte aus einer den Grundfreiheiten immanenten Tatbestandsschranke der prinzipielle Vorrang des Umweltschutzes vor dem Binnenmarktziel des EG-Vertrages; ein solches Vorrangverhältnis ist jedoch primärrechtlich nicht abgesichert. 509 Schließlich setzte man sich in Widerspruch zur grundfreiheitlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Umweltschutz als Element der Rechtfertigung erscheint. 510

b) Rechtfertigungsebene Die vorgenannten Schwierigkeiten werden vermieden, wenn man die Umweltschutzproblematik innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten auf der

508 Zu verweisen ist hier nur auf die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen binnenmarktfinalen und umweltpolitisch motivierten Maßnahmen; vgl. für die Gemeinschaftsebene z.B. EuGH, Rs. C-70/88 (Tschernobyl), Slg. 1990,1-2041, Rn. 16 ff.; EuGH, Rs. C-300/89 (Titandioxid), Slg. 1991,1-2867, Rn. 22 ff.; EuGH, Rs. C-155/91 (Abfallrichtlinie), Slg. 1993,1-939, Rn. 19; EuGH, Rs. C-l87/93 (Parlament/Rat), Slg. 1994,1-2857, Rn. 20 ff. 509 Dazu etwa Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 52 m.w.N.; Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV, Rn. 15 m.w.N. Siehe auch bereits oben bei Fußn. 341 u. 436. 510 Vgl. nur die zuvor angesprochenen Entscheidungen EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 8; EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 32; EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 72. In anderen Urteilen spricht der Gerichtshof von einer „Auslegung des Art. 30 [jetzt Art. 28 EG]"; vgl. die Nachweise bei Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, 1997, 81 ff. Der Sache nach handelt es sich jedoch auch hierbei um Ausführungen zur Rechtfertigungsprüfung; vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (223 ff.); Sack, GRUR 1998, 871 ff. (877). 13*

196

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Rechtfertigungsebene ansiedelt.511 Dadurch wird insbesondere dem Charakter des Umweltprinzips als Abwägungsleitlinie Rechnung getragen. Als Element der Feinsteuerung im Rahmen grundfreiheitlicher Dogmatik kann allein die Rechtfertigungsprüfung die erkannte Verzahnung von Binnenmarkt und Umweltschutz ausreichend differenziert umsetzen.512 Es muss in diesem Zusammenhang allerdings kritisch gefragt werden, ob die bisherige Einordnung des Umweltschutzes in die differenzierte Rechtfertigungssystematik des EuGH dem erkannten hohen Stellenwert des gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzips noch hinreichend entspricht. Auch der Gerichtshof selbst scheint hier eine flexible Position zu beziehen.513 Die besondere Entwicklung des Umweltschutzgedankens im EG-Primärrecht kann diesbezüglich in praxi weiter nachvollzogen werden, wenn umweltbezogene Belange im Rahmen der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung stärker als bisher Berücksichtigung finden. 514 Ohne den entsprechenden Überlegungen des sechsten Kapitels umfassend vorgreifen zu wollen, ist bereits an dieser Stelle auf vier unterschiedliche dogmatische Ansatzpunkte hinzuweisen. Möglich erscheint dabei zunächst die Bereitstellung einer echten „Sonderlösung" im Hinblick auf umweltbezogene Rechtfertigungsgründe; 515 diese könnten als Rechtfertigungsgrund sui generis aus dem bisherigen Differenzierungsschema herausgenommen werden. Denkbar ist jedoch ebenso eine Umgruppierung des Umweltschutzes von den Cassw-Kriterien hin zu den - dann extensiv auszulegenden - geschriebenen Aspekten des Art. 30 EG. 516 Eine weitergehende Variante des zuletzt genannten Ansatzes bildet die völlige Aufgabe der Differenzierungen innerhalb der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung; 517 sämtliche, d.h.

5,1

Dies entspricht neben der zitierten Judikatur auch der h.L.; vgl. aus der Kommentarliteratur Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 108; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 22 u. 38; Lux, in: Lenz, Art. 28, Rn. 31; Müller-Graff in: GTE, Art. 30, Rn. 186 u. 224; abweichend Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 20. 512 Zu Verbindungslinien zwischen Binnenmarkt und Umweltschutz vgl. die obigen Ausführungen bzgl. umweltpolitischer Querschnittsaufgabe und Schutzverstärkungsklauseln, insb. bei Fußn. 349, 363 u. 374. Siehe auch - zur Abgrenzung entsprechender Kompetenzgrundlagen - die Anmerkungen oben b) cc), S. 189. 513 Siehe oben b) ee), S. 192. 514 Insofern ist das durch den Vertrag von Amsterdam geänderte umweltpolitische Normengeflecht im EG-Vertrag der bisherigen Dogmatik der Grundfreiheiten wiederum enteilt. 5,5 Vgl. die Andeutung bei Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 316 f. 516 So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 162 f. 517 Speziell im Hinblick auf den Umweltschutz z.B. Dederer, BayVBl. 2001, 366 ff. (367).

Β. Übergeordnete Prinzipien des EG-Vertrages

197

geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe könnten auf alle Formen der Beeinträchtigungen angewendet werden. 518 Als Gegenentwurf zu diesem Lösungsansatz ließe sich die bisherige Differenzierung in der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsdogmatik einschließlich der Zuordnung umweltbezogener Belange zu den Cassw-Kriterien beibehalten; die Aufwertung des Umweltschutzes wäre in diesem Fall über eine extensivere Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erreichbar. 519 Ungeachtet weiterer Detailfragen ist in der Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen deutlich geworden, welche besondere Bedeutung das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip für eine Dogmatik der Grundfreiheiten besitzt. Dies rechtfertigt nicht nur eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem im rechtshistorischen Prozess immer wichtiger gewordenen Umweltschutz. Die Berücksichtigung des gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzips wird vielmehr notwendiger Bestandteil einer umfassenden Untersuchung dogmatischer Strukturen der Grundfreiheiten.

IV. Zwischenbilanz Die Grundfreiheiten sind in ein Bündel unterschiedlicher Prinzipien des EGVertrages eingebettet. Insofern lassen sich die Binnenmarktkonzeption, die gemeinschaftsrechtliche Kompetenzstruktur sowie das Umweltprinzip besonders hervorheben. Diese Prinzipien wiederum weisen untereinander unterschiedlich enge Verzahnungen auf, welche sowohl konvergente als auch divergente Strukturen im EG-Primärrecht offenbaren. Konvergenzen zeigen sich insbesondere in der Zusammenschau von Binnenmarktkonzeption und gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzstruktur. 520 Verwiesen sei hier nur auf das Prinzip der begrenzten Ermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 EG, welches die Erkenntnis einer föderalen Komponente des Binnenmarktes unterstreicht. 521 Mitunter ge-

Losgelöst von der Umweltschutzproblematik etwa Becker, in: Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 43; Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 26; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 20; Maduro, MJ 1998, 298 ff. (310 f.); Novak , DB 1997, 2589 ff. (2593); Sack, GRUR 1998, 871 ff. (876); Weiß, EuZW 1999,493 ff. (497). Ähnlich Jarass, EuR 2000, 705 ff. (719). 518 Näher zu dieser Diskussion z.B. Gundel, Jura 2001, 79 ff. 519 Die Steuerbarkeit über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betont Jarass, EuR 2000, 705 ff. (719) auch für den Fall der Aufgabe der differenzierten Rechtfertigungsstruktur. 520 Siehe bereits oben II. 4., bei Fußn. 295.

198

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

gensätzliche Zielrichtungen weisen die Binnenmarktkonzeption und das Umweltprinzip auf. So können etwa umweltpolitische Anforderungen der Mitgliedstaaten als Hindernisse fur den freien Wirtschaftsverkehr im europäischen Binnenmarkt fungieren. Die grundfreiheitlichen Vorschriften liegen gleichsam im Mittelpunkt jener Prinzipien des EG-Vertrages. Einer Dogmatik der Grundfreiheiten kommt diesbezüglich die Aufgabe zu, konvergente Strukturen zusammenzuführen sowie mögliche Spannungsfelder im Wege praktischer Konkordanz aufzulösen. 522 Ersteres tangiert die tatbestandliche Reichweite grundfreiheitlicher Vorschriften. 523 Anknüpfungspunkt für die widerspruchsfreie Auflösung divergenter Strukturen ist demgegenüber die Rechtfertigungsebene; hier erhält insbesondere das Umweltprinzip als Abwägungsleitlinie seine Bedeutung.524 Damit werden die abstrakten Betrachtungen zu drei wichtigen grundfreiheitlichen Interpretationsmaßstäben abgeschlossen. Bevor in den nachfolgenden Kapiteln konkrete Auswirkungen für die praktische Anwendung der Grundfreiheiten aufgezeigt werden, ist zunächst noch ein weiterer Aspekt grundfreiheitlicher Dogmatik zu beleuchten, welcher Berührungspunkte mit den zuvor genannten primärrechtlichen Prinzipien aufweist und daher den teleologischsystematischen Kontext des EG-Vertrages weitestgehend betrifft.

C. Diskriminierung und Beschränkung I m vorliegenden letzten Abschnitt des dritten Kapitels soll auf die Kernproblematik grundfreiheitlicher Dogmatik näher eingegangen werden, inwieweit den Grundfreiheiten ein gleichheitsrechtliches oder freiheitsrechtliches Verständnis zugrunde liegt. 525 Hierdurch wird zugleich an die bereits zur Binnenmarktkonzeption herausgearbeiteten Elemente der Marktgleichheit und Markt-

521

Zur hieraus folgenden Notwendigkeit eines Ausgleichs von Marktintegration und verbleibender mitgliedstaatlicher Regelungskompetenz siehe oben I. 3. a) aa) (2), S. 133. 522 Dabei sind die Binnenmarktkonzeption, die gemeinschaftsrechtliche Kompetenzstruktur sowie das Umweltprinzip grundsätzlich gleichrangig zu berücksichtigen. 523 Dazu oben II. 1. a) cc) (3), S. 152. 524 Siehe soeben III. 2. b), S. 195. 525 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38, bezeichnet die Auseinandersetzung um den gleichheits- bzw. freiheitsrechtlichen Charakter der Grundfreiheiten als „Kardinalfrage der jüngeren Grundfreiheitsdogmatik".

. Diskriminierung und Beschränkung

freiheit angeknüpft, 526 welche in engem Zusammenhang mit der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung stehen.527 Diese Betrachtung ist nicht lediglich von theoretischem Interesse, sondern berührt unmittelbar die tatbestandliche Weite grundfreiheitlicher Vorschriften. Die nach wie vor aktuelle Diskussion um den strukturellen Gehalt der Grundfreiheiten wird meist schlagwortartig mit den Termini,»Diskriminierung" und „Beschränkung" umschrieben. 528 Stellvertretend für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten wird deren Struktur als Diskriminierungsverbote betont, 529 während abweichende bzw. darüber hinausgehende freiheitsrechtliche Gewährleistungsinhalte über die Einbeziehung lediglich beschränkender Maßnahmen erfasst werden. 530 Dieses Begriffspaar dient auch hier als Ausgangspunkt für die weitergehende Untersuchung gleichheitsrechtlicher bzw. freiheitsrechtlicher Strukturelemente der Grundfreiheiten. 531 Die Kennzeichnung als „Diskriminierung" oder Beschränkung" betrifft zwar strenggenommen nur den Eingriffscharakter grundfreiheitlich verbotener Maßnahmen;532 gleichwohl soll sie bereits an dieser vorgelagerten Stelle diskutiert werden. Zum einen werden dadurch die entsprechenden Ausführungen des fünften Kapitels zu Gunsten speziellerer Problemkreise entlastet. Darüber hinaus erscheint die abstrakte Betrachtung der Grundfreiheiten als Gleichheitsbzw. Freiheitsrechte nur unter Bezugnahme auf jene Kategorienbildung vollständig durchführbar. Obwohl die grundfreiheitlichen Begrifflichkeiten „Diskriminierung" bzw. „Beschränkung" in Literatur und Rechtsprechung meist mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen versehen werden, 533 ist vorab auf einen spezifi-

526

Siehe dazu oben Β. I. 3. a), S. 129. Zu Konvergenzen zwischen Binnenmarkt und Kompetenzordnung vgl. soeben B. IV., bei Fußn. 520 u. 521. 528 Vgl. aus übergreifender, sämtliche Grundfreiheiten erfassender Sicht die in Fußn. 25 des 1. Kapitels Genannten. Abweichend Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); ders., EuR 2000, 705 ff. (709), der mit dem Begriff der Beschränkung sämtliche Eingriffe in den Gewährleistungsbereich der Grundfreiheiten bezeichnet. 529 Zu dieser Gleichsetzung vgl. nur Classen , EWS 1995, 97 ff. (97). 530 Vgl. wiederum Classen , EWS 1995, 97 ff. (98). 531 Krit. gegenüber dieser Kategorienbildung allerdings Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (347). 532 Vgl. statt aller Koenig/Haratsch, Rn. 487. 533 Beispielhaft sei auf die Entscheidung EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971 verwiesen. Dazu bereits oben 1. Kapitel, Fußn. 39. Weiterführend zu unterschiedlichen 527

200

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

sehen Zusammenhang zwischen diesen beiden Kategorien hinzuweisen. Wenn nämlich der freiheitsrechtliche Terminus der Beschränkung gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er nichtdiskriminierende Maßnahmen betrifft, 534 so wird die Abgrenzung freiheitsrechtlicher und gleichheitsrechtlicher Gehalte der Grundfreiheiten maßgeblich davon beeinflusst, wie man den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff definiert. 535 Dies macht die Darstellung des Diskriminierungsbegriffs zu einem unverzichtbaren Element grundfreiheitlicher Dogmatik. 536 Die folgende Betrachtung der Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte oder Freiheitsrechte hat sich zunächst am Text des EG-Vertrages zu orientieren (I.). Darüber hinaus ist auf die Entwicklung der Rechtsprechung (II.) sowie auf unterschiedliche Ansichten in der Literatur (III.) einzugehen. Abschließend soll ein eigener Ansatz aufgezeigt werden (IV.).

I. Vertragstext Bevor auf primärrechtliche Anknüpfungspunkte für ein Diskriminierungsbzw. Beschränkungsverbot näher eingegangen wird, ist vorab eine grundlegende Aussage zur grundfreiheitlichen Terminologie zu treffen: Allein mit der Kennzeichnung als Gnmdfreiheiten ist noch keine präferenzielle Feststellung zu Gunsten eines freiheitsrechtlich wirkenden Beschränkungsverbotes verbunden; 537 der Begriff der Grundfreiheiten ist als solcher insoweit wertneutral in

Ansätzen in Literatur und Rechtsprechung Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 5 ff. 534 Dies dürfte bei allen Unterschieden im Detail allg. anerkannt sein. Vgl. von den in Fußn. 528 Genannten z.B. Behrens, EuR 1992, 145 ff. (149); Classen , EWS 1995, 97 ff. (98); Herdegen, Rn. 282; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 31 ; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 39; Koenig/Haratsch, Rn. 487; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 26; Schweitzer/Hummer, Rn. 1075; Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 50; Streinz, Rn. 671. 535 Zutreffend wird diese Korrelation erkannt von Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 118. 536 Auf die besondere Bedeutung des Diskriminierungsbegriffs wurde in anderem Zusammenhang bereits hingewiesen; siehe oben bei Fußn. 129. Vgl. darüber hinaus die vorangegangenen Ausführungen des zweiten Kapitels zum Diskriminierungsbegriff. 537 Auch die Vertreter eines rein gleichheitsrechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten weichen von dieser allg. akzeptierten Terminologie nicht ab; vgl. nur

. Diskriminierung und Beschränkung

Literatur und Rechtsprechung etabliert. 538 Dies gilt auch für die textliche Untersuchung des EG-Vertrages. Zwar wird dort der Begriff der Grundfreiheit selbst nicht verwandt; 539 in seiner speziellen Ausprägung enthält das EG-Primärrecht jedoch Formulierungen wie „Niederlassungs/re/Ae//" 540 und ,JFreiheit des Zahlungsverkehrs" 541. Hieran sollten keine grundlegenden dogmatischen Folgerungen geknüpft werden. 542 Ausschlaggebend sind vielmehr die den Gewährleistungsgehalt der einzelnen Grundfreiheiten speziell umschreibenden Normtexte.

1. Primärrechtliche

Anknüpfungspunkte für ein Diskriminierungsverbot

Die Betrachtung des EG-Vertrages im Hinblick auf gleichheitsrechtliche Strukturen der Grundfreiheiten offenbart eine grundlegend unterschiedliche Textfassung zwischen Personenverkehrsfreiheiten einerseits und Produktverkehrsfreiheiten andererseits. 543 Daher soll nachfolgend - entsprechend der oben herausgearbeiteten systematischen Einteilung der Grundfreiheiten - zwischen personen- und produktbezogenen Gewährleistungsinhalten differenziert werden. 544

a) Personenverkehrsfreiheiten Die primärrechtlichen Vorschriften zu den Personenverkehrsfreiheiten enthalten in ihrem Wortlaut klare Hinweise auf ein Verständnis jener Freiheiten als Diskriminierungsverbote. 545 So fordert Art. 39 Abs. 2 EG im Rahmen der

Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 115 ff.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 215; Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 48 ff. u. 156 ff. Teilweise abweichend Jarass, EuR 1995, 202 ff. (216); ders., FS Everling, 593 ff. (593). 538 Siehe bereits oben bei Fußn. 8 u. 9. 539 Siehe oben bei Fußn. 7. 540 Artt. 43 Abs. 2, 44 Abs. 1, 2 lit. a, c u. f, 50 Abs. 3, 183 Nr. 5 EG (Hervorh. d. Verf.). 541 Art. 114 Abs. 1 S. 2, Spiegelstrich 4 EG. Hervorh. d. Verf. 542 Wenig weiterführend insoweit auch Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 303, der einen möglichen freiheitsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten u.a. damit begründet, dass Art. 14 Abs. 2 EG einen ,,freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital" betrifft (Hervorh. d. Verf.). 543 Vgl. auch Jarass, EuR 1995, 202 ff. (211 f.); Streinz, Rn. 667. 544 Zu dieser - sich hier bestätigenden - grundfreiheitlichen Systematik siehe oben A. II. 2., S. 120 ff.

202

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Arbeitnehmerfreizügigkeit die „Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung". Gemäß Art. 43 Abs. 2 EG umfasst die Niederlassungsfreiheit bestimmte Gewährleistungsbereiche „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen". Eine ähnliche Formulierung findet sich in Art. 50 Abs. 3 EG, wonach dienstleistungsbezogene Rechte „unter den Voraussetzungen, welche [...] [der Empfängerstaat] für seine eigenen Angehörigen vorschreibt", vermittelt werden. Zwar ist die Dienstleistungsfreiheit aufgrund ihrer Doppelstruktur nicht eindeutig den Personenverkehrsfreiheiten oder den Produktverkehrsfreiheiten zuzuordnen. 546 Gleichwohl gilt jener Passus dem Wortlaut nach nur für personenbezogene Aspekte dieser Grundfreiheit; Art. 50 Abs. 3 EG betrifft den Fall, dass „der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat [...][ausübt], in dem die Leistung erbracht wird". 5 4 7

b) Produktverkehrsfreiheiten Wesentlich schwieriger sind die primärrechtlichen Anknüpfungspunkte für ein Diskriminierungsverbot bei den produktbezogenen Grundfreiheiten zu beurteilen. Dies gilt zunächst für die als reine Produktverkehrsfreiheit ausgestaltete Freiheit des Warenverkehrs. 548 Gemäß den Vorschriften der Artt. 28, 29 EG sind mengenmäßige Einfuhr- bzw. Ausfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten, ohne dass hierbei eine weitergehende Charakterisierung des Gewährleistungsinhaltes erfolgt. 549 Einen schwachen Hinweis auf das Verständnis der Warenverkehrs-

545

Bereits aus diesem Grund ist die Ausgestaltung der Personenverkehrsfreiheiten als Diskriminierungsverbote wohl unstreitig; vgl. aus der Lehrbuchliteratur etwa Bleckmann, Rn. 1563; Herdegen, Rn. 308, 319 u. 324; Koenig/Haratsch, Rn. 539, 563 u. 596 ff.; Oppermann, Rn. 1582; Schweitzer/Hummer, Rn. 1157, 1172 u. 1186; Streinz, Rn. 667. 546 Näher dazu oben Α. II. 2., S. 120 ff. 547 Abweichend Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 36, wonach Art. 50 Abs. 3 EG auch für Korrespondenzdienstleistungen Geltung beanspruchen soll. 548 Vgl. zu dieser Qualifikation der Waren Verkehrsfreiheit oben Α. II. 2., S. 120 ff. 549 Nach Dörr, RabelsZ 54 (1990), 677 ff. (680) deuten die Vorschriften zur Warenverkehrsfreiheit bereits deshalb „in keiner Weise darauf hin, daß ein Eingreifen der Verbotsnorm an das Vorliegen einer Diskriminierung geknüpft ist."

. Diskriminierung und Beschränkung

freiheit als Diskriminierungsverbot bietet lediglich die Ausnahmevorschrift des Art. 30 S. 2 EG. 550 Im Hinblick auf ihre produktbezogenen Gewährleistungen sind auch die Dienstleistungsfreiheit sowie die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs primärrechtlich weniger deutlich auf ein Diskriminierungsverbot ausgerichtet. Für Letztere bestehen mit der Vorschrift des Art. 58 Abs. 3 EG insofern zumindest strukturelle Parallelen zur Warenverkehrsfreiheit. 551 Noch unklarer sind diesbezüglich die dienstleistungsbezogenen Vorschriften des EG-Primärrechts; für den Fall der Korrespondenzdienstleistung finden sich - allein unter grammatikalischen Gesichtspunkten - keine eindeutigen Hinweise auf ein grundfreiheitliches Diskriminierungsverbot. 552

2. Primärrechtliche Anknüpfungspunkte für ein weitergehendes Beschränkungsverbot Während die Grundfreiheiten nach klassischem Verständnis auf reine Diskriminierungsverbote reduziert wurden, 553 wird gegenwärtig ein ihnen beizumessender erweiterter Gewährleistungsgehalt diskutiert. Diese dogmatische Diskussion darf indes nicht losgelöst vom Text des EG-Vertrages geführt werden. 554 Für alle grundfreiheitlichen Vorschriften gilt dabei zunächst, dass dem dort verwandten Begriff der „Beschränkung" insofern keine Aussagekraft zukommt; 555 dieser Terminus lässt sich auch als Oberbegriff für jedwede Beein-

550

Näher Streinz, Rn. 667. Zur Begriffsgeschichte dieser Ausnahmevorschrift vgl. i.E. Müller-Graff, in: GTE, Art. 30, Rn. 29 m.w.N. zum Streitstand und zur Richtlinienpraxis der Kommission. Die - ebenfalls auf eine Diskriminierung abstellende - Vorschrift des Art. 31 Abs. 1 EG dürfte wegen ihres speziellen Anwendungsbereichs nicht für ein allgemeines dogmatisches Verständnis der Warenverkehrsfreiheit herangezogen werden können. 551 Vgl. nur Streinz, Rn. 667. 552 Wegen des einschränkenden Halbsatzes in Art. 50 Abs. 3 EG kommt die Anwendung dieser Vorschrift auf Korrespondenzdienstleistungen bei strenger Wortlautinterpretation nicht in Betracht; siehe oben bei Fußn. 547. 553 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 25; Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 48 ff.; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (206 f.). 554 Näher zur notwendigen Bindung an den Vertragstext oben 1. Kapitel Β. I. 1., S. 49. 555 Vgl. Artt. 28, 29, 30, 31 Abs. 2, 39 Abs. 3, 40 lit. c, 43 Abs. 1, 44 Abs. 2 lit. f, 47 Abs. 3, 49 Abs. 1, 54, 56 Abs. 1 u. 2, 57 Abs. 1, 58 Abs. 2 u. 3 EG.

204

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

trächtigung der Grundfreiheiten verstehen. 556 Im Übrigen ist wiederum zwischen personen- und produktbezogenen Gewährleistungsinhalten der Grundfreiheiten zu differenzieren.

a) Personenverkehrsfreiheiten Gegenüber den eindeutigen Hinweisen auf ein Verständnis der Personenverkehrsfreiheiten als Diskriminierungsverbote sind textliche Anhaltspunkte für ein weitergehendes Beschränkungsverbot dort relativ schwer auszumachen. Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit kann zumindest auf die Gewährleistungen des Art. 39 Abs. 3 EG verwiesen werden, welche dem Wortlaut nach nicht lediglich eine diskriminierungsfreie Anwendung nationaler Maßnahmen normieren. 557 Im Rahmen der Niederlassungsfreiheit bedarf es der extensiven Auslegung von Art. 43 Abs. 2 EG, um die primärrechtliche Verankerung eines Beschränkungsverbotes zu erkennen; so ließe sich vertreten, dass mit dem dortigen Bezug auf die Inländergleichbehandlung nur ein Ausschnitt eines weiterreichenden Beschränkungsverbotes hervorgehoben werde. 558 Zusätzlich kann auf die Vorschrift des Art. 46 Abs. 1 EG rekurriert werden. 559 Dies gilt über Art. 55 EG auch für personenbezogene Aspekte der Dienstleistungsfreiheit.

556

So in der Tat Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 37 f.; Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); ders., EuR 2000, 705 ff. (708). Überwiegend wird in der Literatur der Begriff der „Beschränkung" dagegen als Ausdruck eines erweiterten Gewährleistungsgehalts der Grundfreiheiten verwendet; vgl. z.B. Herdegen, Rn. 282; Koenig/Haratsch, Rn. 487; Lecheler, 222; Schweitzer/Hummer, Rn. 1075; Streinz, Rn. 671. Hieran soll in der vorliegenden Arbeit festgehalten werden. 557 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die gegenüber der diskriminierungsbezogenen Vorschrift des Art. 39 Abs. 2 EG isolierte Stellung von Art. 39 Abs. 3 EG. 558 Nach Art. 43 Abs. 2 EG „umfasst" die Niederlassungsfreiheit die Inländergleichbehandlung. Vgl. dazu Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 ff. (2574); zugebend Wägenbaur, EuZW 1991,427 ff. (431). 559 Die dortige Einschränkung auf „eine Sonderregelung für Ausländer" wäre entbehrlich, wenn sich der Gewährleistungsgehalt der Niederlassungsfreiheit in einem Diskriminierungsverbot erschöpfte. Vgl. aber auch die abweichende Argumentation bei Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (212).

C. Diskriminierung und Beschränkung

205

b) Produktverkehrsfreiheiten Anders als die Personenverkehrsfreiheiten werden die Produktverkehrsfreiheiten im Text des EG-Vertrages nicht a priori mit einem Diskriminierungsbezug verbunden. 560 Dort ist nur in Ausnahme Vorschriften ein Hinweis auf ein Diskriminierungsverbot zu finden; 561 die tatbestandliche Umschreibung des grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehalts enthält jedoch keine solche Einschränkung. 562 Allein die nüchterne Betrachtung des Vertragstextes spricht somit für ein gegenüber den Personenverkehrsfreiheiten extensiveres Verständnis der Produktfreiheiten. Deutlich wird dies insbesondere im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit, welche sowohl personen- als auch produktbezogene Aspekte aufweist. Die diesbezüglich erkannten Anhaltspunkte für ein Verständnis als Diskriminierungsverbot betreffen allein den Charakter der Dienstleistungsfreiheit als Personenverkehrsfreiheit; 563 die allgemeine tatbestandliche Umschreibung in Art. 49 Abs. 1 EG ist indes weiter gefasst. 564

3. Folgerungen Die bloße Untersuchung des Primärrechtstextes lässt eine doppelte Struktur grundfreiheitlicher Vorschriften erkennen, welche Kongruenzen zur systematischen Ordnung der Grundfreiheiten aufweist. In unterschiedlicher Ausprägung offenbart der EG-Vertrag Hinweise auf ein Verständnis der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote sowie auf einen weitergehenden Gewährleistungsgehalt grundfteiheitlicher Vorschriften. Innerhalb der Personenverkehrsfreiheiten wird das Diskriminierungsverbot hervorgehoben; ein mögliches Beschränkungsverbot erscheint von untergeordneter Bedeutung. Das Normgeflecht der Produktverkehrsfreiheiten enthält eine gleichsam umgekehrte Akzentuierung. Trotz dieser differenzierten Ausgestaltung der Grundfreiheiten im EGVertrag sollte eine übergreifende Erkenntnis nicht aus dem dogmatischen

560

Siehe zuvor bei Fußn. 549. Vgl. Artt. 30 S. 2 u. 58 Abs. 3 EG. 562 Vgl. Artt. 28, 29, 49 u. 56 EG. 563 Oben bei Fußn. 547. 564 Hieraus folgt - zumindest dem Wortlaut der dienstleistungsfreiheitlichen Vorschriften nach - ein weiterreichender Gehalt der produktbezogenen Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (argumentum e contrario). Die Ausgestaltung des Normtextes im Bereich der Dienstleistungsfreiheit steht insoweit stellvertretend für die gesamte textliche Differenzierung zwischen Personenverkehrsfreiheiten und Produktverkehrsfreiheiten. 561

206

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Blickfeld geraten: Sämtliche grundfreiheitlichen Vorschriften bieten Anhaltspunkte sowohl für einen Diskriminierungsbezug als auch für ein weiterreichendes Verständnis. Die primärrechtliche Betrachtung erfordert die Einbeziehung grundsätzlich beider Strukturelemente in eine umfassende Dogmatik der Grundfreiheiten, auch wenn diese im Einzelnen unterschiedlich gewichtet werden können. Im Hinblick auf die notwendige Konkretisierung jener Elemente kann der Vertragstext darüber hinaus nur - wenngleich wichtige - Orientierungshilfen geben. Rechtsprechung und Literatur haben die - schlagwortartig mit den Begriffen Diskriminierung und Beschränkung umschriebenen- Gewährleistungsinhalte der Grundfreiheiten weiter zu präzisieren.

II. Rechtsprechung Die Herausarbeitung wesentlicher Rechtsprechungslinien zur gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Auffassung der Grundfreiheiten wird wegen der grundsätzlichen dogmatischen Zurückhaltung des Gerichtshofs in nicht unerheblicher Weise erschwert. 565 Hinzu kommt ein weiteres Problem: Indem die hier interessierende Frage maßgeblich von der Definition des Diskriminierungsbegriffs abhängig ist, 566 der EuGH jedoch seine Vorstellung von „Diskriminierung" nicht hinreichend offenlegt, 567 sind die einzelnen Entscheidungen nur sehr zurückhaltend zu bewerten. 568 Es kommt vielmehr darauf an, entsprechende Urteile des Gerichtshofs - losgelöst von Detailfragen - in ihrer Gesamtheit zu betrachten. 569 Wenig fruchtbar ist daher die Diskussion, mit welcher genauen Entscheidung der EuGH einen eventuellen Übergang vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot vollzogen hat, wenn die nachfolgende Rechtsprechung diesen Wandel offensichtlich dokumentiert. 570 Trotz der genannten Schwierigkeiten scheint es gleichwohl möglich, die Entwicklung der Rechtsprechung in ihren Grundzügen aufzuzeigen, um so das Verständnis der Grundfreiheiten als Gleichheits- oder Freiheitsrechte auch am europarechtlich wichtigen judikativen Maßstab ausrichten zu können.

565

Zur dogmatischen Zurückhaltung des EuGH siehe bereits oben 1. Kapitel, bei Fußn. 7. 566 Siehe oben bei Fußn. 535. 567 Eingehend oben 2. Kapitel B. III., S. 81 ff. 568 Insbesondere muss in diesem Zusammenhang vermieden werden, den eigenen Diskriminierungsbegriff an die Stelle der judikativen Terminologie zu setzen. 569 Ähnlich Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 40. 570 Vgl. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 114 f.

. Diskriminierung und Beschränkung

1. Produktverkehrsfreiheiten Entscheidende Weichenstellungen zum Gewährleistungsgehalt grundfreiheitlicher Vorschriften erfolgten in der Urteilspraxis des Gerichtshofs meist zunächst im Bereich der Produktverkehrsfreiheiten, ehe eine Übertragung jener Grundsätze auf die Personenverkehrsfreiheiten diskutiert wurde. 571 Innerhalb jener Untergruppe der Grundfreiheiten kommt der Rechtsprechung zum freien Warenverkehr gegenüber den produktbezogenen Aspekten der Dienstleistungsfreiheit sowie der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs eine übergeordnete Bedeutung zu; 5 7 2 dies zeigt sich entsprechend in den folgenden Ausführungen.

a) Grundfreiheitliches Diskriminierungsverbot Obwohl der Vertragstext insoweit keine zwingenden Restriktionen auferlegt, 573 ist die frühe Rechtsprechung zu den Produktverkehrsfreiheiten von einem Verständnis der Freiheiten als Diskriminierungsverbote geprägt. 574 Entsprechend der weiten Fassung des Vertragstextes hat der Gerichtshof den Gewährleistungsgehalt der Produktfreiheiten allerdings nicht ausdrücklich allein auf ein solches Diskriminierungsverbot reduziert. Insofern lässt sich aus jenen Entscheidungen lediglich schließen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH

571

Dazu Koenig/Haratsch, Rn. 486; Streinz, Rn. 674. Nach Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 40 hat die Warenverkehrsfreiheit „bei der dogmatischen Grundlegung eine Pionierfunktion eingenommen". 573 Oben I. 2. b), S. 205. 574 Vgl. EuGH, Rs. 7/61 (Kommission/Italien), Slg. 1961, 693, 702 f.; EuGH, Verb. Rs. 51/71 bis 54/71 (Produktschap voor groenten en fruit), Slg. 1971, 1107, Rn. 5 ff.; EuGH, Rs. 65/75 (Tasca), Slg. 1976, 291, Rn. 26/28; EuGH, Verb. Rs. 88/75 bis 90/75 (SADAM), Slg. 1976, 323, Rn. 33/36; EuGH, Rs. 41/76 (Donckerwolcke), Slg. 1976, 1921, Rn. 14/21; EuGH, Rs. 68/76 (Kommission/Frankreich), Slg. 1977, 515, Rn. 14/16 ff.; EuGH, Rs. 82/77 (van Tiggele), Slg. 1978, 25, Rn. 13/13; EuGH, Rs. 13/78 (Eggers), Slg. 1978, 1935, Rn. 23; EuGH, Verb. Rs. 110/78 u. 111/78 (van Wesemael), Slg. 1979, 35, Rn. 27; EuGH, Rs. 152/78 (Kommission/Frankreich), Slg. 1980, 2299, Rn. 13; EuGH, Rs. 251/78 (Denkavit), Slg. 1979, 3369, Rn. 11; EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 11; EuGH, Rs. 279/80 (Webb), Slg. 1981, 3305, Rn. 14; EuGH, Rs. 59/82 (Weinvertriebs-GmbH), Slg. 1983, 1217, Rn. 8; EuGH, Rs. 21/88 (Du Pont de Nemours Italiana), Slg. 1990, 1-889, Rn. 11; EuGH, Rs. 50/85 (Schlot), Slg. 1986, 1855, Rn. 15; EuGH, Rs. 25/88 (Wurmser), Slg. 1988, 1105, Rn. 8 ff.; EuGH, Rs. 186/88 (Kommission/Deutschland), Slg. 1989, 3997, Rn. 9 ff. Weitere Nachweise zur neueren Rspr. oben 2. Kapitel, Fußn. 121. 572

208

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

zumindest (auch) diskriminierende Maßnahmen dem Tatbestand der Produktverkehrsfreiheiten unterfallen. 575

b) Dassonville Die Möglichkeit einer extensiven Auslegung der grundfreiheitlichen Vorschriften im Bereich der Produktverkehrsfreiheiten nutzte der Gerichtshof in der richtungsweisenden Entscheidung Dassonville. 516 Seitdem ist zur Interpretation von Art. 28 EG richterlich festgestellt, 577 dass ,jede Handelsregelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen ist." 578 Infolge der weiten Dassonville-Formel ist die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfteiheit nicht mehr von einer Ungleichbehandlung importierter Waren gegenüber inländischen Waren abhängig. Eine entsprechende Abkopplung des grundfreiheitlichen Anwendungsbereichs vom Diskriminierungserfordernis zeichnet sich auch in frühen Entscheidungen zur produktbezogenen Dienstleistungsfreiheit ab. 579 Ob bereits mit dem Urteil in der Rechtssache Dassonville ein endgültiger judikativer Perspektivenwechsel zu Gunsten eines umfassenden Beschränkungs-

575

Ebenso Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 14. EuGH, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837. 577 Diese Auslegungsmaxime ist bis heute im Grundsatz erhalten geblieben; vgl. zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,41. 578 EuGH, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837, Rn. 5. 579 Stellvertretend soll hier auf den Bereich des Rundfunks verwiesen werden. Dort überschreitet die Dienstleistung als immaterielles Produkt losgelöst von ihrem Erbringer und Empfänger die Grenze, weshalb produktbezogene Dienstleistungsaspekte im Vordergrund stehen; vgl. etwa EuGH, Rs. 52/79 (Debauve), Slg. 1980, 833 u. EuGH, Rs. 62/79 (Coditel), Slg. 1980, 881. In den zitierten Urteilen finden sich Hinweise auf eine Unterscheidung zwischen Diskriminierungen und sonstigen Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit. So wurden in der Entscheidung Debauve unterschiedslos geltende Regelungen tatbestandlich den Artt. 59, 60 EWGV (jetzt Artt. 49, 50 EG) unterworfen und lediglich im Ergebnis für gerechtfertigt angesehen; vgl. EuGH, Rs. 52/79 (Debauve), Slg. 1980, 833, Rn. 13. In der Rechtssache Coditel differenzierte der Gerichtshof ausdrücklich zwischen „Diskriminierung" und „Beschränkung"; vgl. EuGH, Rs. 62/79 (Coditel), Slg. 1980, 881, Rn. 15. 576

. Diskriminierung und Beschränkung

Verbotes verbunden ist, 580 soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. 581 Zumindest wird durch jene Ausgangsentscheidung die Grundlage für eine - dem Textverständnis entsprechende - unbefangene Auslegung grundfreiheitlicher Tatbestände im Bereich der Produktverkehrsfreiheiten geschaffen. 582

c) Die Cflssw-Rechtsprechung Die notwendige Konkretisierung seiner in den vorgenannten Entscheidungen angelegten extensiven Interpretation der Grundfreiheiten nahm der Gerichtshof im Urteil Cassis vor. 583 Diese Entscheidung, welche insbesondere für die grundfreiheitliche Rechtfertigungsdogmatik von Bedeutung ist, 584 soll hier allein unter dem Aspekt betrachtet werden, inwieweit hierin das richterliche Bekenntnis zu einem gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Verständnis der Grundfreiheiten gesehen werden kann. 585 Im Cassz's-Urteil wird erstmals eine unterschiedslos anwendbare Regelung entsprechend der weiten Dassonville-Formel auch in praxi dem Prüfungsmaßstab der Warenverkehrsfreiheit unterworfen. 586 Zweifelhaft bleibt, ob der Gerichtshof die nach dem Urteil Dassonville bestehenden weiten dogmatischen Spielräume für einen grundlegenden Verständniswechsel zu Gunsten der freiheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten genutzt hat; allein die Entscheidung Cassis lässt sich jedenfalls kaum dafür heranziehen. 587 Denn der EuGH betont

580

Bejahend etwa Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 15; verneinend z.B. Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 44. 581 Die Entscheidung Dassonville selbst betraf bezeichnenderweise eine diskriminierende Maßnahme; vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 41; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 28; Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 52. 582 Ähnlich - für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit - Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 12. 583 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766. 584 Vgl. dazu die Ausführungen oben B, III, 2, b, S. 195. 585 Zu dieser Diskussion des Cassis- Urteils vgl. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, 1997, 30; Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 43 f.; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 41 ff. 586 Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 44 sieht daher erst in der CassisEntscheidung des EuGH den richterlichen Perspektivenwechsel zu einem weitgehenden Beschränkungsverbot. Vgl. zum genauen Zeitpunkt dogmatischer Richtungsänderungen des Gerichtshofs die Ausführungen bei Fußn. 570. 587 Ebenso Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,42. 14 Mühl

210

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

dort die Funktion der zu beurteilenden Regelung, Erzeugnisse anderer Mitgliedstaaten vom nationalen Markt auszuschließen.588 Dies ließe sich dahingehend deuten, dass der Gerichtshof zur Annahme einer grundfreiheitlich verbotenen Diskriminierung nicht auf die unterschiedslose Anwendung, sondern auf die unterschiedliche Wirkung der betreffenden Maßnahme abstellt. Hier wird wiederum die Maßgeblichkeit des judikativen Diskriminierungsbegriffs deutlich, welchen der EuGH jedoch nicht offenlegt. 589 Erst unter Berücksichtigung der Folgerechtsprechung lässt sich daher das Cassis- Urteil in die dogmatischen Strukturen der Grundfreiheiten genauer einordnen. Dies gilt auch für entsprechende Entscheidungen zu produktbezogenen Aspekten der Dienstleistungsfreiheit sowie den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs. 590

d) Oebel et al. Aus der nachfolgenden Rechtsprechung zu den Produktverkehrsfreiheiten sollen stellvertretend lediglich einige Entscheidungen zur Warenverkehrsfreiheit betrachtet werden, 591 um die abstrakte Zielrichtung der vorliegenden Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Judikatur zeichnet sich insgesamt durch eine konturlose Erweiterung des Anwendungsbereichs der Warenverkehrsfreiheit aus, welche - unabhängig vom zugrunde gelegten Diskriminie-

588

EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 14. Näher 2. Kapitel B. III., S. 81 ff. 590 Vgl. zur Dienstleistungsfreiheit die in Fußn. 579 genannten Entscheidungen. Neben den dort erkannten Parallelen zum Dassonville-Urteil enthalten diese bereits Strukturelemente der Cass/s-Rechtsprechung; vgl. dazu etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 59. Aus der spärlichen Rechtsprechung zur Kapitalverkehrsfreiheit vgl. z.B. EuGH, Rs. C-l48/91 (Veronica), Slg. 1993, 1-487, Rn. 10 ff. Näher dazu Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 40. 591 Hierbei wird Bezug genommen auf EuGH, Rs. 155/80 (Oebel), Slg. 1981, 1993; EuGH, Rs. 75/81 (Blesgen), Slg. 1982, 1211; EuGH, Rs. 286/81 (Oosthoek), Slg. 1982, 4575; EuGH, Rs. 148/85 (Forest), Slg. 1986, 3449; EuGH, Rs. 82/87 (Buet), Slg. 1989, 1235; EuGH, Rs. C-69/88 (Krantz), Slg. 1990, 1-583; EuGH, Rs. 145/88 (Torfaen Borough Council), Slg. 1989, 3885; EuGH, Rs. C-306/88 (Rochdale Borough Council), Slg. 1992,1-6457; EuGH, Rs. C-362/88 (GB-INNO), Slg. 1990,1-667; EuGH, Rs. C-369/88 (Delattre), Slg. 1991,1-1487; EuGH, Rs. C-23/89 (Quietlynn), Slg. 1990,1-3059; EuGH, Rs. C-60/89 (Monteil), Slg. 1991,1-1547; EuGH, Rs. C-312/89 (Conforama), Slg. 1991, 1-997; EuGH, Rs. C-332/89 (Marchandise), Slg. 1991, 1-1027; EuGH, Rs. C-350/89 (Sheptonhurst), Slg. 1991, 1-2387; EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-l76/90 (Aragonesa), Slg. 1991,1-4151; EuGH, Rs. C-304/90 (Reading Borough Council), Slg. 1992,1-6493; EuGH, Rs. C-l26/91 (Yves Rocher), Slg. 1993, 1-2361; EuGH, Rs. C-l69/91 (Stoke on Trent), Slg. 1993,1-6635; EuGH, Rs. 93/92 (CMC Motorradcenter), Slg. 1993, 5009. 589

C. Diskriminierung und Beschränkung

211

rungsbegriff - ohne Einbeziehung freiheitsrechtlicher Aspekte nicht mehr erklärbar ist. 592 Zunächst hatte der Gerichtshof noch in seinen Urteilen Oebel und Blesgen unterschiedslos geltende Maßnahmen nicht als Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit qualifiziert; diese bewirkten „keine spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme" bzw. seien „in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr der Waren" zu sehen.593 Zumindest die Entscheidung Oebel ließe sich auch dahingehend verstehen, dass der EuGH zwar eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung tatbestandlich bejaht, welche jedoch im Ergebnis gerechtfertigt ist. 594 Jenem weiten Verständnis entsprechend, sah der Gerichtshof im Urteil Oosthoek eine unterschiedslos anwendbare Regelung bereits deshalb als Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs an, weil sie geeignet sei, „das Einfuhrvolumen zu beschränken". 595 Spätestens mit dieser Formulierung wird deutlich, dass sich der EuGH von einem relativen Maßstab als Kriterium für die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit gelöst hatte; 596 die Begrenzung der absoluten Zahl importierter Waren berührt nicht mehr die gleichheitsrechtliche Ebene, sondern kann nur als freiheitsrechtlicher Interpretationsansatz verstan-

592

Ebenso Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 44. Ein Systematisierungsversuch mit Fallgruppenbildung findet sich bei Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 30 ff.; vgl. auch Sack, EWS 1994, 37 ff. (38 f.) mit umfangreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des EuGH. 593 Vgl. EuGH, Rs. 155/80 (Oebel), Slg. 1981, 1993, Rn. 15; EuGH, Rs. 75/81 (Blesgen), Slg. 1982, 1211, Rn. 9. Eine ähnliche Formulierung wie im Urteil Blesgen findet sich bei EuGH, Rs. C-23/89 (Quietlynn), Slg. 1990, 1-3059, Rn. 11; vgl. auch EuGH, Rs. 148/85 (Forest), Slg. 1986, 3449, Rn. 19; EuGH, Rs. C-350/89 (Sheptonhurst), Slg. 1991,1-2387. 594 Vgl. EuGH, Rs. 155/80 (Oebel), Slg. 1981, 1993, Rn. 12, wonach das deutsche Nachtbackverbot „eine berechtigte wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidung darstellt, die den im allgemeinen Interesse liegenden Zielen des Vertrages entspricht". Zu dieser Deutung vgl. Dörr, RabelsZ 54 (1990), 677 ff. (683 f.); dagegen Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 46. 595 EuGH, Rs. 286/81 (Oosthoek), Slg. 1982,4575, Rn. 15. 596 Der Gerichtshof betont in EuGH, Rs. 286/81 (Oosthoek), Slg. 1982,4575, Rn. 15, „dass der für den betroffenen Unternehmer bestehende Zwang, sich entweder [...] unterschiedlicher Systeme der Werbung und Absatzförderung zu bedienen oder ein System, das er für besonders wirkungsvoll hält, aufzugeben, [...] ein Einfuhrhindernis darstellen kann". Dieser bloße Verweis auf das Zusammentreffen unterschiedlicher Rechtsordnungen kann die (relative) Benachteiligung eines Rechtssubjektes nicht begründen; vgl. dazu Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 111 f. 1

212

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

den werden. 597 Die Argumentation im Sinne des Urteils Oosthoek wurde in späteren Entscheidungen wiederholt. 598 In eine ähnliche Richtung weisen die Urteile des Gerichtshofs zu den sonntäglichen Verkaufs verboten. 599 Während die Entscheidungsgründe in der Rechtssache Torfaen Borough Council insoweit noch wenig aussagekräftig sind, 600 stellt der EuGH in der Rechtssache Conforama erneut darauf ab, ob „das fragliche Verbot [...] negative Folgen für das Verkaufsvolumen und folglich auch für das Einfuhrvolumen" habe. 601 Andererseits verneint der Gerichtshof in seinem späteren Urteil CMC Motorradcenter eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit mit der Begründung, die betreffende Regelung sei in ihrer Wirkung „zu ungewiß und zu mittelbar, als daß diese Verpflichtung als geeignet angesehen werden könnte, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern". 602 Hier scheint sich der EuGH wiederum auf seine - dogmatisch unbefriedigenden - Erwägungen in der Rechtssache Oebel zu besinnen.603

597 Zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,44 f.; Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 55. 598 Vgl. EuGH, Rs. 82/87 (Buet), Slg. 1989, 1235, Rn. 7; EuGH, Rs. C-362/88 (GBINNO), Slg. 1990, 1-667, Rn. 7; EuGH, Rs. C-369/88 (Delattre), Slg. 1991, 1-1487, Rn. 50; EuGH, Rs. C-60/89 (Monteil), Slg. 1991, 1-1547, Rn. 37; EuGH, Verb. Rs. C1/90 u. C-l76/90 (Aragonesa), Slg. 1991, 1-4151, Rn. 10; EuGH, Rs. C-l26/91 (Yves Rocher), Slg. 1993,1-2361, Rn. 10. 599 Hierzu auch Davis, EuZW 1992, 569 ff.; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 45; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 30 f.; Sack, EWS 1994, 37 ff. (39 f.). 600 Dort judizierte der EuGH „bezüglich eines unterschiedslos für inländische und eingeführte Erzeugnisse geltenden Verbots". Dieses sei nur dann mit der Warenverkehrsfreiheit vereinbar, „wenn ein nach Gemeinschaftsrecht gerechtfertigtes Ziel verfolgt" würde; vgl. EuGH, Rs. 145/88 (Torfaen Borough Council), Slg. 1989, 3885, Rn. 12 f. Ähnlich EuGH, Rs. C-332/89 (Marchandise), Slg. 1991,1-1027, Rn. 11 f. 601 EuGH, Rs. C-312/89 (Conforama), Slg. 1991, 1-997, Rn. 8. Bestätigt in EuGH, Rs. C-306/88 (Rochdale Borough Council), Slg. 1992, 1-6457, Rn. 7; EuGH, Rs. C304/90 (Reading Borough Council), Slg. 1992, 1-6493, Rn. 8; EuGH, Rs. C-169/91 (Stoke on Trent), Slg. 1993,1-6635, Rn. 10. 602 EuGH, Rs. C-93/92 (CMC Motorradcenter), Slg. 1993, 1-5009, Rn. 12; vgl. auch EuGH, Rs. C-44/98 (BASF), Slg. 1999,1-6269, Rn. 16 u. 21. Ähnlich bereits EuGH, Rs. C-69/88 (Krantz), Slg. 1990,1-583, Rn. 11. 603 Krit. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,46 mit der zutreffenden Erkenntnis, die Argumentation in den Urteilen CMC Motorradcenter u. Krantz widerspreche der Dassonv///e-Formel.

. Diskriminierung und Beschränkung

Die dargestellte Judikatur des EuGH nach der Ca^w-Entscheidung offenbart erhebliche Unsicherheiten und Widersprüche bei der tatbestandlichen Umschreibung der Warenverkehrsfreiheit. 604 Trotz der angewandten unterschiedlichen Prüfungsmaßstäbe lässt sich zumindest die Erkenntnis gewinnen, dass der Gerichtshof die Anwendung der Warenverkehrsfreiheit nicht mehr vom Erfordernis der Diskriminierung abhängig machte.605 Weitergehende Folgerungen dürften jener konturlosen Rechtsprechung indes nicht zu entnehmen sein; dies gilt insbesondere im Hinblick auf die notwendige Präzisierung des erweiterten Gewährleistungsgehalts jener Grundfreiheit. Insgesamt ist in der Post-CassisRechtsprechung keine hinreichend klare dogmatische Struktur erkennbar. 606

e) Keck Eine Wende in der extensiv ausgerichteten Judikatur zur Warenverkehrsfreiheit markiert das vielzitierte Urteil in der Rechtssache Keck, 607 welches durchaus als Reaktion auf die problematische Rechtsprechung nach Cassis verstanden werden kann. 608 Für die vorliegende Fragestellung nach einem gleichheitsrechtlichen oder freiheitsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten sind hierbei zwei Aspekte hervorzuheben: Zum einen wurden „bestimmte Verkaufsmodalitäten" beschränkende nationale Regelungen aus dem Anwendungsbereich von Art. 30 EWGV (jetzt Art. 28 EG) herausgenommen, „sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren". 609 Zum anderen

604

Zutreffend Classen , EWS 1995, 97 ff. (99) m.w.N. Siehe oben bei Fußn. 597. 606 Vgl. auch die Kritik von Basedow, EuZW 1994, Editorial Heft 8; Everling, ZLR 1994, 221 ff. (223); Funke, WRP 1991, 550 ff. (554); Heermann, WRP 1993, 578 ff. (581); Jest aedt/Kästle, EWS 1994, 26 ff. (28); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 47; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 27; Lenz, ZEuP 1994, 624 ff. (642); Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff: (15); Roth, ZEuP 1994, 5 ff. (9); Sack, EWS 1994, 37 ff. (40); Steindorff, Grenzen der EGKompetenzen, 1990, 26; Steiner, CMLRev. 1992, 749 ff. (755 ff.); GA Tesauro, Schlussanträge in der Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, 1-6787, Rn. 12 ff.; Wils, ELR 1993,475 ff. (487). 607 EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,1-6097. 608 Nach EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,16097, Rn. 14 „hält es der Gerichtshof für notwendig, seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu überprüfen und klarzustellen". 605

214

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

erfolgte diese tatbestandliche Restriktion „entgegen der bisherigen Rechtsprechung". 610 Ob der Gerichtshof nach dem KeckAJrtzii sein zuvor erkanntes freiheitsrechtliches Verständnis der Produktverkehrsfreiheiten weiter aufrechterhält oder zu einer rein gleichheitsrechtlichen Sicht zurückkehrt, bedarf einer differenzierenden Betrachtung. Zumindest für solche Regelungen, welche nicht „bestimmte Verkaufsmodalitäten" im Sinne der A^cÄ-Rechtsprechung betreffen, stellt sich die Problematik vordergründig nicht; insofern bleibt die vorgenannte Judikatur unberührt. 611 Im Übrigen hängt die Beantwortung jener Frage davon ab, welche Rechtsprechung mit der Entscheidung Keck aufgegeben wurde. Dies ist angesichts der nicht eindeutigen Formulierung des EuGH unklar und umstritten. 612 Weitgehende Einigkeit dürfte zumindest darüber bestehen, dass die oben erwähnte Rechtsprechung zu den sonntäglichen Verkaufsverboten nach dem Keck-Urteil nicht mehr aufrechterhalten bleibt. 613 Denn in späteren Entscheidungen hat der Gerichtshof nationale Regelungen betreffend Ladenschlusszeiten gemäß der Keck-Formel nicht mehr in den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit einbezogen.614 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob

609 EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, 1-6097, Rn. 16. Bestätigt in EuGH, Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, 1-6787, Rn. 21; EuGH, Rs. C-315/92 (Clinique), Slg. 1994, 1-317, Rn. 13; EuGH, Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995, 1-1621, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-l 1/94, C-l4/94, C-l5/94, C-23/94, C24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996,1-2975, Rn. 11; EuGH, Rs. C-412/94 (LeclercSiplec), Slg. 1995, 1-179, Rn.21; EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997,1-3843, Rn. 44. 610 Ebd. 611 Insoweit zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,57. 612 Siehe dazu die Übersicht bei Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 43 f. 613 Ebenso etwa Ackermann, RIW 1994, 189 ff. (194); Axter, FS Rowedder, 1994, 21 ff. (39); Fezer, JZ 1994, 317 ff. (324); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 56 (Fußn. 172); Meyer, WRP 1994, 100 f. (101); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 43; Nicolaysen, Europarecht II, 55; Reich, ZIP 1993, 1815 ff. (1816); Sehr oeder/Feder le, ZIP 1994, 1428 ff. (1431 f.); Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 162; Streinz, Rn. 733; ders., FS Rudolf, 199 ff. (211, Fußn. 68). 614 Vgl. nur EuGH, Verb. Rs. C-401/92 u. C-402/92 ('t Heukske u. Boermans), Slg. 1994,1-2199, Rn. 12 f.; EuGH, Verb. Rs. C-69/93 u. C-258/93 (Punto Casa), Slg. 1994,

. Diskriminierung und Beschränkung

auch die OasfAoeÄ-Rechtsprechung 615 als überholt zu gelten hat. 616 Verneinte man dies, so wäre ein Festhalten des EuGH an seiner freiheitsrechtlichen Sichtweise zu konstatieren. 617 Gerade das charakteristische Merkmal der Oos/Aoe£-Rechtsprechung hat der Gerichtshof in der Entscheidung Keck allerdings in Frage gestellt: die absolute Veränderung des Absatzvolumens als maßgebliches Kriterium für die Anwendung der Warenverkehrsfreiheit. 618 Dies spricht dafür, der Oosi/z «^-Rechtsprechung insofern keine umfassende Geltung mehr zuzusprechen. Dennoch bedingt auch die vorgenannte Interpretation des Keck-Urteils nicht zwingend die richterliche Aufgabe einer möglichen freiheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten. 619 Vielmehr erfolgte in diesem Fall lediglich eine Rückbesinnung auf jenen Stand der Judikatur, welcher seit den Urteilen Dassonville und Cassis anzunehmen ist. 620 Die Rechtsprechungs-

1-2355, Rn. 12 f.; EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C464/93, C-9/94 bis C-l 1/94, C-14/94, C-15/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996,1-2975, Rn. 9 ff. Die Tatsache, dass der Gerichtshof in der zuletzt genannten Entscheidung „im übrigen" auch die Rechtfertigungsebene anspricht (a.a.O., Rn. 25), kann diesen dogmatischen Befund nicht entkräften; denn die vorangegangenen Erwägungen belegen in seltener Klarheit, „daß Artikel 30 des Vertrages [jetzt Art. 28 EG] keine Anwendung auf eine nationale Ladenschlußregelung findet" (a.a.O., Rn. 15); Hervorh. d. Verf. 615 EuGH, Rs. 286/81 (Oosthoek), Slg. 1982, 4575 sowie die in Fußn. 598 genannten Entscheidungen. 616 Bejahend Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, 1997, 158; Becker, EuR 1994,162 ff. (174); Ehricke, WuW 1994, 108 ff. (114); Everling, ZLR 1994, 221 ff. (227 f.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 56; Matthies, FS Everling, 803 ff. (812); Möhring, NJW 1994, 430 ff. (431); Möschel, NJW 1994, 429 ff. (430); Mülhert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (26 f.); Petschke, EuZW 1994, 107 ff. (111); Piper, WRP 1994, 433 ff. (434 f.); Remien, JZ 1994, 349 ff. (352); Sack, EWS 1994, 37 ff. (43); Schilling, EuR 1994, 50 ff. (69); Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 161 f. Ebenso die Rspr. der deutschen Obergerichte; vgl. z.B. OLG Düsseldorf, EuZW 1994, 189 (190); OLG Nürnberg, EWS 1995, 53 (54). A.A. etwa Ackermann, RIW 1994, 189 ff. (194); Axter, FS Rowedder, 1994, 21 ff. (39); Fezer, JZ 1994, 317 ff. (323); Meyer, WRP 1994, 100 f. (101); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 43 ff; Perau, Werbeverbote, 1997, 142; Reich, CMLRev. 1994, 459 ff. (486 f.); Schroeder/Federle, ZIP 1994, 1428 ff. (1429); Stuyck, WRP 1994, 578ff. (583 f.). 617 Siehe oben d), bei Fußn. 597. 618 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, I6097, Rn. 13. 619 So aber Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 56. 620 Zutreffend Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-470/93 (Mars), Slg. 1995,1-1923, Rn. 12.

216

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

linie gemäß Dassonville und Cassis zeichnet sich indes dadurch aus, dass ihr eindeutige Aussagen des EuGH hinsichtlich eines gleichheitsrechtlichen oder freiheitsrechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten nicht zu entnehmen sind. 621 Die restriktiveren Tendenzen der vorgenannten ATec£-Rechtsprechung dürften zumindest auch im Hinblick auf personenbezogene Aspekte der Dienstleistungsfreiheit Anwendung finden. 622 So hat der Gerichtshof in der Entscheidung Alpine Investments im Hinblick auf Korrespondenzdienstleistungen den Maßstab des Keck-Urteils herangezogen, 623 wenngleich er die tatbestandliche Restriktion der Dienstleistungsfreiheit im konkreten Fall verneinte. 624 Zu den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs fehlt insofern eine korrespondierende Rechtsprechung, welche ausdrücklich auf die Übertragbarkeit der KeckFormel Bezug nimmt. 625 Allerdings betont der EuGH in seinen Entscheidungen die grundsätzliche Parallelität von Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit einerseits sowie den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs andererseits. 626 Auch zu produktbezogenen Aspekten anderer Grundfreiheiten als der Warenverkehrsfreiheit fehlen indes deutliche Bekenntnisse des Gerichtshofs zu einer gleichheitsrechtlichen oder freiheitsrechtlichen Sichtweise.

f) Post-Keck Angesichts jener ernüchternden Erkenntnis bliebe nur der Versuch, für den verbleibenden Bereich derjenigen Regelungen, welche nicht „bestimmte Verkaufsmodalitäten" betreffen, eine klare Vorstellung des Gerichtshofs hinsicht-

621

Näher oben c), bei Fußn. 589. Weiterführend Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211). 623 EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 36. 624 Zur über die ATec£-Rechtsprechung vermittelten Konvergenz von Warenverkehrsfreiheit und (personenbezogener) Dienstleistungsfreiheit vgl. auch Eberhartinger, EWS 1997,43 ff. (49); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 61 f.; Koenig/Haratsch, Rn. 601; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 98. Abweichend Sack, WRP 1998, 103 ff. (112). 625 Vgl. nur Koenig/Haratsch, Rn. 620. 626 Vgl. hierzu insb. EuGH, Rs. C-l48/91 (Veronica), Slg. 1993,1-487. Näher zu daraus folgenden Konsequenzen für eine Eingriffsdogmatik des EuGH im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit etwa Bröhmer, in: Calliess/ Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 50 ff.; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Art. 73b, Rn. 30 ff. 622

. Diskriminierung und Beschränkung

lieh des gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Gehalts der Warenverkehrsfreiheit zu ermitteln. 627 Diesbezüglich wurde die frühere Rechtsprechung nicht ausdrücklich aufgegeben, was einen Fortbestand der erkannten freiheitsrechtlichen Sicht des EuGH bedeuten könnte. 628 Eine judikative Präzisierung des Begriffs der „bestimmten Verkaufsmodalitäten" wird in der Post-^eci-Rechtsprechung sichtbar. Danach zeichnet sich eine Differenzierung zwischen produktbezogenen und rein vertriebsbezogenen Regelungen ab. 629 In der Entscheidung Clinique qualifizierte der Gerichtshof produktbezogene Vorschriften bezüglich Bezeichnung, Form, Abmessung, Gewicht, Zusammensetzung, Aufmachung, Etikettierung und Verpackung von Waren als Regelungen, welche nicht „bestimmte Verkaufsmodalitäten" betreffen. 630 Die ratio decidendi ist augenfällig: Produktbezogene Vorschriften können „den Importeur [...] zwingen, die Ausstattung seiner Erzeugnisse je nach dem Ort des Inverkehrbringens unterschiedlich zu gestalten und demgemäß die zusätzlichen Verpackungs- und Werbungskosten zu tragen". 631 Rein vertriebsbezogene Regelungen betreffen demgegenüber „bestimmte Verkaufsmodalitäten" und unterfallen als solche nicht dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit. 632 Damit wird allerdings deutlich, dass auch im Bereich derjenigen Regelungen, welche nicht „bestimmte Verkaufsmodalitäten" betreffen, eine klare Vorstellung des Gerichtshofs zum gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Gehalt der Warenverkehrsfreiheit nicht herausgearbeitet werden kann. Lediglich die extensive Oosthoek-Rechtsprechung sowie die Entscheidungen zum sonntäglichen Verkaufsverbot waren eindeutig freiheitsrechtlich zu interpretie-

627

Entsprechendes gilt für konvergente Kriterien im Bereich anderer produktbezogener Grundfreiheiten. 628 Siehe oben e), bei Fußn. 611. 629 Näher zu dieser Entwicklung Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 48; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 30; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 28 ff. 630 EuGH, Rs. C-315/92 (Clinique), Slg. 1994, 1-317, Rn. 13. Die genannten Vorschriften werden nach Ansicht des Gerichtshofs nicht von der grundsätzlichen tatbestandlichen Restriktion i.S.d. KeckAJxtziXs erfasst. 631 So die Formulierung im späteren Urteil Mars\ vgl. EuGH, Rs. C-470/93 (Mars), Slg. 1995,1-1923, Rn. 13. 632 Vgl. z.B. die in Fußn. 614 genannten Entscheidungen sowie EuGH, Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, 1-6787, Rn.21; EuGH, Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995, 1-1621, Rn. 13 f.; EuGH, Rs. C-387/93 (Banchero), Slg. 1995, 1-4663, Rn. 34 f.; EuGH, Rs. C-412/94 (Leclerc-Siplec), Slg. 1995, 1-179, Rn. 20 ff.

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3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

ren. 633 Diese Urteile beruhten jedoch gerade auf dem Umstand, dass dort Verkaufsmodalitäten ohne Produktbezug zu beurteilen waren. 634 Für rein vertriebsbezogene Vorschriften fehlt insofern eine exakt bestimmbare Rechtsprechungslinie. Immerhin verdeutlicht der Post-A^c/:-Prozess die Tendenz des Gerichtshofs, die Produktverkehrsfreiheiten tatbestandlich-funktional auf Marktzugangsrechte zurückzuführen. 635 So stellt der EuGH bereits im Urteil Keck darauf ab, ob eine nationale Regelung „geeignet ist, den Marktzugang für [...] Erzeugnisse im Einfuhrmitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut". 6 3 6 Die Differenzierung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Vorschriften im Sinne der Keck-Formel bietet insofern ein Prüfraster für die marktzugangsbeschränkende Wirkung einer Maßnahme;637 dieser Maßstab bedarf der weiteren Präzisierung, 638 welche an dieser Stelle jedoch noch nicht vorgenommen werden soll. 639 Das Verständnis der Produkt-

633

Siehe oben d), bei Fußn. 597. Die genannten Entscheidungen müssen im Bereich der Verkaufsmodalitäten zudem inzwischen als überholt gelten; siehe oben e), bei Fußn. 618. 635 Vgl. hierzu auch Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 49; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28, Rn. 35.; Kilian, Rn. 239 ff.; Koenig/Haratsch, Rn. 509; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 28; Streinz, Rn. 733. 636 EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,1-6097, Rn. 17. Bestätigt in EuGH, Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993,1-6787, Rn. 21; EuGH, Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995,1-1621, Rn. 13; EuGH, Verb. Rs. C-401/92 u. C-402/92 ('t Heukske u. Boermans), Slg. 1994, 1-2199, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C-69/93 u. C-258/93 (Punto Casa), Slg. 1994, 1-2355, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-l 1/94, C14/94, C-l5/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996, 1-2975, Rn. 13; EuGH, Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst Sass), Slg. 2000, 1-151, Rn. 29; EuGH, Rs. C405/98 (Gourmet International Products), Slg. 2001,1-1795, Rn. 18. Für personenbezogene Aspekte der Dienstleistungsfreiheit vgl. EuGH, Rs. C384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 37; EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. C191/97 (Deliège), Slg. 2000,1-2549, Rn. 61. 637 Danach können produktbezogene Regelungen den Marktzugang beschränken, während unterschiedslos geltende rein vertriebsbezogene Maßnahmen keine marktzugangsbeschränkende Wirkung haben. 638 Zutreffend Streinz, Rn. 733 mit Verweis auf Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 48 ff. 639 Zumindest die Zielrichtung ist klar: Die Keck-Rspr. bietet einen judikativen Konkretisierungsmaßstab für das Kriterium des Marktzugangs. Die notwendige Präzisierung der Keck-VormeX muss klären, ob Produkt- und Verkaufsmodalitäten in ihrer pragmati634

Diskriminierung und Beschränkung

Verkehrsfreiheiten als Marktzugangsrechte steht im Einklang mit den obigen Ausführungen zur Binnenmarktkonzeption. 640 Über die Keck-Vorms\ wird dabei einerseits der absolute Zugang zum Markt angesprochen, andererseits ein relativer Maßstab für den Marktzugang bereitgestellt. 641 Allerdings werden beide Aspekte dort derart miteinander verknüpft, dass eine gleichheitsrechtliche bzw. freiheitsrechtliche Sicht des Gerichtshofs aufgrund der Differenzierung zwischen Produktmodalitäten und Verkaufsmodalitäten nicht zu belegen sein dürfte. 642

g) Zusammenfassung Im Ergebnis enthält die Judikatur zu den Produktverkehrsfreiheiten keine zielgerichtete Rechtsprechungslinie im Hinblick auf ein gleichheitsrechtliches bzw. freiheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten. Deutlich wird lediglich ein ergebnisorientierter Wechsel von Ausweitung und Einengung grundfreiheitlicher Gewährleistungsgehalte. Insgesamt erfolgte so die Rückführung der extensiven Rechtsprechung auf einen Stand der Judikatur, welcher eindeutige Aussagen im Hinblick auf den gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten nicht zulässt. Kennzeichnend für den PostKeck-Prozess ist der Versuch, die marktzugangsbeschränkende Wirkung grundfreiheitlich verbotener Maßnahmen mit Hilfe pragmatischer Kriterien zu umschreiben. Die nach dem Urteil Keck noch aufrechterhaltene Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Produktverkehrsfreiheiten ist allerdings sowohl über ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten wie auch mittels

sehen Differenzierung tatsächlich immer eine bestimmte Korrelation zum Marktzugang aufweisen. Wenig hilfreich erscheint es in diesem Zusammenhang, umgekehrt von der KeckFormel auszugehen und diese dadurch zu „präzisieren", indem auf das abstraktere Kriterium des Marktzugangs abgestellt wird; so Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 52. Zur Kritik siehe bereits oben Β. I. 3. a) aa), bei Fußn. 92. 640 Siehe insb. oben Β. I. 3. a), S. 129 ff. 641 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,16097, Rn. 17, wonach entscheidend darauf abgestellt wird, ob die betreffende Maßnahme geeignet ist, „den Marktzugang [...] zu versperren [freiheitsrechtlicher Aspekt] oder stärker zu behindern als sie dies für inländische Erzeugnisse tut [gleichheitsrechtlicher Aspekt]"; Hervorh. d. Verf. 642 So unterfallen auch nur solche Regelungen nicht mehr dem Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit, welche bestimmte Verkaufsmodalitäten betreffen, für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten und unterschiedslose Wirkung haben; vgl. EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,1-6097, Rn. 16.

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3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

freiheitsrechtlicher Sicht vollständig erfassbar; entscheidend ist hier allein die Reichweite des zugrunde gelegten Diskriminierungsbegriffs.

2. Personenverkehrsfreiheiten Die Rechtsprechung zu den Personenverkehrsfreiheiten wird in der Literatur teilweise als unsystematisch gekennzeichnet.643 Gleichwohl ist dort zumindest im Hinblick auf die hier interessierende Fragestellung eine gegenüber den Produktverkehrsfreiheiten einheitlichere Linie erkennbar. Dies mag darin begründet sein, dass der Gerichtshof bezüglich der Personenverkehrsfreiheiten auf seine Judikatur zu den Produktverkehrsfreiheiten rekurriert und hier keine neuerlichen dogmatischen Gehversuche unternimmt. Die folgende Darstellung beschränkt sich daher auf drei wichtige Fallgruppen der Personenverkehrsfreiheiten.

a) Klassisches Verständnis der Personenverkehrsfreiheiten Die Rechtsprechung zu den Personenverkehrsfreiheiten weist insofern Parallelitäten zu den Produktverkehrsfreiheiten auf, als auch sie ursprünglich von einem Verständnis der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote ausging.644 Frühe Entscheidungen des Gerichtshofs lassen sich demgemäß mit einem Anspruch auf bloße Inländergleichbehandlung erklären. 645 Hierbei orientiert sich der EuGH insbesondere am Vertragstext der Personenverkehrs-

643

Für die Niederlassungsfreiheit etwa Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EGWirtschaftsrechts, E.I, Rn. 62. 644 Vgl. zu den Produktverkehrsfreiheiten oben 1. a), S. 207. 645 So etwa EuGH, Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631, Rn. 24/28; EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 6/7; EuGH, Rs. 11/77 (Patrick), Slg. 1977, 1199, Rn. 8 ff.; EuGH, Rs. 182/83 (Fearon u. Company Ltd.), Slg. 1984, 3677, Rn. 7; EuGH, Rs. 197/84 (Steinhauser), Slg. 1985, 1819, Rn. 16; EuGH, Rs. 221/85 (Kommission/Belgien), Slg. 1987, 719, Rn. 10; EuGH, Rs. 63/86 (Kommission/Italien), Slg. 1988, 29, Rn. 12; EuGH, Rs. 20/87 (Gauchard), Slg. 1987,4879, Rn. 11. Aus jüngerer Zeit vgl. EuGH, Rs. C-93/89 (Kommission/Irland), Slg. 1991,1-4569, Rn. 11; EuGH, Rs. C-221/89 (Factortame II), Slg. 1991,1-3905, Rn. 28 f.; EuGH, Rs. C246/89 (Kommission/Vereinigtes Königreich), Slg. 1991,1-4585, Rn. 29; EuGH, Rs. ΟΙ 68/91 (Konstantinidis), Slg. 1993, 1-1191, Rn. 12; EuGH, Rs. C-334/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1996, 1-1307, Rn. 13; EuGH, Rs. C-62/96 (Kommission/Griechenland), Slg. 1997,1-6725, Rn. 18.

. Diskriminierung und Beschränkung

freiheiten. 646 So umfasse die Niederlassungsfreiheit Gewährleistungen „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen"; 647 die Arbeitnehmerfreizügigkeit verlange die „Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung". 648 Die Wortlautinterpretation der Personenverkehrsfreiheiten bedingt nach Auffassung des Gerichtshofs indes nicht eine Reduzierung des grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehalts auf eine offen erkennbare Inländergleichbehandlung. Vielmehr verbieten die Personenverkehrsfreiheiten „nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale zu dem gleichen Ergebnis führen". 649 Gerade die hierzu ergangenen Urteile führten zu Unsicherheiten hinsichtlich der Frage, ob der EuGH die personenbezogenen Grundfreiheiten als gleichheitsrechtliche Diskriminierungsverbote oder als freiheitsrechtliche Beschränkungsverbote qualifiziert. 650 So hat der Gerichtshof in der Entscheidung Seco zu einer versteckten Diskriminierung judiziert, 651 anschließend jedoch auf der Rechtfertigungsebene

646 Näher zu primärrechtlichen Anknüpfungspunkten für ein Diskriminierungsverbot der Personenverkehrsfreiheiten oben I. 1. a), S. 201. 647 EuGH, Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631, Rn. 16/20; EuGH, Rs. 11/77 (Patrick), Slg. 1977, 1199, Rn. 8. 648 EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 6/7. 649 So die Formulierung in EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 11. Seither st. Rspr; vgl. für die Personenverkehrsfreiheiten nur EuGH, Verb. Rs. 62/81 u. 63/81 (Seco), Slg. 1982, 223, Rn. 8; EuGH, Rs. 41/84 (Pinna), Slg. 1986, 1, Rn. 23; EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591, Rn. 11; EuGH, Rs. C-175/88 (Biehl), Slg. 1990, I1779, Rn. 13; EuGH, Rs. C-27/91 (Le Manoir), Slg. 1991,1-5531, Rn. 10; EuGH, Rs. ΟΙ 11/91 (Kommission/Luxemburg), Slg. 1993, 1-817, Rn. 9; EuGH, Verb. Rs. C-259/91, C-331/91 u. C-332/91 (Allué II), Slg. 1993,1-4309, Rn. 11; EuGH, Rs..C-272/92 (Spotti), Slg. 1993, 1-5185, Rn. 18; EuGH, Rs. C-419/92 (Scholz), Slg. 1994, 1-505, Rn. 7; EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Slg. 1995, 1-225, Rn. 26; EuGH, Rs. C-80/94 (Wielockx), Slg. 1995, 1-2493, Rn. 16; EuGH, Rs. C-l07/94 (Asscher), Slg. 1996, I3089, Rn. 36; EuGH, Rs. C-151/94 (Kommission/Luxemburg), Slg. 1995, 1-3685, Rn. 14; EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996,1-2617, Rn. 17; EuGH, Rs. C-278/94 (Kommission/Belgien), Slg. 1996, 1-4307, Rn. 27; EuGH, Rs. C-57/96 (Meints), Slg. 1997, 1-6689, Rn. 44 f.; EuGH, Rs. C-90/96 (Petrie), Slg. 1997, 1-6527, Rn. 54; EuGH, Rs. C-l87/96 (Kommission/Griechenland), Slg. 1998, 1-1095, Rn. 18 f.; EuGH, Rs. C350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998, 1-2521, Rn. 29 ff.; EuGH, Rs. C-35/97 (Kommission/ Frankreich), Slg. 1998,1-5325, Rn. 37. 650 Vgl. etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 68 ff; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 85 f. 651 EuGH, Verb. Rs. 62/81 u. 63/81 (Seco), Slg. 1982, 223, Rn. 8.

222

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

eine Prüfung des Allgemeininteresses vorgenommen. 652 Diese Rechtfertigungsmöglichkeit ist nach herkömmlicher Dogmatik lediglich diskriminierungsfreien Maßnahmen vorbehalten, 653 so dass diesbezüglich ein freiheitsrechtliches Verständnis des EuGH diskutiert wird. 6 5 4 Dissonanzen werden auch zu den Allué- Fällen konstatiert. 655 Bereits die Einordnung der dort zu beurteilenden Maßnahmen als versteckte Diskriminierungen begegnet hier Kritik; 6 5 6 zudem hat der Gerichtshof gleichwohl wiederum auf ungeschriebene Rechtfertigungsgründe rekurriert. 657 Ungeachtet der berechtigten Kritik darf mit Blick auf die hier interessierende Frage nicht übersehen werden, dass der EuGH in den genannten Entscheidungen die personenbezogenen Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte ansieht. Nach klassischem judikativen Verständnis ergeben sich daher keine Anhaltspunkte für eine über den gleichheitsrechtlichen Maßstab hinausgehende Qualifizierung der Personenverkehrsfreiheiten als Beschränkungsverbote.

b) Anerkennungsfälle Eine Tendenz zur freiheitsrechtlichen Sicht der Personenverkehrsfreiheiten offenbart der Gerichtshof in seinen Entscheidungen zu den so genannten Anerkennungsfällen. 658 Angesprochen werden hiermit Sachverhalte, in welchen nationale Qualitätsanforderungen deshalb eine Beeinträchtigung der Personenverkehrsfreiheiten darstellen können, weil der Betroffene bereits entsprechende

652

EuGH, Verb. Rs. 62/81 u. 63/81 (Seco), Slg. 1982, 223, Rn. 10. Dazu nur Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200) m.w.N. 654 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 68. 655 Mit dem Begriff der Allué-¥ï\ le wird Bezug genommen auf EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591; EuGH, Verb. Rs. C-259/91, C-331/91 u. C-332/91 (Allué II), Slg. 1993,1-4309; EuGH, Rs. C-272/92 (Spotti), Slg. 1993,1-5185; EuGH, Rs. C-90/96 (Petrie), Slg. 1997,1-6527. Näher hierzu bereits oben 2. Kapitel B. III., S. 81 ff. 656 Vgl. etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 69; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 86; Steindorff, JZ 1994, 94 ff. (96). 657 EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591, Rn. 13 ff.; EuGH, Verb. Rs. C259/91, C-331/91 u. C-332/91 (Allué II), Slg. 1993, 1-4309, Rn. 14 ff.; EuGH, Rs. C272/92 (Spotti), Slg. 1993,1-5185, Rn. 19 f. 658 Zur dogmatischen Verortung der Anerkennungsfälle siehe bereits oben B. II. 1. b) bb) (2), bei Fußn. 256, u. B. II. 2., bei Fußn. 268. 653

. Diskriminierung und Beschränkung

Anforderungen des Herkunftsstaates erfüllt. 659 Der EuGH hat insoweit über die grundfreiheitlichen Vorschriften eine spezifische Prüf- und Akzeptanzpflicht der Mitgliedstaaten postuliert. 660 Mit Blick auf eine gleichheitsrechtliche bzw. freiheitsrechtliche Sicht der Grundfreiheiten ist bemerkenswert, dass der Gerichtshof die tatbestandliche Prüfung der Personenverkehrsfreiheiten von einer diskriminierenden Anwendung jener Qualitätsanforderungen abkoppelt. 661 Noch weitgehender formuliert der EuGH in der Entscheidung Kraus, eine - diskriminierungsfrei angewandte nationale Regelung stehe bereits dann im Widerspruch zu den Personenverkehrsfreiheiten, wenn sie „geeignet ist, die Ausübung der [...] Freiheiten [...] zu behindern oder weniger attraktiv zu machen". 662 Einen Höhepunkt dieser Rechtsprechungslinie markiert insoweit das Urteil in der Rechtssache Gebhard. 661 Der dortige Sachverhalt lässt sich in die Reihe der Anerkennungsfälle zur Niederlassungsfreiheit einordnen; gleichwohl erhöht der Gerichtshof erneut den Abstraktionsgrad der zuvor genannten Erwägungen, indem er diese auf sämtliche Grundfreiheiten erstreckt. 664 In ihrer Allgemeinheit deuten die richterlichen Aussagen im Rahmen der Anerkennungsfälle eine freiheitsrechtliche Sicht der Grundfreiheiten an. 665 Dennoch bleiben insoweit Unsicherheiten. Zwar wird die tatbestandliche Prüfung der Grundfreiheiten in praxi von der Voraussetzung einer diskriminierenden Anwendung nationaler Maßnahmen gelöst. Die genannten Entscheidungen zeichnen sich allerdings dadurch aus, dass sie im Hinblick auf transnationale und inländische Sachverhalte eine unterschiedliche Wirkung entfalten. 666 Sämt-

659

Näher Schneider, Anerkennung von Diplomen, 1995, 32; Schnichels, Niederlassungsfreiheit, 1995, 111 ff. 660 Nachweise oben 2. Kapitel, Fußn. 168. 661 Deutlich z.B. EuGH, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Slg. 1991, 1-2357, Rn. 15, wonach „nationale Qualitätsanforderungen, selbst wenn sie ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, sich dahin auswirken können, daß sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in der Ausübung des ihnen durch Artikel 52 EWG-Vertrag [jetzt Art. 43 EG] gewährleisteten Niederlassungsrechts beeinträchtigen". 662 EuGH, Rs. C-l9/92 (Kraus), Slg. 1993,1-1663, Rn. 32. 663 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165. 664 Vgl. EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 37. 665 Vgl. auch Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 23 ff.; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 66; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 71 m.w.N. 666 Trotz unterschiedsloser Anwendung nationaler Qualitätsanforderungen wird allein dem grenzüberschreitenden Wirtschaftsteilnehmer eine zusätzliche Belastung auferlegt,

224

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

liehe Anerkennungsfälle ließen sich demnach auch rein gleichheitsrechtlich erfassen, indem man einen weiten Begriff der Diskriminierung zugrunde legt, welcher (auch) auf der Wirkungsebene einer Maßnahme ansetzt.667 Die Frage, ob der Gerichtshof die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote versteht oder ihnen einen weitergehenden freiheitsrechtlichen Gehalt beimisst, ist somit wiederum vom judikativen Diskriminierungsbegriff abhängig.668 Auch in den hier angesprochenen Urteilen legt sich der EuGH jedoch nicht auf eine eindeutige Terminologie fest. 669 Die Rechtsprechung zu den Anerkennungsfällen ist daher nicht geeignet, in der Auseinandersetzung um einen gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten die Position des Gerichtshofs klar zu bestimmen. 670

c) Maßnahmen mit mobilitätsbeschränkender Wirkung Neben den vorgenannten Anerkennungsfällen lässt sich eine weitere Entscheidungsgruppe bilden, welche ebenfalls durch die unterschiedslose Anwendung der zu beurteilenden Regelung charakterisiert ist. Innerhalb dieser Ordnung ist zwischen den Fällen der Doppelniederlassung und sonstigen Maßnahmen mit mobilitätsbeschränkender Wirkung zu differenzieren. 671

wenn und soweit dieser seine entsprechende Qualifikation im Herkunftsland bereits nachgewiesen hat; daher werden die Anerkennungsfälle gelegentlich auch als „Doppelbelastungsfälle" gekennzeichnet; vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 149 ff.; Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 60. 667 So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 120 ff. unter Verwendung eines „materiellen" Diskriminierungsbegriffs. Näher dazu bereits oben 2. Kapitel, Β, IV, S. 86 ff. 668 Vgl. die entsprechenden Erkennntnisse speziell zu den Produktverkehrsfreiheiten im Rahmen der Cassis- Rspr. oben 1. c), bei Fußn. 589. 669 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 66 f. 670 Anders allerdings ein nicht unerheblicher Teil der Literatur. Bezeichnenderweise werden jedoch die Anerkennungsfälle als Beleg sowohl ftir ein gleichheitsrechtliches Diskriminierungsverbot als auch für ein freiheitsrechtliches Beschränkungsverbot angeführt. Vgl. einerseits Freitag, EWS 1997, 186 ff. (188); Nachbarn, EuZW 1991, 470 ff. (471); Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 67; Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 60; andererseits Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (48); Füßer, DÖV 1999, 96 ff. (98); Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, 357; Schneider, NJ 1996, 512 ff. (515); Schnichels, Niederlassungsfreiheit, 1995, 112 f.; Solbach, Verkaufsmodalitäten, 1996, 197. 671 Mobilität wird hier sowie im Folgenden als spezifisch grenzüberschreitende Mobilität verstanden.

. Diskriminierung und Beschränkung

Das französische Verbot der Doppelniederlassung fur Rechtsanwälte hatte der Gerichtshof in der Rechtssache Klopp zu beurteilen. 672 In den dortigen Entscheidungsgründen lässt er ausdrücklich offen, ob die Anwendung der nationalen Vorschrift diskriminierend sei, 673 weshalb das Urteil Klopp von Teilen der Literatur als Übergang vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot gekennzeichnet wird. 6 7 4 Wesentlich für die richterlich erkannte Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit ist jedoch die mobilitätsbeschränkende Wirkung des französischen Verbotes; 675 Standorte im Herkunftsland müssten aufgegeben werden, um sich in Frankreich niederzulassen. 676 Über einen wirkungsbezogenen Diskriminierungsbegriff ließe sich so ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten aufrechterhalten. 677 Hier wird die Parallele zu den Anerkennungsfällen deutlich: Die dogmatische Struktur der Grundfreiheiten als Gleichheits- bzw. Freiheitsrechte erscheint maßgeblich vom zugrunde gelegten Diskriminierungsbegriff abhängig.678 Klare Feststellungen lassen sich diesbezüglich dem Urteil Klopp nicht entnehmen.679 Auch vergleichbare Entscheidungen des Gerichtshofs bleiben insofern wenig aussage-

672

EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971. EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971, Rn. 14. 674 So etwa Benjes, Die Personenverkehrsfreiheiten des E WG-Vertrages, 1992, 100; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 58 f.; Gornig, NJW 1989, 1120 ff. (1121 f.); Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, 287; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 77 f.; Roth, RabelsZ 54 (1990), 63 ff. (81); Sack, JuS 1990, 352 ff. (355); Schneider, NJ 1996, 512 ff. (514); Schnichels, Niederlassungsfreiheit, 1995, 108 f. 675 Vgl. EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971, Rn. 18. 676 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 64. 677 Unzutreffend daher Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 77, die eine diskriminierungsbezogene Erklärung des Klopp-Urteils kategorisch ablehnt. Auf gleichheitsrechtliche Aspekte des Klopp-Urteils wird denn auch hingewiesen bei Everling, DB 1990, 1853 ff. (1855 f.); Hailbronner, JuS 1991, 917 ff. (919); Jarass, RIW 1993, 1 ff. (6); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 64 f.; Nachbaur, EuZW 1991, 470 ff. (471 f.); Troberg, in: GTE, Art. 53, Rn. 45. 678 Siehe zu den Anerkennungsfällen oben b), bei Fußn. 668. 679 Der Gerichtshof umschreibt dort die Niederlassungsfreiheit als „Freiheitsrechte des Vertrages zur Niederlassung"; vgl. EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971, Rn. 18 (Hervorh. d. Verf.). Hieraus sollte indes eine dogmatische Grundhaltung des EuGH zur Struktur der Grundfreiheiten nicht deduziert werden; siehe dazu die entsprechende Argumentation zum Vertragstext oben bei Fußn. 540 u. 541. 673

15 Mühl

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3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

kräftig. 680 Charakteristisch für die Doppelniederlassungsfälle ist einerseits die unterschiedslose Anwendung nationaler Regelungen, andererseits eine spezifisch nachteilige Wirkung für den grenzüberschreitend agierenden Niederlassungswilligen. Die Einordnung jener Fallgruppe in eindeutig gleichheitsrechtliche bzw. freiheitsrechtliche Perspektiven erscheint so nicht möglich. 681 Die unterschiedliche Wirkung entfällt bei den Fällen sonstiger Mobilitätsbeschränkungen. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung Bosman.682 Die dort am grundfreiheitlichen Maßstab zu prüfenden Transferregeln der UEFA waren nicht nur unterschiedslos anwendbar; 683 sie entfalteten für den grenzüberschreitenden Transfer auch keine spezifisch nachteilige Wirkung, 684 da sie den inländischen Vereinswechsel von Fußballprofis ebenso betrafen. 685 Gleichwohl konstatiert der Gerichtshof im Bosman-Urteil eine Beeinträchtigung der Ar-

680

Zu weiteren Doppelniederlassungsfällen vgl. z.B. EuGH, Rs. 96/85 (Kommission/Frankreich), Slg. 1986, 1475, Rn. 11 ff.; EuGH, Rs. 143/87 (Stanton), Slg. 1988, 3877, Rn. 11; EuGH, Verb. Rs. 154/87 u. 155/87 (Wolf), Slg. 1988, 3897, Rn. 11; EuGH, Rs. C-351/90 (Kommission/Luxemburg), Slg. 1992,1-3946, Rn. 11; EuGH, Rs. C-l06/91 (Ramrath), Slg. 1992,1-3351, Rn. 20. Deutlicher - im Hinblick auf ein freiheitsrechtliches Verständnis - scheint der Gerichtshof zu werden, indem er eine Beeinträchtigung der Personenverkehrsfreiheiten bejaht, „wenn die Beschränkungen geeignet sind, eine Diskriminierung [...] zu bewirken oder den Zugang zum Beruf über das zur Erreichung der genannten Ziele erforderliche Maß hinaus zu behindern"; so EuGH, Rs. 96/85 (Kommission/Frankreich), Slg. 1986, 1475, Rn 11; EuGH, Rs. C-351/90 (Kommission/Luxemburg), Slg. 1992,1-3946, Rn. 14 (Hervorh. d. Verf.). Allerdings betont der Gerichtshof hierbei, dass die Regelung „auf die Ärzte aus anderen Mitgliedstaaten strenger angewandt wird als auf die im französischen Hoheitsgebiet niedergelassenen Ärzte"; EuGH, Rs. 96/85 (Kommission/Frankreich), Slg. 1986, 1475, Rn. 12; vgl. auch EuGH, Rs. C-351/90 (Kommission/ Luxemburg), Slg. 1992, I3946, Rn. 15. Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 62 hält diesen - gleichheitsrechtlichen - Aspekt sogar für den tragenden Gedanken jener Entscheidung. 681 Vgl. auch Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 23, wonach sich die Entscheidung Klopp im „Grenzbereich von dem als Diskriminierungsverbot verstandenen Gebot der Inländerbehandlung einerseits und einem darüber hinaus gehenden Beschränkungsverbot" bewege. 682 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921. Vgl. näher hierzu nur Hilf/Pache, NJW 1996, 1169 ff. 683 Gemeint ist hier die unterschiedslose Anwendung im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit der Fußballprofis; vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 96. 684 Näher Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 70 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 298. 685 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 98.

C. Diskriminierung und Beschränkung

227

beitnehmerfreizügigkeit, 686 welche überdies nicht gerechtfertigt sei. 687 Damit werden die Grenzen einer möglichen gleichheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten überschritten. Indem der EuGH grundfreiheitliche Gewährleistungen losgelöst von jeglichem horizontalen Vergleichsmaßstab erkennt, 688 lässt sich die richterliche Argumentation in der Entscheidung Bosman nurmehr freiheitsrechtlich erklären. 689 Die Abkopplung der Personenverkehrsfreiheiten vom Diskriminierungsverbot bestätigt sich in späteren Entscheidungen.690 Zugleich wird eine Rückführung jener Freiheiten auf Marktzugangsrechte deutlich. 691

3. Ergebnis Die Grenzlinie zwischen gleichheitsrechtlichem und freiheitsrechtlichem Verständnis der Grundfreiheiten ist in ihrem Verlauf größtenteils nicht absolut bestimmt, sondern abhängig vom gewählten Begriff der Diskriminierung. 692 Die Rechtsprechung des EuGH zeichnet sich indes dadurch aus, dass ihr ein bestimmter Diskriminierungsbegriff nicht zu entnehmen ist. 693 Demgemäß sind eindeutige Bekenntnisse des Gerichtshofs zu einem grundfreiheitlichen Beschränkungsverbot nur in denjenigen Entscheidungen erkennbar, welche unab-

686

EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 104. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 114. 688 Anders noch GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995 I, 4930 ff, Rn. 154 ff. 689 Ebenso i.E. Hilf/Pache, NJW 1996, 1169 ff. (1172); Hobe/Tietje, JuS 1996, 486 ff. (489); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 70 f.; ders./Störmer, EuR 1998, 263 ff. (267); Nettesheim, NVwZ 1996, 342 ff. (343); Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 298 f.; Solbach, Verkaufsmodalitäten, 1996, 205. A.A. Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 201 mit Blick auf angebliche Dissonanzen in den Entscheidungsgründen des Bosman-Urteils. Unklar und wenig überzeugend Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 215 mit der Behauptung, der EuGH beurteile den Sachverhalt in der Rechtssache Bosman „im horizontalen Vergleich mit einem internen Sachverhalt". 690 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999,1-345 ff, Rn. 41; EuGH, Rs. C-l90/98 (Graf), Slg. 2000,1-493, Rn. 22. Entgegen Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 200 f. ist die Entscheidung Bosman daher nicht als einmaliger Sonderfall zu bezeichnen. 691 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. C-l91/97 (Deliège), Slg. 2000,1-2549, Rn. 61; EuGH, Rs. C-l90/98 (Graf), Slg. 2000,1-493, Rn. 22. Näher zu erstgenannter Entscheidung etwa Röthel, EuZW 2000, 379 f. (380); Streinz, SpuRt 2000, 221 ff. (224 f.). 692 Siehe bereits oben bei Fußn. 589, 668 u. 678. 693 Vgl. dazu die Ausführungen im 2. Kapitel B. III, S. 81 ff. 687

1

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3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

hängig vom zugrunde gelegten Diskriminierungsbegriff eine freiheitsrechtliche Sicht offenbaren. Solche Entscheidungen sind selten. Für die Produktverkehrsfreiheiten ist hier auf die Oos^Aoe^-Rechtsprechung sowie die Urteile zu sonntäglichen Verkaufsverboten zu verweisen; 694 diese Judikatur ist inzwischen jedoch überholt. 695 Mit Blick auf die Personenverkehrsfreiheiten kann zumindest seit dem Bosman-Urteil ein richterliches Verständnis der Grundfreiheiten als reine Gleichheitsrechte nicht mehr angenommen werden. 696 Ungeachtet der verbleibenden Unklarheiten scheint es allerdings irreführend, die grundfreiheitliche Rechtsprechung des EuGH als eine Entwicklung „vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot" zu kennzeichnen.697 Denn selbst unter Anerkennung eines richterlichen Paradigmenwechsels ist das Diskriminierungsverbot nicht durch ein Beschränkungsverbot ersetzt worden; vielmehr handelt es sich dann um strukturell unterschiedliche Beeinträchtigungsqualitäten, welche nebeneinander von den Grundfreiheiten erfasst werden. 698 Übergreifend gilt für sämtliche Grundfreiheiten, dass sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs tatbestandlich-funktional auf Marktzugangsrechte zurückgeführt werden. Hier kommt dem zur Warenverkehrsfreiheit ergangenen Keck-Urteil die Rolle einer Pionierentscheidung zu, deren Übertragbarkeit auf andere Grundfreiheiten zu diskutieren ist. Mit der Keck-Yorme\ wird dabei einerseits der absolute Zugang zum Markt angesprochen, andererseits ein relativer Maßstab für den Marktzugang bereitgestellt. 699 Die marktzugangsbeschränkenden Aspekte der ^ecfc-Rechtsprechung werden - insbesondere bei der Untersuchung konvergenter Strukturen der Grundfreiheiten- weiter zu präzisieren sein.

III. Literatur Hinsichtlich der Frage, ob sich der grundfreiheitliche Gewährleistungsgehalt in einem bloßen Diskriminierungsverbot erschöpft, verbleiben demnach Unsicherheiten in der Judikatur. Auch der Vertragstext stellt insofern nur grobe

694

Näher oben 1. d), bei Fußn. 597 u. 601. Siehe oben 1. e), bei Fußn. 613 ff. 696 Dazu soeben bei Fußn. 689. 697 Vgl. Behrens, EuR 1992, 145 ff. (148). 698 Nach ständiger Rechtsprechung können nationale Regelungen die Grundfreiheiten beeinträchtigen, „auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit [...] Anwendung finden"; so die Formulierung in der freiheitsrechtlich geprägten Entscheidung EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 96 (Hervorh. d. Verf.). 699 Siehe oben 1. f), bei Fußn. 641. 695

. Diskriminierung und Beschränkung

Orientierungslinien bereit. 700 So kann es nicht verwundern, dass sich in der Literatur zahlreiche Erklärungsansätze im Hinblick auf die gleichheitsrechtliche bzw. freiheitsrechtliche Struktur der Grundfreiheiten herausgebildet haben. 701 Im Folgenden sollen die wichtigsten Strömungen systematisiert und in der gebotenen Kürze dargestellt werden.

7. Gleichheitsrechtliche

Ansätze

Entsprechend der ursprünglich in der Rechtsprechung vorherrschenden Sicht, 702 versteht ein Teil der Literatur die Grundfreiheiten allein als Gleichheitsrechte. 703 Aufgrund der übergreifenden Perspektive ist hier insbesondere die Ansicht von Jarass 704 und Kingreen 705 hervorzuheben. Anknüpfungspunkt für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten ist dort ein extensiv verstandener, materieller Diskriminierungsbegriff. 706 Die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten besteht danach in einer - formellen oder wirkungsbezogenen - Schlechterstellung des transnationalen Sachverhalts gegenüber rein

700

Vgl. dazu die obigen Ausführungen unter I , S. 200 ff. Vgl. - teilweise verengt auf einzelne Grundfreiheiten - z.B. Behrens, EuR 1992, 145 ff. (148 ff.); Bleckmann, Rn. 772; Classen , EWS 1995, 97 ff.; Ehlers, NVwZ 1990, 810 ff. (814); Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 40 ff.; Herdegen, Rn. 282 f.; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 30 ff.; Jarass, EuR 1995, 202 ff. (216 f.); ders, EuR 2000, 705 ff. (712); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38 ff.; Kluth, AöR 122 (1997), 557 ff. (564); Marenco/Banks, ELR 1990, 224 ff. (238 f.); Meyer, GRUR Int. 1996, 697 ff. (699, 706); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 213 ff.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 295 f.; Simm, Der EuGH imföderalen Kompetenzkonflikt, 1998,48 ff. 702 Siehe oben II. 1. a) u. II. 2. a), S. 207 u. 220. 703 So etwa Jarass, FS Everling, 593 ff. (600); ders., EuR 1995, 202 ff. (216 ff.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 115 ff.; ders./Störmer, EuR 1998, 263 ff. (287 f.); Marenco/Banks, ELR 1990, 224 ff. (239); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 215; Scheffer, EWS 1996, 407 ff. (411); Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998, 48 ff, 156 ff. 704 Jarass, FS Everling, 593 ff. (600); ders., EuR 1995, 202 ff. (216 ff.). Diff. allerdings ders., EuR 2000, 705 ff. (712). 705 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 115 ff. 706 Näher Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 120 ff. Abweichend in der Terminologie („andere Formen der Beschränkung"), sachlich jedoch ebenso Jarass, EuR 1995, 202 ff. (213 ff.). Zum materiellen Diskriminierungsbegriff vgl. 2. Kapitel Β. IV. 701

230

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

inländischen Sachverhalten. 707 So können beispielsweise die Anerkennungsfälle gleichheitsrechtlich erklärt werden, 708 während die sonstigen Maßnahmen mobilitätsbeschränkender Wirkung 709 nach dieser Ansicht nicht mehr dem grundfreiheitlichen Verbot unterliegen. 710 Zur Begründung seines gleichheitsrechtlichen Ansatzes verweist Kingreen auf die notwendige teleologische Ausrichtung der Grundfreiheiten auf föderale Gefährdungslagen. 711 Darüber hinaus könne ein gleichheitsrechtliches Verständnis die Voraussetzung der Transnationalität eines Sachverhalts für die grundfreiheitliche Prüfung umsetzen.712 Legte man hingegen einen freiheitsrechtlichen Maßstab an, so würde eine Norm statt auf ihre spezifisch transnationale Belastung nur noch auf ihre sachliche Rechtfertigung überprüft. 713 Diese Argumentation ist indes nicht zwingend. Richtig ist zunächst nur die Erkenntnis der notwendigen Einbeziehung einer föderalen Komponente in die grundfreiheitliche Dogmatik; 714 gleiches gilt für das aus Art. 5 EG abgeleitete Postulat eines grenzüberschreitenden Bezugs. 715 Beide Aspekte ließen sich jedoch ohne weiteres auch mit einem freiheitsrechtlichen Konzept grundfreiheitlicher Dogmatik vereinbaren. So erfordert die Ausrichtung der Grundfreiheiten auf föderale Gefährdungslagen lediglich den Verbleib bestimmter Regelungskompetenzen auf mitgliedstaatlicher Ebene. Wie zur Binnenmarktkonzeption bereits ausgeführt, 716 könnte dies ebenso über eine restriktive Interpretation der marktöffnenden Dimension grundfreiheitlicher Vorschriften sichergestellt

707

Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (216); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 118 ff. Weitergehend allerdings Jarass, EuR 2000, 705 ff. (712). 708 Dazu etwa Jarass, FS Everling, 593 ff. (601). 709 Zu dieser Fallgruppe siehe oben II. 2. c), bei Fußn. 682. 710 So z.B. - mit Blick auf das Bosman-UrtzW des EuGH - Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 132 ff. 711 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 115. 712 Ebd. 713 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,116. 714 Vgl. dazu oben Β. I. 3. a) aa) (2) sowie Β. II. 1. a) cc) (1), S. 133 u. 148. 715 Siehe oben Β. I. 3. a) aa) (3) sowie Β. I. 3. a) bb), S. 135 u. 137. 716 Näher oben Β. I. 3. a) aa) (2), S. 133.

. Diskriminierung und Beschränkung

werden. 717 Auch das Erfordernis der Transnationalität ließe sich unabhängig von einem gleichheitsrechtlichen oder freiheitsrechtlichen Verständnis als Kriterium in eine Dogmatik der Grundfreiheiten einfügen. Das Prüfungselement des grenzüberschreitenden Bezugs wäre hierzu nur als allgemeine Anwendungsvoraussetzung der Grundfreiheiten zu formulieren, welche der grundfreiheitlichen Beeinträchtigungsebene vorgelagert ist. 718 Es ist daher nicht ersichtlich, inwiefern die notwendige Berücksichtigung föderaler und transnationaler Aspekte ein Verständnis der Grundfreiheiten als Gleichheitsrechte bedingt. Neben der Begründung begegnet der rein gleichheitsrechtliche Ansatz auch im Ergebnis Kritik. 7 1 9 Zunächst werden dadurch Anhaltspunkte im Vertragstext, welche ein freiheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten andeuten, 720 nicht hinreichend berücksichtigt. 721 Darüber hinaus wird die grundfreiheitliche Dogmatik in nicht unerheblicher Weise von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgekoppelt.722 So kann etwa die freiheitsrechtliche Judikatur zu den Personenverkehrsfreiheiten nicht erklärt werden. 723 Schließlich beruht jene Ansicht auf der Verwendung eines wenig präzisen Begriffs der materiellen Diskriminierung; 724 hier besteht die Gefahr einer Überdehnung des Diskrimi-

717

Die marktöffnende Dimension der Grundfreiheiten kann ohne Bezugnahme auf ein relatives Kriterium, also freiheitsrechtlich erfasst werden. Vgl. dazu auch oben Β. I. 3. a) bb), bei Fußn. 122. 718 Folgen ergeben sich hierdurch insbesondere für die Behandlung der sog. Inländerdiskriminierungen. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 116 weist in diesem Zusammenhang auf angebliche Wertungswidersprüche der freiheitsrechtlichen Lösung hin. Siehe dagegen jedoch die Ausführungen oben 2. Kapitel C. II., S. 107 ff. 719 Mit Blick auf einen materiellen Diskriminierungsbegriff ebenso Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 72 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 302 f. 720 Siehe dazu oben I. 2., S. 203. 721 Vgl. zur Orientierung am Text des EG-Vertrages oben 1. Kapitel Β. I. 1., S. 49 ff. 722 Näher zur notwendigen Einbeziehung der EuGH-Rechtsprechung oben 1. Kapitel Β. I I , S. 55 ff. 723 Dies erkennt auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 133 unter Bezugnahme auf EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921. Seine Kritik am Bosman-Urteü beruht jedoch lediglich auf einer abweichenden dogmatischen Verortung des transnationalen Elements und erscheint angesichts der vertraglichen Gewährleistungen in Art. 39 Abs. 3 EG nicht gerechtfertigt; vgl. in diesem Zusammenhang auch Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 302. 724 Eingehend zum materiellen Diskriminierungsbegriff oben 2. Kapitel Β. I V , S. 86 ff.

232

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

nierungsbegriffs, welche die Gewinnung handhabbarer Prüfungskriterien innerhalb grundfreiheitlicher Dogmatik erschwert. 725 Insgesamt vermittelt der rein gleichheitsrechtliche Ansatz zwar ein in sich schlüssiges Konzept; er entfernt sich indes zu sehr von den Leitlinien einer grundfreiheitlichen Dogmatik und lässt präzise Anwendungskriterien vermissen. Mit Blick auf die Anwendung der Grundfreiheiten in der Rechtspraxis erweist sich eine solche Lösung als wenig zweckmäßig.

2. Freiheitsrechtliche

Ansätze

Den umgekehrten Weg gehen die Befürworter einer rein freiheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten. 726 Hier ist insbesondere der Ansatz Steindorffs zu nennen,727 welcher die uneingeschränkte Geltung des Herkunftslandprinzips postuliert. 728 Steindorff verwirft - mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit - das Element der Diskriminierung als rein formales Kriterium, welches nicht tauglich sei, sachgemäß über den Anwendungsbereich des Art. 30 EGV (jetzt Art. 28 EG) zu entscheiden.729 Stattdessen rekurriert er auf die frühere Aussage Donners, 730 wonach im Binnenmarkt jeder Anbieter mit seinem spezifischen Produkt und seinen Parametern europaweit tätig werden dürfe. 731 Damit wird auf jeglichen horizontalen Vergleichsmaßstab verzichtet und so ein - absolut wirkendes - Freiheitsrecht in den Mittelpunkt grundfreiheitlicher Dogmatik gerückt.

725

Zutreffend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 302. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 73 weist darauf hin, dass „ein inhaltlicher Unterschied zwischen den beiden Strömungen nicht besteht". Bereits wegen ihrer fundamental gegensätzlichen dogmatischen Ausrichtung sollen die gleichheitsrechtlichen und freiheitsrechtlichen Konzepte vorliegend jedoch als eigenständige Kategorien behandelt werden. 727 Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 ff. (163 ff.) unter Bezugnahme auf Donner, SEW 1982, 362 ff. 728 Für eine strikte Anwendung des Herkunftslandprinzips auch Behrens, EuR 1992, 145 ff. (156); Langer, ZG 1993, 193 ff. (200). 729 Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 ff. (162). Vgl. für die Niederlassungsfreiheit ders., EuR 1988, 19 ff. (32). 730 Vgl. Donner, SEW 1982, 362 ff. (363). 731 Steindorff, ZHR 158 (1994), 149 ff. (163 u. 165). 726

. Diskriminierung und Beschränkung

In ähnliche Richtung tendiert Grabitz, indem er die Grundfreiheiten als Bestandteil des von ihm entwickelten „Rechts auf Zugang zum Markt" als Marktfreiheitsrechte charakterisiert. 732 Auch Grabitz löst sich hinsichtlich der Grundfreiheiten vom Begriff der Diskriminierung. 733 Dafür stellt er auf eine absolute Gefährdung des Marktzugangs ab, welche dann verboten sein soll, wenn hierdurch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen werde. 734 Die rein freiheitsrechtliche Sicht der Grundfreiheiten kann nicht vollständig überzeugen. Zunächst ist gegenüber der Argumentation Steindorffs kritisch zu fragen, warum sich die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften nicht an einem formalen Kriterium orientieren soll. 735 Darüber hinaus ist auf die bereits erwähnten Bedenken im Hinblick auf eine uneingeschränkte Anwendung des Herkunftslandprinzips zu verweisen. 736 Die Loslösung der Grundfreiheiten vom Erfordernis der Diskriminierung lässt zudem elementare vertragliche 737 und judikative 738 Vorgaben unberücksichtigt. Letzteres gilt in gleichem Maße für das von Grabitz favorisierte Charakteristikum der absoluten Marktzugangsgefährdung. Zugleich werden dort wesentliche Problemfelder lediglich auf die Rechtfertigungsebene verlagert, da die tatbestandliche Prüfung der Grundfreiheiten undifferenziert nahezu jede mitgliedstaatliche Regelung erfasst. Insgesamt besteht so die Gefahr einer Reduzierung des grundfreiheitlichen Kontrollmaßstabs auf die bloße Ausrichtung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 739 Indem die Vertreter einer rein freiheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten auf den - mit Schwierigkeiten behafteten - Diskriminierungsbegriff verzichten können, ergibt sich für sie eine relativ einfache Handhabung des grundfreiheit-

732

Vgl. Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (646). Dort wird auf die bereits erwähnten Elemente der Marktgleichheit und Marktfreiheit Bezug genommen; vgl. dazu oben bei Fußn. 83. Dabei verknüpft Grabitz die Grundfreiheiten allein mit dem Aspekt der Marktfreiheit. Die Marktgleichheit wird hingegen nur anderen Normkomplexen des EG-Vertrages zugeordnet. 733 Vgl. Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (651 f , 657). 734 Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (654 f.). 735 Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass die Grundfreiheiten die Abgrenzung mitgliedstaatlicher und gemeinschaftlicher Kompetenzbereiche tangieren; vgl. dazu oben Β. II. 1. a) cc) (3), bei Fußn. 206. Näher zur formalen Interpretation solcher die Verantwortungs- bzw. Kompetenzbereiche abgrenzenden Normen Pawlowski, Methodenlehre, 1991, Rn. 668 ff, insb. 682. 736 Näher dazu die obigen Ausführungen unter Β. I. 3. a) aa) (2), S. 133. 737 Siehe oben I. 1, S. 201 ff. 738 Siehe oben II. 1. a) u. II. 2. a), S. 207 u. 220. 739 Vgl. dazu etwa Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (4).

234

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

liehen Anwendungsbereichs. 740 Dieser Vorteil wird indes angesichts der vorgenannten Kritikpunkte aufgezehrt, so dass auch das Verständnis der Grundfreiheiten als reine Freiheitsrechte im Ergebnis abzulehnen ist.

3. Weitergehende Ansätze Losgelöst von der Kategorisierung in ein gleichheitsrechtliches und freiheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten haben sich in der Literatur weitergehende dogmatische Sichtweisen herausgebildet. Im Folgenden sollen lediglich zwei dieser Erklärungsansätze näher betrachtet werden. Zum einen ist hier die Ansicht Hoffmanns zu nennen, wonach die Grundfreiheiten nur modale Rechte ohne einen weitergehenden materiellen Gehalt vermitteln [a)]; zum anderen wird auf die Frage einzugehen sein, inwieweit die Grundfreiheiten als Grundrechte aufgefasst werden können [b)].

a) Die Ansicht Hoffmanns Ausgehend von einem rein binnenmarktfinalen Verständnis der Grundfreiheiten, 741 erkennt Hoffmann in den grundfreiheitlichen Vorschriften ausschließlich modale Rechte, welche den zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr lediglich formal gestalten.742 Den Grundfreiheiten komme insoweit die Aufgabe zu, innerhalb des rechtsuneinheitlichen Wirtschaftsraumes einen Modus für die Anwendung mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen bereitzustellen. 743 Weitergehende materielle Gehalte der grundfreiheitlichen Vorschriften im Sinne eines

740

Dies gilt vor allem für die strikte Anwendung des Herkunftslandprinzips. Die von Grabitz vorgeschlagene Prüfung einer Gefährdung des Marktzugangs bedürfte allerdings zuvor einer weitergehenden Präzisierung. 741 Grundlage ist auch hier die auf Ipsen zurückgehende Unterscheidung der binnenmarktbezogenen Elemente Marktfreiheit und Marktgleichheit; vgl. hierzu bereits oben bei Fußn. 83. Nach Hoffmann zielt dabei die Marktgleichheit vorrangig auf eine Neutralität der Teilmarktordnungen; diese sei beeinträchtigt, wenn absolute Gewährleistungsgehalte in der Binnenmarktordnung bestehen. Dazu näher Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 46 f. 742 Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 51. Zur kollisionsrechtlichen Struktur der Grundfreiheiten vgl. bereits Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1 ff. (12 ff.). 743 Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 50 f. Eine ähnliche Perspektive findet sich bereits bei Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (58 ff.) m.w.N.

. Diskriminierung und Beschränkung

einheitlichen Binnenmarktrechts werden von Hoffmann kategorisch abgelehnt. 744 Zur Begründung verweist Hoffmann auf den Wortlaut und den systematischen Zusammenhang der Grundfreiheiten; hier sei unschwer zu erkennen, dass dem grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot keine materiellen Gehalte innewohnten.745 Zudem sei mit dem Binnenmarktbegriff selbst keine unmittelbar rechtsangleichende oder -vereinheitlichende Wirkung verbunden, so dass aus dem Bezug zwischen Grundfreiheiten und Binnenmarkt kein Schutzauftrag hinsichtlich inhaltlich bestimmter, binnenmarkteinheitlicher Primärrechtsgehalte resultiere. 746 Schließlich folge aus der Existenz der Rechtsangleichungsvorschriften und der bestehenden Sachgebietsüberschneidung mit den Grundfreiheiten der Ausschluss materieller grundfreiheitlicher Gehalte. 747 Das methodische Vorgehen Hoffmanns, primär auf grammatische und systematische Interpretationsansätze zu rekurrieren, ist im Ansatz zutreffend; jedoch lässt sich ein rein formeller Gehalt der Grundfreiheiten damit nicht begründen. Zunächst ist dagegen einzuwenden, dass auch ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten im Sinne des Diskriminierungsverbotes materielle Gehalte nicht ausschließt.748 Im Übrigen offenbart bereits der Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften bestehende materiellrechtliche Gewährleistungen. 749 Auch der Hinweis auf den Binnenmarktbegriff führt insofern nicht weiter. Hier handelt es sich um einen klassischen Zirkelschluss, 750 wenn der - über die Grundfreiheiten legal definierte - Begriff des Binnenmarktes als argumentative Grundlage für angeblich fehlende materielle Gehalte der Grundfreiheiten herangezogen wird. 7 5 1 Letztlich kann auch die von Hoffmann erkann-

744

Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 51 f , 72. 745 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 51. 746 Ebd. 747 Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 51 f. 748 Vgl. - unter Zugrundelegung einer rein gleichheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten - nur Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 23 ff. 749 Besonders deutlich wird dies etwa in Art. 39 Abs. 3, 50 Abs. 3 EG. 750 Näher zum Argumentationsmuster des Zirkelschlusses z.B. Müller, Juristische Methodik, 1995,211. 751 Zu Wechselwirkungen zwischen Grundfreiheiten und Binnenmarkt siehe bereits oben Β. I. 1,S. 122 f.

236

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

te Sachgebietsüberschneidung von Rechtsangleichungsvorschriften und Grundfreiheiten die These vom fehlenden materiellen Gehalt nicht stützen; insoweit ist auf die obigen kompetentiellen Ausführungen zu verweisen. 752 Über diese methodische Kritik hinaus ist zu beachten, dass sich die Ansicht Hoffmanns zudem weitgehend von gesicherten Erkenntnissen der europarechtlichen Judikatur entfernt. 753 Insgesamt stellt das Verständnis der grundfreiheitlichen Vorschriften als rein modale Rechte ohne jeglichen materiellen Gehalt einen originellen Ansatz dar, welcher jedoch weder im Ergebnis noch in der Begründung überzeugen kann.

b) Grundfreiheiten als Grundrechte? Die Diskussion um Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbote verlassend, hat sich in der Literatur eine im Vordringen befindliche Ansicht herausgebildet, welche zumindest einen Teil der Grundfreiheiten als Grundrechte begreift. 754 Einen umfassenden Ansatz entwickelt dabei insbesondere Bleckmann J 55 Im Ergebnis sollen danach dogmatische Strukturen der nationalen Grundrechte auf die grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages übertragbar sein; 756 auch „müssen die für die Grundrechte entwickelten Auslegungsregeln auf die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes angewendet werden". 757

752

Näher dazu oben bei Fußn. 294. Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 95 f.; ähnlich bereits EuGH, Rs. 24/75 (Petroni), Slg. 1975, 1149; Rn. 11 u. 13; EuGH, Rs. 807/79 (Gravina), Slg. 1980, 2205, Rn. 6; EuGH, Rs. 284/84 (Spruyt), Slg. 1986, 685, Rn. 19; EuGH, Rs. C-228/88 (Bronzino), Slg. 1990,1-531, Rn. 12; EuGH, Rs. C-293/88 (Winter-Lutzins), Slg. 1990, 1-1623, Rn. 14; EuGH, Rs. C-12/89 (Gatto), Slg. 1990, 1-557, Rn. 12; EuGH, Rs. C-363/89 (Roux), Slg. 1991, 1-273, Rn. 9; EuGH, Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992,1-4265, Rn. 17. 754 Vgl. etwa Bleckmann, Rn. 755 ff. u. 1519; Pernice , NJW 1990, 2409 ff. (2413); Schilling, EuR 1994, 50 ff. (56 f.). Unter Bezugnahme auf die Entwicklung vom grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot ähnlich Behrens, EuR 1992, 145 ff. (161 f.); Nettesheim, NVwZ 1996, 342 ff. (345). Vgl. auch die Heranziehung faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen als analoge Begründungstopoi im Rahmen der Grundfreiheiten bei Wolf, JZ 1994, 1151 ff. (1156 ff.). Krit. hingegen Beutler, EuGRZ 1989, 185 ff. (188); Everling, DB 1990, 1853 ff. (1857); diff. Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 213 ff. m.w.N. 755 Näher Bleckmann, Rn. 755 ff.; ders., GS Sasse, 665 ff. 756 Vgl. insb. Bleckmann, Rn. 762 ff. 75 7 Bleckmann, Rn. 779. 753

. Diskriminierung und Beschränkung

Die Vertreter eines grundrechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten betonen den Ausgangspunkt, dass sowohl die Grundrechte als auch die Grundfreiheiten neben objektiven Wertentscheidungen auch subjektive Rechte vermitteln; 758 beide Rechtsinstitute seien „gegen Eingriffe des Staates in bestimmte Bereiche gerichtet". 759 Auch im Übrigen wiesen die nationalen Grundrechte und die Grundfreiheiten des EG-Vertrages nicht unerhebliche Parallelitäten auf. 760 Die Grundfreiheiten dürften insgesamt nicht nur als spezifisch binnenmarktbezogene Vorschriften interpretiert werden, sondern müssten auch als Mittel für die Entwicklung persönlicher Freiheit und Würde begriffen werden. 761 Schilling verweist zudem auf die Rechtsprechung des EuGH, welche ein Verständnis der Grundfreiheiten als Grundrechte belege.762 Schließlich sei der EG-Vertrag, der keinen ausdrücklichen Grundrechtskatalog kenne, eine geeignete Quelle für Grundrechte. 763 Richtig ist zunächst die Erkenntnis subjektiv-rechtlicher Gewährleistungen der Grundfreiheiten, 764 wodurch diese in die Nähe der nationalen Grundrechte gerückt werden. 765 Darüber hinaus wird der reine Binnenmarktbezug der Grundfreiheiten zutreffend als verengte Sichtweise charakterisiert; hier ist nur daran zu erinnern, dass insbesondere die Personenverkehrsfreiheiten von Beginn an auch eine soziale Komponente besaßen.766 Gleichwohl erfordert dies nicht ein Verständnis der Grundfreiheiten als Grundrechte. 767 Vielmehr sprechen gewichtige Gründe gegen einen solchen Ansatz. Zu nennen ist in erster

758

Vgl. dazu Schilling, EuR 1994, 50 ff. (55 f.); Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 213. 759 So Bleckmann, Rn. 755; ähnlich ders, Rn. 781; Schilling, EuR 1994, 50 ff. (56). 76 0 Bleckmann, Rn. 757 f. u. 762 ff. nennt in diesem Zusammenhang z.B. die Drittwirkungsproblematik sowie die Frage, ob Grundrechte und Grundfreiheiten neben Abwehrrechten gegen den Staat auch positive Teilhaberechte vermitteln. 76 1 Bleckmann, Rn. 782. 762 Vgl. Schilling, EuR 1994, 50 ff. (56 f.) mit Verweis auf EuGH, Rs. 222/86 (Heylens), Slg. 1987,4097, Rn. 14. 76 3 Schilling, EuR 1994, 50 ff. (56). 764 Dazu etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 23 ff. 765 Vgl. Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 213. 766 Vgl. nur Herdegen, Rn. 281 ; Streinz, Rn. 653. 767 Dies gilt auch für die erwähnte Entscheidung EuGH, Rs. 222/86 (Heylens), Slg. 1987, 4097, Rn. 14. Zwar verwendet der Gerichtshof hier mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit den Ausdruck „Grundrecht"; angesichts der nicht immer konsequenten Terminologie ist dies indes nicht zwingend im rechtstechnischen Sinne zu verstehen; näher hierzu Everling, DB 1990, 1853 ff. (1857) m.w.N. zur Rspr.

238

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Linie die fehlende Übereinstimmung hinsichtlich des Geltungsanspruchs von Grundrechten einerseits und grundfreiheitlichen Vorschriften andererseits: 768 Echte Grundrechte gelten auch für Inländer im Rahmen eines reinen Inlandssachverhaltes; 769 dagegen erfordert die Anwendung der Grundfreiheiten die Berücksichtigung eines spezifisch transnationalen Kriteriums. 770 Auch die Existenz gemeinschaftlicher Grundrechte, welche gegenüber den Grundfreiheiten eine divergente Schutzrichtung besitzen,771 weist auf eine grundlegende Differenzierung zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten hin. Der Umstand, dass die Gemeinschaftsgrundrechte (noch) nicht positiviert sind, 772 kann dabei nicht von entscheidender Bedeutung sein. 773 Nach alledem dürfen Grundfreiheiten und Grundrechte als Rechtsinstitute unterschiedlicher dogmatischer Ausrichtung nicht vermengt werden. Wenngleich hier teilweise Parallelen bestehen, sollten die dogmatischen Strukturen der Grundrechte keinesfalls unbesehen in ihrer Gesamtheit auf die Grundfreiheiten übertragen werden.

IV. Eigener Ansatz Ungeachtet der zuvor angesprochenen weitergehenden Ansätze soll im Folgenden die Differenzierung zwischen Diskriminierung und Beschränkung wieder aufgegriffen werden. 774 Im Vordergrund steht dabei nun nicht mehr die

768

Vgl. auch Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 213; Streinz, Rn. 684. 769 Zutreffend Everling, DB 1990, 1853 ff. (1857). 770 Siehe bereits oben bei Fußn. 115 u. 237. 771 Während die Grundfreiheiten primär die Mitgliedstaaten verpflichten, richten sich die Gemeinschaftsgrundrechte in erster Linie an die Gemeinschaft und ihre Organe. Vgl. weitergehend Lecheler, 219 ff.; Streinz, Rn. 368. Dagegen etwa Schilling, EuR 1994, 50 ff. (57). Diff. Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff. (523 ff.). 772 Zum Entwurf einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union vgl. nur Streinz, Rn. 358a m.w.N. 773 Abweichend freilich Schilling, EuR 1994, 50 ff. (56): „Da er [i.e. der EG-Vertrag] keinen Grundrechtskatalog kennt, ist für eine Unterscheidung zwischen Grundrechten und sonstigen verfassungsmäßigen Rechten kein Raum, zumal diese Unterscheidung mangels positiv-rechtlicher Anknüpfungspunkte folgenlos bliebe". 774 Vgl. dazu - neben den bereits genannten Vertretern einer rein gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten - etwa Behrens, EuR 1992, 145 ff. (148 ff.); Classen, EWS 1995, 97 ff. (97 f.); Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (269 f.); Herdegen, Rn. 282 f.; Koenig/Haratsch, Rn. 487; Meyer, GRUR Int. 1996, 697 ff. (699, 706); Schweitzer/Hummer, Rn. 1075; Streinz, Rn. 667 ff.

. Diskriminierung und Beschränkung

alternative Betrachtung einer gleichheitsrechtlichen bzw. freiheitsrechtlichen Sicht der Grundfreiheiten. 775 Stattdessen sollen die Aspekte des Diskriminierungsverbotes sowie des Beschränkungsverbotes mit Blick auf ihre gemeinsamen Ursprünge konkretisiert und in einem verbindenden Modell zusammengeführt werden.

1. Der gleichheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten (Diskriminierungsverbot) Die notwendige Berücksichtigung gleichheitsrechtlicher Strukturen im Rahmen der grundfreiheitlichen Prüfung folgt aus zwei grundlegenden Leitlinien rechtsdogmatischer Betrachtung; 776 sowohl im Text des EG-Vertrages als auch in der Rechtsprechung des EuGH finden sich deutliche Hinweise auf ein Verständnis der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote. 777 Die Begründung jener gleichheitsrechtlicher Sichtweise muss hingegen wesentlich von teleologischen Aspekten getragen werden. 778 Anknüpfungspunkt ist hierbei die finale Ausrichtung der Grundfreiheiten auf die Binnenmarktkonzeption. 779 In diesem Zusammenhang gewinnt das binnenmarktbezogene Element der Marktgleichheit besondere Bedeutung.780 Marktgleichheit wird über die grundfreiheitlichen Vorschriften sichergestellt, wenn man deren gleichheitsrechtliche Dimension als Maßstab für den Modus des Marktzugangs begreift. Insofern wird zugleich die Funktion der Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte betont. In bewusster Abgrenzung zu den Rechtsangleichungsvorschriften des EG-Vertrages verzichten die Grundfreiheiten dabei auf die Schaffung einheitlichen europäischen Sachrechts. Stattdessen wird ein gleicher Marktzugang aller Wirtschaftsteilnehmer dadurch erreicht, dass die grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote bestimmte Formen der Ungleichbehandlung durch nationale Maßnahmen untersagen. Konkretisiert wird dieser Maßstab für einen gleichen Marktzugang durch den grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriff. Nach dem hier vertretenen

775

Dazu oben III. 1. u. 2., S. 229 u. 232. Zu diesen Leitlinien siehe oben 1. Kapitel Β. I. u. I I , S. 49 ff. 777 Vgl. dazu oben I. 1. (Vertragstext) u. II. (Rspr.), S. 201 ff. u. 206 ff. 778 Zur überragenden Bedeutung der teleologischen Interpretation im Hinblick auf die grundfreiheitliche Dogmatik siehe oben 1. Kapitel Β. I. 1. u. 2, S. 49 f. 779 Dazu oben Β. I , S. 122 f. 780 Vgl. Grabitz, FS Steindorff, 1229 ff. (1233) sowie oben Β. I. 3. a) bb), S. 137 ff. 776

240

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Ansatz kann nur ein formelles begriffliches Verständnis den Anforderungen an eine Dogmatik der Grundfreiheiten hinreichend genügen.781 Innerhalb der gleichheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten sind zwei Formen der Diskriminierung grundlegend zu unterscheiden. Offene Diskriminierungen, also die Differenzierung zwischen zwei Vergleichsgruppen anhand der verbotenen Unterscheidungsmerkmale Staatsangehörigkeit und Produktherkunft bzw. -destination,782 lassen sich grundsätzlich nicht über abstrakte Rechtfertigungserwägungen relativieren. 783 Nur so wird man dem Sinn und Zweck der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote gerecht, wonach jeglicher Rückgriff auf die verpönten Kriterien ausgeschlossen sein soll. Daher kann mit Blick auf die Form der offenen Diskriminierung von einer Eingriffsqualität höchster Stufe gesprochen werden. Von gleichsam geringerer Eingriffsqualität sind dagegen die versteckten Diskriminierungen. 784 Indem dort an andere, scheinbar „neutrale" Differenzierungskriterien angeknüpft wird, muss zunächst ein spezifischer Zusammenhang dieser Kriterien mit den verbotenen Unterscheidungsmerkmalen begründet werden. 785 Selbst bei Bestehen eines solchen Zusammenhangs ist in diesen Fällen darüber hinaus eine erweiterte Rechtfertigungsprüfung zuzulassen. Versteckte Diskriminierungen unterscheiden sich von offenen Diskriminierungen nämlich dadurch, dass sie lediglich „typischerweise" eine gleiche Wirkung wie diese erzielen. Ob eine solche typisierende Betrachtungsweise im konkreten Fall dem Telos grundfreiheitlicher Verbotswirkung entspricht, ist normativ im Wege einer Abwägung mit den von der betreffenden Maßnahme verfolgten Interessen zu ermitteln. Innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten ist jener AbwägungsVorgang auf der Rechfertigungsebene zu verorten. Trotz der genannten Unterschiede lassen sich die beiden genannten Diskriminierungsformen in abstrahierter Betrachtung unter einem einheitlichen As-

781

Eingehend zum Diskriminierungsbegriff oben 2. Kapitel, S. 62 ff. Speziell zu dem hier vertretenen formellen Ansatz vgl. 2. Kapitel Β. V , S. 90 ff. 782 Näher zum Begriff der offenen Diskriminierung oben 2. Kapitel C. I. 1, S. 102. 783 Zutreffend Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 45; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 291. Unberührt bleiben freilich die vertraglich positivierten Rechtfertigungsgründe. 784 Zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen besteht insofern ein qualitatives Stufenverhältnis. In Anlehnung an die deutsche Strafrechtsdogmatik ließe sich die Situation etwa mit der dortigen Unterscheidung der verschiedenen Vorsatzformen vergleichen. 785 Die Anknüpfung an das jeweilige „neutrale" Merkmal muss sich typischerweise so auswirken wie die Unterscheidung anhand der verbotenen Differenzierungskriterien; siehe oben 2. Kapitel, bei Fußn. 261.

. Diskriminierung und Beschränkung

pekt zusammenfassen. Insgesamt ergibt sich auf diese Weise eine erste Dimension grundfreiheitlicher Vorschriften - das gleichheitsrechtliche Verständnis der Grundfreiheiten unter Zugrundelegung eines eingeschränkten (formellen) Diskriminierungsbegriffs.

2. Der freiheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten (Beschränkungsverbot) Allein über das vorgenannte Verständnis der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote kann der grundfreiheitliche Gewährleistungsgehalt nicht umfassend beschrieben werden. 786 Zum einen blieben hierdurch weitergehende textliche Aussagen des EG-Vertrages unberücksichtigt; 787 zum anderen könnten wesentliche Entscheidungen in der Judikatur des Gerichtshofs nicht erklärt werden. 788 Wird - wie hier - ein weit verstandener (materieller) Diskriminierungsbegriff wegen dessen Unschärfe abgelehnt,789 so ist zur Beseitigung jener Defizite eine zweite (freiheitsrechtliche) Dimension der Grundfreiheiten zu entwickeln. 790 Diese tritt gleichsam neben die erwähnte gleichheitsrechtliche Sicht. Zur positiven Begründung einer freiheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten kann auf die bereits geleisteten Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Dogmatischer Anknüpfungspunkt ist wiederum die teleologische Ausrichtung grundfreiheitlicher Vorschriften auf die Binnenmarktkonzeption. 791 Ebenso wie im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten wird

786

In der vorliegenden Arbeit wurde eine rein gleichheitsrechtliche Sicht der Grundfreiheiten unter Verwendung eines weiten Diskriminierungsbegriffs bereits als unzureichend abgelehnt; siehe oben III. 1, S. 229 ff. Erst recht bestehen daher Defizite in der Umschreibung des grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehalts, wenn man einen engeren gleichheitsrechtlichen Teilansatz zugrunde legt. 787 Verwiesen sei hier nur auf Art. 39 Abs. 3 EG; dazu bereits oben bei Fußn. 557. 788 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 98 ff.; EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999, 1-345 ff, Rn. 41; EuGH, Rs. C-190/98 (Graf), Slg. 2000,1-493, Rn. 22. Näher zu dieser Rechtsprechungslinie bereits oben bei Fußn. 689 f. 789 Siehe bereits oben bei Fußn. 724 f. sowie eingehend 2. Kapitel I V , S. 86 ff. Vgl. darüber hinaus Marenco/Banks, ELR 1990, 224 ff. (238 f.) mit der Einführung einer „spezifischen Auswirkung auf die Einfuhren"; dazu Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001,33 m.w.N. 790 In Anlehnung an die überwiegend vertretene Terminologie wird auch in der vorliegenden Arbeit der Begriff der bloßen „Beschränkung" verwendet, um eine Beeinträchtigung dieserfreiheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten zu kennzeichnen. 791 Vgl. eingehend oben Β. I , S. 122 ff. 16 Mühl

242

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

dabei auch über die freiheitsrechtliche Komponente ein Verständnis der Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte betont. Nur geht es hier nicht um den Modus des Marktzugangs, sondern um die Bereitstellung eines Maßstabs für die absolute Reichweite des Marktzugangs. In diesem Zusammenhang ist auf das binnenmarktbezogene Element der Marktfreiheit zu rekurrieren, wonach dem europaweit agierenden Wirtschaftsteilnehmer eine grundsätzliche Öffnung nationaler Teilmärkte ermöglicht werden soll. 792 Diese marktöffnende Dimension unterliegt den bereits beschriebenen Restriktionen. 793 Indem so das freiheitsrechtliche Verständnis der Grundfreiheiten keinen uneingeschränkten europarechtlichen Prüfungsmaßstab impliziert, wird einerseits dem vielbeschworenen „horror iuris" wirksam begegnet.794 Andererseits ist hierdurch der Kritik Kingreens, wonach ein Verständnis der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbot Ausdruck der Beliebigkeit sei, 795 die wesentliche Grundlage entzogen. Das Postulat einer freiheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten bedarf der weiteren Präzisierung. Teile der Literatur, welche auf freiheitsrechtliche Aspekte der Grundfreiheiten abstellen,796 nehmen diesbezüglich eine Differenzierung in unterschiedliche Fallgruppen vor. 797 So verweist Plötscher in diesem Zusammenhang auf zwei eigenständige Wirkrichtungen der Grundfreiheiten 798 das Prinzip gegenseitiger Anerkennung 799 sowie die freiheitsrechtliche Garantie der Mobilität. 800 Vorliegend soll stattdessen der Versuch unternommen werden,

792

Vgl. Grabitz, FS Ipsen, 645 ff. (647). Dazu oben Β. I. 3. a) aa) (l)-(3), S. 132 ff. 794 Siehe oben bei Fußn. 208. 795 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 103. 796 Vgl. - neben den genannten rein freiheitsrechtlichen Ansätzen - z.B. Classen , EWS 1995, 97 ff. (104 f.); Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (51); Kleier, RIW 1988, 623 ff. (624); Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 ff. (2575); Koenig/Haratsch, Rn. 487; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 295.; Streinz, Rn. 671. 797 Zu nennen ist hier insbesondere der Ansatz von Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 295 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die weitergehende Differenzierung bei Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (347 ff.), der allerdings eine Rückführung auf gleichheitsrechtliche bzw. freiheitsrechtliche Strukturen der Grundfreiheiten ablehnt. 798 Über die freiheitsrechtliche Ebene hinaus rekurriert Plötscher auch auf das grundfreiheitliche Diskriminierungsverbot, wodurch insgesamt drei Dimensionen der Grundfreiheiten entstehen; näher Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 301. 799 Vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 295 ff. Zu den Anerkennungsfällen siehe bereits oben B. II. 1. b) bb) (2), bei Fußn. 256, u. B. II. 2, bei Fußn. 268. 800 Vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 298 f. mit Verweis auf EuGH, Rs. C415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 95 u. 103. 793

C. Diskriminierung und Beschränkung

243

jene Fallgruppen in einer einzigen freiheitsrechtlichen Komponente der Grundfreiheiten zu bündeln; dadurch wird zugleich den bereits beschriebenen Vorteilen abstrahierter dogmatischer Strukturen Rechnung getragen. 801 In Konkretisierung des abstrakten Marktzugangskriteriums 802 lässt sich der freiheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten wie folgt positiv umschreiben: Der betreffende Wirtschaftsteilnehmer muss im Grundsatz seine - materielle oder immaterielle - Leistung 803 in der von ihm gewählten Art oder Beschaffenheit 04 auf dem einzelnen nationalen Markt in der Weise anbieten 805 dürfen, dass er mit konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmern auf diesem nationalen

801

Siehe hierzu die allgemeinen Ausführungen im 1. Kapitel Α. I. 1. Zur Notwendigkeit dieses Konkretisierungsversuchs siehe bereits oben Β. I. 3. a) aa), bei Fußn. 92 f. 803 Die Qualifikation der wirtschaftlichen Leistung beeinflusst maßgeblich die Anwendbarkeit der jeweiligen grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages. Diesbezüglich können und müssen die einzelnen Grundfreiheiten in der konkreten Prüfung voneinander abgegrenzt werden. 804 Dieses Merkmal kennzeichnet den erforderlichen Produkt- bzw. Personenbezug. Für den Bereich der Produktverkehrsfreiheiten sei hier beispielhaft auf die Warenverkehrsfreiheit verwiesen, wonach etwa die biologisch-chemische Zusammensetzung der Ware, deren Be- bzw. Kennzeichnung oder die Aufmachung und Verpackung grundsätzlich der Wahlfreiheit des anbietenden Wirtschaftsteilnehmers unterliegt; vgl. an dieser Stelle nur EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 14; EuGH, Rs. 27/80 (Fietje), Slg. 1980, 3839, Rn. 15; EuGH, Rs. 130/80 (Keldermann), Slg. 1981, 527, Rn. 16; EuGH, Rs. 193/80 (Kommission/Italien), Slg. 1982, 3019, Rn. 28; EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 20; EuGH, Rs. 94/82 (De Kikvorsch), Slg. 1983, 947, Rn. 9 u. 13; EuGH, Rs. 16/83 (Prantl), Slg. 1984, 1299, Rn. 30; EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 25 ff.; EuGH, Rs. 182/84 (Miro), Slg. 1985, 3731, Rn. 27; EuGH, Rs. 54/85 (Mirepoix), Slg. 1986, 1067, Rn. 12; EuGH, Rs. 274/87 (Kommission/Deutschland), Slg. 1989, 229, Rn. 22 f.; EuGH, Rs. 298/87 (SMANOR), Slg. 1988, 4489, Rn. 25; EuGH, Rs. 67/88 (Kommission/Italien), Slg. 1990, 1-4285, Rn. 3; EuGH, Rs. C-39/90 (Denkavit II), Slg. 1991, I3069, Rn. 17; EuGH, Rs. C-315/92 (Clinique), Slg. 1994, 1-317, Rn. 24; EuGH, Rs. C317/92 (Kommission/Deutschland), Slg. 1994,1-2039, Rn. 12; EuGH, Rs. C-l7/93 (van der Veldt), Slg. 1994,1-3537, Rn. 12. 802

805

Hierzu muss dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer grundsätzlich Mobilität gewährleistet werden. Vgl. dazu den Wortlaut der Personenverkehrsfreiheiten, insb. Art. 39 Abs. 3 EG (Recht zu Bewerbung, Bewegung, Aufenthalt u. Verbleib). Anbieten erfordert zudem die Möglichkeit, für die konkrete Wirtschaftsleistung werben zu können; Werbung erfüllt insofern die grundfreiheitliche Marktöffnungsfunktion; zutreffend Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 46; Perau, Werbeverbote, 1997, 34. Wie weit diese Gewährleistung reicht und ob diesbezüglich zwischen verschiedenen Formen der Werbung zu differenzieren ist, soll hier noch offen bleiben. 16'

244

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

Markt in Wettbewerb 806 treten kann. 807 Wird der insoweit gewährleistete Marktzugang durch eine nationale Maßnahme behindert, so ist der grundfreiheitliche Tatbestand erfüllt. 808 Jene Maßnahme bedarf zu ihrer Rechtmäßigkeit dann einer spezifischen Rechtfertigung. Sonstige Beeinträchtigungen werden von dem freiheitsrechtlichen Beschränkungsverbot nicht erfasst; 809 insofern bleibt es beim alleinigen Maßstab des grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbotes. 810 Nach den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich eine zweite Dimension grundfreiheitlicher Vorschriften - das freiheitsrechtliche Verständnis der Grundfreiheiten, wodurch der absolute Marktzugang in eingeschränkter Weise sichergestellt werden soll.

3. Der Zusammenhang zwischen Diskriminierung

und Beschränkung

Wenngleich über die gleichheitsrechtliche bzw. freiheitsrechtliche Sicht zwei grundsätzlich zu unterscheidende Wirkrichtungen der Grundfreiheiten angesprochen werden, so stehen diese dennoch nicht vollkommen losgelöst nebeneinander. Vielmehr besteht nach dem hier vertretenen Verständnis ein spezifischer Zusammenhang zwischen grundfreiheitlichem Diskriminierungsund Beschränkungsverbot.

806

Dabei ist ein potentieller Wettbewerb ausreichend. Nicht erforderlich ist, dass eine Konkurrenzleistung auf dem nationalen Markt bereits existiert. Auch der ökonomische Pionier, der mit einer neuen Wirtschaftsleistung auf den Markt tritt, genießt den grundfreiheitlichen Schutz. 807 Eine weitergehende Konkretisierung der genannten Kriterien soll an dieser Stelle unterbleiben. Insofern ist auf die Ausführungen der folgenden Kapitel zu verweisen. Dies gilt insb. für die Frage, ob hinsichtlich des freiheitsrechtlichen Gehalts der Grundfreiheiten zwischen Einfuhr- und Ausfuhrfreiheiten zu unterscheiden ist; vgl. hier nur den Überblick bei Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 4. 808 Nach der vorliegenden Terminologie besitzt die betreffende Maßnahme eine „binnenmarktbehindernde Wirkung". 809 Dies gilt insbesondere für allgemeine wirtschaftsrechtliche Rahmenbedingungen, wie z.B. Ladenöffhungszeiten, das Rechtsinstitut der c.i.c. oder nationale Preisregelungen (Höchst- bzw. Mindestpreise). Hinsichtlich Letzterem vgl. auch die Nachweise zur Rspr. bei Roth , XXVII. FIW-Symposium, 1994, 27 sowie Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 63 ff. u. Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 39. 810 Die notwendige Abgrenzung der vom freiheitsrechtlichen Beschränkungsverbot erfassten Sachverhalte von sonstigen Beeinträchtigungen entspricht dem Verständnis der Grundfreiheiten als eingeschränkte Marktzugangsrechte. Diesbezüglich bildet die KeckRspr. des EuGH einen Konkretisierungsversuch. Nicht weiterführend ist hier die umgekehrte Argumentationsrichtung bei Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 51 f.; vgl. dazu bereits oben bei Β. I. 3. a) aa), Fußn. 92.

C. Diskriminierung und Beschränkung

245

a) Dogmatische Verklammerung Gleichheitsrechtliche und freiheitsrechtliche Betrachtungsweise schließen sich gegenseitig nicht aus. 811 Mit Blick auf die Grundfreiheiten des EGVertrages ergibt sich die dogmatische Verklammerung beider Aspekte aus der gemeinschaftsrechtlichen Binnenmarktkonzeption. Normative Anknüpfungspunkte sind insoweit die Vorschriften der Art. 3 Abs. 1 lit. c EG und Art. 14 Abs. 2 EG. Über die (Teil-)Elemente des Binnenmarktes, Marktgleichheit und Marktfreiheit, wirken grundfreiheitliches Diskriminierungsverbot und Beschränkungsverbot parallel in ihrer Funktion als Marktzugangsrechte. Einerseits wird so der Modus des Marktzugangs beeinflusst, andererseits die absolute Reichweite des Marktzugangs bestimmt. Als entscheidender Parameter der Grenzziehung zwischen gleichheitsrechtlicher und freiheitsrechtlicher Wirkdimension fungiert dabei der grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff.

b) Das grundfreiheitliche Stufenmodell Abschließend soll ein erster Versuch unternommen werden, die vorgenannten verschiedenen Formen der Beeinträchtigung in einheitliche dogmatische Strukturen der Grundfreiheiten einzubinden. Dabei kann an dieser Stelle lediglich eine erste Kategorisierung vorgenommen werden, welche die grundlegend zu unterscheidenden Beeinträchtigungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre jeweilige Eingriffsqualität darstellt. Der übergreifenden Perspektive der bisherigen Ausführungen entsprechend, wird zum einen nicht zwischen den einzelnen Grundfreiheiten differenziert; zum anderen bleiben mögliche Konsequenzen für die grundfreiheitliche Rechtfertigungsdogmatik noch außer Betracht. Insgesamt lässt sich so ein Stufenmodell entwickeln, welches auf den folgenden vier Beeinträchtigungsklassen basiert.

aa) Offene Diskriminierung In die Kategorie mit der höchsten Eingriffsqualität fallen offen diskriminierende Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Diese sind nicht unterschiedslos auf alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer anwendbar, sondern differenzieren anhand der verbotenen Kriterien Staatsangehörigkeit oder Produktherkunft bzw. -destination. Der Tatbestand der Diskriminierung ist hier bereits mit dem An-

811

Zu Parallelen zwischen gleichheitsrechtlicher und freiheitsrechtlicher Betrachtung speziell im deutschen Verfassungsrecht vgl. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 349 f. m.w.N.; Huster, Rechte und Ziele, 1993, 53 ff.

246

3. Kapitel: Diskriminierung und Beschränkung

knüpfen an diese verbotenen Merkmale erfüllt. Die weitergehende Prüfung einer möglichen sachlichen Rechtfertigung der Differenzierung auf tatbestandlicher Ebene entfällt.

bb) Versteckte Diskriminierung Ist eine Maßnahme im Hinblick auf die verbotenen Kriterien unterschiedslos anwendbar, differenziert sie jedoch nach anderen Merkmalen, so dass im Ergebnis eine der offenen Diskriminierung entsprechende Regelungswirkung eintritt, handelt es sich um eine versteckte Diskriminierung. Diese ist von gleichsam geringerer Eingriffsqualität. Innerhalb der tatbestandlichen Prüfung genügt es nicht, auf die Anknüpfung an bestimmte Kriterien zu rekurrieren; darüber hinaus muss in typisierender Betrachtungsweise ein spezifischer Zusammenhang mit den verbotenen Differenzierungsmerkmalen festgestellt werden.

cc) Bloße Beschränkung Die dritte Gruppe bilden nichtdiskriminierende Maßnahmen, welche eine bloße Beschränkung der Grundfreiheiten darstellen. Solche Maßnahmen sind unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbar, entfalten jedoch binnenmarktbehindernde Wirkungen. Die Anforderungen an die tatbestandliche Prüfung nehmen hier weiter zu. So kann in keiner Weise mehr auf formale Aspekte abgestellt werden; vielmehr muss hinsichtlich des konkreten Sachverhalts eine Subsumtion unter die materiellen grundfreiheitlichen Gewährleistungen im Einzelnen erfolgen.

dd) Sonstige Maßnahmen Schließlich sind in einer letzten Ordnung die sonstigen Maßnahmen einzugliedern. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie unterschiedslos auf alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer Anwendung finden und keine binnenmarktbehindernden Wirkungen entfalten. Sonstige Maßnahmen werden also vom grundfreiheitlichen Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbot nicht erfasst. Mitgliedstaatliche Regelungskompetenzen sind insofern durch die Grundfreiheiten des EG-Vertrages nicht tangiert. Innerhalb des skizzierten Stufenmodells besteht ein reziprokes Verhältnis zwischen Eingriffsqualität und Anforderungen an die tatbestandliche Prüfung.

. Diskriminierung und Beschränkung

Ausdruck der von Stufe zu Stufe abnehmenden Eingriffsqualität ist die Zunahme der Anforderungen an die tatbestandliche Prüfung der Grundfreiheiten. Damit wird bereits jenes grobe Kategorienschema der Forderung gerecht, unterschiedliche Eingriffsqualitäten innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten entsprechend zu berücksichtigen. Zugleich zeigt sich, dass die ungleiche Behandlung von offenen und versteckten Diskriminierungen - entgegen manchen Stimmen im europarechtlichen Schrifttum - gerade nicht „offensichtlich sachwidrig" ist. 812

4. Ergebnis Mit der Darstellung des grundfreiheitlichen Stufenmodells ist das Kernkapitel der vorliegenden Arbeit abgeschlossen. Die Grundfreiheiten sind danach keineswegs entweder gleichheitsrechtlich im Sinne eines Diskriminierungsverbotes oder freiheitsrechtlich im Sinne eines Beschränkungsverbotes zu verstehen. Beide Sichtweisen sind zu kombinieren; 813 die Grundfreiheiten besitzen insofern eine Doppelstruktur. Gleichheitsrechtliche und freiheitsrechtliche Dimension wirken dabei parallel im Hinblick auf die Funktion der Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte. Entgegen der teilweise geäußerten Kritik lassen sich die grundfreiheitlichen Gewährleistungen in abstrakter Perspektive auf die Kategorien des Diskriminierungsverbotes und des Beschränkungsverbotes zurückführen. 814 Jener Kritik ist allerdings zuzugeben, dass mit Blick auf die Anwendung grundfreiheitlicher Vorschriften in der Rechtspraxis eine weitere Konkretisierung erforderlich ist. Die notwendigen Deduktionen aus den Erkenntnissen der ersten drei abstrakten Kapitel sollen in den folgenden drei Kapiteln aufgezeigt werden. Mit dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten (4. Kapitel), deren Beeinträchtigungen (5. Kapitel) sowie entsprechenden Rechtfertigungsmöglichkeiten (6. Kapitel) werden dort die wesentlichen Aspekte der konkreten grundfreiheitlichen Prüfung angesprochen. Besondere Berücksichtigung finden dabei die drei zuvor herausgearbeiteten materiellen Verbindungslinien zwischen den Grundfreiheiten und übergeordneten Prinzipien des EG-Vertrages. 815

812

So aber z.B. die Einschätzung von Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 119 f. 813 Vgl. für die Rspr. des EuGH bereits oben bei Fußn. 698. 814 Krit. dagegen Eilmansberger, JB1. 1999, 345 ff. (347). 815 Eingehend dazu oben B , S. 121 ff.

2. Teil

Die grundfreiheitliche Prüfung in der Praxis 4.Kapitel

Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten Innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung ist zunächst zu erörtern, ob die Grundfreiheiten auf den konkreten Fall überhaupt anwendbar sind. Hierbei geht es um die Frage, inwiefern die Schutzwirkung der Grundfreiheiten durch abstrakte, d.h. von der beeinträchtigenden Maßnahme unabhängige Aspekte begrenzt wird. 1 Manche Stimmen im europarechtlichen Schrifttum sprechen in diesem Zusammenhang vom „Schutzbereich" der Grundfreiheiten. 2 Damit suggeriert man indes Parallelen zur nationalen Grundrechtsdogmatik, 3 welche mit Blick auf die wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages gerade nicht bestehen.4 Im Übrigen ist jene Terminologie unzutreffend, soweit sie das grundfreiheitliche Diskriminierungs verbot tangiert; 5 Gleichheitsrechte besitzen a priori keinen Schutzbereich, in welchen eingegriffen werden kann.6 Die fol-

1

Vgl. Jarass, EuR 1995,202 ff. (221 f.); ders, EuR 2000, 705 ff. (717). Vgl. z.B. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (482); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 75 f.; Koenig/Haratsch, Rn. 486. Ähnlich Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 21 ff. 3 Zum Begriff des Schutzbereichs innerhalb der grundrechtlichen Prüfung vgl. nur Pieroth/Schlink, Rn. 195 ff. 4 Näher zu strukturellen Unterschieden zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten oben 3. Kapitel C. III. 3. b), S. 236 f. 5 Zugebend insoweit Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 76 mit dem relativierenden Hinweis, dass die Grundfreiheiten diesbezüglich „mit den Freiheitsrechten des Grundgesetzes durchaus vergleichbar sind". Letzteres dürfte allerdings nur schwer mit der Auffassung Kingreens in Einklang zu bringen sein, die Grundfreiheiten des EG-Vertrages seien allein gleichheitsrechtlicher Natur; siehe dazu oben 3. Kapitel C. III. 1, S. 229 ff. 6 Vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 10. 2

.

licher Anwendungsbereich

249

genden Ausführungen des vierten Kapitels nehmen daher stattdessen auf den Begriff des grundfreiheitlichen „Anwendungsbereichs" Bezug.7 Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten lässt sich durch verschiedene Parameter umschreiben, wobei zwischen drei untergeordneten Kategorien differenziert werden kann.8 Zum einen ist auf Begrenzungen einzugehen, welche die grundfreiheitlich geschützte Tätigkeit bzw. deren Objekt betreffen (Α.). Darüber hinaus wird der persönliche und räumliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten angesprochen (B. u. C.).

A. Sachlicher Anwendungsbereich Art. 2 EG normiert unter anderem die Aufgabe der Gemeinschaft, eine „ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens [...] zu fördern". 9 Demgegenüber erfassen die grundfreiheitlichen Gewährleistungen nicht die wirtschaftliche Tätigkeit in ihrer Gesamtheit;10 vielmehr wird über die einzelnen Grundfreiheiten des EG-Vertrages jeweils nur ein Ausschnitt des in Art. 2 EG genannten Wirtschaftslebens geschützt.11 Die abstrakten Grenzlinien dieser Teilbereiche wirtschaftlicher Betätigung sind auf der Prüfungsstufe des sachlichen Anwendungsbereichs zu bestimmen.12 Bevor auf wesentliche Aspekte der vorliegenden Prüfungsstufe näher eingegangen wird, ist zunächst ein übergreifender Gedanke zu diskutieren, welcher die vertikale Kompetenzverteilungsstruktur zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten betrifft. Diesbezüglich ließe sich vertreten, die mitgliedstaatlichen Regelungskompetenzen begrenzten den sachlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages jedoch auch dann zu beach-

7

Wie hier Behrens, EuR 1992, 145 ff. (148); Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 6 ff.; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 7 ff; Jarass, EuR 2000, 705 ff. (706 ff.); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 21; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 141 ff.; Streinz, Rn. 660 ff. 8 Vgl. zur folgenden Unterscheidung auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 76 ff.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 141 ff. 9 Hervorh. d. Verf. 10 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 76. 11 Vgl. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 142; Streinz, Rn. 664. 12 Ähnlich Jarass, EuR 1995, 202 ff. (203); ders, EuR 2000, 705 ff. (706).

250

. Kapitel: De

nunge

der Grundfreiheiten

ten, wenn im konkreten Fall Kompetenzen der Mitgliedstaaten berührt werden.13 Dieser Judikatur des EuGH ist im Ergebnis zu folgen. Zwar wirkt die Kompetenzordnung des EG-Vertrages auf die Interpretation der Grundfreiheiten in nicht unerheblicher Weise ein; 14 gleichwohl können eventuell bestehende Kompetenzen der Mitgliedstaaten nicht dazu führen, dass Vorgaben des Gemeinschaftsrechts nicht zu beachten wären. 15 Die vertikale Kompetenz Verteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten beeinflusst somit nur die grundfreiheitliche Kontrolldichte, 16 nicht aber den sachlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. 17 Letzterer lässt sich durch drei Teilelemente der grundfreiheitlichen Prüfung umschreiben. 18 Zunächst sind in einem ersten Schritt die einzelnen Grundfreiheiten des EG-Vertrages voneinander abzugrenzen (I.). Anschließend ist auf den notwendigen grenzüberschreitenden Bezug einzugehen, welcher sämtlichen Grundfreiheiten zugrunde liegt (II.). Endlich ist zu untersuchen, inwieweit der jeweilige grundfreiheitliche Gewährleistungsumfang durch vertraglich formulierte Bereichsausnahmen eingeschränkt wird (III.).

I. Die Abgrenzung der einzelnen Grundfreiheiten untereinander 1. Bedeutung und Besonderheiten Die vertraglichen Vorschriften offenbaren für jede der sechs Grundfreiheiten bestimmte Spezifika, welche den jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich einschränken bzw. konkretisieren. Bereits aus diesem Grund ist es geboten, die

13 Vgl. etwa EuGH, Rs. 9/74 (Casagrande), Slg. 1974, 773, Rn. 6; EuGH, Rs. 279/80 (Webb), Slg. 1981, 3305, Rn. 10; EuGH, Rs. 238/82 (Duphar), Slg. 1984, 523, Rn. 16 ff.; EuGH, Rs. C-120/95 (Decker), Slg. 1998, 1-1831, Rn. 25; EuGH, Rs. C158/96 (Kohll), Slg. 1998,1-1931, Rn. 16 ff. 14 Siehe oben 3. Kapitel Β. II. 1. a) cc), S. 148 ff. 15 Vgl. z.B. für den Bereich der Sozialpolitik GA Fenelly, Schlussanträge in der EuGH, Rs. C-70/95 (Sodemare), Slg. 1997,1-3395, Rn. 27 ff. 16 Dieser Aspekt betrifft die Beeinträchtigungsebene der grundfreiheitlichen Prüfung. Hierauf wird an späterer Stelle näher einzugehen sein. 17 Ebenso i.E. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (707); Streinz, Rn. 665 m.w.N. 18 Teilweise wird der sachliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten nur durch zwei Teilelemente charakterisiert; vgl. dazu einerseits Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 183, andererseits Jarass, EuR 2000, 705 ff. (706) mit Verweis vai Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (508). Wie hier Ehlers, Jura 2001,482 ff. (482).

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Grundfreiheiten auf der tatbestandlichen Ebene voneinander abzugrenzen. 19 Für den Fall, dass sich der betreffende Sachverhalt unter mehrere grundfreiheitlichen Tatbestände subsumieren lässt,20 hält der EG-Vertrag zudem Normen bereit, welche das Konkurrenzverhältnis der Grundfreiheiten zueinander bestimmen.21 Trotz dieser textlichen Vorgaben, die einschlägigen grundfreiheitlichen Vorschriften für den einzelnen Sachverhalt konkret zu ermitteln, wird in der Judikatur des Gerichtshofs nicht immer ausreichend zwischen den einzelnen Grundfreiheiten unterschieden. 22 Stattdessen rekurriert der EuGH zum Teil undifferenziert auf Art. 48 EGV (jetzt Art. 39 EG) und Art. 52 EGV (jetzt Art. 43 EG), 23 in anderen Entscheidungen sogar auf die „Gesamtheit der Freizügigkeitsvorschriften des Vertrages". 24 Der sachliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten wird durch Rechtsbegriffe des Gemeinschaftsrechts umschrieben. 25 Entsprechende Tatbestandsmerkmale sind somit nicht mit Blick auf nationale Rechtsordnungen, sondern spezifisch gemeinschaftsrechtlich zu interpretieren. 26 Andernfalls könnte zum einen der grundfreiheitlich gewährleistete Schutz durch mitgliedstaatliche Restriktionen unterlaufen werden; zum anderen wäre die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts gefährdet.

19

Ähnlich Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 77. 20 Zu verweisen ist beispielhaft auf Aspekte des Marketings. Diese lassen sich einerseits als Annex zu materiellen Produkten auffassen, andererseits als eigenständige Dienstleistungen charakterisieren. Die Tatbestände der Artt. 28 ff. EG bzw. Artt. 49 ff. EG sind daher oftmals parallel verwirklicht. 21 Vgl. für das erwähnte Konkurrenzverhältnis zwischen der Waren Verkehrsfreiheit und der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs z.B. Art. 50 Abs. 1 EG. 22 Vgl. aber auch EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 20 ff. 23 Vgl. etwa EuGH, Rs. 16/78 (Choquet), Slg. 1978, 2293, Rn. 8; EuGH, Rs. C19/92 (Kraus), Slg. 1993,1-1663, Rn. 29 ff. 24 So EuGH, Rs. C-l06/91 (Ramrath), Slg. 1992,1-3351, Rn. 24. 25 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 77. Vgl. auch - speziell für einzelne Grundfreiheiten - Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 8; Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 7; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 5. 26 Vgl. statt vieler nur Streinz, Rn. 664.

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der Grundfreiheiten

2. Abgrenzungen im Einzelnen a) Freier Warenverkehr Der sachliche Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit wird gemäß Ait. 23 Abs. 2 EG begrenzt. Danach gelten die Artt. 28 ff. EG nur „für die aus den Mitgliedstaaten stammenden Waren sowie für diejenigen Waren aus dritten Staaten, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden". 27 Darüber hinaus sind für bestimmte Waren Sonderregelungen zu beachten; insbesondere ist hier auf die Vorschriften der Artt. 305, 296 Abs. 1 lit. b, 32 Abs. 2 EG zu verweisen. 28 Gegenüber anderen Grundfreiheiten lässt sich der sachliche Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit nicht immer deutlich abgrenzen. Strukturelle Parallelen bestehen vor allem im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit sowie die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs, 29 so dass die Einordnung des konkreten Sachverhalts in die grundfreiheitlichen Kategorien mitunter Schwierigkeiten bereitet. Entscheidendes Abgrenzungsmerkmal im Verhältnis zur Dienstleistungsfreiheit ist der Aspekt der Körperlichkeit; Waren sind körperliche Gegenstände, während Dienstleistungen immaterielle Produkte darstellen. 30 Erscheint die Dienstleistung in einer Ware verkörpert, so ist eine differenzierende Betrachtungsweise geboten.31 Die Abgrenzung zwischen der Warenverkehrsfreiheit und den Bestimmungen über den freien Kapital- und Zahlungsverkehr stellt sich insofern einfacher dar, als gesetzliche Zahlungsmittel allein Letzteren unterliegen. 32 Im Übrigen muss in diesem Zusammenhang auf den Zweck der Kapitalbewegung abgestellt werden. 33

27 Näher zu Gemeinschaftswaren i.S.v. Art. 23 Abs. 2 EG z.B. Oppermann, Rn. 1268; Streinz, Rn. 660; Waldhoff in: Calliess/Ruffert, Art. 23 EGV, Rn. 18 m.w.N. 28 Eingehend zu Sonderregelungen für bestimmte Waren Lux, in: Lenz, Art. 23, Rn. 9 ff. 29 Siehe bereits oben 3. Kapitel Α. II. 2., S. 120 ff. 30 Vgl. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 1 m.w.N. 31 Aus der Rspr. des Gerichtshofs vgl. etwa - zu Filmen u. Tonträgern - EuGH, Rs. 155/73 (Sacchi), Slg. 1974, 409, Rn. 6 ff.; EuGH, Verb. Rs. 60/84 u. 61/84 (Cinéthèque), Slg. 1985, 2605, Rn. 9 ff.; - zu Patentrechten - EuGH, Rs. 1/77 (Bosch I), Slg. 1977, 1473, Rn. 5; EuGH, Rs. 135/77 (Bosch II), Slg. 1978, 855, Rn. 3; - zu Lotterielosen - EuGH, Rs. C-275/92 (Schindler), Slg. 1994,1-1039, Rn. 21 ff. 32 Vgl. EuGH, Rs. 7/78 (Thompson), Slg. 1978,2274, Rn. 19 ff. 33 Zutreffend Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 14 mit Verweis auf EuGH, Verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, 377, Rn. 21.

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Zwischen der Warenverkehrsfreiheit und der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs besteht gemäß Art. 50 Abs. 1 EG ein vertraglich normiertes Subsidiaritätsverhältnis zu Gunsten der Artt. 28 ff. EG. 34 Darüber hinaus werden im EG-Vertrag mit Blick auf den freien Warenverkehr keine grundfreiheitlichen Konkurrenzen angesprochen.

b) Arbeitnehmerfreizügigkeit Art. 39 EG setzt in seinem sachlichen Anwendungsbereich voraus, dass ein Arbeitsverhältnis voliegt. 35 Vorbehaltlich spezieller Regelungen im Vertragsgefüge der Europäischen Gemeinschaften 36 werden dabei grundsätzlich alle Tätigkeitsbereiche der Artt. 2 u. 3 EG einbezogen.37 Entscheidend ist somit der wirtschaftliche Charakter der betreffenden Tätigkeit. 38 Sofern darüber hinaus ein weitergehender (Neben-)Zweck verfolgt wird, hat dies für die Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Bedeutung; so werden auch Beschäftigungsverhältnisse mit Profisportlern sowie Arbeitsverträge mit Kirchen und weltanschaulichen Gruppierungen vom sachlichen Anwendungsbereich der Artt. 39 ff. EG erfasst. 39 Sonderregelungen bestehen für Bedienstete internationaler Organisationen; 40 die FreizügigkeitsVorschriften sind jedoch zumindest subsidiär anwendbar. 41

34

Vgl. auch Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (483); Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 55; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 77 f. 35 Vgl. Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 3. 36 Nach dem zeitlichen Auslaufen des EGKS-Vertrages ist Art. 69 § 1 EGKSV als Spezialvorschrift nicht mehr beachtlich. Lex specialis ist nach dem 23.7.2002 somit nur noch Art. 96 EAGV. 37 Vgl. Oppermann, Rn. 1517; Streinz, Rn. 664 u. 750. 38 Siehe dazu bereits oben bei Fußn. 11. 39 Vgl. einerseits EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 12/13; EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 4/10; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 73; andererseits EuGH, Rs. 41/74 (von Duyn), Slg. 1974, 1337, Rn. 18 ff.; EuGH, Rs. 300/84 (Van Roosmalen), Slg. 1986, 3076, Rn. 18 ff.; EuGH, Rs. 196/87 (Steymann), Slg. 1988, 6159, Rn. 9 ff. 40 Vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 44; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 5. 41 Vgl. EuGH, Rs. 152/82 (Forcheri), Slg. 1983, 2323, Rn. 9; EuGH, Verb. Rs. 389/87 u. 390/87 (Echternach u. Moritz), Slg. 1989, 723, Rn. 11; EuGH, Rs. C-310/91 (Schmid), Slg. 1993,1-3011, Rn. 20.

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der Grundfreiheiten

Als reine Personenverkehrsfreiheit lässt sich die Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne größere Schwierigkeiten von anderen Grundfreiheiten abgrenzen. Besondere Bedeutung erlangt hier die Unterscheidung der Artt. 39 ff. EG einerseits und der Artt. 43 ff. EG andererseits. Entscheidend ist, ob - im Gegensatz zur selbständigen Tätigkeit nach Art. 43 Abs. 2 EG - ein Verhältnis abhängiger Beschäftigung vorliegt. 42 Dies hat zur Voraussetzung, dass die tätige Person „während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält". 43 Ob das Arbeitsverhältnis öffentlich-rechtlicher Natur ist oder aber privatrechtlich ausgestaltet ist, bleibt dabei unbeachtlich.44 Im Verhältnis zur Dienstleistungsfreiheit muss die Arbeitnehmerfreizügigkeit über ein zeitliches Merkmal abgegrenzt werden; jene ist gemäß Art. 50 Abs. 3 EG auf vorübergehende Tätigkeiten beschränkt, während diese insoweit keinen Restriktionen unterliegt. 45 Sollten die Artt. 39 ff. EG und die Artt. 49 ff. EG trotz der vorgenannten Abgrenzungsmöglichkeit auf einen konkreten Sachverhalt gleichermaßen anwendbar sein, verdrängt die Arbeitnehmerfreizügigkeit die subsidiäre Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art. 50 Abs. 1 EG). Konkurrenzen zu den übrigen Grundfreiheiten werden bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit im EGVertrag nicht erwähnt. Aufgrund der eindeutigen Abgrenzbarkeit dürften tatbestandliche Überschneidungen mit anderen grundfreiheitlichen Vorschriften als den Artt. 49 ff. EG auch kaum auftreten.

42 Dies ist allg. Meinung. Häufig wird diese Abgrenzung dem persönlichen Anwendungsbereich der genannten Grundfreiheiten zugeschrieben; vgl. etwa Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 8 ff.; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 7; Oppermann, Rn. 1512 ff. Ob eine abhängige oder selbständige Beschäftigung vorliegt, beurteilt sich jedoch nicht nach der tätigen Person, sondern danach, wie das konkrete Arbeitsverhältnis ausgestaltet ist. Richtigerweise ist dies somit eine Frage des sachlichen Anwendungsbereichs; wie hier z.B. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 9. 43 So die Formulierung in EuGH, Rs. 66/85 (Lawrie Blum), Slg. 1986, 2121, Rn. 17. Vgl. auch EuGH, Rs. 197/86 (Brown), Slg. 1988, 3205, Rn.21; EuGH, Rs. 344/87 (Bettray), Slg. 1989, 1621, Rn. 12; EuGH, Rs. C-357/89 (Raulin), Slg. 1992, 1-1027, Rn. 10; EuGH, Rs. C-3/90 (Bernini), Slg. 1992, 1-1071, Rn. 14; EuGH, Rs. C-l79/90 (Merci Convenzionali Porto di Genova), Slg. 1991,1-5889, Rn. 13; EuGH, Rs. C-107/94 (Asscher), Slg. 1996,1-3089, Rn. 25; EuGH, Rs. C-340/94 (De Jaeck), Slg. 1997,1-462, Rn. 26. Näher zu den einzelnen Merkmalen dieser Definition z.B. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 10 ff. 44 Vgl. EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 5 f.; EuGH, Rs. 66/85 (Lawrie Blum), Slg. 1986, 2121, Rn. 20 u. 22; EuGH, Rs. 344/87 (Bettray), Slg. 1989, 1621, Rn. 16; EuGH, Rs. C-357/89 (Raulin), Slg. 1992,1-1027, Rn. 10. 45 Vgl. dazu auch Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 11.

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c) Niederlassungsfreiheit Die Niederlassungsfreiheit umfasst gemäß Art. 43 Abs. 2 EG „die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen". Wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird der Begriff der (Erwerbs-)Tätigkeit extensiv interpretiert; 46 grundsätzlich ist jede wirtschaftliche Betätigung im Sinne der Artt. 2 u. 3 EG dem sachlichen Anwendungsbereich des Art. 43 EG zuzuordnen. 47 Auf eine Gewinnerzielungsabsicht kommt es dabei nicht entscheidend an. 48 Ausgeschlossen sind lediglich rein karitative Tätigkeiten.49 Abzugrenzen ist die Niederlassungsfreiheit insbesondere gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie der Dienstleistungsfreiheit. Im Verhältnis zur Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt dem Merkmal der Selbständigkeit ausschlaggebende Bedeutung zu; während die Artt. 39 ff. abhängige Beschäftigungsverhältnisse betreffen, setzen die Artt. 43 f f EG voraus, dass die entsprechende Tätigkeit weisungsfrei und in eigener Verantwortung erfolgt. Grundsätzlich unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang die Einkommenshöhe oder das der Tätigkeit zugrunde liegende Berufsbild. 50 Von der Dienstleistungsfreiheit unterscheidet sich die Niederlassungsfreiheit durch zwei wesentliche Kriterien; 51 der Begriff der Niederlassung erfordert die Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit „mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit". 52 Feste Einrichtungen in diesem Sinne sind in erster Linie Produktionsstätten, Büroräume oder ähnliche bauliche Objekte, nicht aber rein formale Rechtsakte.53 Das zeitliche Element der Dauerhaftigkeit um-

46

Vgl. EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 25. Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 10; Scheuer, in: Lenz, Art. 43, Rn. 2. 48 Vgl. Jarass, RIW 1993, 1 ff. (2); Koenig/Haratsch, Rn. 555; Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, 37; Schnichels, Niederlassungsfreiheit, 1995, 29. 49 Vgl. nur Schlag, in: Schwarze, Art. 43 EGV, Rn. 18; Schnichels, Niederlassungsfreiheit, 1995, 29. 50 Auch Spitzengehälter z.B. im Berufssport begründen nicht ohne weiteres selbständige Tätigkeit; vgl. dazu EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 12; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 73. Zur Unbeachtlichkeit bestehender Berufsbilder vgl. nur EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, 1-4165, Rn. 29 ff. 51 Vgl. auch Scheuer, in: Lenz, Art. 43, Rn. 2. 52 EuGH, Rs. C-221/89 (Factortame II), Slg. 1991, 1-3905, Rn. 20 (Hervorh. d. Verf.). 53 Näher hierzu Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 11. 47

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der Grundfreiheiten

schreibt der EuGH teilweise mit der Formulierung, es müsse eine „stetige und dauerhafte" oder „stabile und kontinuierliche" Teilnahme am Wirtschaftsleben im Niederlassungsstaat vorliegen. 54 Demgegenüber erfasst die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs gemäß Art. 50 Abs. 3 EG nur vorübergehend ausgeübte Tätigkeiten.55 Über die Vorschrift des Art. 50 Abs. 1 EG normiert der EG-Vertrag den Vorrang der Niederlassungsfreiheit vor der Dienstleistungsfreiheit, welche als subsidiäre Freiheit bei tatbestandlichen Überschneidungen zurücktritt. 56 Das System grundfreiheitlicher Konkurrenzen wird zudem von Art. 43 Abs. 2 EG beeinflusst, wonach die Niederlassungsfreiheit nur „vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr" gewährleistet wird. Mit Blick auf Art. 58 Abs. 2 EG entsteht dadurch eine nicht unproblematische Verflechtung zwischen der Niederlassungsfreiheit einerseits und der Kapitalverkehrsfreiheit andererseits. 57

d) Dienstleistungsfreiheit Art. 50 Abs. 1 EG enthält eine Legaldefinition des Dienstleistungsbegriffs: „Leistungen, die in der Regel gegen Engelt erbracht werden" unterfallen danach dem sachlichen Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit. 58 Aus der beispielhaften Aufzählung in Art. 50 Abs. 2 EG ergibt sich ein weiteres Wesensmerkmal der grundfreiheitlich geschützten Dienstleistungserbringung: Es muss sich um selbständige Tätigkeiten handeln.59 Wiederum sind die den sachlichen Anwendungsbereich kennzeichnenden Begrifflichkeiten weit auszulegen; 60 insbesondere werden von der Dienstleistungsfreiheit Tätigkeiten religiöser Vereinigungen, 61 sportliche Aktivitäten, 62 Rundfunk- und Fernsehsendun-

54

Vgl. einerseits EuGH, Rs. C-70/95 (Sodemare), Slg. 1997, 1-3395, Rn. 24; andererseits EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 25. 55 Siehe bereits oben bei Fußn. 45. 56 Mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit sowie die Arbeitnehmerfreizügigkeit siehe bereits oben a) u. b), S. 253 u. 254. 57 Siehe hierzu die näheren Ausführungen oben 3. Kapitel Α. I. 1. b) bb), S. 115 f. mit weiteren Nachweisen zum Streitstand. 58 Unbeachtlich ist hierbei der volkswirtschaftliche Begriff der Dienstleistung; vgl. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 7; Oppermann, Rn. 1592; Streinz, Rn. 755. 59 Vgl. dazu Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 6; Schöne, Dienstleistungsfreiheit, 1989, 35; Troberg, in: GTE, Art. 60, Rn. 6. 60 Siehe für andere Grundfreiheiten bereits oben bei Fußn. 37 u. 46. 61 Vgl. EuGH, Rs. 196/87 (Steymann), Slg. 1988, 6159, Rn. 11 ff.

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gen63 sowie kulturelle Leistungen64 grundsätzlich erfasst. Allein kirchliche und karitative Dienste sind dem grundfreiheitlichen Schutz der Artt. 49 ff. EG entzogen.65 Nachdem die Dienstleistungsfreiheit produkt- und personenbezogene Aspekte berührt, 66 ist sie sowohl gegenüber der Warenverkehrsfreiheit als auch gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit abzugrenzen. Hierzu kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 67 Besonderheiten gelten hinsichtlich der Kapitalverkehrsfreiheit, da der Begriff der Dienstleistung den Kapitalverkehr im Grunde umfasst, Letzterer jedoch in die Vorschriften der Artt. 56 ff. EG ausgegliedert ist. 68 Ein „materieller Transfer von Vermögenswerten" fällt danach nicht unter die Dienstleistungsfreiheit, sondern unter die Freiheit des Kapitalverkehrs, 69 sofern damit primär Anlagezwecke verfolgt werden. 70 Für den Kapitalverkehr tangierende Dienstleistungen der Banken und Versicherungen existiert mit Art. 51 Abs. 2 EG eine gesonderte Liberalisierungsvorschrift. 71 Innerhalb des Systems grundfreiheitlicher Konkurrenzen erscheint die Dienstleistungsfreiheit gegenüber den übrigen Grundfreiheiten subsidiär; erneut ist hier auf Art. 50 Abs. 1 EG zu verweisen. 72

62

Vgl. EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 4/10; EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 12/13; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 73. 63 Vgl. EuGH, Rs. 155/73 (Sacchi), Slg. 1974, 409, Rn. 6; EuGH, Rs. 52/79 (Debauve), Slg. 1980, 833, Rn. 10 ff.; EuGH, Rs. 62/79 (Coditel), Slg. 1980, 881, Rn. 11 ff.; EuGH, Rs. C-148/91 (Veronica), Slg. 1993, 1-487, Rn. 8 ff.; EuGH, Rs. C23/93 (TV 10), Slg. 1994,1-4795, Rn. 13; EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997,1-3843, Rn. 48. 64 Für die Tätigkeit von Fremden- u. Museumsführern vgl. EuGH, Rs. C-l98/89 (Kommission/Griechenland), Slg. 1991,1-727, Rn. 7 ff. 65 Vgl. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 15 a.E. 66 Näher dazu oben 3. Kapitel Α. I I , S. 119 ff. 67 Siehe oben a), b) u. c), S. 252 ff. 68 Vgl. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 10. 69 So die Terminologie der Rspr.; vgl. EuGH, Verb. Rs. C-358/93 u. C-416/93 (Bordessa), Slg. 1995,1-361, Rn. 13. 70 Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 8 m.w.N. 71 Dazu etwa Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 10; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 16; Streinz, Rn. 766. 72 Siehe bereits oben a), b) u. c), S. 253, 254 u. 256. 17 Mühl

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der Grundfreiheiten

e) Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs In Art. 56 EG sind mit den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs die noch verbleibenden Grundfreiheiten genannt. Der Begriff des Kapitalverkehrs wird weder über gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen noch in der Judikatur des EuGH definiert. 73 Mit Blick auf Art. 57 EG lässt sich der grundfreiheitlich geschützte Kapitalverkehr dahingehend umschreiben, dass hiervon einseitige Übertragungen von Geld- und Sachkapital zum Zwecke der Vermögensanlage umfasst werden. 74 Als Zahlungsverkehr bezeichnet man die Übertragung von Geldmitteln, welche mit der Wahrnehmung anderer Grundfreiheiten verbunden ist. 75 Die Transferleistung muss dabei nicht synallagmatisch mit dem Kausalgeschäft verknüpft sein; 76 auch zivilrechtliche Schadensersatzzahlungen, Bürgschaften und sonstige Sicherheitsleistungen sind dem freien Zahlungsverkehr zuzuordnen. 77 Insofern hat die Freiheit des Zahlungsverkehrs durch die Novellierung der entsprechenden vertraglichen Vorschriften eine Aufwertung erfahren. 78 Die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs sind in ihrem sachlichen Anwendungsbereich gegeneinander abzugrenzen, da bestimmte Vorschriften der Artt. 56 ff. EG nicht für beide Grundfreiheiten gleichermaßen gelten.79 Maßgeblich ist hier der Zweck der erfolgten Wertübertragung; 80 Anlage- bzw. Investitionsgeschäfte unterfallen der Freiheit des Kapitalverkehrs, während Transaktionen im Zusammenhang mit anderen grundfreiheitlich geschützten

73 Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 8; Ohler, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, Art. 56 EGV, Rn. 15. 74 Vgl. auch Bleckmann, Rn. 1181 f.; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 8; Oppermann, Rn. 1481; Streinz, Rn. 764; Weber, in: Lenz, Vorbem. Art. 56-60, Rn. 8. Abweichend Ohler, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, Art. 56 EGV, Rn. 24 ff. 75 Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 56; Weber, in: Lenz, Vorbem. Art. 56-60, Rn. 8. 76 Anders noch EuGH, Verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, 377, Rn. 21: „eine Gegenleistung im Rahmen einer dieser Leistung zugrundeliegenden Transaktion". Siehe dazu bereits oben 3. Kapitel, Fußn. 30. Wie hier Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 56. 77 Vgl. nur Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Art. 56, Rn. 183 m.w.N. 78 Siehe dazu oben 3. Kapitel Α. I. 2, bei Fußn. 30. 79 Vgl. etwa die auf den freien Kapital verkehr beschränkte Vorschrift des Art. 57 EG. Zur umstrittenen Einordnung von Art. 59 EG vgl. nur Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 59 EGV, Rn. 2. 80 Vgl. auch EuGH, Verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, 377, Rn. 21.

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Tätigkeiten den freien Zahlungsverkehr betreffen. Hinsichtlich der Abgrenzung zu anderen Grundfreiheiten des EG-Vertrages sowie der grundfreiheitlichen Konkurrenzen kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 81

II. Der grenzüberschreitende Bezug als gemeinsames Merkmal Neben den spezifischen Merkmalen der einzelnen Grundfreiheiten ist innerhalb jeder grundfreiheitlichen Prüfung das übergreifende Kriterium des grenzüberschreitenden Bezugs zu berücksichtigen. 82 Dies ergibt sich einerseits aus dem Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften, andererseits aus der systematischen Verknüpfung der Grundfreiheiten mit dem Binnenmarktziel gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. c EG. 83 Nachfolgend soll auf jenes transnationale Element näher eingegangen werden, wobei sowohl die dogmatische Verortung (1.) als auch die praktische Prüfung (2.) des grenzüberschreitenden Bezugs angesprochen wird. Eine Besonderheit stellen die so genannten Rückkehrerfälle dar (3.).

1. Dogmatische Verortung Hält man - wie vorliegend vertreten - das Prüfungskriterium des transnationalen Bezugs innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten für unverzichtbar, 84 so stellt sich die Frage, an welcher Stelle der grundfreiheitlichen Prüfung dieser Punkt zu verorten ist. Damit ist nicht lediglich ein akademisches Problem angesprochen; vielmehr bedingt die Beantwortung jener Fragestellung Konsequenzen für die Anwendung der Grundfreiheiten in der Praxis. So fällt die Beurteilung mitgliedstaatlicher Regelungen am Maßstab der Grundfreiheiten unterschiedlich aus, wenn der grenzüberschreitende Bezug entweder als abstrakte Anwendungsvoraussetzung geprüft wird oder aber zum (alleinigen)

81

Siehe dazu die jeweiligen Ausführungen oben a)-d), S. 252 ff. Vgl. Behrens, EuR 1992, 145 ff. (160 f.); Dörr, RabelsZ 54 (1990), 677 ff. (678); Fastenrath, JZ 1987, 170 ff. (172); Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 98 f.; Jarass, EuR 1995, 202 ff. (204); ders, EuR 2000, 705 ff. (706); Reich, ZIP 1993, 1815 ff. (1816); Sack, EWS 1994, 37 ff. (37); Schilling, JZ 1994, 8 ff. (9); Schöne, RIW 1989, 450 ff. (454). Nachweise zur Rspr. oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (3), Fußn. 119. 83 Näher oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (3), S. 135 f. 84 Abweichend Heydt, EuZW 1993, 105 ff. (105); Kewenig, JZ 1990, 20 ff. (23). Siehe dagegen bereits die Ausführungen oben 2. Kapitel C. II. 2, S. 109 f. 82

1

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der Grundfreiheiten

Prüfiingskriterium des grundfreiheitlichen Diskriminierungsbegriffs wird. 85

erhoben

Letzteres wird im europarechtlichen Schrifttum teilweise vertreten. 86 Wie bereits die obigen Ausführungen des zweiten Kapitels zeigen, ist dieser Ansatz indes abzulehnen.87 Ersetzt man bezüglich des Diskriminierungsbegriffs die verpönten Merkmale der Staatsangehörigkeit sowie der Produktherkunft bzw. destination durch das abstrakte Element des Grenzübertritts, so werden nicht nur vertragliche Vorgaben missachtet;88 zugleich erhält man einen wenig präzisen grundfreiheitlichen Prüfungsmaßstab. 89 Sinnvoller erscheint demgegenüber die Verortung des grenzüberschreitenden Bezugs auf der Stufe des grundfreiheitlichen Anwendungsbereichs. Manche Stimmen in der Literatur sehen hier den räumlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten tangiert. 90 Über das transnationale Element wird jedoch nicht auf räumliche Aspekte in dem Sinne rekurriert, dass die betreffende Wirtschaftsleistung von einem bestimmten Mitgliedstaat ausgehend in einen anderen bestimmten Mitgliedstaat gelangen muss. Vielmehr wird der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten insofern durch die Art und Weise der Leistungserbringung begrenzt: Ein Grenzübertritt muss erfolgen; nicht erforderlich ist die Überschreitung einer räumlich bestimmten Grenze. Richtigerweise ist der grenzüberschreitende Bezug daher dem sachlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zuzuordnen. 91

85 Die Prüfung des grenzüberschreitenden Bezugs als Teil des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten ermöglicht weitergehende Restriktionen auf der grundfreiheitlichen Beeinträchtigungsebene, indem z.B. zusätzliche Anforderungen an das Vorliegen von Diskriminierungen oder Beschränkungen gestellt werden. Wenn stattdessen das transnationale Element als allein bestimmendes Wesensmerkmal grundfreiheitlicher Beeinträchtigungen qualifiziert wird, bleibt der Prüfungsmaßstab der Grundfreiheiten extensiver gefasst. 86 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 82 ff. 87 Näher dazu oben 2. Kapitel Β. V. 3. c), S. 97 f. 88 Vgl. den Wortlaut der Am. 28, 29, 39 Abs. 3, 43 Abs. 2, 50 Abs. 3 EG. Siehe dazu auch oben 2. Kapitel Β. V. 3. a) u. b), S. 95 ff. 89 Vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 303. 90 So z.B. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 219; Streinz, Rn. 666. 91 Wie hier Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 41; Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (482); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (204); ders., EuR 2000, 705 ff. (706); Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 3.

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licher Anwendungsbereich

261

2. Praktische Prüfung An das Vorliegen des transnationalen Elements innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung sind keine hohen Anforderungen zu stellen;92 allein die hypothetische Möglichkeit des Grenzübertritts reicht nicht aus.93 Maßgeblich ist die Abgrenzung zwischen grenzüberschreitenden Sachverhalten und rein innerstaatlichen Konstellationen.94 Hierbei sind die Besonderheiten der einzelnen Grundfreiheiten zu berücksichtigen. Die nachfolgende Darstellung des grenzüberschreitenden Bezugs in der praktischen Prüfung erfolgt in Anlehnung an die erkannte Systematik der Grundfreiheiten. 95 Die Warenverkehrsfreiheit als Produktverkehrsfreiheit setzt in ihrem sachlichen Anwendungsbereich voraus, dass die betreffende Ware eine innergemeinschaftliche Grenze überschritten hat oder noch überschreiten wird. 96 Auf einen Grenzübertritt der an der wirtschaftlichen Transaktion beteiligten Personen kommt es nicht an. In der frühen Judikatur des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit wird der grenzüberschreitende Bezug als notwendiges Element der grundfreiheitlichen Prüfung nicht immer deutlich sichtbar; 97 spätestens seit der Entscheidung Keck besteht insofern jedoch eine gefestigte Rechtsprechungslinie. 98 Der sachliche Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie der Niederlassungsfreiheit ist demgegenüber nur dann eröffnet, wenn die handelnden Personen eine innergemeinschaftliche Grenze überschreiten. 99 Jene Grundfreiheiten sind insofern als reine Personenverkehrsfreiheiten zu klassifizieren. 100 Der Grenzübertritt darf mit Blick auf diese reinen Personenverkehrsfreiheiten

92

Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (707). Vgl. EuGH, Rs. 180/83 (Moser), Slg. 1984, 2539, Rn. 18; EuGH, Rs. C-299/95 (Kremzow), Slg. 1997,1-2629, Rn. 16. 94 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (269); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 140. 95 Zu systembildenden Strukturen der Grundfreiheiten siehe bereits oben 3. Kapitel A , S. 113 ff. 96 Vgl. nur Jarass, EuR 2000, 705 ff. (707). 97 Dies gilt insbesondere für die so genannte Oe£e/-Rechtsprechung; siehe dazu oben 3. Kapitel C. II. l.d), S. 210 ff. 98 Vgl. auch Oppermann, Rn. 1293. 99 Die durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft hat hieran nichts geändert; vgl. EuGH, Verb. Rs. C-64/96 u. C-65/96 (Uecker u. Jacquet), Slg. 1997,1-3171, Rn. 23. 100 Siehe oben 3. Kapitel Α. II. 2, S. 121. 93

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der Grundfreiheiten

nicht lediglich vorübergehend erfolgen; 101 vielmehr ist der wirtschaftliche Schwerpunkt grenzüberschreitend zu verlegen. 102 Im Rahmen der Niederlassungsfreiheit ist dabei keine grenzüberschreitende Niederlassung erforderlich; es reicht aus, wenn die inländische Niederlassung einen Auslandsbezug aufweist. 103 Die verbleibenden Grundfreiheiten besitzen einen Doppelcharakter; 104 die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs sowie die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs weisen sowohl produktbezogene als auch personenenbezogene Aspekte auf. Hinsichtlich der Dienstleistungsfreiheit genügt es demgemäß, wenn der Leistungserbringer, der Leistungsempfänger oder aber allein die Dienstleistung eine innergemeinschaftliche Grenze überschreitet. 105 Im Bereich der Artt. 56 ff. EG können Kapital oder Zahlungsmittel als solche grenzüberschreitend transferiert werden. 106 Alternativ kommt ein Grenzübertritt der beteiligten Personen in Betracht; damit lassen sich insbesondere Immobiliengeschäfte den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs zuordnen. 107 Der Gerichtshof legt der Prüfung des transnationalen Elements insgesamt einen großzügigen Maßstab zugrunde. Selten wird ein grundfreiheitlicher Verstoß wegen des fehlenden grenzüberschreitenden Bezugs verneint. 108 Dies wird vereinzelt kritisiert, 109 entspricht aber der oben genannten Auffassung, wonach nur hypothetische Erwägungen den grenzüberschreitenden Bezug nicht begrün-

101

Anderes gilt für personenbezogene Aspekte der Dienstleistungsfreiheit sowie der Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Dazu sogleich. 102 Näher dazu Jarass, EuR 1995, 202 ff. (206 f.). 103 Vgl. Jarass, RIW 1993, 1 ff. (2); Troberg, in: GTE, Art. 52, Rn. 41. 104 Siehe bereits oben 3. Kapitel Α. II. 2. a.E, S. 121. 105 Vgl. zu dem letztgenannten Fall der Korrespondenzdienstleistung die Anwendungsbeispiele bei Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 104. 106 Zu dieser Konstellation gehört auch der Fall, dass die an der wirtschaftlichen Leistung beteiligte Person zusammen mit Kapital bzw. Zahlungsmitteln die Grenze überschreitet. Analog zur Warenverkehrsfreiheit bleibt hier der produktbezogene Aspekt der Grundfreiheiten im Vordergrund. 107 Zu den Besonderheiten des Immobilienerwerbs im Rahmen der Artt. 56 ff. EG vgl. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit, 2000, 184 f. 108 Vgl. aber auch EuGH, Verb. Rs. C-330/90 u. C-331/90 (Lopez Brea u. Hidalgo Palacios), Slg. 1992,1-323, Rn. 9. 109 Vgl. etwa Sack, EWS 1994, 37 ff. (44).

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licher Anwendungsbereich

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den können. 110 Die extensive Handhabung des transnationalen Elements durch den EuGH ist angesichts der hier vertretenen Verortung auf der Stufe des sachlichen Anwendungsbereichs gerechtfertigt. Durch dieses grobe Prüfraster können in einem ersten Schritt grundfreiheitsrelevante Sachverhalte von unbeachtlichen Fallkonstellationen abgeschichtet werden; die Feinsteuerung erfolgt anschließend auf der Beeinträchtigungs- und Rechtfertigungsebene.

3. Rückkehrerfälle

und andere Inländerbelastungen

Dem sachlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten unterfallen grundsätzlich auch die so genannten Rückkehrerfälle. 111 Diese zeichnen sich dadurch aus, dass eine Person zunächst in einem anderen Mitgliedstaat bestimmte berufliche Qualifikationen erwirbt und anschließend in ihren Heimatstaat zurückkehrt. 112 Die Voraussetzung des grenzüberschreitenden Bezugs ist in den Rückkehrerfällen erfüllt; 113 der sachliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten wird somit nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich die betreffende Person gerade gegenüber ihrem Heimatstaat auf den grundfreiheitlichen Schutz beruft. Dementsprechend werden diese Konstellationen vom Gerichtshof als grundfreiheitsrelevante Sachverhalte charakterisiert, wenn sich die Rückkehrer „aufgrund der Tatsache, daß sie rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates gewohnt und dort eine nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannte berufliche Qualifikation erworben haben, gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat in einer Lage befinden, die mit derjenigen aller anderen Personen, die in den Genuß der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist". 1 1 4 Ob eine solche Vergleichbarkeit im konkreten Fall vorliegt,

110

Vgl. in diesem Zusammenhang auch EuGH, Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst Sass), Slg. 2000, 1-151, Rn. 11 ff. In dem dortigen Vorabentscheidungsverfahren hielt der Kläger des Ausgangsverfahrens die Vorlagefrage für unzulässig, da dem betreffenden Sachverhalt der grenzüberschreitende Bezug fehle. Dieses Vorbringen wurde vom Gerichtshof zu Recht zurückgewiesen. Näher zu dieser Entscheidung Streinz, JuS 2000, 809 ff. (809 f.). 111 Vgl. zum Folgenden auch Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (269 f.); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (206); Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 139 ff. 112 Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (206); geringfügig abweichend Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 139. 113 Dies gilt nicht nur unter formalen Aspekten, sondern wird auch der vorgenannten funktionalen Bedeutung des transnationalen Elements gerecht. 114 So die st. Rspr.; vgl. EuGH, Rs. 115/78 (Knoors), Slg. 1979, 399, Rn. 24/26; EuGH, Rs. C-61/89 (Bouchoucha), Slg. 1990, 1-3551, Rn. 13; EuGH, Rs. C-19/92 (Kraus), Slg. 1993, 1-1663, Rn. 15; EuGH, Rs. C-107/94 (Asscher), Slg. 1996, 1-3089, Rn. 32. Im Ergebnis ebenso EuGH, Rs. 246/80 (Broekmeulen), Slg. 1981, 2311, Rn. 20;

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der Grundfreiheiten

ist indes keine Frage des (sachlichen) Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten, sondern muss auf der Beeinträchtigungsebene ermittelt werden. 115 Die genannten Rückkehrerfälle bilden nur einen besonderen Ausschnitt derjenigen Sachverhalte, in welchen Inländer durch Maßnahmen ihres Herkunftsstaates belastet werden. Allgemein gilt, dass Inländerbelastungen dem sachlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten nicht a priori entzogen sind. 116 Das transnationale Element der Grundfreiheiten ist auch dann berührt, wenn Inländern der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr durch Regelungen des Herkunftsstaates erschwert wird. 1 1 7 Für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit ergibt sich der grundfreiheitliche Prüfungsmaßstab in diesen Fällen aus der speziellen Vorschrift des Art. 29 EG. Mit Blick auf die übrigen Grundfreiheiten gilt nichts anderes; die Vorschriften der Artt. 39 f f , 43 f f , 49 ff. und 56 ff. EG sind diesbezüglich extensiv auszulegen.118 Jenes Verständnis der Grundfreiheiten als Ausfuhrfreiheiten wird vom EuGH anerkannt. 119

EuGH, Rs. C-419/92 (Scholz), Slg. 1994,1-505, Rn. 9; EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999,1-345 ff, Rn. 27. 115 Abweichend Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 19, der den sachlichen Anwendungsbereich und die Beeinträchtigungsebene der Grundfreiheiten insofern vermengt, als er Diskriminierungen aufgrund des Grenzübertritts anerkennt. Dagegen wiederum Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 139. 116 Davon zu trennen ist die Frage, ob bestimmte Fallkonstellationen nicht auf der Beeinträchtigungsebene von vornherein dem grundfreiheitlichen Prüfungsmaßstab entzogen sind; siehe dazu oben 2. Kapitel C. I I , S. 107 ff. 117 Vgl. Ehlers, Jura 2001,266 ff. (269). 118 Teilweise wird demgegenüber eine analoge Anwendung der grundfreiheitlichen Vorschriften vorgeschlagen; vgl. z.B. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 95, 108 u. 112. Hierfür besteht jedoch kein Bedürfnis, zumal entsprechende sekundärrechtliche Konkretisierungen existieren; vgl. etwa Art. 2 Abs. 1 der RL 73/148/EWG (AB1.EG 1973, Nr. L 72/14) u. Art. 2 Abs. 1 der RL 68/360/EWG (ABl. 1968, Nr. L 257/13). 119 Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 96 f. Für die Niederlassungsfreiheit vgl. EuGH, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483, Rn. 16. Für die Dienstleistungsfreiheit vgl. EuGH, Rs. C-70/95 (Sodemare), Slg. 1997, I3395, Rn. 37; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999, 1-2517, Rn. 11; EuGH, Rs. C55/98 (Vestergaard), Slg. 1999,1-7641, Rn. 20. Für die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs vgl. EuGH, Verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, 377, Rn. 34; EuGH, Verb. Rs. C-358/93 u. C416/93 (Bordessa), Slg. 1995, 1-361, Rn. 16 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-163/94, C-165/94 u.C-250/94 (Sanz de Lera), Slg. 1995,1-4821, Rn. 16 ff.

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licher Anwendungsbereich

265

III. Bereichsausnahmen Der sachliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten wird schließlich durch so genannte Bereichsausnahmen eingeschränkt. Hierunter fallen Regelungen des Primärrechts, welche bestimmte Sachverhalte in abstrakter Weise von der grundfreiheitlichen Prüfung ausnehmen.120 Innerhalb der Dogmatik der Grundfreiheiten sind die Bereichsausnahmen von den grundfreiheitlichen Rechtfertigungsgründen zu unterscheiden. Letztere begrenzen die Schutzwirkung der Grundfreiheiten nicht abstrakt, sondern ermöglichen eine Abwägung kollidierender Rechtsgüter im konkreten Fall. 121 Bei den tatbestandlichen Umschreibungen der Bereichsausnahmen handelt es sich um Begriffe des Gemeinschaftsrechts; sie sind daher spezifisch gemeinschaftsrechtlich zu interpretieren. 122 Mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit normiert Art. 39 Abs. 4 EG eine solche Bereichsausnahme. 123 Der dort genannte Begriff der „öffentlichen Verwaltung" ist eng auszulegen;124 „seine Tragweite [ist] auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist". 1 2 5 Danach unterfallen der öffentlichen Verwaltung im Sinne von Art. 39 Abs. 4 EG nur diejenigen Stellen, welche die unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse betreffen sowie auf die Wahrung allgemeiner Belange des Staates und anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind. 126 Hierzu gehören bei-

120

Vgl. nur Streinz, Rn. 697. Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (222); a.A. Ehlers, Jura 2001,482 ff. (482 f.). 122 Vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 99; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 EGV, Rn. 1; Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (483); Oppermann, Rn. 1535 u. 1625 a.E.; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 83; Streinz, Rn. 697. Aus der Rspr. vgl. EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 5 a.E; EuGH, Rs. 149/79 (Kommission/ Belgien), Slg. 1980, 3381, Rn. 18 f.; EuGH, Rs. C-473/93 (Kommisssion/Luxemburg), Slg. 1996,1-3207, Rn. 26. 123 Abweichend Jarass, EuR 1995, 202 ff. (221); ders, EuR 2000, 705 ff. (717), der die Vorschrift des Art. 39 Abs. 4 EG bei den grundfreiheitlichen Rechtfertigungsvorschriften erwähnt. Gegen diese Einordnung auf der Rechtfertigungsebene spricht bereits der eindeutige Wortlaut von Art. 39 Abs. 4 EG: „Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung"; Hervorh. d. Verf. 124 Vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 99; Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (483); Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 83. 125 So EuGH, Rs. 66/85 (Lawrie Blum), Slg. 1986, 2121, Rn. 26. Ähnlich bereits EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 4. 126 Vgl. EuGH, Rs. 149/79 (Kommission/Belgien), Slg. 1980, 3381, Rn. 10 f.; EuGH, Rs. 307/84 (Kommission/ Frankreich), Slg. 1986, 1725, Rn. 12; EuGH, Rs. 66/85 (Law121

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der Grundfreiheiten

spielsweise Polizei, Rechtspflege, Streitkräfte und sonstige Tätigkeiten der klassischen Eingriffsverwaltung. 127 Demgegenüber bleibt die Arbeitnehmerfreizügigkeit beachtlicher Prüfungsmaßstab für Lehrtätigkeiten im Bereich des Bildungswesens, Beschäftigungen im Rahmen ziviler Forschung, Versorgungsdienste für Wasser, Gas und Elektrizität sowie Anstellungsverhältnisse im Gesundheitswesen.128 Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang die rechtliche Ausgestaltung des betreffenden Beschäftigungsverhältnisses. 129 Eine der Vorschrift des Art. 39 Abs. 4 EG strukturell vergleichbare Bereichsausnahme enthält Art. 45 EG für die Niederlassungsfreiheit; 130 über Art. 55 EG ist diese auch im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit zu berücksichtigen. Tätigkeiten, welche in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, fallen danach aus dem sachlichen Anwendungsbereich der genannten Grundfreiheiten heraus. 131 Die „Ausübung öffentlicher Gewalt" im Sinne von Art. 45 EG ist enger gefasst als die „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" gemäß Art. 39 Abs. 4 EG. 132 Der Gerichtshof subsumiert unter Art. 45 EG lediglich solche „Tätigkeiten [...], die, in sich selbst betrachtet, eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der öffentlichen Gewalt darstellen". 133 Entscheidend ist dabei die Möglichkeit,

rie Blum), Slg. 1986, 2121, Rn. 27; EuGH, Rs. C-473/93 (Kommisssion/Luxemburg), Slg. 1996, 1-3207, Rn. 2; EuGH, Rs. C-173/94 (Kommission/Belgien), Slg. 1996, I3265, Rn. 2; EuGH, Rs. C-290/94 (Kommission/Griechenland), Slg. 1996, 1-3285, Rn. 2. 127 Vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39, Rn. 103 a.E.; Wölker, in: GTE, Art. 48, Rn. 120. 128 Zahlreiche Nachweise zur Rspr. des EuGH finden sich bei Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 103; Scheuer, iti: Lenz, Art. 39, Rn. 85. 129 Vgl. nur EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, Rn. 4; EuGH, Rs. 307/84 (Kommission/Frankreich), Slg. 1986, 1725, Rn. 11; EuGH, Rs. 225/85 (Kommission/Italien), Slg. 1987, 2625, Rn. 8; EuGH, Rs. C-473/93 (Kommisssion/Luxemburg), Slg. 1996,1-3207, Rn.31 u. 50. 130 Wiederum abweichend Jarass, EuR 1995, 202 ff. (221); ders, EuR 2000, 705 ff. (717). Siehe dazu bereits oben Fußn. 123; die dortigen Überlegungen gelten für die Vorschrift des Art. 45 EG analog. 131 Eingehend zur Interpretation dieser Bereichsausnahme etwa Streinz, in: Blaurock (Hrsg.), Binnenmarkt und freie Berufe, 1997, 57 ff, (65 f.). 132 Vgl. Oppermann, Rn. 1625. 133 So die Formulierung in EuGH, Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631, Rn. 44/45. Ähnlich EuGH, Rs. C-42/92 (Thijssen), Slg. 1993,1-4047, Rn. 8.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

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von Sonderrechten, Hoheitsprivilegien und Zwangsbefugnissen Gebrauch zu machen. 134 Keine Bereichsausnahmen stellen die vom Gerichtshof entwickelten Cassis Kriterien dar. 135 Die Rechtsprechung des EuGH ist mit Blick auf die dogmatische Einordnung dieser „immanenten Schranken" unklar. 136 Wie im Einzelnen noch näher darzulegen sein wird, sind die Qwsw-Kriterien innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik jedoch nicht der Tatbestandsebene zuzuordnen, sondern stattdessen als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zu klassifizieren.

B. Persönlicher Anwendungsbereich Ist der sachliche Anwendungsbereich einer Grundfreiheit eröffnet, so unterliegt eine mitgliedstaatliche Maßnahme dem grundfreiheitlichen Prüfungsmaßstab nur dann, wenn die betroffenen Rechtssubjekte eine bestimmte Qualität aufweisen. Welche Rechtssubjekte sich auf die Gewährleistungen der Grundfreiheiten berufen können, ist auf der Prüfungsstufe des persönlichen Anwendungsbereichs zu ermitteln. 137 Dies setzt zunächst ein Verständnis der Grundfreiheiten als subjektive Rechte voraus (I.). Im Übrigen ist zwischen natürlichen Personen einerseits (II.) sowie juristischen Personen und Personenmehrheiten andererseits (III.) zu differenzieren.

134

Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 EGV, Rn. 6 mit Verweis auf GA Mayras, Schlussanträge in der Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631 (664). 135 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (483) mit Nachweisen auch zu abweichenden Ansichten. 136 Vgl. einerseits EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8; andererseits EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 105 ff. u. 121 ff.; EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, 1-4165, Rn. 37; Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C36/95 (De Agostini), Slg. 1997, 1-3843, Rn. 46; EuGH, Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997,1-3689, Rn. 18. 137 Der Begriff des persönlichen Anwendungsbereichs bzw. Geltungsbereichs wird im europarechtlichen Schrifttum allgemein verwendet; vgl. nur Jarass, EuR 2000, 705 ff. (707 f.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 78; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 141; Oppermann, Rn. 1512; Streinz, Rn. 660.

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der Grundfreiheiten

I. Vorbemerkung: Die Grundfreiheiten als subjektive Rechte Für die praktische Prüfung der Grundfreiheiten kommt es entscheidend darauf an, ob sich die von einer mitgliedstaatlichen Maßnahme betroffenen Rechtssubjekte auf die grundfreiheitliche Schutzwirkung berufen können. 138 Maßgeblich ist hier die teleologische Ausrichtung der Grundfreiheiten; diese können objektiv-rechtliche Gewährleistungen enthalten oder aber subjektive Rechte vermitteln. 139 Schlagwortartig formuliert: Zielen die Grundfreiheiten auf die (objektive) Freiheit des Marktes oder auf die (subjektive) Freiheit des Marktbürgers? Der Begriff des subjektiven Rechts kennzeichnet die Rechtsmacht des Einzelnen, von einem Normverpflichteten ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen zu fordern. 140 Solche subjektiven Rechte sind im Bereich zwischenstaatlicher Verträge selten; 141 entsprechend dem im Völkerrecht geltenden Grundsatz der Mediatisierung werden dort meist nur die Unterzeichnerstaaten berechtigt und verpflichtet. 142 Mit Blick auf den völkerrechtlichen Ursprung des Gemeinschaftsrechts ist daher ein möglicher subjektiv-rechtlicher Charakter der Grundfreiheiten näher zu begründen. 143 In diesem Zusammenhang darf der Begriff des subjektiven Rechts nicht mit der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheiten verwechselt werden. 144

138

Vgl. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 20. Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen im Bereich der Grundfreiheiten vgl. z.B. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (488 f.). 139 Vgl. zu dieser Dichotomie auch Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 ff. (263). 140 Vgl. aus der deutschen privat- und öffentlich-rechtlichen Literatur Larenz/Wolf § 13, Rn. 24; Maurer, § 8, Rn. 2. Mit Blick auf die Grundfreiheiten des EG-Vertrages ähnlich Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (267). 141 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 24. 142 Näher dazu Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rn. 927. Zum Individualrechtsschutz im Völkerrecht vgl. auch Ipsen, Völkerrecht, 668 ff. 143 Eingehend zum völkerrechtlichen Ursprung des Gemeinschaftsrechts Streinz, Rn. 107 ff. m.w.N. 144 In der Literatur wird diesbezüglich nicht immer hinreichend genau differenziert; vgl. etwa Ahlt, 16; Herdegen, Rn. 167. Zutreffend dagegen Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (267); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 23 f, Fußn. 22.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

269

7. Exkurs: Die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten Mit dem Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit 145 wird vorliegend die Qualität rechtlicher Bestimmungen verstanden, unmittelbar Rechte und Pflichten für Individuen begründen zu können. 146 Ausgehend von der im Völkerrecht wurzelnden Differenzierung zwischen Vorschriften mit self-executingCharakter und non-self-executing-Normen, 147 ist die unmittelbare Anwendbarkeit nur dann zu bejahen, wenn die entsprechende Regelung unbedingt und inhaltlich hinreichend bestimmt ist. 148 Zudem darf die jeweilige Vorschrift nicht an eine Umsetzungsfrist gebunden sein. 149 Nachdem die Übergangszeit des damaligen Art. 7 EGV abgelaufen ist, 150 wird die unmittelbare Anwendbarkeit der grundfreiheitlichen Vorschriften inzwischen allgemein anerkannt. 151 Die Bestimmungen der Artt. 28 f f , 39 f f , 43 f f , 49 ff. und 56 ff. EG besitzen self-executing-Charakter und bedürfen keines weiteren Konkretisierungsaktes. Angesichts der früheren Formulierung des Art. 67 EWGV war dies für die Kapital Verkehrsfreiheit zwar umstritten; 152 die neue Fassung des Art. 73b EGV (jetzt Art. 56 EG) beseitigte jedoch mit Wirkung zum 1.1.1994 entsprechende Divergenzen im grundfreiheitlichen Anwendungsbereich. 153 Die unmittelbare Anwendbarkeit sämtlicher Grundfreiheiten wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt. 154

145

Teilweise wird hier das Synonym der „unmittelbaren Wirkung" bzw. „unmittelbaren Wirksamkeit" verwandt; vgl. etwa Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 1; Η inter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 62; Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); Streinz, Rn. 349. Zur Terminologie in der Rspr. des Gerichtshofs vgl. GA Tesauro, Schlussanträge in der Rs. 58/93 (Yousfi), Slg. 1994,1-1353, Rn. 4. 146 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (267); Oppermann, Rn. 629; Streinz, Rn. 349. 147 Dazu etwa Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 438; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rn. 556 ff. 148 Die normative Wirkung darf mithin „nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen"; so EuGH, Rs. 12/86 (Demirel), Slg. 1987, 3719, Rn. 14. 149 Vgl. Haag, in: BBPS, Rn. 419 ff. 150 Näher z.B. Schweitzer/Hummer, Rn. 1059 f. 151 Vgl. statt aller nur Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 20 f. 152 Vgl. zum Streitstand Ress, in: Grabitz/Hilf (Archivband II), Art. 67 EWGV, Rn. 11. 153 Zur historischen Entwicklung der Freiheit des Kapital Verkehrs Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 1 ff. 154 Für die Warenverkehrsfreiheit z.B. EuGH, Rs. 74/76 (Ianelli u. Volpi), Slg. 1977, 557, Rn. 13. EuGH, Rs. 83/78 (Pigs Marketing Board), Slg. 1978, 2347, Rn. 66/67;

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2. Anhaltspunkte für ein subjektiv-rechtliches

der Grundfreiheiten

Verständnis der Grundfreiheiten

Die Diskussion eines subjektiv-rechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten hat sich in erster Linie an den Vorschriften des Vertragstextes zu orientieren. 155 Anschließend ist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs einzugehen.156

a) Vertragstext Die grundfreiheitlichen Bestimmungen des EG-Vertrages offenbaren im Hinblick auf ihren Wortlaut primär einen prohibitiven Charakter. Dies gilt für sämtliche Grundfreiheiten: Mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung „sind [...] verboten. 157 Art. 39 Abs. 2 EG gebietet die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer". 158 Beschränkungen der freien Niederlassung sowie des freien Dienstleistungs-, Kapital- und Zahlungsverkehrs „sind [...] verboten". 159 Ausweislich des Vertragstextes rückt damit die

EuGH, Rs. 222/82 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1983, 4083, Rn. 37; EuGH, Rs. C-47/90 (Delhaize), Slg. 1992,1-3669, Rn. 28; EuGH, Verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 (Brasserie du Pêcheur u. Factortame), Slg. 1996,1-1029, Rn. 54. Für die Dienstleistungsfreiheit z.B. EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299, Rn. 27; EuGH, Rs. 220/83 (Kommission/Frankreich), Slg. 1986, 3663, Rn. 16; EuGH, Rs. 252/83 (Kommission/Dänemark), Slg. 1986, 3713, Rn. 16; EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1986, 3755, Rn. 25; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999,1-2517, Rn. 27. Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit z.B. EuGH, Rs. 41/74 (von Duyn), Slg. 1974, 1337, Rn. 5/7; EuGH, Rs. 48/75 (Royer), Slg. 1976, 497, Rn. 19/23; EuGH, Rs. C415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 93; EuGH, Rs. C-90/96 (Petrie), Slg. 1997, I6527, Rn. 28. Für die Niederlassungsfreiheit z.B. EuGH, Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631, Rn. 52. EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971, Rn. 10. Für die Freiheiten des Kapital- u. Zahlungsverkehrs z.B. EuGH, Verb. Rs. ΟΙ 63/94, C-l65/94 u.C-250/94 (Sanz de Lera), Slg. 1995, 1-4821, Rn. 47. Anders noch EuGH, Rs. 203/80 (Casati), Slg. 1981, 2596, Rn. 10 ff. 155 Siehe bereits oben 1. Kapitel Β. I , S. 49 ff. 156 Zur judikativen Leitlinie im Rahmen dogmatischer Untersuchungen siehe oben 1. Kapitel Β. I I , S. 55 ff. 157 Vgl. Artt. 28 u. 29 EG. 158 Hervorh. d. Verf. 159 Vgl. Artt. 43 Abs. 1 S.l, 49 Abs. 1, 56 Abs. 1 u. 2 EG.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

271

objektiv-rechtliche Komponente der Grundfreiheiten in den Vordergrund. 160 Die grundfreiheitlichen Vorschriften „begründen auf den ersten Blick keine Rechte des einzelnen, sondern an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbote und Handlungsaufträge". 161 Zumindest im Hinblick auf personenbezogene Aspekte enthält der EGVertrag jedoch auch Anhaltspunkte für einen subjektiv-rechtlichen Charakter der Grundfreiheiten. 162 So wird gemäß Art. 39 Abs. 1 EG „die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet"; nach Art. 39 Abs. 3 EG gibt diese „den Arbeitnehmern das Recht", bestimmte Aspekte der Freizügigkeit in Anspruch zu nehmen. Auch die Artt. 43 ff. EG sind nicht nur prohibitiv ausgestaltet; gemäß Art. 43 Abs. 2 EG „umfaßt die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen". Bezüglich der Dienstleistungsfreiheit ist Art. 50 Abs. 3 EG zu beachten; danach „kann der Leistende [...] seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird". Ein Verständnis sämtlicher Grundfreiheiten als subjektive Rechte ist letztlich notwendige Folge der teleologischen Interpretation des Vertragstextes. 163 Die grundfreiheitlichen Vorschriften sind auf das Funktionieren des Binnenmarktes gerichtet. 164 Damit wird indes nicht nur auf den Markt als solchen, sondern auch auf die Marktbürger Bezug genommen.165 Bestätigt wird diese Einbeziehung der Marktbürger in das Binnenmarktkonzept durch die Präambel des EG-

160

Dieser Befund lässt sich durch einen Blick in die nationale Rechtsordnung verdeutlichen. Nach deutschem Recht ist die (nicht gerechtfertigte) Beschädigung einer fremden Sache verboten, vgl. § 303 Abs. 1 StGB, § 823 Abs. 1 BGB. Während die zivilrechtliche Bestimmung des § 823 Abs. 1 BGB dem Geschädigten ein (subjektives) Recht auf Schadensersatz vermittelt („ist dem anderen zum Ersätze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet"), besitzt § 303 Abs. 1 StGB einen objektiv-rechtlichen Gehalt: „Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird [...] bestraft." 161 Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 146; Hervorh. d. Verf. 162 Die normative Verknüpfung von objektiv-rechtlichen und subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen ist nicht ungewöhnlich; vgl. für das vorgenannte Beispiel der Sachbeschädigung nur § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 303 Abs. 1 StGB. 163 Ebenso i.E. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (267); Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 147. Vgl. darüber hinaus die kompetentielle Betrachtungsweise bei Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 26 ff. 164 Siehe bereits oben 3. Kapitel Β. I , S. 122 ff. sowie 1. Kapitel Β. I. 2. b), S. 52. 165 Vgl. - für den Gemeinsamen Markt - bereits EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1,24.

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der Grundfreiheiten

Vertrages; 166 auch die durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft unterstreicht die Bedeutung der einzelnen Staatsangehörigen für die Gemeinschaft. 167 Im Ergebnis vermitteln daher nicht nur die Personenverkehrsfreiheiten, sondern sämtliche Grundfreiheiten des EG-Vertrages subjektive Rechte. 168

b) Rechtsprechung In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der subjektiv-rechtliche Charakter der Grundfreiheiten anerkannt. 169 Dies gilt inzwischen auch für die Freiheit des Kapitalverkehrs, 170 nachdem der früheren Vorschrift des Art. 67 EWGV keine subjektiven Rechtspositionen entnommen wurden. 171 Mit Blick auf die judikative Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird dem EuGH teilweise eine Tendenz zur objektiv-rechtlichen Sichtweise unterstellt. 172 Hieran ist richtig, dass der Gerichtshof im Rahmen der grundfreiheitlichen Prüfung häufig auf den „Binnenhandel der Gemeinschaft", 173 nicht aber auf subjektive Rechte der Wirtschaftsteilnehmer rekurriert. Angesichts der grundlegenden Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil van Gend & Loos,174 welche sich „wie eine magna charta des subjektiv-öffentlichen Rechts im pri-

166

Diese bezieht sich nicht nur auf die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien, sondern auch auf deren Völker; vgl. hierzu den ersten, dritten, achten und neunten Erwägungsgrund der Präambel des EG-Vertrages. 167 Zur Einführung der Unionsbürgerschaft vgl. nur Streinz, Rn. 54. 168 Für die Warenverkehrsfreiheit vgl. beispielhaft Donner, SEW 1982, 362 ff. (363); Hödl, Verkaufsbehindernde Maßnahmen, 1997, 52; Reich, Europäisches Verbraucherschutzrecht, 1993, 56; Schiller, RIW 1980, 569 ff. (569). 169 Vgl. aus der älteren Entscheidungspraxis nur EuGH, Rs. 118/75 (Watson u. Belman), Slg. 1976, 1185, Rn. 11/12; EuGH, Rs. 74/76 (Ianelli u. Volpi), Slg. 1977, 557, Rn. 13; EuGH, Rs. 83/78 (Pigs Marketing Board), Slg. 1978, 2347, Rn. 66/67. 170 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-163/94, C-165/94 u.C-250/94 (Sanz de Lera), Slg. 1995, 1-4821, Rn. 43. 171 Zur früheren Rechtslage vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 3 mit Verweis auf EuGH, Rs. 203/80 (Casati), Slg. 1981, 2596, Rn. 10 ff. 172 Vgl. z.B. Schilling, EuR 1994, 50 ff. (54): „Die Rechtsprechung erweckt damit den Eindruck, es stehe der Schutz des objektiven Rechtsguts 'Binnnenhandel der Gemeinschaft', nicht aber der eines darauf basierenden subjektiven Rechts in Frage". 173 Dies ist die ständige Formulierung seit EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8. 174 Vgl. EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 24.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

273

mären Gemeinschaftsrecht [lesen]", 175 kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass der EuGH den Binnenmarkt auch als eine Gesamtheit individueller Schutzräume versteht. 176 Zwar betrifft jene Entscheidung nicht unmittelbar die Grundfreiheiten; 177 die Urteilsbegründung kann jedoch als argumentative Grundlage für die subjektiv-rechtliche Sichtweise des EuGH im Bereich der Grundfreiheiten angesehen werden. 178 Verknüpft man die Interpretation des Vertragstextes mit den vorgenannten Aussagen des Gerichtshofs, so ist zusammenfassend von einem subjektivrechtlichen Verständnis sämtlicher Grundfreiheiten des EG-Vertrages auszugehen.

II. Natürliche Personen Die Erkenntnisse des vorangegangenen Abschnittes implizieren Folgerungen für den persönlichen Anwendungsbereich der grundfreiheitlichen Vorschriften. Betont man den subjektiv-rechtlichen Charakter der Grundfreiheiten, 179 so bilden die natürlichen Personen primär den Kreis der Berechtigten. 180 Diese Aussage ist - auch im Hinblick auf mögliche konvergente Strukturen innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik - nachfolgend zu konkretisieren.

175

So die treffende Kennzeichnung von Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 24. 176 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (267). 177 Vgl. EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 24. 178 Vgl. Hoffmann , Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 20. 179 Diese Sichtweise schließt es nicht aus, den Grundfreiheiten auch eine objektivrechtliche Geltung beizumessen; siehe bereits oben 1,2, a, bei Fußn. 162. Ebenso Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (272); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (211); a.A. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 200. 180 Der Terminus der „Berechtigten" wird überwiegend gebraucht; vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (272); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 31; Streinz, Rn. 662; Weber, in: Lenz, Art. 56, Rn. 24. Ohne Unterschied in der Sache werden die Berechtigten der Grundfreiheiten darüber hinaus als „Rechtsinhaber" oder „Träger der Grundfreiheiten" bezeichnet; vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 78. 18 Mühl

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der Grundfreiheiten

1. Grundsatz Soweit die Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften im Einzelnen nichts anderes bedingt, unterfällt grundsätzlich jede natürliche Person dem persönlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Unbeachtliche Kriterien sind in diesem Zusammenhang insbesondere das Alter oder die Geschäftsfähigkeit einer Person. 181 Es existiert kein Rechtssatz, wonach der Kreis der Berechtigten der Grundfreiheiten von vornherein gewissen Einschränkungen unterliegt. Die vertraglichen Vorschriften betreffend die Warenverkehrsfreiheit enthalten ihrem Wortlaut nach keine Anhaltspunkte für ein Abweichen von dem vorgenannten Grundsatz. 182 Sie knüpfen gegenständlich an das Objekt „Ware" an, 183 schränken den persönlichen Anwendungsbereich der Warenverkehrsfteiheit indes nicht ausdrücklich ein. 184 Demgegenüber postulieren manche Stimmen im europarechtlichen Schrifttum eine Verengung des persönlichen Anwendungsbereichs der Artt. 28 ff. EG; danach sollen nur die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten Berechtigte der Warenverkehrsfreiheit sein. 185 Zur Begründung wird auf die Vorschrift des Art. 310 EG verwiesen. 186 Indem die Warenverkehrsfreiheit Gegenstand eines Assoziationsabkommens im Sinne von Art. 310 EG sein könne, wäre es systemwidrig, Drittstaatler bereits in den persönlichen Anwendungsbereich der Artt. 28 ff. EG einzubeziehen.187 Hieran ist allein richtig, dass der freie Warenverkehr Regelungsgegenstand von Assoziationsabkommen sein kann und in der Praxis entsprechende Abkommen bestehen. 188 Solche Vorschriften bezwecken jedoch nicht die Ausdehnung des per-

181

Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273). Mit Ausnahme der Sonderschrift des Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 EG werden in den Artt. 28 ff. EG personale Aspekte nicht erwähnt. 183 Vgl. Streinz, Rn. 660 unter Bezugnahme auf Art. 23 Abs. 2 EG. 184 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208); ders., EuR 2000, 705 ff. (708); Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 172. 185 So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 79 f.; ders./Störmer, EuR 1998, 263 ff. (274 f.). 186 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 79. 187 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 79; ders./Störmer, EuR 1998, 263 ff. (274 f.). 188 Vgl. hierzu die so genannnten Europaabkommen mit Bulgarien (ABl.EG 1994, Nr. L 358), Estland (ABl.EG 1998, Nr. L 68), Lettland (ABl.EG 1998, Nr. L 26), Litauen (ABl.EG 1998, Nr. L51), Polen (ABl.EG 1993, Nr. L 348), Rumänien (ABl.EG 1994, Nr. L 357), Slowakei (ABl.EG 1994, Nr. L 359), Slowenien (ABl.EG 1999, 182

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

275

sönlichen Anwendungsbereichs auf Drittstaatler, sondern dienen dazu, andere als die in Art. 23 Abs. 2 EG genannten Waren den Freiverkehrsregeln zu unterstellen. 189 Gegen eine Beschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs der Warenverkehrsfreiheit spricht zudem die teleologische Interpretation der Artt. 28 f f EG: 1 9 0 Die Warenverkehrsfreiheit regelt den Marktzugang für bestimmte Waren; 191 stellte man hier auf die Staatsangehörigkeit der Wirtschafitsteilnehmer ab, würde jener Normzweck verfehlt. 192 Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des EuGH. Beispielsweise gilt die tatbestandliche Rückausnahme des vielzitierten A^cA:-Urteils für solche nationale Regelungen, welche „den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren". 193 Gegenüber dem weitreichenden Wortlaut der Artt. 28 ff. EG lässt sich somit ein eingeschränkter persönlicher Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit nicht überzeugend begründen. 194 Gleiches gilt für die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs. 195 Die Vorschriften der Artt. 56 ff. EG enthalten keine Tatbestandsmerkmale mit personalem Bezug, welche auf ein restriktives Verständnis des persönlichen Anwendungsbereichs hindeuten. Insbesondere kommt es angesichts der grundfreiheitlichen Zielrichtung in diesem Bereich nicht auf die Staatsangehörigkeit der beteiligten Wirtschaftsteilnehmer an. 196 In persönlicher Hinsicht erfassen die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs daher alle natürlichen Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder Ansässigkeit. 197

Nr. L51), Tschechien (ABl.EG 1994, Nr. L 360) und Ungarn (ABl.EG 1993, Nr. L 347). 189 Vgl. beispielhaft Artt. 8 ff. des Europaabkommens mit Polen. 190 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 173. 191 Siehe zum Verständnis der Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte bereits oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa), bei Fußn. 90. 192 Hinsichtlich des Marktzugangs von Waren ist es ohne Bedeutung, ob ein Angehöriger eir.es Mitgliedstaats oder ein Drittstaatler jene Waren in den innergemeinschaftlichen Verkehr bringt. 193 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, I6097, Rn. 16; Hervorh. d. Verf. 194 Ebenso i.E. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208); ders., EuR 2000, 705 ff. (708); Oliver, Free Movements of Goods in the EEC, 1996, 22 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 171 ff.; Epiney, in: BBPS, Rn. 730 f.; Streinz, Rn. 661. 195 Abweichend, aber ohne nähere Begründung, Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208). 196 Vgl. nur Streinz, Rn. 663. 197 Vgl. Kiemel, in: GTE, Art. 73b, Rn. 10 ff.; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Art. 56, Rn. 73; Weber, in: Lenz, Art. 56, Rn. 24. 1

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nunge

der Grundfreiheiten

2. Restriktionen Die übrigen Grundfreiheiten des EG-Vertrages sind in ihrem persönlichen Anwendungsbereich hingegen enger zu interpretieren. 198 In den vertraglichen Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit erscheinen insofern die Staatsangehörigkeit sowie die Ansässigkeit als maßgebliche Kriterien. 199

a) Staatsangehörigkeit Der persönliche Anwendungsbereich der vorgenannten Grundfreiheiten beschränkt sich zunächst auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten.200 Für die Niederlassungsfreiheit und die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs folgt dies unmittelbar aus dem Wortlaut der grundfreiheitlichen Bestimmungen:201 Art. 43 Abs. 1 S. 1 EG betrifft die freie Niederlassung von „Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats"; Art. 49 Abs. 1 EG beschränkt den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit auf „Angehörige der Mitgliedstaaten". 202 Weniger deutlich sind die Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. 203 Jedoch knüpft Art. 39 Abs. 2 EG an das Merkmal der Staatsangehörigkeit an; 204 auch bezieht sich diese Bestimmung auf „Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten". Sekundär-

198

Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208); ders, EuR 2000, 705 ff (708); Streinz, Rn. 661. 199 Vgl. Artt. 39 Abs. 2,43 Abs. 1,49 Abs. 1 u. 2 EG. 200 Ebenso Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 7; Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 31; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 8 ff. 201 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 78. 202 In der Judikatur wird diese Vorgabe nicht immer hinreichend beachtet; vgl. etwa EuGH, Rs. C-484/93 (Svensson), Slg. 1995, 1-3955, Rn. 2 u. 12 ff. Der EuGH wendet dort die Dienstleistungsfreiheit ohne weiteres auf schwedische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Luxemburg an, obwohl der Rechtsstreit schon vor dem Beitritt Schwedens zur Union anhängig wurde. Zur mangelnden Rückwirkung der Grundfreiheiten auf die Zeit vor dem Beitritt vgl. EuGH, Rs. C-464/98 (Westdeutsche Landesbank), Slg. 2001, 1-173, Rn. 21. 203 Näher hierzu auch Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 8. 204 Zur teleologischen Auslegung von Art. 39 Abs. 2 EG vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 78 f.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

rechtliche Konkretisierungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit restriktive Interpretation von Art. 39 EG. 205

277

bestätigen die

Natürliche Personen mit mehreren Staatsangehörigkeiten genießen keinen geringeren grundfreiheitlichen Schutz, sofern sie nur die Staatsangehörigkeit mindestens eines Mitgliedstaates besitzen.206 Zum einen kann hier die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates mit der eines Drittstaates zusammentreffen; 207 zum anderen kann die betreffende Person Angehörige mehrerer Mitgliedstaaten sein. 208 Dabei spielt es keine Rolle, zu welchem Zeitpunkt bzw. auf welche Art und Weise die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates erworben wurde. 209 Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit kann unter den Voraussetzungen des Art. 49 Abs. 2 EG vom Erfordernis der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates abgesehen werden. Danach besteht die Möglichkeit, Drittstaatler in den persönlichen Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit einzubeziehen, wenn sie innerhalb der Gemeinschaft ansässig sind. Hiervon wurde bislang allerdings kein Gebrauch gemacht.210 Besonderheiten gelten schließlich für Familienangehörige der von den Grundfreiheiten primär berechtigten Personen. 211 Auch wenn diese nicht selbst die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzen, können sie dennoch einer derivativen grundfreiheitlichen Schutzwirkung unterfallen. 212 Der Ge-

205

Vgl. insb. Art. 1 Abs. 1 u. Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 1612/68: „Staatsangehörige eines Mitgliedstaats". 206 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); Scheuer, in: Lenz, Art. 43, Rn. 3. 207 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992,1-4239, Rn. 11. 208 Zu dieser Konstellation vgl. EuGH, Rs. 292/86 (Gullung), Slg. 1988, 111, Rn. 10 ff. 209 Vgl. nur EuGH, Rs. 136/78 (Auer), Slg. 1979,437, Rn. 28. 210 Vgl. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 3; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 32. 211 Hierzu auch Scheuer, in: Lenz, Art. 43, Rn. 3 a.E.; Streinz, Rn. 661. Vgl. zu dieser Materie auch den Vorschlag der Kommission für eine RL betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, Dok. KOM (2002), 225 endg. sowie den Vorschlag der Kommission für eine RL über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten; Dok. KOM (2001), 257 endg. 212 Aus der Rspr. des Gerichtshofs z.B. zur VO Nr. 1408/71 vgl. nur EuGH, Rs. 40/76 (Kermaschek), Slg. 1976, 1669, Rn. 6 ff.; EuGH, Rs. 94/84 (Deak), Slg. 1985, 1873, Rn. 9 ff; EuGH, Rs. 157/84 (Frascogna), Slg. 1985, 1739, Rn. 15; EuGH, Rs. 147/87 (Zaoui), Slg. 1987, 5511, Rn. 10 ff; EuGH, Rs. C-78/91 (Hughes), Slg. 1992,1-

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nunge

der Grundfreiheiten

richtshof legt die primärrechtlichen Vorschriften der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit insofern extensiv aus; 213 teilweise werden auch diesbezügliche Bestimmungen des Sekundärrechts mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend weit interpretiert. 214 In seiner jüngeren Rechtsprechung hinsichtlich der Dienstleistungsfreiheit kombiniert der EuGH die Vorschrift des Art. 49 EG mit dem Grundrecht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK; 2 1 5 einschlägige sekundärrechtliche Vorgaben bleiben dort im Ergebnis unbeachtet.216

b) Ansässigkeit Weitergehende Anforderungen normieren die vertraglichen Bestimmungen betreffend die Niederlassungsfreiheit sowie die Dienstleistungsfreiheit. Der persönliche Anwendungsbereich dieser Grundfreiheiten wird noch stärker eingeschränkt, indem dort auf das Kriterium der Ansässigkeit Bezug genommen wird. 2 1 7 Gemäß Art. 43 Abs. 1 S. 2 EG ist die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften nur dann durch die (sekundäre) Niederlassungsfreiheit geschützt, wenn der betreffende Wirtschaftsteilnehmer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig ist. 218 Danach kann sich ein Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Drittstaat zwar auf Art. 43 EG berufen, wenn er sich selbst in einem Mitgliedstaat niederlassen möchte; die sekundäre Niederlassungsfreiheit erreicht ihn jedoch nicht. 219 Das Erfordernis der Ansässig-

4839, Rn. 23 ff.; EuGH, Rs. C-243/91 (Taghavi), Slg. 1992, 1-4401, Rn. 7; EuGH, Rs. C-310/91 (Schmid), Slg. 1993,1-3011, Rn. 12 f. Teilweise rekurriert der Gerichtshof auf originäre Rechte der Familienangehörigen; vgl. etwa EuGH, Rs. C-308/93 (Cabanis-Issarte), Slg. 1996, 1-2109, Rn. 27 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-245/94 u. C-312/94 (Hoever u. Zachow), Slg. 1996,1-4895, Rn. 32; EuGH, Rs. C-l85/96 (Kommission/Griechenland), Slg. 1998,1-6601, Rn. 28. 213 Vgl. EuGH, Rs. C-370/90 (Surinder Singh), Slg. 1992,1-4265, Rn. 23. 214 Vgl. jüngst EuGH, Rs. C-459/99 (MRAX), Slg. 2002,1-6591, Rn. 53 ff. mit Verweis auf EuGH, Rs. 48/75 (Royer), Slg. 1976,497, Rn. 12/15. 215 Vgl. EuGH, Rs. C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002,1-6279, Rn. 40 ff. 216 Vgl. EuGH, Rs: C-60/00 (Carpenter), Slg. 2002,1-6279, Rn. 31 ff. Krit. dazu Egger, EuZW 2002, 606 f. (607). 217 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (708). 218 Zum Begriff der durch Art. 43 Abs. 1 S. 2 EG umschriebenen „sekundären Niederlassungsfreiheit" vgl. nur Oppermann, Rn. 1591; Scheuer, in: Lenz, Art. 43, Rn. 3. 219 Vgl. auch Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 18; Schweitzer/Hümmer, Rn. 1166.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

279

keit korrespondiert in diesen Fällen mit dem notwendigen grenzüberschreitenden Bezug. 220 Vergleichbare Einschränkungen des persönlichen Anwendimgbereichs bestehen im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit. 221 Für den Erbringer einer Dienstleistung ergibt sich dies bereits aus dem Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 EG. 2 2 2 Darüber hinaus muss auch der Dienstleistungsempfänger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sein. 223 Vereinzelt wird dies zwar bestritten; 224 die notwendige Ansässigkeit des Leistungsempfängers folgt jedoch bereits aus der Berücksichtigung eines transnationalen Elements innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung. 225

3. Erbringer

und Empfänger wirtschaftlicher

Leistungen

Auf der Stufe des persönlichen Anwendungsbereichs ist die Frage zu diskutieren, ob die Grundfreiheiten sowohl den Erbringer als auch den Empfänger wirtschaftlicher Leistungen schützen.226 Die Vorschriften des EG-Vertrages sind diesbezüglich unterschiedlich ausgestaltet.227 Während die Artt. 28 ff. EG sowie die Artt. 56 ff. EG in ihrem Wortlaut nicht zwischen Leistungserbringer und -empfänger differenzieren, betrifft die Arbeitnehmerfreizügigkeit expressis verbis nur „Arbeitnehmer" als Erbringer wirtschaftlicher Leistungen; 228 die

220

Zur Prüfung des transnationalen Elements im Rahmen der Niederlassungsfreiheit siehe oben Α. II. 2, bei Fußn. 103. 221 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (708); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 31. 222 Danach gilt die Dienstleistungsfreiheit für „Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers sig sind"; Hervorh. d. Verf. 223 Ebenso Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 31; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 49/50, Rn. 18; Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EUWirtschaftsrechts, E.I, Rn. 115; Troberg, in: GTE, Art. 59, Rn. 43. 224 Vgl. etwa Völker, Passive Dienstleistungsfreiheit, 1990, 198 f. 225 Ohne die Ansässigkeit des Dienstleistungsempfängers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ist die notwendige Überschreitung einer innergemeinschaftlichen Grenze nicht gewährleistet; siehe dazu bereits oben Α. II. 2 , bei Fußn. 105. 226 Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); ders, EuR 2000, 705 ff. (708). 227 Die folgenden Ausführungen lassen die Niederlassungsfreiheit gem. Artt. 43 ff. EG unberücksichtigt; dort lässt sich begrifflich nicht zwischen Erbringer und Empfänger der wirtschaftlichen Leistung differenzieren. 228 Vgl. Art. 39 Abs. 1, 2 u. 3 EG, Art. 40 Abs. 1 EG sowie Art. 42 EG. Die gleiche Zielrichtung betont Art. 41 EG: „Arbeitskräfte".

ans

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der Grundfreiheiten

Artt. 49 ff. EG beziehen sich dagegen sowohl auf „Erbringer von Dienstleistungen" bzw. „Leistende" als auch auf „Leistungsempfänger". 229 Trotz der divergenten Strukturen im Vertragstext schützen sämtliche der vorgenannten Grundfreiheiten Erbringer und Empfänger wirtschaftlicher Leistungen gleichermaßen. 230 So kann sich nach der Rechtsprechung des EuGH auch ein Arbeitgeber auf die Artt. 39 ff. EG berufen; 231 ebenso unterfallen zum Beispiel Patienten oder Touristen als Dienstleistungsempfänger dem Schutzbereich der Artt. 49 ff. EG. 2 3 2 Diese Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften ist sachgerecht und gilt gleichermaßen für die Warenverkehrsfreiheit. 233 Andernfalls ließen sich die Grundfreiheiten leicht dadurch umgehen, dass eine bestimmte Regelungswirkung nicht an die Person des Leistungserbringers, sondern an den Empfänger der wirtschaftlichen Leistung geknüpft wird. 2 3 4 Zur dogmatischen Begründung kann auf die Verbraucherschutzfunktion der Grundfreiheiten rekurriert werden. 235

4. Konvergenz der Grundfreiheiten? Konvergente Strukturen der Grundfreiheiten bestehen hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs insoweit, als sämtlichen Grundfreiheiten ein subjektiv-rechtlicher Charakter zukommt. 236 Die bisherigen Ausführungen offenbaren aber auch verbleibende Differenzierungen, welche sich mit der

229 Vgl. einerseits Artt. 49 Abs. 2 u. 50 Abs. 3 EG, andererseits Art. 49 Abs. 1 EG. Anders als der Leistungserbringer i.S.v. Artt. 49 Abs. 2 u. 50 Abs. 3 EG ist der Leistungsempfänger in Art. 49 Abs. 1 EG jedoch nicht ausdrücklich als Berechtigter der Dienstleistungsfreiheit genannt. 230 Krit. - im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit - Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 81. Wie hier Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); ders., EuR 2000, 705 ff. (708). 231 Vgl. EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521, Rn. 19 ff. 232 Vgl. EuGH, Verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, 377, Rn. 10; EuGH, Rs. C-45/93 (Kommission/Spanien), Slg. 1994, 1-911, Rn. 5 ff.; EuGH, Rs. C-l58/96 (Kohll), Slg. 1998,1-1931, Rn. 35. 233 Für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit vgl. auch Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 27 m.w.N. 234 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die bestehenden sekundärrechtlichen Bestimmungen, z.B. Art. 2 der VO Nr. 1612/68 bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit. 235 Vgl. EuGH, Rs. 215/87 (Schumacher), Slg. 1989, 617, Rn. 13; EuGH, Rs. C362/88 (GB-INNO), Slg. 1990, 1-667, Rn. 8: „Recht der Verbraucher". Dazu auch Streinz, EuZW 2003, 37 ff. (43) m.w.N. 236 Siehe oben I. 2, S. 270 ff.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

281

erkannten Systematik der Grundfreiheiten decken.237 In abstrahierter Betrachtungsweise lassen sich danach zwei Kategorien unterscheiden: Eine erste Gruppe bilden die grundfreiheitlichen Vorschriften, welche alle natürlichen Personen ohne weitere Restriktionen in ihren persönlichen Anwendungsbereich einbeziehen; hierunter fallen die Warenverkehrsfreiheit sowie die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs. 238 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit lassen sich in einer zweiten Kategorie zusammenfassen. Deren persönlicher Anwendungsbereich ist jedoch eingeschränkt; die sich auf jene Grundfreiheiten berufenden Personen müssen Angehörige eines Mitgliedstaates sein. 239 Eine weitergehende Differenzierung anhand des Kriteriums der Ansässigkeit ist innerhalb der zweiten Gruppe nicht erforderlich; dieses Merkmal perpetuiert nur die zwingende Berücksichtigung des grenzüberschreitenden Bezugs. 240 Der entscheidende Unterschied zwischen den vorgenannten Gruppierungen liegt darin, dass allein den Grundfreiheiten der zweiten Kategorie ein notwendiger Personenbezug immanent ist. 241 Die Warenverkehrsfreiheit sowie die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs sind hingegen rein gegenständlich fassbar. Diese Strukturunterschiede bedingen Differenzierungen innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik. 242 Keinesfalls darf hier das Schlagwort von der Konvergenz der Grundfreiheiten dahingehend überstrapaziert werden, dass es als allein maßgebliches Argument für die einheitliche Prüfung des persönlichen Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten herangezogen wird. 2 4 3

237 Zur (inneren) Systematik der Grundfreiheiten siehe oben 3. Kapitel Α. I I , S. 119 ff. 238 Siehe oben 1,S. 274 ff. 239 Siehe oben 2. a), S. 276 ff. 240 Näher dazu oben 2. b), S. 278. 241 Gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit ist der Personenbezug im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit gelockert. Zum Ausdruck kommt dies in Art. 49 Abs. 2 EG, wonach unter bestimmten Umständen im persönlichen Anwendungsbereich auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit verzichtet werden kann. 242 Die Vereinheitlichung dogmatischer Strukturen muss im Einzelnen vertretbar sein; grundlegend dazu bereits oben 1. Kapitel Α. I. 3. a) bb), S. 45 f. Dies ist - wie vorliegend gezeigt - im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten nicht möglich. 243 Unzutreffend daher Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 80: „Um hier eine zunehmend auch vom EuGH angestrebte Konvergenz der Grundfreiheiten zu erreichen, dürfen auch bei der Warenverkehrsfrei heit nur Unionsbürger geschützt werden."

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der Grundfreiheiten

III. Juristische Personen und Personenmehrheiten Die Ausdehnung des persönlichen Anwendungsbereichs bestimmt ferner darüber, ob bzw. inwieweit sich juristische Personen und Personenmehrheiten auf die grundfreiheitlichen Gewährleistungen berufen können. 244 Die Frage nach der Anwendung der Grundfreiheiten auf juristische Personen und Personenmehrheiten ist von erheblicher praktischer Bedeutung, da die Wirtschaftsleistungen im europäischen Binnenmarkt zu einem großen Teil nicht von natürlichen Personen erbracht werden. 245

1. Keine Einschränkung auf natürliche Personen Dass sich der Kreis der Grundfreiheitsberechtigten auf juristische Personen und Personenmehrheiten erstreckt, ergibt sich für die Niederlassungsfreiheit unmittelbar aus Art. 48 EG. 2 4 6 Über die normative Verknüpfung in Art. 55 EG gilt dies entsprechend für die Dienstleistungsfreiheit. 247 Mit Blick auf die übrigen Grundfreiheiten des EG-Vertrages fehlen diesbezügliche Bestimmungen.248 Im Wege systematischer und teleologischer Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften lässt sich jedoch ein allgemeiner Rechtsgedanke entwickeln, wonach der persönliche Anwendungsbereich sämtlicher Grundfreiheiten auch juristische Personen und Personenmehrheiten erfasst. 249 Für die Warenverkehrsfreiheit sowie die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs ist zunächst auf die obige Feststellung zu rekurrieren, wonach deren Anwendungsbereich gerade nicht durch personale Kriterien eingeschränkt wird; 2 5 0 dies gilt in gleicher Weise für die Frage, ob juristische Personen bzw. Personenmehrheiten dem persönlichen Anwendungsbereich jener Freiheiten unterfallen. 251 Schwieriger ist insoweit die Beurteilung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, da dort der persönliche Anwendungsbereich normativ

244

Vgl. zum Folgenden Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273). Vgl. Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (167). 246 Vgl. nur Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EGV, Rn. 1. 247 Ebd. 248 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 81. 249 Ebenso i.E. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 100 m.w.N. 250 Siehe oben II. 1, bei Fußn. 182 u. 195. 251 Vgl. - für die Warenverkehrsfreiheit - Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208). 245

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

283

begrenzt ist. 252 Nachdem sich jedoch auch Arbeitgeber als Empfänger der wirtschaftlichen Leistung auf die Artt. 39 ff. EG berufen können, 253 folgt die Einbeziehung juristischer Personen und Personenmehrheiten aus einem systematischen Vergleich mit Art. 12 EG. Letztgenannte Vorschrift ist in ihrem persönlichen Anwendungsbereich nicht auf natürliche Personen beschränkt. 254 Wenn juristische Personen und Personenmehrheiten Begünstigte des allgemeinen Diskriminierungsverbotes gemäß Art. 12 EG sein können, so gilt dies erst recht für die wirtschaftliche Freiheit nach Artt. 39 ff. EG; gerade im Bereich des Wirtschaftsverkehrs besteht für juristische Personen und Personenmehrheiten eine erhöhte Diskriminierungsgefahr. 255 Mit obiger Überlegung wird zugleich ein teleologischer Aspekt angesprochen. Die Grundfreiheiten zielen auf die Verwirklichung des Binnenmarktes. 256 Diese Zielrichtung wird nur dann hinreichend beachtet, wenn man juristische Personen und Personenmehrheiten als die Hauptakteure des europäischen Binnenmarktes der grundfreiheitlichen Schutzwirkung unterstellt. 257 Die Orientierung an der binnenmarktfinalen Ausrichtung der Grundfreiheiten bestätigt somit den Befund, dass der persönliche Anwendungsbereich der grundfreiheitlichen Vorschriften nicht auf natürliche Personen begrenzt bleibt. 258 Auch nach der Rechtsprechung des EuGH können sich juristische Personen und Personenmehrheiten auf die Gewährleistungen sämtlicher Grundfreiheiten berufen. 259

2. Konkretisierungen Zuvor wurde geklärt, ob juristische Personen und Personenmehrheiten dem grundfreiheitlichen Anwendungsbereich unterfallen können. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie weit die Berechtigung im konkreten Fall reicht. Hier ist wiederum zwischen den vorgenannten Gruppierungen der Grundfreiheiten

252

Näher oben II. 2. a), S. 276 ff. Siehe oben II. 3, S. 279 f. 254 Vgl. detailliert dazu Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (167). 255 Siehe bereits oben bei Fußn. 245. 256 Eingehend oben 3. Kapitel Β. I , S. 122 ff. 257 Ähnlich Streinz/Leible, IPRax 1998, 162 ff. (167) mit Blick auf das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 6 EGV (jetzt Art. 12 EG). 258 Grundlegend zur binnenmarktfinalen Interpretation der Grundfreiheiten oben 1. Kapitel Β. I. 3, S. 53 ff. 259 Vgl. beispielhaft zur Warenverkehrsfreiheit etwa EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001, 1-2099, Rn. 1 f.; zur Arbeitnehmerfreizügigkeit z.B. EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521, Rn. 1 f. 253

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der Grundfreiheiten

zu differenzieren. 260 Die produktbezogenen Freiheiten des Waren-, Kapital- und Zahlungsverkehrs einerseits und die übrigen Grundfreiheiten andererseits sind in ihrem persönlichen Anwendungsbereich unterschiedlich ausgestaltet.261

a) Waren-, Kapital- und Zahlungsverkehr Die Vorschriften zur Warenverkehrsfreiheit sowie zu den Freiheiten des Kapital» und Zahlungsverkehrs normieren keine Begrenzungen des persönlichen Anwendungsbereichs dieser Grundfreiheiten; allein maßgeblich ist hier das Objekt wirtschaftlichen Handelns. 262 Dieser bezüglich der natürlichen Personen entwickelte Gedanke lässt sich auf juristische Personen und Personenmehrheiten übertragen. Letztere sind ohne Einschränkung als Berechtigte der Artt. 28 ff. EG sowie der Artt. 56 ff. EG anzusehen.263 Dies wird hinsichtlich der Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs teilweise bestritten; 264 angesichts der strukturellen Parallelität zur Warenverkehrsfreiheit, welche auch im Wortlaut der grundfreiheitlichen Bestimmungen zum Ausdruck kommt, 265 ist eine weitergehende Differenzierung indes nicht angezeigt.266 Auch die Artt. 56 ff. EG berechtigten im Grundsatz daher sämtliche natürliche und juristische Personen sowie Personenmehrheiten. 267

260

Diff. auch Jarass, EuR 1995, 202 ff (208); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 80 f. 261 Im Hinblick auf natürliche Personen als Berechtigte der Grundfreiheiten siehe oben II. 2. u. II. 4 , S. 276 ff. u. 280 f. 262 Dazu oben II. 1,S. 274 ff. 263 Ebenso Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); a.A. - konsequent - Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 81. 264 Vgl. z.B. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208). 265 Zur strukturellen Parallelität der Artt. 28 ff. EG sowie der Artt. 56 ff. EG andererseits siehe oben 3. Kapitel Α. II. 2, S. 120 ff. 266 Dies gilt zumindest nach Aufwertung der Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs durch den Vertrag von Maastricht; siehe dazu oben 3. Kapitel Α. I. 2, bei Fußn. 30. 267 Zutreffend Weber, in: Lenz, Art. 56, Rn. 24.

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

285

b) Grundfreiheiten mit notwendigem Personenbezug Der Anwendungsbereich der personenbezogenen Grundfreiheiten wird durch das Merkmal der Staatsangehörigkeit begrenzt. 268 Begrifflich können jedoch allein natürliche Personen Angehörige eines Staates sein; 269 bei juristischen Personen bzw. Personenmehrheiten wird demgegenüber der Terminus der „Staatszugehörigkeit" verwendet. 270 Im Rahmen der Grundfreiheiten mit notwendigem Personenbezug kommt es somit entscheidend darauf an, welche juristischen Personen und Personenmehrheiten den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates gleichzustellen sind. 271 Dies regeln - für die Niederlassungsfreiheit und die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs - die Vorschriften der Artt. 48, 55 Abs. 1 EG. Art. 48 Abs. 2 EG definiert zunächst den Begriff der „Gesellschaften". Davon umfasst sind die Personenmehrheiten des Zivilrechts sowie die „sonstigen juristischen Personen". Die Einbeziehung bloßer Personenmehrheiten, welchen nach traditioneller Auffassung keine Rechtsfähigkeit zukommt, 272 in den Kreis der juristischen Personen ist missverständlich, 273 verdeutlicht allerdings die Weite jener Legaldefinition. 274 Einschränkend nimmt Art. 48 Abs. 2 EG nur diejenigen Gesellschaften aus dem normativen Anwendungsbereich heraus, welche keinen Erwerbszweck verfolgen. Hieran sind keine erhöhten Anforderungen zu stellen; 275 maßgeblich ist die Teilnahme der Gesellschaft am Wirtschaftsleben im Sinne von Art. 2 EG. 276 Restriktionen sind hinsichtlich der in Art. 48 Abs. 2 EG genannten juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu beachten. Diese werden nur insoweit vom persönlichen Anwendungsbereich

268

Siehe oben II. 2. a), S. 276 ff. Vgl. Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rn. 1342; Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 541 ff. 270 Vgl. Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 100; Staudinger/Großfeld, IntGesR, Rn. 17. Ähnlich Müller-Huschke, in: Schwarze, Art. 48 EGV, Rn. 1. 271 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273). 272 Vgl. aber nunmehr BGHZ 146, 341 (343 ff.). 273 Ebenso Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EGV, Rn. 4; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 80; Scheuer, in: Lenz, Art. 48, Rn. 1. 274 Nicht notwendig ist daher eine „sinngemäße Auslegung" des Art. 48 Abs. 2 EG, um etwa die deutsche GbR als Gesellschaft im Sinne jener Vorschrift anzusehen; so aber Oppermann, Rn. 1587. 275 Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EGV, Rn. 2 m.w.N.; Oppermann, Rn. 1586; Scheuer, in: Lenz, Art. 48, Rn. 1. 276 Siehe dazu bereits oben A , S. 249. 269

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der Grundfreiheiten

der grundfreiheitlichen Vorschriften umfasst, als ihre Organisationsform nicht mit der Ausübung von Hoheitsrechten verbunden ist. 277 Mitunter wird hier eine „grundfreiheitstypische Gefährdungslage" vorausgesetzt; 278 eine solche Bezeichnung besitzt ihre Berechtigung, soweit man sich der strukturellen Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten bewusst ist. 279 Art. 48 Abs. 1 EG normiert im Einzelnen, nach welchen Kriterien die vorgenannten Gesellschaften den Angehörigen der Mitgliedstaaten gleichstehen. Unbeachtlich ist insoweit die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter. 280 Stattdessen wird die notwendige Zuordnung der betreffenden juristischen Personen bzw. Personenmehrheiten zu einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung durch zwei kumulative Voraussetzungen sichergestellt. 281 Zum einen erfasst Art. 48 Abs. 1 EG nur „die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften". 282 Damit wird der im angelsächsischen Rechtskreis vorherrschenden Gründungstheorie Rechnung getragen. 283 Darüber hinaus muss die juristische Person bzw. Personenmehrheit gemäß Art. 48 Abs. 1 EG „ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben". 284 Hier wird eine Orientierung an der im kontinental-europäischen Rechtskreis anzutreffenden Sitztheorie deutlich. 285 Indem die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 1 EG kumulativ vorliegen müssen, verbindet der Vertragstext die erwähnten Anknüpfungstatbestände des

277

Vgl. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EGV, Rn. 3. So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 80 f. mit dem Hinweis auf die Terminologie der deutschen Grundrechtsdogmatik; vgl. BVerfGE 45, 63 (79); 61, 82 (103 ff.). 279 Siehe oben 3. Kapitel C. III. 3. b), S. 236 f. 280 Vgl. Ahlt, 109; Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); Streinz, Rn. 661. Aus der Rspr. des Gerichtshofs vgl. EuGH, Rs. C-221/89 (Factortame II), Slg. 1991,1-3905, Rn. 28 ff. 281 Zur Zielrichtung von Art. 58 E(W)GV (jetzt Art. 48 EG) vgl. auch EuGH, Rs. 270/83 (Kommission/ Frankreich), Slg. 1986, 273, Rn. 18; EuGH, Rs. 79/85 (Segers), Slg. 1986, 2375, Rn. 13; EuGH, Rs. C-330/91 (Commerzbank), Slg. 1993, 1-4017, Rn. 13; EuGH, Rs. C-264/96 (Imperial Chemical Industries), Slg. 1998,1-4695, Rn. 20; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999,1-1459, Rn. 20. 282 Hervorh. d. Verf. 283 Zum Begriff der Gründungstheorie vgl. nur Staudinger/Großfeld, IntGesR, Rn. 22 u. 31 ff. 284 Hervorh. d. Verf. 285 Dazu wiederum nur Staudinger/Großfeld, IntGesR, Rn. 20 f. u. 26 ff. 278

Β. Persönlicher Anwendungsbereich

287

internationalen Gesellschaftsrechts; 286 die dort darüber hinaus vertretene Kontrolltheorie wird hingegen in Art. 48 Abs. 1 EG nicht berücksichtigt. 287 Hiervon zu trennen ist die nach wie vor umstrittene Frage, ob die Anwendung der im internationalen Gesellschaftsrecht vertretenen Gründungs- und Sitztheorie durch die Mitgliedstaaten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben unterworfen ist. 288 Vor allem wird hier diskutiert, inwiefern sich die Sitztheorie mit der Niederlassungsfreiheit des EG-Vertrages vereinbaren lässt. 289 Nachdem die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Daily Mail 290 und Centros 291 keine hinreichende Klarheit ergeben haben, 292 hatte der BGH erneut ein Vorlageverfahren nach Art. 234 EG angestrengt. 293 Mit dem Urteil in der Rechtssache Überseering hat der EuGH hier in Fortführung der Centros-Entscheidung judiziert, ohne jedoch der Sitztheorie eine ausdrückliche Absage zu erteilen. Diese Problematik betrifft allerdings nicht die Stufe des persönlichen Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten, sondern die Beeinträchtigungsebene. 294 Während die Artt. 48, 55 Abs. 1 EG den persönlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit für juristische Personen und Personenmehrheiten konkretisieren, fehlt für die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine entsprechende Bestimmung im EG-Vertrag. Die Anwendung der Artt. 39 ff. EG wird jedoch ebenfalls durch das Merkmal der Staatsangehörigkeit eingeschränkt; 295 zudem können sich Arbeitgeber, insbesondere juristische Personen und Personenmehrheiten, auf jene Vorschriften berufen. 296 In Verbin-

286

Vgl. auch Scheuer, in: Lenz, Art. 48, Rn. 2. Der dortige Hinweis auf Art. 48 Abs. 2 EG dürfte ein Redaktion s versehen sein. 287 Vgl. Müller-Huschke, in: Schwarze, Art. 48 EGV, Rn. 8; Randelzhof er/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Art. 48, Rn. 21. 288 Vgl. dazu Forsthoff EuR 2000, 167 ff. (171 ff.) m.w.N. 289 Vgl. nur Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EGV, Rn. 8 ff. m.w.N. 290 EuGH, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483. 291 EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999,1-1459. 292 Vgl. etwa Behrens, EuZW 2000, Editorial Hefì 13. 293 Vgl. BGH, JZ 2000, 903; eingehend hierzu von Halen, EWS 2002, 107 ff. Zwischenzeitlich hat der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen des BGH beantwortet; vgl. EuGH, Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002,1-9919. 294 Siehe dort. Vgl. außerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften zudem die Bestimmung des Art. 293 EG. 295 Dazu oben II. 2. a), S. 276 ff. 296 Siehe oben 1. u. II. 3, S. 282 f. u. 279 f.; a.A. - ohne nähere Begründung - Jarass, EuR 1995, 202 ff. (208): „Auf juristische Personen ist dagegen die Freizügigkeit nicht anwendbar."

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. Kapitel: De

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der Grundfreiheiten

dung dieser beiden Aspekte ist im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine Staatszugehörigkeit von Gesellschaften analog Art. 48 EG zu fordern. 297 Eine juristische Person bzw. Personenmehrheit ist als Arbeitgeber somit nur dann vom persönlichen Anwendungsbereich der Artt. 39 f f EG umfasst, wenn sie nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet wurde und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft hat.

IV. Zusammenfassung Mit Blick auf eine einheitliche Dogmatik der Grundfreiheiten offenbaren die obigen Ausführungen zum persönlichen Anwendungsbereich der grundfreiheitlichen Vorschriften sowohl konvergente Strukturen als auch verbleibende Differenzierungen. Zunächst besitzen sämtliche Grundfreiheiten subjektiv-rechtlichen Charakter; die von einer mitgliedstaatlichen Maßnahme betroffenen Rechtssubjekte können sich mithin auf die grundfreiheitliche Schutzwirkung berufen. Dies ist Folge der teleologischen Interpretation des Vertragstextes und wird in gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt. Divergenzen bestehen zwischen den einzelnen grundfreiheitlichen Bestimmungen hinsichtlich der konkreten Weite ihres persönlichen Anwendungsbereichs. Hierbei ist zwischen der Warenverkehrsfreiheit sowie den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs einerseits und den übrigen Grundfreiheiten andererseits zu differenzieren. Die zuvorderst genannten Grundfreiheiten sind rein objektbezogen fassbar; in personaler Hinsicht unterliegt deren Anwendungsbereich keinen Restriktionen. Dementsprechend sind sämtliche natürliche und juristische Personen sowie Personenmehrheiten als Berechtigte der Artt. 28 ff. und 56 ff. EG anzusehen. Einschränkungen gelten dagegen für den persönlichen Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit sowie der Freiheit des DienstleistungsVerkehrs. Soweit natürliche Personen betroffen sind, müssen diese Angehörige eines Mitgliedstaates sein; teilweise wird in den grundfreiheitlichen Vorschriften darüber hinaus auf das Kriterium der Ansässigkeit Bezug genommen. Juristische Personen und Personenmehrheiten können bereits begrifflich keine Angehörige eines Mitgliedstaates sein. Sie werden nach Art. 48 EG den berechtigten Staatsangehöri-

297

Abweichend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 81, der stattdessen allein auf die Niederlassungsfreiheit abstellt.

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licher Anwendungsbereich

289

gen gleichgestellt, wenn sie nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet wurden und ihren Sitz, ihre Hauptverwaltung oder -niederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben.

C. Räumlicher Anwendungsbereich Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten ist nicht nur in sachlicher und persönlicher, sondern auch in räumlicher Hinsicht begrenzt. 298 Der territoriale Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entspricht dabei dem allgemeinen räumlichen Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts. 299 Diesbezüglich ist die Vorschrift des Art. 299 EG zu beachten.300 Grundsätzlicher Anknüpfungspunkt des räumlichen Anwendungsbereichs ist nach Art. 299 Abs. 1 EG das Staatsgebiet der Mitgliedstaaten. Nachdem die vertraglichen Bestimmungen hierzu keine weiteren Konkretisierungen bereitstellen, muss in diesem Zusammenhang auf die Abgrenzungskriterien des Völkerrechts zurückgegriffen werden; 301 insbesondere gilt das Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen gemäß Art. 29 WVRK. 3 0 2 Besonderheiten normieren die Vorschriften des Art. 299 Abs. 2 bis 6 EG. Hierdurch werden einerseits bestimmte überseeische Gebiete in den vertraglichen Anwendungsbereich einbezogen, andererseits einige Teile der Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten von der Geltung des EG-Vertrages ausgenommen.303 Die souveränen europäischen Zwergstaaten - Andorra, Liechtenstein, Malta,

298 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 81 f. 299 Zutreffend Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (275). Vgl. - beispielhaft für die Arbeitnehmerfreizügigkeit - auch Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 6; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 1 f. 300 Näher zum räumlichen Geltungsbereich des EG-Vertrages z.B. Röttinger, in: Lenz, Art. 299, Rn. 1 ff.; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 299 EGV, Rn. 1 ff.; Streinz, Rn. 95 ff. Übergreifend für sämtliche Europäischen Gemeinschaften vgl. Oppermann, Rn. 184 ff. 301 Näher zu den völkerrechtlichen Abgrenzungskriterien z.B. Ipsen, Völkerrecht, 242 ff.; Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 558 ff.; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rn. 1110 ff. 302 Vgl. Oppermann, Rn. 185; Streinz, Rn. 84. 303 Vgl. eingehend Röttinger, in: Lenz, Art. 299, Rn. 3 ff.; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 299 EGV, Rn. 5 ff. 19 Mühl

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der Grundfreiheiten

Monaco, San Marino und der Vatikanstaat - sind (noch) 304 keine Mitgliedstaaten und werden daher vom räumlichen Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts nicht erfasst. 305 Die Regelungen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die Grundfreiheiten, 306 können auch außerhalb des Gemeinschaftsgebiets ihre Wirkung entfalten. 307 Art. 299 EG steht dem nicht entgegen.308 Erforderlich ist jedoch ein hinreichend enger Bezug des betreffenden Sachverhalts zum Gemeinschaftsgebiet. 309 Hierbei muss auf den konkreten Einzelfall abgestellt werden; maßgebliche Kriterien sind beispielsweise die Staatsangehörigkeit des Wirtschaftsteilnehmers, die anzuwendende nationale Rechtsordnung, der Ort des Vertragsabschlusses oder eine etwaige Gerichtsstandsvereinbarung innerhalb des Gemeinschaftsgebiets. 310 Unbeachtlich ist allerdings nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, ob eine Tätigkeit dauerhaft oder nur vorübergehend außerhalb des Gemeinschaftsgebiets ausgeübt wird. 311 Keine Frage des räumlichen Anwendungsbereichs ist die notwendige Berücksichtigung eines grenzüberschreitenden Bezugs im Rahmen der grundfreiheitlichen Prüfung. 312 Das transnationale Element innerhalb der Dogmatik der

304 Malta gehört zum Kreis der Aufnahmekanditaten, die im Jahre 2004 der Union und damit der Europäischen Gemeinschaft beitreten sollen; vgl. dazu die Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel), 24. u. 25. Oktober 2002, abrufbar unter http://www.europa.eu.int. 305 Näher Sack,, EuZW 1997,45 ff. (46 ff.). 306 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (275). 307 Allg. zu extraterritorialen Wirkungen des Gemeinschaftsrechts etwa Streinz, Rn. 101 ff. Speziell im Hinblick auf das EG-Wettbewerbsrecht z.B. Oppermann, Rn. 1080 ff. 308 So ausdrücklich EuGH, Rs. 237/83 (Prodest), Slg. 1984, 3153, Rn. 6; EuGH, Rs. 9/88 (Lopes da Veiga), Slg. 1989, 2989, Rn. 15; EuGH, Rs. C-60/93 (Aldewereld), Slg. 1994,1-2991, Rn. 14; EuGH, Rs. C-214/94 (Boukhalfa), Slg. 1996,1-2253, Rn. 15. Vgl. zudem bereits EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 28/29. 309 Für den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 7; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 2. 310 EuGH, Rs. 9/88 (Lopes da Veiga), Slg. 1989, 2989, Rn. 17; EuGH, Rs. C-434/93 (Bozkurt), Slg. 1995, 1-1475, Rn. 24; EuGH, Rs. C-214/94 (Boukhalfa), Slg. 1996, I2253, Rn. 16. 311 Vgl. EuGH, Rs. 9/88 (Lopes da Veiga), Slg. 1989, 2989, Rn. 16; EuGH, Rs. C214/94 (Boukhalfa), Slg. 1996,1-2253, Rn. 22. 312 Vgl. aber Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 86; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 219; Streinz, Rn. 666. Dagegen

C. Räumlicher Anwendungsbereich

291

Grundfreiheiten betrifft die Stufe des sachlichen Anwendungsbereichs; 313 insofern kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 314 Damit sind die Betrachtungen zum Anwendungsbereich der Grundfreiheiten abgeschlossen. Die Reichweite der grundfreiheitlichen Schutzwirkung wird auf dieser ersten Prüfungsstufe durch sachliche, persönliche und räumliche Kriterien abstrakt begrenzt. Teilweise lassen sich dabei konvergente Strukturen der Grundfreiheiten herausarbeiten; teilweise verbleibt es bei notwendigen Differenzierungen. Die verschiedenen Elemente des Anwendungsbereichs bilden lediglich einen Teil der grundfreiheitlichen Tatbestandsebene. Darüber hinaus ist dort zu prüfen, ob bzw. inwieweit eine konkrete Maßnahme die grundfreiheitlichen Gewährleistungen beeinträchtigt. Unter Bezugnahme auf die Vorarbeiten der vorangegangenen Kapitel sollen im Folgenden die möglichen Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten näher dargestellt werden.

Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 82. 313 Wiederum abweichend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 82. 314 Siehe oben Α. II. 1,S. 259 f. 19*

5.Kapitel

Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten Während auf der Stufe des Anwendungsbereichs abstrakte Begrenzungen der Grundfreiheiten zu diskutieren sind, rückt auf der zweiten Ebene der grundfreiheitlichen Tatbestandsprüfung die konkret zu beurteilende Maßnahme in den Vordergrund. Ziel ist es, mittels eines engeren Prüfrasters die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten von diesbezüglich unbeachtlichen Regelungen des wirtschaftlichen Verkehrs abzugrenzen.1 Nicht jede Maßnahme ist somit geeignet, die Grundfreiheiten in ihrem Gewährleistungsgehalt zu beeinträchtigen. Zur dogmatischen Absicherung dieser Erkenntnis kann auf die obigen Ausführungen zur Binnenmarktkonzeption sowie auf die Darstellung der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung verwiesen werden. 2 Entscheidend ist die dort zum Ausdruck gekommene föderale Struktur der Gemeinschaft. 3 Danach genießt die Neutralität gegenüber nationalen Teilmarktordnungen grundsätzlich Vorrang vor der Schaffung einheitlichen europäischen Sachrechts; insofern müssen bestimmte Maßnahmen vom grundfreiheitlichen Prüfungsvorbehalt ausgenommen sein.4 Teile der europarechtlichen Literatur sprechen in diesem Zusammenhang nicht von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten; stattdessen wird der Terminus „Eingriff 4 5 bzw. „Beschränkung" 6 verwandt. Kennzeichnet man beeinträchtigende Maßnahmen jedoch als Eingriff in den Schutzbereich der Grundfreiheiten, so werden wiederum unzutreffende Parallelen zur nationalen Grundrechts-

1

Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 82, der diese Abgrenzung als „Kardinalproblem der Entwicklung einer Struktur der Grundfreiheiten" kennzeichnet. 2 Siehe zusammenfassend oben 3. Kapitel Β. II. 4., S. 167. 3 Näher dazu oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (2), S. 133 ff. 4 Ähnlich, allerdings mit besonderer Betonung des transnationalen Bezugs, Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 82 f. 5 So z.B. Hoffmann , Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 21; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 143. 6 Vgl. etwa Jarass, EuR 1995,202 ff. (209); ders., EuR 2000, 705 ff. (708).

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

293

dogmatik suggeriert. 7 Auch der Begriff der Beschränkung birgt an dieser Stelle die Gefahr von Missverständnissen. Zwar beziehen sich die grundfreiheitlichen Vorschriften ihrem Wortlaut nach überwiegend auf „Beschränkungen". 8 In nunmehr gefestigter Terminologie des Schrifftums wird mit diesem Begriff hingegen nur ein Ausschnitt der grundfreiheitlichen Beeinträchtigungen gekennzeichnet;9 hier sei erneut auf die schlagwortartige Diskussion von „Diskriminierung und Beschränkung" verwiesen. 10 Um begriffliche Irrtümer auszuschließen, wird daher nachfolgend an dem übergeordneten Terminus der Beeinträchtigung festgehalten. 11 Will man die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten hinreichend genau erfassen, so ist zunächst in abstrakter Weise darauf einzugehen, welche Rechtssubjekte von den grundfreiheitlichen Vorschriften verpflichtet werden (Α.). Anschließend sind allgemeine Charkteristika beeinträchtigender Maßnahmen anzusprechen (B.), bevor in concreto die praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen erfolgt (C.).

A. Verpflichtete der Grundfreiheiten Eine Dogmatik der Grundfreiheiten hat zu klären, welche Akteure auf der Passivseite den grundfreiheitlichen Bestimmungen unterfallen. 12 Damit wird die Frage der Verpflichteten der Grundfreiheiten angesprochen.13 Deren Beantwortung wirkt sich unmittelbar auf die Qualität beeinträchtigender Maß-

7

Siehe bereits oben 4. Kapitel, bei Fußn. 3 f. Hierauf weist Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); ders, EuR 2000, 705 ff. (708) zu Recht hin. Vgl. etwa Artt. 28 f, 39 Abs. 3,43 Abs. 1, 49 Abs. 1, 56 EG. 9 Vgl. nur Behrens, EuR 1992, 145 ff. (148 ff.); Classen , EWS 1995, 97 ff. (97 f.); Herdegen, Rn. 282 f.; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 30 ff.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 98; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 38 ff.; Koenig/Haratsch, Rn. 487; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 25 f.; Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 295; Schweitzer/Hummer, Rn. 1075; Simm, Der EuGH im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998,48 ff.; Streinz, Rn. 669 ff. 10 Eingehend dazu oben 3. Kapitel C., S. 198 ff. 11 Wie hier Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (484); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 82 f. 12 Vgl. auch Jarass, EuR 1995, 202 ff. (209); ders, EuR 2000, 705 ff. (714). 13 Teilweise wird von „Adressaten" der Grundfreiheiten gesprochen; so z.B. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 143; Streinz, Rn. 706. Dies ist in der Sache gleichbedeutend; vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); Jarass, EuR 2000, 705 ff. (714). 8

294

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

nahmen aus;14 demnach sind entsprechende Ausführungen dogmatisch auf der Beeinträchtigungsebene zu verorten. Mit Blick auf den grundfreiheitlichen Adressatenkreis lassen sich drei Kategorien unterscheiden. 15 Primär ist zu erörtern, inwieweit die Mitgliedstaaten als Verpflichtete der Grundfreiheiten anzusehen sind (I.). Anschließend ist die so genannte Drittwirkungsproblematik zu diskutieren, welche die grundfreiheitliche Bindung privater Rechtssubjekte betrifft (II.). Schließlich soll die Gemeinschaft selbst in die vorliegende Betrachtung einbezogen werden (III.). Dabei wird auch zu klären sein, inwieweit innerhalb der genannten Kategorien konvergente Strukturen der Grundfreiheiten bestehen oder ob hier zwischen einzelnen grundfreiheitlichen Gewährleistungen zu differenzieren ist.

I. Die Mitgliedstaaten als primäre Adressaten Die vertraglichen Bestimmungen enthalten ihrem Wortlaut nach keine konkreten Hinweise darauf, welche Rechtssubjekte von den Grundfreiheiten verpflichtet werden; 16 sie sind diesbezüglich offen ausgestaltet.17 Eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten wird nicht ausdrücklich normiert. Insbesondere kann nicht darauf abgestellt werden, dass die grundfreiheitlichen Vorschriften bestimmte Beeinträchtigungen „zwischen den Mitgliedstaaten" verbieten. 18 Hierdurch wird lediglich auf das spezifisch transnationale Element der grundfreiheitlichen Prüfung hingewiesen,19 nicht aber der Kreis der Normadressaten näher bestimmt. 20 Auch die in diesem Zusammenhang teilweise angeführte Vorschrift des Art. 50 Abs. 3 EG bedingt keine direkten Folgerungen dahingehend, dass gerade die Mitgliedstaaten Verpflichtete der Grundfreiheiten sind. 21

14

Die am grundfreiheitlichen Maßstab zu beurteilenden Regelungen müssen in ihrem Ursprung auf den Kreis der Verpflichteten zurückzuführen sein. 15 Vgl. nur Streinz, Rn. 706 f. 16 Abweichend Jarass, EuR 2000, 705 ff. (714). 17 Vgl. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 85 ff; Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 196. 18 So der Wortlaut von Artt. 28 f., 56 EG sowie von Art. 3 Abs. 1 lit. c EG; vgl. auch Artt. 39 Abs. 1,49 Abs. 1 EG: „innerhalb der Gemeinschaft". 19 Näher dazu oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (3), S. 135 f. 20 Ebenso Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 86 m.w.N.; a.A. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (274). 21 Vgl. aber Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 91, wonach „aus der ausdrücklichen Staatenbezogenheit des Art. 60 Abs. 3 EGV [jetzt Art. 50 Abs. 3 EG] Rückschlüsse auf den Adressatenkreis des Art. 59 EGV [jetzt Art. 49 EG] zu ziehen" seien.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

295

Art. 50 Abs. 3 EG konkretisiert nur den Inhalt der Dienstleistungsfreiheit, lässt jedoch offen, welche Rechtssubjekte dadurch gebunden werden. 22 Zumindest ein schwaches Indiz für die grundfreiheitliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthalten die Rechtfertigungsvorschriften der Grundfreiheiten. 23 So ist auf die Bestimmungen der Artt. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 1, 58 Abs. 1 lit. b EG zu verweisen, wonach Beeinträchtigungen aus „Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" gerechtfertigt sein können.24 Nach alledem kommt es entscheidend auf eine teleologische Interpretation der grundfreiheitlichen Vorschriften an. 25 Betrachtet man die funktionale Ausrichtung der Grundfreiheiten auf das Binnenmarktziel des EG-Vertrages, so rücken die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in den Vordergrund. Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. c EG entstehen in erster Linie durch staatliche Maßnahmen, insbesondere durch Anforderungen nationaler Rechtsvorschriften. 26 Dementsprechend blieben die grundfreiheitlichen Vorschriften weitestgehend sinnentleert, wenn man deren Schutzwirkung nicht auf staatliche Maßnahmen erstreckte. Mithin sind die Mitgliedstaaten als primäre Adressaten der Grundfreiheiten anzusehen.27

22

Zwar bestimmt Art. 50 Abs. 3 EG, dass die Leistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat gewährleistet wird, „und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt". Jedoch können z.B. auch Privatpersonen diese Gewährleistung beeinträchtigen, indem sie bestimmte Bedingungen der Dienstleistungserbringung festlegen. Allein aus der inhaltlichen Umschreibung der Dienstleistungsfreiheit in Art. 50 Abs. 3 EG sind daher keine Aussagen zum Adressatenkreis jener Grundfreiheit deduzierbar. 23 Vgl. auch Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 204. 24 Hervorh. d. Verf. Abweichend - mit Blick auf Art. 48 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 39 Abs. 3 EG) - EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 85 f.; hierauf wird an späterer Stelle näher einzugehen sein. 25 Siehe allg. bereits oben 1. Kapitel Β. I. 3, S. 53 ff. 26 Dies gilt ohne weiteres auch für die Freiheit des Zahlungsverkehrs; vgl. nur Ukrow, in: Calliess/Ruffert, Art. 3 EGV, Rn. 7. 27 Allg. Meinung; vgl. nur Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 44; Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000, 24; Jarass, EuR 1995, 202 ff. (211); ders, EuR 2000, 705 ff. (714); Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 82; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 83; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 143; Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 197; Streinz, Rn. 706.

296

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

Der Gerichtshof rekurriert ebenfalls auf die Mitgliedstaaten als Verpflichtete der Grundfreiheiten. Dabei wird der Staatsbegriff funktional verstanden und entsprechend extensiv ausgelegt.28 So erfassen die grundfreiheitlichen Bestimmungen nicht nur die Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts, sondern beispielsweise auch Standesorganisationen mit hoheitsähnlichen Befugnissen 29 oder staatlich kontrollierte Einrichtungen, welche nicht formal zur Staatsverwaltung gehören. 30 Unerheblich ist zudem, welcher Handlungsformen sich die Mitgliedstaaten bedienen.31 Von den Grundfreiheiten wird schließlich nicht nur das Bestimmungsland des wirtschaftlichen Verkehrs verpflichtet, sondern auch der Herkunftsstaat. 32 Obige Ausführungen gelten grundsätzlich für sämtliche Grundfreiheiten des EG-Vertrages. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der vertraglichen Vorschriften gebieten eine Einschränkung im Hinblick auf einzelne grundfreiheitliche Aspekte. Insofern kann hier von einer Konvergenz der Grundfreiheiten gesprochen werden.

II. Die Drittwirkungsproblematik Während die Mitgliedstaaten nach allgemeiner Ansicht dem grundfreiheitlichen Adressatenkreis unterfallen, ist nach wie vor ungeklärt, ob bzw. inwieweit auch private Rechtssubjekte Verpflichtete der Grundfreiheiten sein können. Ähnlich der Terminologie in der deutschen Grundrechtsdogmatik wird hier eine mögliche Drittwirkung der Grundfreiheiten diskutiert. 33

28

Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273). Vgl. nur EuGH, Verb. Rs. 266/87 u. 267/87 (Royal Pharmaceutical Society), Slg. 1989, 1295, Rn. 6 ff.; EuGH, Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993,1-6787, Rn. 1. 30 Zu Letzterem vgl. etwa EuGH, Rs. 222/82 (Apple and Pear Development Council), Slg. 1983, 4083, Rn. 2 ff; EuGH, Rs. C-302/88 (Hennen Olie), Slg. 1990, 4625, Rn. 15 f. Daraus resultiert eine Spannung zwischen grundfreiheitlicher Berechtigung und Bindung öffentlicher Unternehmen; eingehend dazu Weiß, EuR 2003, 165 ff (173 ff). 31 Zutreffend Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (273); Streinz, Rn. 706, jeweils mit Hinweis auf EuGH, Rs. 249/81 (Buy Irish), Slg. 1982, 4005. In dem genannten Urteil hat der Gerichtshof staatliche Aufrufe an die Endverbraucher, bestimmte Waren zu kaufen, als Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit qualifziert; vgl. dazu auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 44. 32 Vgl. EuGH, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483, Rn. 21; EuGH, Rs. C415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 97. 33 Vgl. monographisch dazu Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997. 29

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

1. Private Rechtssubjekte als Verpflichtete

297

der Grundfreiheiten

Mittels einer - später zu konkretisierenden - Grundsatzbetrachtung soll zunächst untersucht werden, ob im Vertragstext und in der europarechtlichen Judikatur Anhaltspunkte fur die grundfreiheitliche Bindung von Privatpersonen existieren. 34 Damit werden vorab wesentliche Leitlinien einer Dogmatik der Grundfreiheiten berücksichtigt. 35

a) Vertragstext Wenngleich die Grundfreiheiten des EG-Vertrages ihrem Wortlaut nach keine unmittelbaren Hinweise auf ihren Adressatenkreis offenbaren, 36 so kann und muss die Interpretation des Vertragstextes dennoch zur Lösung der Drittwirkungsproblematik herangezogen werden. 37 Hier hilft zunächst ein Vergleich der grundfreiheitlichen Vorschriften mit den übrigen vertraglichen Bestimmungen. Letztere bezeichnen häufig expressis verbis den Kreis der Normadressaten. Dies gilt insbesondere für strukturell den Grundfreiheiten vergleichbare Bestimmungen; genannt seien nur die Wettbewerbsregeln der Artt. 81 f. EG, die steuerlichen Vorschriften gemäß Artt. 90 ff. EG sowie das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 141 EG. 38 Die Wettbewerbsregeln verpflichten lediglich einen eingeschränkten Adressatenkreis; 39 Art. 81 EG bezieht sich wie Art. 82 EG ausdrücklich nur auf „Unternehmen". Gemäß Art. 90 Abs. 1 und 2 EG erheben „die Mitgliedstaaten" keine diskriminierenden Abgaben. Schließlich gilt nach Art. 141 EG: „Jeder Mitgliedstaat" ist Verpflichteter des dort normierten Gleichbehandlungsgebotes. Wenn demgegenüber der Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften hinsichtlich der Adressaten keine Restriktionen enthält, so spricht dies im Umkehrschluss dafür, die Bindungswirkung der Grundfreiheiten als nicht einge-

34

Die bedeutsame Frage, inwiefern hier von einer unmittelbaren oder mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten auszugehen ist, soll dabei noch offen bleiben. 35 Siehe oben 1. Kapitel Β. I. u. I I , S. 49 ff. 36 Siehe oben I , bei Fußn. 16 f. 37 Ähnlich Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 85. 38 Zu Überschneidungen von Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln vgl. nur Jarass, EuR 1995, 202 ff. (221); ders., EuR 2000, 705 ff. (717). Strukturelle Parallelitäten zwischen den grundfreiheitlichen Vorschriften einerseits und den Artt. 90 ff. EG bzw. Art. 141 EG andererseits ergeben sich daraus, dass sie allesamt Diskriminierungsverbote normieren. 39 Vgl. Weiß, in: Calliess/Ruffert, Art. 81 EGV, Rn. 13.

298

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

schränkt zu betrachten. 40 Neben den Mitgliedstaaten wären demnach weitere Rechtssubjekte als Verpflichtete der Grundfreiheiten zuzulassen. Gegen die grundfreiheitliche Bindung von Privatpersonen wird mitunter ein vertragssystematisches Argument angeführt, 41 welches die Vorschrift des Art. 86 Abs. 2 EG betrifft. So führt Jaensch aus: „Art. 90 Abs. 2 EGV [jetzt Art. 86 Abs. 2 EG] verweist nur für die betrauten Dienstleistungsunternehmen auf die Geltung der Grundfreiheiten. Als Gegenschluß könnte gefolgert werden, daß Private im übrigen die Freiheiten nicht zu beachten haben".42 Eine solche Argumentation e contrario beruht indes auf einer verkürzten Darstellung des normativen Gehalts von Art. 86 Abs. 2 EG. Denn nach dieser Bestimmung gelten nicht nur die Grundfreiheiten, sondern „die Vorschriften dieses Vertrages, insbesondere die Wettbewerbsregeln" für die dort näher bezeichneten Unternehmen. Der von Jaensch postulierte Umkehrschluss müsste somit konsequenterweise für „die Vorschriften dieses Vertrages", zumindest aber für die Wettbewerbsregeln Geltung beanspruchen, d.h. andere als die in Art. 86 Abs. 2 EG genannten (juristischen) Personen des Privatrechts hätten jene Regeln nicht zu beachten. Da jedoch bereits die wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen der Artt. 81 f. EG im Grundsatz sämtliche „Unternehmen" als private Rechtssubjekte verpflichten, 43 kann die Argumentation von Jaensch hier nicht überzeugen. Richtigerweise lassen sich aus Art. 86 Abs. 2 EG keinerlei Rückschlüsse im Hinblick auf eine Drittwirkung der Grundfreiheiten ziehen.44 Von besonderer Bedeutung ist somit wiederum die teleologische Interpretation der grundfreiheitlichen Bestimmungen. Sinn und Zweck der Grundfreiheiten ist es, gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. c EG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 EG die Binnenmarktkonzeption zu verwirklichen. Zur effektiven Umsetzung dieses

40

Hier wird nicht verkannt, dass dieser textlichen Interpretation der Grundfreiheiten angesichts des offenen Wortlautes nur eine schwache Indizwirkung zukommen kann. 41 Allg. zur systematischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts siehe oben 1. Kapitel Β. I. l.,S. 49. 42 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 252; ihm folgend Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (464). Vgl. auch Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 17. 43 Siehe dazu soeben bei Fußn. 39. 44 Dies gilt insbesondere dann, wenn man mit guten Gründen annimmt, Art. 86 Abs. 2 EG erstrecke die Geltung nur der unternehmensbezogenen Vertragsbestimmungen auf betraute Dienstleistungsunternehmen; vgl. Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 86 EGV, Rn. 44 m.w.N. Denn die untemehmensbezogenen Vorschriften verpflichten per se private Rechtssubjekte. Jegliche aus Art. 86 Abs. 2 EG abgeleiteten Aussagen zur „Drittwirkung" anderer Bestimmungen des EG-Vertrages beruhten somit auf einem Zirkelschluss.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

299

Ziels ist der Kreis der grundfreiheitlich verpflichteten Rechtssubjekte weit zu ziehen. Auch privatrechtlich begründete Handlungen können binnenmarkthemmende Wirkungen entfalten; somit sind die Grundfreiheiten für Privatpersonen keinesfalls bedeutungslos. Unmittelbar einleuchtend ist dies im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Diskriminierungen und sonstige Beeinträchtigungen dieser Grundfreiheit werden in erster Linie durch privatrechtlich ausgestaltete Arbeitsbedingungen hervorgerufen; 45 insofern liegt die Einbeziehung privater Rechtssubjekte in den Kreis der Verpflichteten bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit besonders nahe.46 Aber auch mit Blick auf die übrigen Grundfreiheiten des EG-Vertrages sind Beeinträchtigungen durch Privatpersonen denkbar; 47 verwiesen sei hier nur auf den bekannten und richterlich entschiedenen Sachverhalt der französischen Bauernproteste. 48 Die binnenmarktfinale Ausrichtung der Grundfreiheiten indiziert mithin die Integration privater bzw. privatrechtlich determinierter Handlungsformen in die grundfreiheitliche Prüfung. Nicht beantwortet ist damit die Frage, wie eine Bindung privater Rechtssubjekte an die Grundfreiheiten dogmatisch zu begründen ist. Effektivitätsgesichtspunkte sprechen hier für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, also eine direkte Verpflichtung von Privatpersonen. 49 Ebenfalls denkbar ist hingegen eine nur mittelbare Drittwirkung dahingehend, dass die Grundfreiheiten zwar in die nationalen Privatrechtsordnungen ausstrahlen, die privaten Rechtssubjekte jedoch nicht direkt verpflichten. Welcher dieser Lösungen der Vorzug gebührt, soll im Anschluss an die nachfolgende Rechtsprechungsübersicht näher diskutiert werden.

b) Rechtsprechung des EuGH Die Bindung von Privatpersonen an die Grundfreiheiten ist Gegenstand mehrerer Entscheidungen des Gerichtshofs. 50 Allein zu den Freiheiten des Ka-

45

Vgl. beispielhaft EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 98 f. Vgl. auch Art. 7 Abs. 4 der VO 1612/68; hierzu etwa Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 126 f.; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 40. 47 Ebenso Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 98 mit Verweis auf EuGH, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091. 48 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997,1-6959. 49 Vgl. Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (466), die eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten jedoch im Ergebnis ablehnen. 50 Vgl. nur Η inter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 120 ff.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 33 ff.; Gan46

300

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

pital- und Zahlungsverkehrs liegen hier - soweit ersichtlich - keine judikativen Aussagen vor. Der EuGH vermeidet zwar den Begriff der Drittwirkung, befasst sich jedoch der Sache nach mit der Anwendung der Grundfreiheiten auf privatrechtlich ausgestaltete Regelungen.51 Dabei ist nicht nur die Terminologie uneinheitlich; auch variieren Begründung und Ergebnis abhängig von der jeweils einschlägigen Grundfreiheit. 52 Die folgende Darstellung der Judikatur differenziert dementsprechend zwischen den Personenverkehrsfreiheiten einschließlich der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs einerseits sowie der Warenverkehrsfreiheit andererseits.

aa) Personenverkehrsfreiheiten (1) W air ave und Koch Bereits in der frühen Entscheidung Walrave und Koch vom 12.12.1974 judizierte der Gerichtshof zu der Frage, ob die Satzung einer privatrechtlichen Organisation anhand des grundfreiheitlichen Maßstabs zu beurteilen sei.53 Der EuGH bejahte dies mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Dienstleistungsfreiheit, beschränkte seine Aussage allerdings auf die Spezifika des betreffenden Sachverhalts: „Das Verbot der unterschiedlichen Behandlung gilt nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreckt sich auch auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten".54 Unklar bleibt demnach, inwiefern auch nichtdiskriminierende Maßnahmen privater Rechtssubjekte den Artt. 39 ff. bzw. Artt. 49 ff. EG unterfallen. 55 Ebenfalls kann dem Urteil in der Rechtssache Walrave und Koch nicht entnommen werden, ob auch individualrechtliche Vereinbarungen an den genannten Grundfreiheiten zu messen sind; 56 der

ten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, 33 ff.; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (459 f.). 51 Vgl. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 33. 52 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (715). 53 Vgl. EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 14/15. 54 EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; Hervorh. d. Verf. 55 Ebenso Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 122. 56 Näher dazu etwa Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 36 ff.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen demgegenüber eine extensive Handhabung der grundfreiheitlichen Drittwirkung befürwortet. 57 Zur Begründung verwies der EuGH im Wesentlichen auf den Gedanken des effet utile sowie die notwendige einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts. 58 Die eigentliche Problematik, wie die grundfreiheitliche Bindung der privatrechtlichen Organisation mit deren Verbandsautonomie zu vereinbaren ist, wurde dagegen nicht näher diskutiert; die rechtliche Autonomie des am Verfahren beteiligten Sportverbandes hatte der EuGH den vorgenannten Aspekten kurzerhand untergeordnet. 59

(2) Donà Ähnlich dem Urteil Walrave und Koch entschied der EuGH am 14.7.1976 in der Rechtssache Donà.60 Wiederum wurden privatrechtliche Regelungen eines Sportverbandes am Maßstab der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs gemessen.61 Unter ausdrücklichem Verweis auf die Entscheidung Walrave und Koch erstreckte der Gerichtshof das Diskriminierungsverbot der genannten Grundfreiheiten auf kollektivrechtliche Bestimmungen privater Rechtssubjekte.62 Erneut bleibt offen, ob er die Aussagen zur grundfreiheitlichen Drittwirkung auf kollektive Regelungen beschränken wollte. 63 Die judikative Begründung einer (eingeschränkten) Drittwirkung erfolgte in der Entscheidung Donà äußerst knapp. Ohne dogmatisch fundiert auch auf solche Aspekte einzugehen, welche einer Drittwirkug der Grundfreiheiten entgegenstehen,64 verwies der Gerichtshof lediglich auf das Urteil in der Rechtssache Walrave und Koch. 65 Nähere Erwägungen unterblieben. Diese Art der Ent-

57 Vgl. GA Warner, Schlussanträge in der Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405 (1425). 58 Vgl. EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19. 59 Ebd. 60 EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333. 61 Vgl. EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 17/18. 62 Ebd. 63 Für eine unmittelbare Drittwirkung unter Einschränkung auf kollektivrechtliche Bestimmungen GA Trabucchi , Schlussanträge in der Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333 (1345). 64 Genannt sei hier nur die bereits erwähnte Privat- bzw. Verbandsautonomie. 65 Vgl. EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333, Rn. 17/18.

302

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

scheidungsfindung mag mit der Orientierung des EuGH an den Prinzipien des Case Law erklärbar sein, kann aber letztlich nicht vollständig überzeugen.

(3) van Ameyde Ein knappes Jahr nach der Entscheidung Dona, am 9.6.1977, erging das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache van Ameyde. 66 Dort wurde - soweit ersichtlich - erstmals die Frage nach einer Drittwirkung der Niederlassungsfreiheit entschieden. Der EuGH bejahte die Anwendbarkeit von Art. 52 EGV (jetzt Art. 43 EG) auf Regelungen des UCI, eines zwangsweisen Zusammenschlusses sämtlicher italienischer Kfz-Versicherungen. 67 Jene Regelungen waren nicht hoheitlichen Ursprungs, was der Gerichtshof mit Blick auf die Anwendung der Niederlassungsfreiheit für unerheblich hielt. 68 Dabei ist zu beachten, dass im Fall van Ameyde das UCI als ein Unternehmen zu qualifizieren war, welchem besondere Rechte im Sinne von Art. 90 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 86 Abs. 1 EG) übertragen worden waren. 69 Eine nähere Begründung der vorgenannten Ergebnisse enthielt die Entscheidung van Ameyde nicht. Der EuGH verwies nur auf Art. 7 EGV (jetzt Art. 12 EG), um einen extensiven - nicht auf hoheitliche Maßnahmen beschränkten Anwendungsbereich des Art. 52 EGV (jetzt Art. 43 EG) zu postulieren. 70 Nachdem jedoch eine Drittwirkung in der vorangegangenen Judikatur zur Niederlassungsfreiheit nicht diskutiert wurde, ist die apodiktische Kürze der Urteilserwägungen nicht nachvollziehbar. Insbesondere versäumte der Gerichtshof die Klärung, ob eine Drittwirkung der Grundfreiheiten auf Unternehmen im Sinne von Art. 90 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 86 Abs. 1 EG) beschränkt sein sollte.

(4) Haug-Adrion Die Entscheidung Haug-Adrion vom 13.12.1984 betraf wiederum die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs. 71 Zu beurteilen war die Vereinbarkeit privatrechtlicher Versicherungsbedingungen

66 67 68 69 70 71

EuGH, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091. Vgl. EuGH, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091, Rn. 26 ff. Vgl. EuGH, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091, Rn. 28. Vgl. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997,40 f. Vgl. EuGH, Rs. 90/76 (van Ameyde), Slg. 1977, 1091, Rn. 27 f. EuGH, Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984,4277.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

303

einer deutschen Aktiengesellschaft mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot sowie den genannten Grundfreiheiten. 72 Ohne die Drittwirkungsproblematik ausdrücklich anzusprechen, führte der EuGH aus, dass die Artt. 7, 48, 59 und 65 EGV (jetzt Artt. 12, 39, 43 und 54 EG) „die Beseitigung aller Maßnahmen zum Ziel haben, die [...] Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats strenger behandeln oder [...] benachteiligen".73 Diese Formulierung stellte ein Novum in der bis dahin ergangenen Judikatur zur grundfreiheitlichen Drittwirkung dar. Erstmals bejahte der EuGH expressis verbis die Anwendung der Grundfreiheiten auf Maßnahmen privaten Ursprungs, welche nicht kollektivrechtlicher Natur waren. 74 Mit Blick auf die Besonderheiten des Falles Haug-Adrion bleiben jedoch Zweifel, ob hierdurch eine Ausdehnung des grundfreiheitlichen Maßstabs auf jegliche Formen privatautonomen Handelns erfolgen sollte. Denn die dort zu beurteilenden Versicherungsbedingungen waren staatlich genehmigt,75 so dass der betreffende Versicherungsnehmer ihnen ähnlich machtlos gegenüberstand wie kollektivrechtlichen Verbandssatzungen.76 Somit festigte das Urteil Haug-Adrion die bis dahin ergangene Rechtsprechung zur Drittwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. Dienstleistungsfreiheit; weitergehende gesicherte Erkenntnisse sind jener Entscheidung indes nicht zu entnehmen.

(5) Bosman Von Bedeutung für die vorliegende Problematik ist auch das am 15.12.1995 ergangene Urteil in der Rechtssache JBosman.11 Mit dieser Entscheidung festigte der EuGH seine Rechtsprechung zur Drittwirkung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wie er sie im Urteil Walrave und Koch entwickelt hatte.78 Hinsichtlich der - nicht hoheitlichen - Transferregeln der UEFA erinnerte der Gerichtshof daran, dass Art. 48 EGV (jetzt Art. 39 EG) „nicht nur für behördliche Maßnahmen gilt, sondern sich auch auf Vorschriften anderer Art erstreckt,

72 73 74

Vgl. EuGH, Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984,4277, Rn. 12. EuGH, Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984,4277, Rn. 14; Hervorh. d. Verf. Dazu auch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997,

42 f. 75 76 77 78

Vgl. EuGH, Rs. 251/83 (Haug-Adrion), Slg. 1984,4277, Rn. 6. Zutreffend Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (459). EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921. Zu letztgenannter Entscheidung siehe oben (1), S. 300.

304

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen". 79 Wenngleich der EuGH damit seine Ausführungen zur grundfreiheitlichen Drittwirkung wiederum auf kollektive Maßnahmen beschränkte, so enthielt das Bosman-Urteil doch zwei wesentliche Neuerungen. Zum einen wurde die Bindung privater Rechtssubjekte an die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht mehr mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 7 EGV (jetzt Art. 12 EG) verknüpft. 80 Darüber hinaus wurde erstmals die Drittwirkung der Grundfreiheiten hinsichtlich nichtdiskriminierender Regelungen ausdrücklich bejaht.81 Die Begründung dieses Ergebnisses erfolgte dabei ausführlicher als in den Entscheidungen Dona, van Ameyde und Haug-Adrion. Nachdem der Gerichtshof auf Effektivitätsgesichtspunkte und die Notwendigkeit der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts hingewiesen hatte,82 setzte er sich mit einem weiteren - von der Beklagten des Ausgangsstreits vorgebrachten - Argument auseinander. Die UEFA hatte gegen eine grundfreiheitliche Drittwirkung eingewandt, die Arbeitnehmerfreizügigkeit sei für Privatpersonen einschränkender als für die Mitgliedstaaten, da die Rechtfertigungsvorschrift des Art. 48 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 39 Abs. 3 EG) nur auf Letztere anwendbar sei.83 Der EuGH lehnte die Argumentation der UEFA jedoch schlicht mit dem Hinweis ab, auch Privatpersonen könnten sich auf die genannten Rechtfertigungsgründe berufen. 84 Dies kann nicht überzeugen. 85 Denn Privatpersonen verfolgen Partikularinteressen, nicht aber die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Wenn Art. 39 Abs. 3 EG somit auf mitgliedstaatliche Beeinträchtigungen zugeschnitten ist, 86 erfordert die Anerkennung einer Drittwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit die korrespondierende Entwicklung eigener Rechtfertigungsstrukturen für private Rechtssubjekte.87

79

EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 82. Vgl. dazu Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997,45. 81 Die Transferregeln der UEFA waren nicht als Diskriminierungen, sondern als bloße Beschränkungen zu charakterisieren, wodurch der freiheitsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten angesprochen wurde; siehe bereits oben 3. Kapitel C. II. 2. c), S. 226. 82 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 83 f. mit Verweis auf EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 18 f. 83 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 85. 84 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 86. 85 Ebenfalls krit. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 45; Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (463). 86 Siehe auch oben I , bei Fußn. 23 f. 87 Vgl. zur Problemstellung auch Grämlich, DÖV 1996, 810 ff.(809); Röthel, EuZW 2000, 379 f. (380). 80

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

305

(6) Angonese Mit dem Urteil vom 6.6.2000 in der Rechtssache Angonese88 stellte der Gerichtshof endgültig klar, dass Privatpersonen auch dann unmittelbar an die Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit gebunden sind, wenn im konkreten Fall keine Kollektivmaßnahmen streitgegenständlich sind. 89 Der EuGH entschied mit Blick auf eine individualrechtliche Regelung lapidar: „Das in Art. 48 des Vertrages (jetzt Art. 39 EG) ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gilt somit auch für Privatpersonen". 90 Zur Begründung verwies der Gerichtshof zum einen auf den Wortlaut des Art. 48 EGV (jetzt Art. 39 EG), 91 zum anderen auf eine notwendige Kongruenz mit Art. 6 EGV (jetzt Art. 12 EG) und Art. 119 EGV (jetzt Art. 141 EG). 92 Diese Argumentationslinien sind jedoch als schwach einzustufen; 93 darüber hinaus rekurrierte der EuGH im Urteil Angonese erneut auf die entscheidenden Aspekte des effet utile sowie der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. 94 Damit war in der Judikatur zu den Personenverkehrsfreiheiten die stetige Entwicklung zu einer umfassenden Drittwirkung der grundfreiheitlichen Vorschriften vollzogen. 95

bb) Warenverkehrsfreiheit Die Judikatur im Bereich der Warenverkehrsfreiheit folgt demgegenüber keiner konsequenten Entwicklungslinie. 96 Dies sollen die nachfolgenden fünf Entscheidungen des Gerichtshofs verdeutlichen.

88

EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139. Eingehend zu dieser Entscheidung etwa Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. 90 EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 36. 91 Vgl. EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 34. 92 Vgl. EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 35. 93 Näher dazu Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (461 f.). 94 Vgl. EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000, 1-4139, Rn. 32 f. mit Verweis auf EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 18 f.; EuGH, Rs. C415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 83 f. 95 Vgl. auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 126 ff. 89

20 Mühl

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5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

(1) Tonträger Den Ausgangspunkt bildet hierbei das so genannte Tonträger-Urteil vom 28.6.1971.97 Dort hatte der EuGH zwar nicht ausdrücklich über Maßnahmen privater Rechtssubjekte zu entscheiden; Streitgegenstand war vielmehr ein Akt der deutschen Legislative. 98 Gleichwohl lieferte der Gerichtshof im TonträgerUrteil erste Hinweise auf ein extensives Verständnis der Warenverkehrsfreiheit, welches die Bindung von Privatpersonen umfasst. Zunächst betonte der EuGH, die Grundfreiheiten seien auf den Zusammenschluss der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt gerichtet. 99 Mit Blick auf Art. 36 EWGV (jetzt Art. 30 EG) führte er anschließend aus: „Dieses Ziel wäre nicht zu erreichen, wenn Privatpersonen aufgrund der verschiedenen Rechtssysteme der Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, den Markt aufzuteilen und willkürliche Diskriminierungen oder verschleierte Beschränkungen im Handel zwischen den Mitgliedstaaten herbeizuführen". 100 Angesichts des hohen Abstraktionsgrades der richterlichen Ausführungen kann das Tonträger-Urteil nur mit der gebotenen Vorsicht als Indiz für eine Drittwirkung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit herangezogen werden. 101 Dennoch verdeutlicht diese frühe Entscheidung das Bestreben des Gerichtshofs, private Rechtssubjekte in die grundfreiheitliche Perspektive einzubeziehen.102

(2) Dansk Supermarked Vermeintlich deutlicher wurde der EuGH im Urteil Dansk Supermarked vom 22.1.1981.103 Dort stellte er expressis verbis fest, dass „Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des

96

Vgl. zum Folgenden auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 128 ff.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 58 ff. 97 EuGH, Rs. 78/70 (Tonträger), Slg. 1971, 487. 98 Konkret ging es um die Auslegung der §§ 97 u. 85 UrhG; vgl. EuGH, Rs. 78/70 (Tonträger), Slg. 1971, 487, Rn. 2. 99 Siehe dazu bereits oben 3. Kapitel Β. I , S. 122 ff, insb. 133 f. 100 EuGH, Rs. 78/70 (Tonträger), Slg. 1971, 487, Rn. 12. 101 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Roth, FS Everling, 1231 ff. (1233). 102 Ähnlich Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 194. 103 EuGH, Rs. 58/80 (Dansk Supermarked), Slg. 1981, 181.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürfen". 104 Aufgrund dieser scheinbar eindeutigen Formulierung wurde die Entscheidung Dansk Supermarked vielfach als Beleg für eine unmittelbare Drittwirkung im Bereich des freien Warenverkehrs angesehen.105 Der Gerichtshof hat es allerdings unterlassen, sein Ergebnis näher zu begründen. 106 Nicht zuletzt deshalb ist das Urteil Dansk Supermarked im Hinblick auf eine angebliche Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit zurückhaltend zu interpretieren. 107 So ließe sich die zitierte Formulierung des EuGH auch dahingehend verstehen, dass Vereinbarungen zwischen Privatpersonen nicht zum Anknüpfungspunkt für eine den Grundfreiheiten widersprechende staatliche Regelung gemacht werden dürfen. 108 Zwingende Folgerungen für die Bindung privater Rechtssubjekte an die Warenverkehrsfreiheit ergeben sich aus der Entscheidung Dansk Supermarked somit nicht. 109

(3) van de Haar Das EuGH-Urteil vom 5.4.1984 in der Rechtssache van de Haar m deutete eine Abkehr der vorgenannten Entwicklungen an. Wie im Tonträger-Urteil hatte der EuGH zwar nicht über eine private, sondern über eine staatliche Maßnahme zu entscheiden.111 Angesichts der allgemeinen Ausführungen des Gerichtshofs zum Verhältnis von Warenverkehrsfreiheit einerseits und Wettbewerbsregeln andererseits lässt sich die Entscheidung van de Haar jedoch für die

104

EuGH, Rs. 58/80 (Dansk Supermarked), Slg. 1981, 181, Rn. 17. Vgl. z.B. Moench, NJW 1982, 2689 ff. (2690); Oliver, Free Movements of Goods in the EEC, 1996, 57; Pescatore , ELR 1983, 155 ff. (163); Steindorff, FS Lerche, 575 ff. (578). Für eine nur mittelbare Drittwirkung dagegen Donner, SEW 1982, 362 ff. (371). 106 Vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 129. 107 Ebenso i.E. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 59 f.; Roth, FS Everling, 1231 ff. (1235 f.); Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (460). 108 Näher dazu Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 60; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (460). 109 Teilweise wird darüber hinaus betont, das Urteil Dansk Supermarked sei in der Judikatur zur grundfreiheitlichen Drittwirkung „ein Einzelfall geblieben"; so Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 130. Vgl. auch Roth, FS Everling, 1231 ff. (1236). 110 EuGH, Verb. Rs. 177/82 u. 178/82 (van de Haar), Slg. 1984, 1797. 111 Vgl. EuGH, Verb. Rs. 177/82 u. 178/82 (van de Haar), Slg. 1984, 1797, Rn. 3 ff. 105

20*

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5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

vorliegende Problematik fruchtbar machen.112 Deutlich unterschied der EuGH den Adressatenkreis von Art. 85 EWGV (jetzt Art. 81 EG) und Art. 30 EWGV (jetzt Art. 28 EG): „Artikel 85 EWG-Vertrag [jetzt Art. 81 EG] gehört zu den Wettbewerbsregeln, deren Adressaten die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind [...]. Artikel 30 [jetzt Art. 28 EG] gehört demgegenüber zu den Regeln, die [...] die nationalen Maßnahmen der Mitgliedstaaten beseitigen sollen". 113 Wenngleich dieses obiter dictum im Urteil van de Haar keine ausdrückliche Absage an eine Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit beinhaltet, 114 so lässt sich doch hinsichtlich des grundfreiheitlichen Adressatenkreises eine restriktive Tendenz des Gerichtshofs beobachten.115 Zugleich werden dadurch die entgegengesetzten Andeutungen der Entscheidung Dansk Supermarked relativiert.

(4) Vlaamse Reisbureaus In der Folgezeit präzisierte der EuGH seine im Urteil van de Haar gemachten Ausführungen. Hier ist insbesondere die Entscheidung vom 1. 10. 1987 in der Rechtssache Vlaamse Reisbureaus hervorzuheben. 116 Das dortige Vorlageverfahren sollte klären, ob die streitgegenständlichen Regelungen - sowohl staatliche Gesetze als auch privatrechtliche Vereinbarungen - mit den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften und der Warenverkehrsfreiheit im Einklang stehen.117 Hinsichtlich Art. 85 EWGV (jetzt Art. 81 EG) stellte der Gerichtshof fest, dass die vorgenannten Gesetze ebenso mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar waren wie die inhaltsgleichen privatrechtlichen Vereinbarungen. 118 Demgegenüber betonte er eine Verengung des grundfreiheitlichen Prüfungsmaßstabs: „Da sich die Artikel 30 und 34 EWG-Vertrag [jetzt Artt. 28 f. EG] nur auf staatliche Maßnahmen und nicht auf Verhaltensweisen von Unternehmen beziehen, ist nur zu prüfen, ob nationale Bestimmungen wie

112 Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, Vgl. auch Hintersteininger, 130 f.; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 60 f. 113 EuGH, Verb. Rs. 177/82 u. 178/82 (van de Haar), Slg. 1984, 1797, Rn. 11 f. 114 Zutreffend Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 131. 115 Ähnlich Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 61. 116 EuGH, Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987, 3801. 117 Vgl. EuGH, Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987, 3801, Rn. 8. 118 Vgl. EuGH, Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987, 3801, Rn. 21 u. 24.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit diesen Artikeln vereinbar sind". 119 Hierdurch distanzierte sich der EuGH ausdrücklich von einer unmittelbaren Drittwirkung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit. 120 Eine dogmatisch fundierte Begründung für dieses Ergebnis wurde in der Entscheidung Vlaamse Reisbureaus zwar nicht gegeben;121 immerhin sprach sich der Gerichtshof jedoch in bislang nicht gekannter Deutlichkeit gegen eine Bindung privater Rechtssubjekte an die Vorschriften des freien Warenverkehrs aus.

(5) Bayer Die klaren Aussagen des Urteils Vlaamse Reisbureaus bestätigte der EuGH in der Entscheidung Bayer vom 27.9.1988.122 In dem Vorlageverfahren war eine privatrechtliche Vereinbarung zu beurteilen; diesbezüglich erbat das vorlegende Gericht Auslegungskriterien für die Warenverkehrsfreiheit und die vertraglichen Wettbewerbsvorschriften. 123 Der Gerichtshof betonte, die Artt. 30 ff. EWGV (jetzt Artt. 28 ff. EG) erfassten „Maßnahmen der Mitgliedstaaten", während die Artt. 85 ff. EWGV (jetzt Artt. 81 ff. EG) für „Vereinbarungen zwischen Unternehmen" Geltung beanspruchten. 124 Mit Blick auf die streitgegenständliche Vereinbarung lehnte es der EuGH daraufhin ab, die Warenverkehrsfreiheit als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. 125

119

EuGH, Rs. 311/85 (Vlaamse Reisbureaus), Slg. 1987,3801, Rn. 30. Abweichend Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 133, wonach der EuGH nur „iregelmäßig [...] staatliche Verhaltensweisen, nicht aber solche von privaten Rechtssubjekten" dem Prüfungsmaßstab der Warenverkehrsfreiheit unterstellt (Hervorh. d. Verf.). Zur Begründung weist Hintersteininger darauf hin, dass die entsprechenden Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Vlaamse Reisbureaus lediglich als obiter dicta anzusehen seien. 121 Ohne näheren Verweis auf die Urteilsgründe in der Rechtssache Vlaamse Reisbureaus konstatiert jedoch Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 62: „Wie im Urteil Walrave berief sich der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung auf die Vertragsziele und den 'effet utile' des Gemeinschaftsrechts [...]. Dennoch verneinte er die unmittelbare Drittwirkung von Art. 30 EGV. Daraus kann nur gefolgert werden, daß der 'effet utile'und die Vertragsziele für den EuGH nicht die entscheidenden Argumente für eine unmittelbare Drittwirkung sind." 122 EuGH, Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249. 123 Vgl. EuGH, Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249, Rn. 1. 124 EuGH, Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249, Rn. 11. 125 Vgl. EuGH, Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249, Rn. 13. 120

310

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

Wiederum unterblieb eine nähere Begründung für die restriktive Haltung gegenüber einer Drittwirkung der Vorschriften zum freien Warenverkehr. Trotz dieser Defizite festigte das Urteil in der Rechtssache Bayer die seit der Entscheidung van de Haar erkennbare Entwicklung, eine Bindung von Privatpersonen an die Warenverkehrsfreiheit abzulehnen.126

cc) Zwischenergebnis In der Retrospektive erscheint die Judikatur zur grundfreiheitlichen Drittwirkung zweigeteilt. Einerseits besteht hinsichtlich der Personenverkehrsfreiheiten eine gefestigte Rechtsprechungslinie. Die Bindung von Privatpersonen an die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit sowie die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs hat der EuGH bereits in frühen Entscheidungen befürwortet. Neuere Urteile stellen klar, dass dies auch für nichtdiskriminierende Maßnahmen gilt; 1 2 7 zudem kommt es nicht darauf an, ob eine kollektivrechtliche oder eine individualrechtliche Regelung vorliegt. 128 Andererseits ist die Judikatur zur Drittwirkung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit uneinheitlich. 1 2 9 Während frühe Entscheidungen eine solche Drittwirkung indizieren, belegen die ausdrücklichen Erwägungen neuerer Urteile ein restriktiveres Verständnis des grundfreiheitlichen Adressatenkreises. Überwiegend beurteilt der Gerichtshof die Regelungen privater Rechtssubjekte nicht am Maßstab der Warenverkehrsfreiheit, sondern allein unter wettbewerbsrechtlichen Aspekten. 130 Sämtliche der zuvor angesprochenen Entscheidungen des EuGH weisen allerdings nicht unerhebliche Begründungsdefizite auf. In manchen Urteilen

126

Ähnlich Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 64. Vgl. aber auch Steindorff,\ FS Lerche, 575 ff. (580), der die Aussage des EuGH im Urteil Bayer als bloßes obiter dictum qualifiziert. 127 Siehe oben aa) (5), S. 303. 128 Siehe oben aa) (6), S. 305. 129 Zu undifferenziert insoweit Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997,64: „Zusammenfassend lässt sich feststellen, daß der EuGH eine unmittelbaren [sie!] Drittwirkung der Art. 30 ff. EGV in ständiger Rechtsprechung ablehnt"; Hervorh. d. Verf. 130 Vgl. auch Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 136 f. Im Schrifttum wird dieser Rechtsprechungslinie meist gefolgt; vgl. z.B. aus der Kommentarliteratur Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 89; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn.46; Geiger, Art. 28 EGV, Rn. 10; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 44; Lux, in: Lenz, Art. 28, Rn. 16; Müller-Graff, in: GTE, Art. 30, Rn. 307 f.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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rekurriert der Gerichtshof auf den Gedanken des effet utile sowie die notwendige einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts, um die Drittwirkung der jeweiligen Grundfreiheit zu belegen;131 teilweise wird die grundfreiheitliche Bindung von Privatpersonen bzw. die Ablehnung einer solchen Bindungswirkung lediglich behauptet.132 Angesichts dieser Defizite sowie zum Teil divergierender Entscheidungen des EuGH ist die Drittwirkungsproblematik nach wie vor als ungelöst zu betrachten. Unter Einbeziehung der bisherigen Erkenntnisse soll daher nachfolgend versucht werden, ein schlüssiges Konzept der Integration privater Rechtssubjekte in die Dogmatik der Grundfreiheiten zu erarbeiten.

2. Konkretisierung Den Ausgangspunkt bildet die obige Feststellung, dass die binnenmarktfinale Ausrichtung der Grundfreiheiten nicht nur mitgliedstaatliche Maßnahmen, sondern auch private bzw. privatrechtlich determinierte Handlungsformen erfasst. 133 Zur notwendigen Konkretisierung dieser teleologischen Betrachtungsweise stehen zwei unterschiedliche dogmatische Ansätze zur Verfügung. Zum einen ließe sich eine direkte Bindung privater Rechtssubjekte an die grundfreiheitlichen Vorschriften konstruieren; eine solche unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten entspräche der neueren Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten. Zum anderen könnte den Grundfreiheiten eine bloß mittelbare Drittwirkung zugesprochen werden, welche zwar privatrechtliche Vereinbarungen beeinflusst, eine direkte Bindung von Privatpersonen jedoch ausschließt. Entsprechend der Judikatur zur Warenverkehrsfreiheit würde so der unterschiedliche Adressatenkreis der Grundfreiheiten einerseits und der Wettbewerbsregeln andererseits betont.

131

Vgl. dazu die oben genannten Entscheidungen Walrave u. Koch, Bosman und Angonese, S. 300 ff. 132 So z.B. in den zuvor besprochenen Urteilen Donà, van Ameyde, Dansk Supermarked, Vlaamse Reisbureaus und Bayer, S. 301 ff. 133 Siehe oben l.a), S. 299.

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5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

a) Unmittelbare Drittwirkung? Der Gedanke des effet utile spricht zunächst für eine möglichst weitgehende Einbeziehung privater Handlungsformen in die grundfreiheitliche Dogmatik. 1 3 4 Die Schutzwirkungen der Grundfreiheiten werden dann am effektivsten gewährleistet, wenn sämtliche Hemmnisse des freien Wirtschaftsverkehrs ungeachtet ihres personalen Ursprungs am grundfreiheitlichen Maßstab beurteilt werden. Dem entspricht die direkte Verpflichtung privater Rechtssubjekte im Sinne einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten. 135 Auch der EuGH dehnt zum Teil unter Rückgriff auf Effektivitätsgesichtspunkte den Kreis der grundfreiheitlichen Verpflichtungsadressaten auf Privatpersonen aus. 136 Darüber hinaus sichert nach Meinung des Gerichtshofs eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten die einheitliche Anwendimg des Gemeinschaftsrechts; 137 für die Geltung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten spielt es danach keine Rolle, ob bestehende Binnenmarkthindernisse in einem Mitgliedstaat staatlich begründet wurden, in einem anderen Mitgliedstaat dagegen privater Natur sind. Die vorgenannten Argumente für eine unmittelbare Drittwirkung besitzen jedoch bereits für sich genommen nur eine relativierte Aussagekraft. So kann nicht grenzenlos auf die Rechtsfigur des effet utile rekurriert werden, um bestimmte Wirkungen der vertraglichen Vorschriften zu postulieren. 138 Insbesondere dürfen normative Wertentscheidungen des Primärrechts hierdurch nicht überspielt werden. Mit Blick auf die Grundfreiheiten ist dabei zu berücksichtigen, dass private Handlungsformen primär von den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages, nicht aber von den Grundfreiheiten erfasst werden. 139 Die Berufung auf den effet utile der grundfreiheitlichen Vorschriften stößt hier an ihre

134

Vgl. Schnichels, Niederlassungsfreiheit, 1995, 85 f. sowie Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 198: „Vorrang, Einheit und Effektivität zählen zu den fundamentalen Prinzipien des Gemeinschaftsrechts". 135 Dafür i.E. Bleckmann, GS Sasse, 665 ff. (676 f.); Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, 94 ff.; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 299; Reichold, ZEuP 1998, 434 ff. (447 ff.); Steindorff, FS Lerche, 575 ff. (589). 136 Vgl. insb. EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 83 f. 137 Ebd. 138 Zu den Grenzen des effet utile als Argumentationstopos vgl. Streinz, FS Everling, 1491 ff. (1507 ff.). 139 Siehe dazu bereits die Besprechung der Urteile van de Haar, Vlaamse Reisbureaus und Bayer, oben S. 307 ff.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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Grenzen. 140 Auch der Verweis auf die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts begründet nicht zwingend eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten. Zwar müssen vergleichbare Hemmnisse des freien Wirtschaftsverkehrs einheitlich dem gemeinschaftsrechtlichen Prüfungsmaßstab unterliegen, unabhängig davon, ob sie staatlich oder privat begründet sind. Dies setzt indes nicht voraus, dass private Rechtssubjekte direkt an die Grundfreiheiten gebunden sind; vielmehr ließen sich entsprechende Ergebnisse auch über eine mittelbare Drittwirkung grundfreiheitlicher Vorschriften erzielen. 141 Darüber hinaus begegnet der dogmatische Ansatz einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten auch im Übrigen erheblichen Bedenken.142 Hier ist vor allem darauf hinzuweisen, dass die direkte Bindung von Privatpersonen an die grundfreiheitlichen Vorschriften die - ebenfalls gemeinschaftsrechtlich geschützte - Privatautonomie nicht hinreichend berücksichtigt. 143 Grundlage der Privatautonomie ist die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Einzelnen. 144 Letztere folgt aus dem Bekenntnis zur Marktwirtschaft, 145 welches die primärrechtlichen Vorschriften implizieren. 146 Zwar ist die freie Selbstbestimmung im Sinne privatautonomen Handelns kein Selbstzweck.147 Dennoch muss die Privatautonomie - im Falle kollektiver Regelungen: die Verbandsautonomie - bei der Anwendung der Grundfreiheiten auf private Rechtssubjekte notwendig berücksichtigt werden. 148 Vertritt man dagegen eine direkte Bindung von Privatpersonen an die grundfreiheitlichen Vorschriften, so werden jene in systemwidriger Weise den Mitgliedstaaten gleichgestellt, ohne die gebotene Abwä-

140 Näher hierzu Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 186 f.; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 48. 141 Dazu sogleich unten b). 142 Gegen eine unmittelbare Drittwirkung aller Grundfreiheiten auch Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (274); Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 46; Jarass, EuR 2000, 705 ff. (715 f.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 192 ff.; Streinz, Rn. 707 f.; ders./Leible, EuZW 2000, 459 ff. (464 f.). 143 Ähnlich Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (508) sowie Jarass, EuR 2000, 705 ff. (715): „Die Bindung von Privatpersonen kann aber schwerlich so weit wie die der Mitgliedstaaten gehen, soll nicht der Freiheitsraum der Bürger unangemessen eingeschränkt werden". 144 Näher zur Privatautonomie im Hinblick auf die grundfreiheitliche Drittwirkungsproblematik Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 198 ff. 145 Vgl. Hintersteininger, Binnenmarkt und Di skr iminierungs verbot, 1999, 286. 146 Siehe bereits oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (1), bei Fußn. 99. 147 Zutreffend Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, 202 mit Verweis auf Raiser, JZ 1958, 1 ff. (5 f.). 148 Vgl. Streinz, Rn. 707.

314

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

gung mit der Privat- bzw. Verbandsautonomie vorzunehmen. 149 Im Ergebnis ist eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten daher abzulehnen.

b) Mittelbare Drittwirkung Gleichwohl bleibt das Erfordernis, private Handlungsformen in die grundfreiheitliche Dogmatik zu integrieren; 150 potentielle Defizite der praktischen Wirksamkeit der Grundfreiheiten auf privatrechtlicher Ebene sind zu erkennen und entsprechend abzumildern. Zugleich darf eine Alternativlösung zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht gefährden; insofern ist der judikativen Argumentationslinie im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten Rechnung zu tragen. 151 Die genannten Vorgaben werden durch die dogmatische Konstruktion einer mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten hinreichend berücksichtigt. 152 Alleiniger Ausgangspunkt ist dabei die erkannte grundfreiheitliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten. 153 Private bzw. privatrechtlich determinierte Maßnahmen können der grundfreiheitlichen Prüfung unterstellt werden, indem auf die mitgliedstaatliche Pflicht zur Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Normen abgestellt wird. Mit Blick auf die zu beurteilende Maßnahme lassen sich dabei zwei Fallkonstellationen unterscheiden: 154

149 Vgl. hierzu EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; der Gerichtshof erwähnte dort zwar die rechtliche Autonomie privatrechtlicher Vereinigungen, stellte diese jedoch ohne weitere Abwägung der grundfreiheitlichen Schutzwirkung hintan. Etwas ausführlicher dagegen EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,14921, Rn. 79 f. 150 Ähnlich Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (465). 151 Vgl. nur EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 83 f. 152 Diesbezüglich lassen sich Parallelen zur nationalen Grundrechtsdogmatik ziehen; vgl. etwa BVerfGE 7, 198 (205 f.); 73, 261 (269). Strukturelle Unterschiede zwischen den Grundfreiheiten des EG-Vertrages einerseits und den nationalen Grundrechten dürfen dabei indes nicht übersehen werden; näher dazu oben 3. Kapitel C. III. 3. b), S. 236 ff. 153 Siehe oben I , S. 294 ff. 154 Ebenfalls diff. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (274); Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 48 f.; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 6; Müller-Graff, in: GTE, Art. 30, Rn. 148 ff. u. 290; Roth, FS Everling, 1231 ff. (1246 f.); Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (465).

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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Fordern oder verbieten nationale Vorschriften des Privatrechts bestimmte Handlungen von Privatpersonen, so sind allein diese Regelungen anhand des grundfreiheitlichen Maßstabs zu beurteilen. 155 Mithin kommt es nicht auf ein konkretes Tun oder Unterlassen privater Rechtssubjekte an, sondern auf die dahinter stehende rechtliche Norm. 1 5 6 Diese aber ist unmittelbar dem Mitgliedstaat zuzurechnen. Insofern wird in dieser Fallkonstellation die Problematik einer - unmittelbaren oder mittelbaren - Drittwirkung erst gar nicht virulent. 157 Innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung ergeben sich keine Besonderheiten; es ist direkt auf die staatliche Maßnahme - in concreto: auf den Legislativakt zu rekurrieren. Schwieriger zu beurteilen sind dagegen Handlungen von Privatpersonen, welche nicht normkausal sind, sondern allein auf der rechtlichen Autonomie privater Rechtssubjekte beruhen. 158 Bewirken jene Maßnahmen Hemmnisse für den freien Wirtschaftsverkehr im Binnenmarkt, so beeinträchtigen nur die handelnden Privatpersonen die Grundfreiheiten; der grundfreiheitliche Verstoß als solcher lässt sich nicht auf ein staatliches Verhalten zurückführen. 159 Auch in diesen Fällen ist es jedoch nicht ausgeschlossen, eine bestehende Rechtspflicht der Mitgliedstaaten in den Vordergrund der Prüfung zu rücken. 160 Denn in den genannten Konstellationen hat es der betreffende Mitgliedstaat pflichtwidrig unterlassen, (von Privatpersonen verursachte) Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten zu verhindern. Dogmatischer Anknüpfungspunkt für die notwendig

155 Eingehend zur grundfreiheitlichen Prüfung nationaler Regelungen des Privatrechts Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. 156 Vgl. aus der Rspr. etwa EuGH, Rs. 16/74 (Centrafarm), Slg. 1974, 1138, Rn. 9/11; EuGH, Verb. Rs. 55/80 u. 57/80 (GEMA), Slg. 1981, 147, Rn. 8; EuGH, Rs. 19/84 (Pharmon), Slg. 1985, 2281, Rn. 22; EuGH, Rs. 53/87 (Renault), Slg. 1988, 6039, Rn. 11; EuGH, Rs. C-10/89 (Hag II), Slg. 1990, 1-3711, Rn. 20; EuGH, Verb. Rs. C92/92 u. C-326/92 (Phil Collins), Slg. 1993, 1-5145, Rn. 23; EuGH, Rs. C-9/93 (IdealStandard), Slg. 1994,1-2789, Rn. 33. Anders noch EuGH, Rs. 119/75 (Terrapin/Terranova), Slg. 1976, 1039, Rn. 4; EuGH, Rs. 65/86 (Bayer), Slg. 1988, 5249, Rn. 12. 157 Ebenso i.E. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (274). 158 Vgl. hierzu auch Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (466) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997,1-6959. 159 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 197 f. 160 Vgl. Burgi, EWS 1999, 327 ff. (329 f.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 198; Meurer, EWS 1998, 196 ff. (197 ff.); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 145 f.; Schwarze, EuR 1998, 53 ff. (54); Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (466); Szczekalla, DVB1. 1998, 219 ff. (221 ff.).

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5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

zu begründende mitgliedstaatliche Garantenpflicht ist dabei Art. 10 EG; insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 161 Die dogmatische Konstruktion einer solchen mittelbaren Verpflichtung der Mitgliedstaaten besitzt gegenüber einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten zwei wesentliche Vorteile. Zum einen integriert sie schützenswerte Aspekte der Privatautonomie in die grundfreiheitliche Prüfung. Zum anderen vermeidet sie eine Verschiebung des gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgefüges zu Lasten der Mitgliedstaaten.162 Denn hinsichtlich der grundfreiheitlichen Schutzpflicht in Verbindung mit Art. 10 EG „steht es [...] im Ermessen der Mitgliedstaaten, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung allein zuständig bleiben, zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer bestimmten Situation am geeignetsten sind, um Beeinträchtigungen der Einfuhr zu vermeiden". 163 Damit wird eine mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten der bereits angesprochenen föderalen Struktur der Gemeinschaft eher gerecht als die direkte Bindung privater Rechtssubjekte an die grundfreiheitlichen Vorschriften. 164 Über das Konstrukt der mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten lassen sich im Grundsatz alle privaten bzw. privatrechtlich determinierten Handlungsformen in die grundfreiheitliche Dogmatik integrieren, ohne dass zugleich Aspekte der Privat- bzw. Verbandsautonomie verkannt werden. Weder der effet utile der Grundfreiheiten noch die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sind dadurch gefährdet. Angesichts der erkannten Nachteile einer unmittelbaren Drittwirkung ist daher von einer nur mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten auszugehen, welche allein die Mitgliedstaaten als direkte Verpflichtete grundfreiheitlicher Vorschriften ansieht.165

161

Siehe oben 3. Kapitel Β. II. 2., S. 161 ff. Zutreffend Burgi, EWS 1999, 327 ff. (330); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 146; Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (466). 163 EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, 1-6959, Rn. 30; Hervorh. d. Verf. 164 Die föderale Struktur der Gemeinschaft ergibt sich aus dem normativen Prinzipiengefuge des EG-Vertrages; siehe dazu die obigen Ausführungen zur Binnenmarktkonzeption sowie zur Kompetenzordnung, 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (2) u. 3. Kapitel B. II. 4., S. 133 ff. u. 167. 165 Für eine mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten auch Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 145; Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (467). 162

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

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3. Konvergenz der Grundfreiheiten Der Gerichtshof nimmt - wie bereits ausgeführt - in Bezug auf die grundfreiheitliche Drittwirkung eine differenzierte Betrachtung vor. 166 Demgegenüber ermöglicht das vorliegend vertretene Verständnis der mittelbaren Drittwirkung die Entwicklung eines einheitlichen Prüfungsmaßstabes. So kann auf konvergente Strukturen zurückgegriffen werden, um privates Handeln in die Dogmatik der Grundfreiheiten zu integrieren. 167 Dies ist im Folgenden näher zu erläutern. Die Differenzierungen des EuGH resultieren aus einem Vergleich staatlichen Handelns mit dem Verhalten von Privatpersonen. 168 Die Bindung privater Rechtssubjekte an die grundfreiheitlichen Vorschriften postuliert der Gerichtshof dann, wenn das Verbot staatlicher Beschränkungen des freien Wirtschaftsverkehrs durch private Handlungsformen unterlaufen werden kann. 169 Dies ist häufig im Bereich der personenbezogenen Grundfreiheiten der Fall. Dort tragen private Rechtssubjekte mitunter den Charakter so genannter intermediärer Gewalten, 170 d.h. sie besitzen typische staatliche Machtbefugnisse, welchen der Einzelne nicht ohne weiteres auszuweichen vermag. 171 Solche intermediären Gewalten scheint der Gerichtshof im Bereich der übrigen Grundfreiheiten hingegen nicht anzunehmen; zumindest wird in der Judikatur zur Warenverkehrs-

166

Siehe oben 3, S. 299 ff. Zu den Vorteilen erkannter Konvergenzen der Grundfreiheiten siehe bereits oben 1. Kapitel Α. I , S. 32 ff. 168 Vgl. aus der Literatur auch Jarass, EuR 2000, 705 ff. (716) m.w.N, wonach die „Anwendung der Grundfreiheiten unproblematisch ist, wenn [...] eine Privatperson aufgrund bestimmter Vorrechte ähnlich wie der Staat tätig wird"; Hervorh. d. Verf. 169 Vgl. EuGH, Rs. 36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 83. Dahinter steht letztlich der Gedanke des effet utile; siehe dazu bereits oben 2. a), bei Fußn. 134 f. 170 Vgl. zur Terminologie nur Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 263; Roth, FS Everling, 1231 ff. (1246). 171 Eine solche „Staatsnähe" findet sich zumeist bei kollektivrechtlichen Regelungen. Den Vergleich staatlicher und privater Handlungsformen zieht der Gerichtshof aber auch im Übrigen heran; vgl. dazu EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 32; dort konstatierte der Gerichtshof mit Blick auf eine individualrechtliche Regelung, „daß die Beseitigung der Hindernisse für die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten gefährdet wäre, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse zunichte gemacht werden könnte, die sich daraus ergeben, daß nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungungen und Einrichtungen von ihrer rechtlichen Autonomie Gebrauch machen" (Hervorh. d. Verf.). 167

318

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

freiheit der genannten Umgehungsgefahr keine entscheidende Bedeutung beigemessen.172 Die in der Rechtsprechung anzutreffende Unterscheidung der Grundfreiheiten mit Blick auf ihre Bindungswirkung fur Privatpersonen überzeugt nicht. 173 Bereits der Ausgangspunkt der richterlichen Argumentation ist nicht hinreichend klar zu fassen: Wann intermediäre Gewalten bzw. typische staatliche Machtbefugnisse privater Rechtssubjekte gegeben sind, lässt sich nicht unter Anwendung eines einheitlichen - mithin gemeinschaftsrechtlichen - Maßstabs beantworten. 174 Vielmehr muss auch in diesem Zusammenhang danach differenziert werden, ob die zu beurteilende Maßnahme dem Staat zurechenbar ist oder auf der rechtlichen Autonomie privater Rechtssubjekte beruht. 175 Liegt eine privatautonome Maßnahme vor und folgt diese einer - wie auch immer festgestellten - typischen staatlichen Machtbefugnis, so bleibt die eigentliche Begründung für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten dort unklar. 176 Das vorliegend bevorzugte Alternativmodell einer mittelbaren Drittwirkung vermeidet die erwähnten Abgrenzungsschwierigkeiten. Indem allein die Mitgliedstaaten direkte Verpflichtete der grundfreiheitlichen Vorschriften bleiben, kommt es auf eine Feststellung typischer staatlicher Machtbefugnisse nicht an. Damit bleibt hinsichtlich sämtlicher Grundfreiheiten allein maßgeblich, ob die betreffende Regelung einem Mitgliedstaat zurechenbar ist. Muss dies verneint werden, so kann nach dem vorliegenden Verständnis nicht die (private) Maßnahme, sondern nur das korrespondierende staatliche Unterlassen dem grundfreiheitlichen Prüfungsmaßstab unterworfen werden. Eine dem Kriterium der „Staatsnähe" folgende Unterscheidung zwischen Personenverkehrsfreiheiten einerseits und sonstigen Grundfreiheiten andererseits erübrigt sich. Dies gilt insbesondere für die bislang nicht erwähnten Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs, welche in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur grundfreiheitlichen DrittWirkung keine Rolle spielten. 177

172 Vgl. dazu die erwähnten Entscheidungen van de Haar, Vlaamse Reisbureaus und Bayer; siehe oben 1. b) bb), S. 307 ff. 173 Ebenfalls krit. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 287. 174 Vgl. Burgi, EWS 1999, 327 ff. (331); Streinz/Leible, EuZW 2000,459 ff. (464). 175 Näher dazu Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (465) mit der Unterscheidung von rechtlicher und faktischer Zwangsläufigkeit. 176 Ebd. 177 Vgl. zu Letzterem Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997,33.

Α. Verpflichtete der Grundfreiheiten

319

III. Die Gemeinschaft und ihre Organe Abschließend ist kurz darauf einzugehen, ob die Gemeinschaft selbst sowie ihre Organe von den Grundfreiheiten des EG-Vertrages verpflichtet werden können. 178 Der Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften ist auch in diesem Zusammenhang wenig aussagekräftig. 179 Dennoch ergeben sich aus der textlichen, systematischen und teleologischen Interpretation der Bestimmungen des EG-Vertrages Anhaltspunkte für eine Lösung jener Problematik. 180 Zunächst haben die Gemeinschaftsorgane bei der Wahl ihrer Handlungsformen die grundlegende Vorschrift des Art. 249 Abs. 1 zu beachten.181 Gemäß dieser Bestimmung ist die Sekundärrechtssetzung nur „nach Maßgabe dieses Vertrages" zulässig; 182 dies schließt die Grundfreiheiten des EG-Vertrages ein. 183 Angesichts der systematischen Stellung des Art. 249 Abs. 1 EG gelten dessen Vorgaben gleichermaßen für gesetzgebende wie vollziehende Handlungen der Gemeinschaftsorgane. 184 Darüber hinaus spricht die binnenmarktfinale Ausrichtung der Grundfreiheiten für eine entsprechende Verpflichtung der gemeinschaftlichen Organe. 185 Denn Hemmnisse für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr können durch Handlungen der Gemeinschaftsorgane ebenso hervorgerufen werden wie durch mitgliedstaatliche Maßnahmen;186 demgemäß

178

Monographisch hierzu etwa Scheffer, Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers, 1997; Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995. 179 Siehe bereits oben I , bei Fußn. 16. 180 Die nachfolgende Betrachtung bezieht sich allein auf die in Art. 7 Abs. 1 EG genannten Organe. Für die Hilfs- bzw. Nebenorgane i.S.v. Art. 7 Abs. 2 EG dürfte im Ergebnis nichts anderes gelten; vgl. dazu auch Ηinter steininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 108 f. 181 Entsprechend dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung ist der Katalog des Art. 249 Abs. 1 EG im Grundsatz abschließend; vgl. nur Oppermann, Rn. 535; Streinz, Rn. 375; abweichend Hetmeier, in: Lenz, Art. 249, Rn. 3. 182 Vgl. auch Art. 7 Abs. 1 EG, wonach jedes Organ der Gemeinschaft „nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse" handelt. 183 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (274). 184 Während Verordnungen nach Art. 249 Abs. 2 EG und Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EG aufgrund ihrer allgemeinen Geltung Rechtsnormcharakter besitzen, ist die in Art. 249 Abs. 4 EG genannte Entscheidung dem nationalen Verwaltungsakt, also einer Handlungsform der Exekutive, vergleichbar. Näher zu den einzelnen Rechtsakten des Art. 249 etwa Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 38 ff. 185 Ebenso i.E. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (715). 186 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (274).

320

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

überprüft auch der EuGH in ständiger Rechtsprechung gemeinschaftliche Sekundärrechtsakte anhand des grundfreiheitlichen Maßstabs.187 Der Gerichtshof selbst nimmt im Rahmen dieser Betrachtung eine Sonderstellung ein. 188 Während die übrigen Organe der Gemeinschaft einer judikativen Kontrollinstanz unterliegen, werden die Handlungen des EuGH nicht verpflichtend auf ihre Vereinbarkeit mit dem primären Gemeinschaftsrecht geprüft. 189 Allein die fehlende Kontrollmöglichkeit schließt es indes nicht aus, den Gerichtshof an das Primärrecht und damit an die Grundfreiheiten zu binden. 190 Vielmehr gelten die oben angeführten Argumente für eine grundfreiheitliche Verpflichtung hier entsprechend. Im Ergebnis ist somit davon auszugehen, dass sämtliche Organe der Gemeinschaft in den grundfreiheitlichen Adressatenkreis einzubeziehen sind. 191

B. Allgemeine Charakteristika beeinträchtigender Maßnahmen Bevor auf die praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen näher eingegangen wird, sollen zunächst allgemeine Charakteristika beeinträchtigender Maßnahmen kurz angesprochen werden. Nach Klarstellungen der Terminologie (I.) beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen dabei auf die

187

Vgl. EuGH, Rs. 46/76 (Bauhuis), Slg. 1977, 5, Rn. 27 ff.; EuGH, Verb. Rs. 80/77 u. 81/77 (Italienischer Wein), Slg. 1978, 927, Rn. 35/36; EuGH, Rs. 162/82 (Cousin), Slg. 1983, 1101, Rn. 18 ff.; EuGH, Rs. 218/82 (Kommission/Rat), Slg. 1983, 4063, Rn. 13; EuGH, Rs. 15/83 (Denkavit Nederland), Slg. 1984, 2171, Rn. 15; EuGH, Rs. 37/83 (Rewe), Slg. 1984, 1229, Rn. 18; EuGH, Rs. C-9/89 (Spanien/Rat), Slg. 1990, I1383, Rn. 18 ff.; EuGH, Rs. C-51/93 (Meyhui), Slg. 1994,1-3879, Rn. 11; EuGH, Rs. C284/95 (Safety Hi-Tech), Slg. 1998, 1-4301, Rn. 63; EuGH, Rs. C-l 14/96 (Kieffer u. Thill), Slg. 1997,1-3629, Rn. 27. 188 Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 113 bezeichnet den Gerichtshof diesbezüglich als „Grenzorgan". 189 Näher hierzu Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295 ff. (299 ff.). 190 Zutreffend Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 113, Fußn. 374. 191 Ebenso die h.L.; vgl. nur Ehlers, Jura 2001, 266 ff. (274); Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 45; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 107 ff; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997, 82; Jarass, EuR 2000, 705 ff. (715); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 EGV, Rn. 44; Lux, in: Lenz, Art. 28, Rn. 9; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 143; Streinz, Rn. 706. Mit Blick auf das allgemeine Diskriminierungsverbot z.B. Lenz, in: ders., Art. 12, Rn. 11; Zuleeg, in: GTE, Art. 6, Rn. 17.

Β. Allgemeine Charakteristika beeinträchtigender Maßnahmen

321

Unterscheidung der Handlungsformen in Tun und Unterlassen (II.) sowie auf die Diskussion eines allgemeinen Spürbarkeitskriteriums (III.).

I. Begriff der Maßnahme Objekt der grundfreiheitlichen Prüfung ist immer eine bestimmte „Maßnahme" eines Verpflichtungsadressaten. 192 Diese Kennzeichnung ist als solche neutral; insbesondere wird damit nicht der Ausdruck einer besonderen rechtlichen Qualität verbunden. Staatliche Handlungsformen der Legislative, Judikative oder Exekutive sind davon ebenso erfasst wie das Verhalten privater Rechtssubjekte. Synonym zum Begriff der Maßnahme wird in der vorliegenden Arbeit der Terminus der Regelung verwendet, ohne dass es insoweit auf einen normativen Charakter ankommen soll. Dies mag nach feinsinniger Auffassung kritisiert werden; denn im Unterschied zum neutralen Begriff der Maßnahme impliziert die „Regelung" streng genommen einen solchen normativen Gehalt. Gleichwohl wird an dieser einheitlichen Verwendung der Begrifflichkeiten aus Praktikabilitätsgründen festgehalten. Auch der Gerichtshof sowie Teile des europarechtlichen Schrifttums differenzieren insoweit nicht zwischen Maßnahmen und Regelungen.193

II. Tun und Unterlassen Ungeachtet der im Einzelnen schwierigen Abgrenzung können die zu beurteilenden Maßnahmen danach unterschieden werden, ob ein (positives) Tun oder ein (negatives) Unterlassen vorliegt. Allein interessant ist in diesem Zusammenhang, ob bzw. inwieweit diese Differenzierung Konsequenzen für die grundfreiheitliche Prüfung bedingt.

192

Diese Begrifflichkeit lässt sich auf den Text des EG-Vertrages zurückführen. So sind in Artt. 28 f. EG „Maßnahmen gleicher Wirkung" verboten; auch Art. 58 Abs. 1 lit. b EG nimmt auf den Terminus der „Maßnahme" Bezug. 193 Vgl. nur EuGH, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 837, Rn. 5 u. 7/9; EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 7 u. 8; EuGH, Rs. 72/83 (Campus Oil), Slg. 1984, 2727, Rn. 15 u. 20. Aus der Literatur z.B. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (484); Jarass, EuR 2000, 705 ff. (708 f.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 82 ff.; Streinz, Rn. 672. 21 Mühl

322

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

Teilweise wird vertreten, das Unterlassen eines Verpflichtungsadressaten tangiere die Grundfreiheiten nicht. 194 Eine solche Auffassung lässt sich jedoch nur schwer mit dem weitgefassten Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften in Einklang bringen. 195 Vor allem aber wird sie der teleologischen Ausrichtung der Grundfreiheiten auf die Binnenmarktkonzeption nicht gerecht; binnenmarktfeindliche Situationen können auch durch das Unterlassen bestimmter Maßnahmen entstehen.196 Zutreffend beurteilt daher der Gerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung mitgliedstaatliche Unterlassungen anhand des grundfreiheitlichen Maßstabs.197 Hiervon zu trennen ist die Frage, wie die Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten erfasst werden kann. Diesbezüglich müssen Unterschiede bestehen, da (nur) die Anknüpfung an mitgliedstaatliches Unterlassen korrespondierende Handlungspflichten voraussetzt. Solche Garantenpflichten sind gesondert zu begründen. An dieser Stelle soll der Hinweis auf die abstrakten Ausführungen des dritten Kapitels genügen; die Prüfung eines Unterlassens am Maßstab der Grundfreiheiten muss insofern ergänzt werden, als zusätzlich auf Art. 10 EG abzustellen ist. 198

III. De minimis non curat praetor? In der Literatur wird nicht selten postuliert, die grundfreiheitliche Prüfung sei mit einem allgemeinen Spürbarkeitskriterium zu versehen, um die tatbestandliche Weite der Grundfreiheiten wirksam einschränken zu können. 199 Die Vertreter einer solchen Ansicht verweisen insbesondere auf die Rechtspre-

194 Vgl. etwa Mülfort, ZHR 159 (1995), 2 ff. (8) mit dem Hinweis auf das Fehlen einer mitgliedstaatlichen Vorschrift. 195 Vgl. Artt. 28 f. („alle Maßnahmen gleicher Wirkung"), 39 Abs. 3 („Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung"), 56 Abs. 1 u. 2 („alle Beschränkungen") EG (Hervorh. d. Verf.). 196 Dies wird von Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (8) selbst eingeräumt. 197 Vgl. EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, 1-6959, Rn. 30. Vgl. zu dieser Problematik auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 48 f.; Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (508); Jarass, EuR 2000, 705 ff. (713); Streinz, Rn. 709. 198 Näher dazu oben 3. Kapitel Β. II. 2., S. 161 ff. 199 Arndt, ZIP 1994, 188 ff. (190); Fezer, JZ 1994, 317 ff. (324); Jestaedt/Kästle, EWS 1994, 26 ff. (28); Kort, JZ 1996, 132 ff. (137 f.); Mortelmanns, CMLRev. 1991, 115 ff. (128, 135); Oliver, CMLRev. 1999, 783 ff. (790 ff.); Reich, ZIP 1993, 1815 ff. (1817); Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1 ff. (56 f.); Sack, WRP 1998, 103 ff. (116 ff.); Steiner, CMLRev. 1992, 749 ff. (771 f.).

Β. Allgemeine Charakteristika beeinträchtigender Maßnahmen

323

chung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit, 200 wonach hypothetische oder zu ungewisse oder unmittelbare Auswirkungen nicht zu einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs führten. 201 In den Kontext einer de minimis-Regel sei zudem die Entscheidung Keck und Mithouard einzuordnen, wodurch zugleich der gebotenen Parallelwertung zwischen Warenverkehrsfreiheit und Wettbewerbsrecht Rechnung getragen werde. 202 Die Befürworter einer Spürbarkeitsgrenze im Bereich der Grundfreiheiten setzen zutreffend den Fokus auf eine Einschränkung der grundfreiheitlichen Tatbestände. Vor allem im Bereich der Warenverkehrsfreiheit hat auch der Gerichtshof erkannt, dass er mit seiner extensiven DassonviUe-Y orme\ eine konturlose Anwendung der Grundfreiheiten ermöglichte; 203 insofern erhält der Verweis auf die vorgenannten restriktiveren Tendenzen in der Judikatur seine Berechtigung. Indes ist kaum anzunehmen, der EuGH wollte hiermit eine de minimis-Regel in die grundfreiheitliche Prüfung implementieren. 204 Denn in der Rechtsprechung nach Dassonville wurde eine solche Spürbarkeitsschwelle expressis verbis abgelehnt.205 Dementsprechend darf auch die Entscheidung Keck und Mithouard nicht ohne weiteres als Beleg für eine de minimis-Regel im Bereich der Grundfreiheiten herangezogen werden. 206 Neben diesen judikativen Vorgaben sprechen weitere wichtige Aspekte gegen die Einführung einer Spürbarkeitsgrenze: Zunächst ist auf den weitgefassten Wortlaut der grundfreiheitlichen Vorschriften zu verweisen. 207 Auch ein Vergleich mit der Rechtsprechung zum Verbot der Erhebung zollgleicher Abgaben nach Art. 25 EG legt es nahe, selbst geringfügige Beeinträchtigungen

200

Vgl. dazu Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 39 f. Vgl. EuGH, Rs. C-69/88 (Krantz), Slg. 1990,1-583, Rn. 11; EuGH, Rs. C-126/91 (Yves Rocher), Slg. 1993, 1-2361, Rn. 21; EuGH, Rs. C-169/91 (Stoke on Trent), Slg. 1993, 1-6635, Rn. 15; EuGH, Rs. C-93/92 (CMC Motorradcenter), Slg. 1993, 1-5009, Rn. 12; EuGH, Rs. C-379/92 (Peralta), Slg. 1994, 1-3453, Rn. 24; EuGH, Rs. C-96/94 (Centro Servizi Spediporto), Slg. 1995,1-2883, Rn. 41. 202 So z.B. Fezer, JZ 1994, 317 ff. (324). 203 Siehe hierzu auch die skizzierte Rechtsprechungsentwicklung nach der Entscheidung Dassonville oben 3. Kapitel, C, II, 1, c-f, S. 209 ff. 204 Ebenso i.E. Becker, EuR 1994, 162 ff. (170). 205 Vgl. EuGH, Verb. Rs. 177/82 u. 178/82 (van de Haar), Slg. 1984, 1797, Rn. 13; EuGH, Rs. 16/83 (Prantl), Slg. 1984, 1299, Rn. 20; EuGH, Rs. C-126/91 (Yves Rocher), Slg. 1993,1-2361, Rn. 21. 206 Zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 83 f. 207 Siehe soeben Fußn. 195. 201

21

324

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

über die Grundfreiheiten zu erfassen. 208 Im Übrigen führte die Forderung einer de minimis-Regel gerade im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten zu der kaum lösbaren Schwierigkeit, eine Spürbarkeitsschwelle quantitativ zu bestimmen. Insgesamt ist daher die Berücksichtigung einer de minimis-Regel im Bereich der Grundfreiheiten abzulehnen.209 Notwendige tatbestandliche Einschränkungen sind unter Berücksichtigung anderer - bereits genannter - Kriterien zu erzielen. 210

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen Im nunmehr folgenden letzten Abschnitt des fünften Kapitels sollen die bewusst abstrakt ausgestalteten - Ausführungen des zweiten und dritten Kapitels konkretisiert werden. Dabei sind die verschiedenen Formen der Diskriminierung nur kurz anzusprechen (I.); diesbezüglich wurden bereits die wesentlichen Prüfungskriterien umschrieben. 211 Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf der näheren Betrachtung bloß beschränkender Maßnahmen (II.). Hier gilt es, die bereits formulierten Ansatzpunkte zu präzisieren; insbesondere wird darauf einzugehen sein, wie die ATec£-Rechtsprechung des EuGH in eine umfassende grundfreiheitliche Dogmatik integriert werden kann.

I. Diskriminierung Die grundfreiheitliche Prüfung beginnt sinnvollerweise mit der Feststellung, ob die zu beurteilende Regelung diskriminierenden Charakter besitzt. Dadurch erfolgt zum einen die Fokussierung auf Maßnahmen höherer Beeinträchtigungsqualität. Zugleich wird die Prüfung der Grundfreiheiten entlastet, wenn diskriminierende Maßnahmen bereits zu Beginn abgeschichtet werden können; denn deren Feststellung erfordert gegenüber bloßen Beschränkungen einen geringeren Begründungsaufwand. Beides ergibt sich aus dem bereits erkannten

208

Zur Rspr. hinsichtlich Art. 25 EG vgl. nur Lux, in: Lenz, Art. 25, Rn. 9 m.w.N. Ebenso i.E. Becker, EuR 1994, 162 ff. (170); Ebenroth, FS Piper, 133 ff. (142 ff.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 84; Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (16); Müller-Graff in: GTE, Art. 30, Rn. 59; Schilling, EuR 1994, 50 ff. (60 f.). 210 Von besonderer Bedeutung sind an dieser Stelle der erforderliche grenzüberschreitende Bezug sowie die erkannte föderale Struktur der Gemeinschaft; siehe dazu bereits oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (l)-(3), S. 132 ff. 211 Siehe dazu oben 2. Kapitel C., S. 101 ff. 209

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

325

reziproken Verhältnis zwischen Eingriffsqualität und tatbestandlichen Anforderungen grundfreiheitlicher Prüfung. 212

1. Offene Diskriminierung Der soeben genannten Reihenfolge entspricht es, wenn innerhalb der Diskriminierungstatbestände zunächst die offenen, anschließend die versteckten Diskriminierungen geprüft werden. Offen diskriminierende Maßnahmen besitzen die höchste Beeinträchtigungsqualität und sind unter Zugrundelegung eines formellen Begriffs der Diskriminierung leicht erkennbar: Differenziert die zu beurteilende Regelung zwischen zwei Vergleichsgruppen anhand der verbotenen Merkmale, 213 so liegt eine offene Diskriminierung vor. Diesbezüglich ergeben sich in der praktischen Prüfung der Grundfreiheiten keine Besonderheiten; hier kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 214

2. Versteckte Diskriminierung Versteckte Diskriminierungen, welche sich durch die Anknüpfung an „neutrale" Unterscheidungsmerkmale auszeichnen,215 sind demgegenüber Maßnahmen von geringerer Eingriffsqualität. 216 Korrespondierend erhöhen sich die Anforderungen an die tatbestandliche Prüfung: Die bloße Differenzierung anhand jener Kriterien reicht nicht aus; vielmehr muss eine spezifische Relation zu den verbotenen Unterscheidungsmerkmalen festgestellt werden. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, ist dabei keine statistische, sondern eine typisierende Betrachtung maßgeblich. 217 Jene Erkenntnis bedarf nunmehr der Präzisierung. Beispielhaft werden hierzu die so genannten Fremdsprachenlektorenfälle aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs herangezogen. 218 Der EuGH hatte dort nationale Regelungen zu beurteilen, welche die universitäre Anstellung von Fremdsprachenlektoren einer zeitlichen Begrenzung unterwarfen, anderen

212

Siehe bereits oben 3. Kapitel C. IV. 3. b), S. 245 ff. Dies sind allein die Staatsangehörigkeit sowie die Produktherkunft bzw. -destination; siehe oben 2. Kapitel Β. V. 3., S. 95 ff. 214 Siehe insb. oben 2. Kapitel Β. V. u. 2. Kapitel C. I. 1., S. 90 ff. u. 102. 215 Näher dazu oben 2. Kapitel C. I. 2. b), S. 104 ff. 216 Siehe oben 3. Kapitel C. IV. 1., bei Fußn. 784. 217 Siehe oben 2. Kapitel C. I. 2. b) aa) u. bb), S. 105 f. 218 Vgl. EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591; EuGH, Verb. Rs. C-259/91, C331/91 u. C-332/91 (Allué II), Slg. 1993, 1-4309; EuGH, Rs. C-272/92 (Spotti), Slg. 1993,1-5185. 213

326

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

Lehrkräften jedoch unbefristete Arbeitsverhältnisse gewährten. Diesbezüglich konstatierte der Gerichtshof versteckte Diskriminierungen zu Lasten der Fremdsprachenlektoren. 219 Zur Begründung verwies er darauf, dass Fremdsprachenlektoren überwiegend - im Sinne statistischer Signifikanz - Angehörige anderer Mitgliedstaaten seien; 220 mithin führten die betreffenden Regelungen zu dem gleichen Ergebnis wie eine offene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Die hier vertretene typisierende Betrachtungsweise verlangt indes eine andere Argumentation. 221 Auf eine zahlenmäßige Verteilung zwischen ausländischen und inländischen Staatsangehörigen kommt es in keinem Fall an. 222 Vielmehr sind in den genannten Fremdsprachenlektorenfällen die ausländischen Staatsangehörigen deshalb „typischerweise" betroffen, weil universitäre Sprachkurse voraussetzen, dass die Lehrkräfte die jeweilige Sprache perfekt beherrschen. Entscheidend ist nun, ob hierfür - wie in den vom EuGH entschiedenen Fällen - Muttersprachler benötigt werden. 223 Dann - aber auch nur dann stellt die Differenzierung anhand der Eigenschaft als Fremdsprachenlektor eine versteckte Diskriminierung dar. Andererseits sind Konstellationen denkbar, in welchen diese unterschiedliche Behandlung von Fremdsprachenlektoren und sonstigen Lehrkräften keine versteckte Diskriminierung begründet, da sie nicht zu dem gleichen Ergebnis wie eine offene Diskriminierung aufgrund der

219

Vgl. EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C259/91, C-331/91 u. C-332/91 (Allué II), Slg. 1993, 1-4309, Rn. 12; EuGH, Rs. C272/92 (Sporti), Slg. 1993,1-5185, Rn. 18. 220 In den Entscheidungen Allué I u. Allué II berief sich der Gerichtshof expressis verbis auf statistische Angaben, wonach nur 25% der Fremdsprachenlektoren inländische Staatsangehörige seien; vgl. EuGH, Rs. 33/88 (Allué I), Slg. 1989, 1591, Rn. 12; EuGH, Verb. Rs. C-259/91, C-331/91 u. C-332/91 (Allué II), Slg. 1993,1-4309, Rn. 12. Ähnlich EuGH, Rs. C-272/92 (Sporti), Slg. 1993, 1-5185, Rn. 18: „Fremdsprachenlektoren [sind] ganz überwiegend ausländische Staatsangehörige"; Hervorh. d. Verf. 221 Zur Kritik an der judikativen Entscheidungsfindung in den Fremdsprachenlektorenfällen siehe bereits oben 2. Kapitel C. I. 2. b) bb), S. 106 m.w.N. 222 Abweichend Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot, 1999, 37 f., die zwar ebenfalls auf eine typische Betroffenheit ausländischer Staatsangehöriger rekurriert, eine solche aber dann bejaht, wenn „in wesentlich mehr als die Hälfte, also der großen Mehrzahl der Fälle" die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten betroffen seien. Eine solche Vermengung statistischer und typisierender Elemente ist jedoch für die praktische Prüfung der Grundfreiheiten denkbar ungeeignet. Es bleibt die Frage, was für den Rechtsanwender hiermit gewonnen sein soll. Der Hinweis Hintersteiningers, a.a.O., „daß auch innerhalb der typischen Betroffenheit die Grenzen fließend sind" (Hervorh. dort), hilft dabei nicht weiter. 223 Dies war in den erwähnten Rechtssachen Allué I u. Allué II deshalb der Fall, weil dort die englische, deutsche und spanische Sprache unterrichtet werden sollte, welche in den betreffenden Gebieten - Venedig und Parma - nicht gesprochen werden. Im Urteil Spotti ging es um die Unterrichtung der italienischen Sprache an der Universität Passau.

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

327

Staatsangehörigkeit fuhrt. 224 Folglich kommt es für die erforderliche Typizität durchaus auf die Gegebenheiten des konkreten Sachverhalts an, jedoch nicht auf die bestehenden zahlenmäßigen Verhältnisse. 225 Dass die „neutralen" Differenzierungsmerkmale hier nicht statisch angewandt werden dürfen, soll ein weiteres Beispiel verdeutlichen: Im Fall Ciola charakterisierte der EuGH eine nationale Regelung als versteckte Diskriminierung, weil diese danach differenzierte, ob eine Person ihren Wohnsitz im Inland oder im Ausland hat. 226 Dies ist im Ergebnis richtig, weil nach den heutigen Gegebenheiten die Bevölkerung eines Staates überwiegend aus Inländern besteht, mithin die Differenzierung anhand des Wohnsitzkriteriums typischerweise zu einer Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Staatsangehörigen führt. 227 Allerdings kann eine abweichende Beurteilung geboten sein, wenn sich die zugrundeliegenden Verhältnisse dahingehend ändern, dass der Wohnsitz keine Rückschlüsse auf die Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen zulässt. Allgemein kann formuliert werden: Eine versteckte Diskriminierung liegt vor, wenn die tatbestandliche Differenzierung einer Maßnahme aufgrund der bestehenden Rahmenbedingungen regelmäßig zu einer Unterscheidung zwischen inländischen Staatsangehörigen und Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates fuhrt. 228

3. Inländerdiskriminierung Auch wenn die Inländerdiskriminierung keine gemeinschaftsrechtlich verbotene Diskriminierungsform im engeren Sinne darstellt, 229 empfiehlt es sich, sie im unmittelbaren Anschluss an offene und versteckte Diskriminerungen zu prüfen. Einerseits wird so der üblicherweise verwendeten Terminologie Rechnung getragen, welche auch in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt wird. Andererseits kann an die vorangegangenen Prüfungselemente angeknüpft wer-

224

So z.B., wenn sich die betreffene Regelung auf ein zweisprachiges Gebiet beschränkt. Man denke hier an den Fall, dass in der italienischen Region Südtirol die deutsche Sprache unterrichtet werden soll. 225 Die besonderen zahlenmäßigen Verhältnisse mögen häufig Ausdruck jener Typizität sein; sie sind jedoch nur die Folge, nicht die Ursache der charakteristischen Prägung bestimmter Sachverhalte. 226 Vgl. EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999, 1-2517, Rn. 14 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521, Rn. 29. 227 Vgl. auch Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 278. 228 Entsprechendes gilt für die Unterscheidung anhand der Produktherkunft bzw. -destination. 229 Siehe dazu oben 2. Kapitel C. II., S. 107.

328

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

den, da auch die Inländerdiskriminierung eine Benachteiligung - nur eben der Inländer - voraussetzt. An dieser Stelle soll der Verweis auf die Ausführungen des zweiten Kapitels genügen, wonach das Phänomen der Inländerdiskriminierung nicht der grundfreiheitlichen Verbotswirkung unterliegt. 230

II. Beschränkung Begründet die zu beurteilende Maßnahme weder eine offene noch eine versteckte Diskriminierung, so ist zu prüfen, ob sie den freiheitsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten beeinträchtigt. 231 Hier kann auf die bereits umschriebene Gewährleistung rekurriert werden, welche das grundfreiheitliche Beschränkungsverbot vermittelt: Der betreffende Wirtschaftsteilnehmer muss im Grundsatz seine - materielle oder immaterielle - Leistung in der von ihm gewählten Art oder Beschaffenheit auf dem einzelnen nationalen Markt in der Weise anbieten dürfen, dass er mit konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmern auf diesem nationalen Markt in Wettbewerb treten kann. 232 Innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung wird die konkrete Wirtschaftsleistung auf der Stufe des (sachlichen) Anwendungsbereichs näher qualifiziert. 233 Andere Elemente der vorgenannten Umschreibung, welche zuvor nur abstrakt angesprochen wurden, bedürfen nunmehr der Präzisizierung: Dies gilt zum einen für die erwähnte „Art oder Beschaffenheit", welche den erforderlichen Produkt- bzw. Personenbezug kennzeichnet.234 Andererseits ist hinsichtlich des Merkmals „anbieten" zu klären, inwieweit Aspekte des grenzüberschreitenden Marketings hiervon umfasst werden. 235 Beides soll durch die nachfolgende Einbeziehung der /TecÄ-Rechtsprechung geschehen.

/. Bedeutung der Keck-Rechtsprechung Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Keck und Mithouard sind folgende Maßnahmen aus dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit herausge-

230

Näher dazu oben 2. Kapitel C. II. 2, S. 109 f. Zur Begründung dieser Prüfungsreihenfolge siehe soeben I., S. 324. 232 Siehe oben 3. Kapitel C. IV. 2., S. 243. 233 Zur Abgrenzung der einzelnen Grundfreiheiten untereinander siehe oben 4. Kapitel Α. I., S. 250 ff. 234 Siehe bereits oben 3. Kapitel C. IV. 2., bei Fußn. 804. 235 Siehe bereits oben 3. Kapitel C. IV. 2., bei Fußn. 805. 231

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

329

nommen: Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, [...] sofern diese Bestimmungen für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren"P 6

a) Grundsätzliche Anwendung Diese Aussage des Gerichtshofs kann zur Konkretisierung jener freiheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten herangezogen werden, welche die Tiefe des grundfreiheitlich gewährleisteten Marktzugangs bestimmt. 237 Denn inzwischen ist geklärt, dass die Entscheidung Keck keinen Rückschritt zu einem rein gleichheitsrechtlichen Verständnis der Grundfreiheiten bedeutete.238 Unter Zugrundelegung des hier vertretenen formellen Diskriminierungsbegriffs ergibt sich dies unmittelbar aus der Urteilsbegründung. 239 Für die zuvor ausformulierte positive Umschreibung des freiheitsrechtlichen Gehalts der Grundfreiheiten ist zunächst von Bedeutung, dass der EuGH „bestimmte Verkaufsmodalitäten" tatbestandlich nicht mehr der Warenverkehrsfreiheit zuordnet. Die Folgerechtsprechung erhellt, was unter Verkaufsmodalitäten zu verstehen ist bzw. welche Maßnahmen gerade nicht unter diesen Begriff subsumiert werden können. 240 Entscheidend ist dabei, ob die betreffende Regelung einen Produktbezug aufweist; 241 insofern ließe sich zwischen Ver-

236

EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,1-6097, Rn. 16 (Hervorh. d. Verf.). 237 Abweichend Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 51 ff. u. 106 f.; dagegen bereits oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa), Fußn. 92. 238 Ähnlich Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-470/93 (Mars), Slg. 1995,1-1923, Rn. 12. 239 Die in der Keck-Formel bezeichneten Bestimmungen müssen „für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben"; vgl. EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, 1-6097, Rn. 16 (Hervorh. d. Verf.). Eine Diskriminierung setzt nach dem vorliegenden Verständnis dagegen eine tatbestandliche Differenzierung voraus; siehe oben 2. Kapitel Β. V. 1., S. 91 f. 240 Ausführlich hierzu Solbach, Verkaufsmodalitäten, 1996, 105 ff. 241 Aus der Post-ATec^-Rspr. vgl. nur EuGH, Rs. C-315/92 (Clinique), Slg. 1994, I317, Rn. 24; EuGH, Rs. C-317/92 (Kommission/Deutschland), Slg. 1994, 1-2039, Rn. 12; EuGH, Rs. C-l7/93 (van der Veldt), Slg. 1994, 1-3537, Rn. 12; EuGH, Rs. C470/93 (Mars), Slg. 1995,1-1923, Rn. 13 f.

330

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

kaufsmodalitäten und Produktmodalitäten differenzieren. 242 Letztere sind nicht über die Keck-Y oxmeX der grundfreiheitlichen Prüfung entzogen. Positiv gewendet bedeutet dies: Der freiheitsrechtliche Gehalt der Warenverkehrsfreiheit umfasst das Recht des Wirtschaftsteilnehmers, seine Leistung in der von ihm gewählten „Art oder Beschaffenheit" anbieten zu können. 243 Betrifft die zu beurteilende Maßnahme dagegen keine Produktmodalität, so ist sie dennoch nicht ohne weiteres der grundfreiheitlichen Prüfung entzogen. Der Gerichtshof bringt dies über die tatbestandliche Rückausnahme der KeckFormel zum Ausdruck; danach unterfallen bestimmte Verkaufsmodalitäten nur dann nicht den Vorschriften über den freien Warenverkehr, wenn sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Eine solche Bezugnahme auf einen relativen Maßstab erscheint aus der hier vertretenen Perspektive problematisch; 244 denn die A^c/;-Rechtsprechung dient dazu, den grundfreiheitlich gewährleisteten Marktzugang in seiner Absolutheit zu begrenzen. 245 Gleichwohl stimmt die grundsätzliche Zielrichtung. In der positiven Formulierung des freiheitsrechtlichen Gehalts der Warenverkehrsfreiheit zeigt sich jene Begrenzung darin, dass der Wirtschaftsteilnehmer seine Leistung zwar als solche „anbieten" darf, die Modalitäten des Anbietens jedoch im Grundsatz der mitgliedstaatlichen Jurisdiktion unterliegen. 246 So ist die Warenverkehrsfreiheit zum Beispiel dann nicht beeinträchtigt, wenn der Wirtschaftsteilnehmer wegen

242

Beispiele für Verkaufsmodalitäten finden sich in der Rspr. nach Keck z.B. in EuGH, Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993, 1-6787, Rn. 21 f.; EuGH, Rs. C-391/92 (Kommission/Griechenland), Slg. 1995,1-1621, Rn. 13; EuGH, Rs. C-387/93 (Banchero), Slg. 1995,1-4663, Rn. 36; EuGH, Rs. C-412/94 (Leclerc-Siplec), Slg. 1995,1-179, Rn. 21 f. 243 Zur Verdeutlichung sei auf frühere Urteile des Gerichtshofs verwiesen, wonach die Warenverkehrsfreiheit z.B. dann beeinträchtigt ist, wenn ein Mitgliedstaat vorschreibt, importierte Margarine müsse in Würfelform abgepackt sein oder Getränke dürften nur bei Einhaltung des deutschen Reinheitsgebots unter der Bezeichnung „Bier" vertrieben werden; vgl. EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 20; EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 25 ff. Siehe zudem die Nachweise oben 3. Kapitel C. IV. 2., Fußn. 804. 244 Vgl. auch Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211). 245 Siehe soeben bei Fußn. 237. 246 Dogmatischer Anknüpfungspunkt ist hier die erkannteföderale Struktur der Gemeinschaft. Die Vorgaben der vertikalen Kompetenzverteilung im Gemeinschaftsrecht werden nur dann hinreichend berücksichtigt, wenn die freiheitsrechtliche Dimension der Grundfreiheiten bestimmten Einschränkungen unterliegt; siehe dazu oben 3. Kapitel B. I. 3. a) aa) (l)-(3), S. 132 ff.

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

331

eines allgemeinen sonntäglichen Verkaufsverbotes sein Produkt nicht an allen Wochentagen anbieten darf. 247

b) Sonderfall: Werbung Das Recht des Wirtschaftsteilnehmers, seine Leistung anbieten zu dürfen, unterliegt einer differenzierteren Betrachtung, soweit damit verbundene Marketingstrategien berührt werden. 248 Die Möglichkeit, für ein Produkt zu werben, ist notwendiger Bestandteil des Anbietens der Wirtschaftsleistung; Werbimg erfüllt insofern die grundfreiheitliche Marktöffnungsfunktion. 249 Entsprechend den obigen Ausführungen gewährleisten die Grundfreiheiten somit das „Ob" der Werbung, während die Mitgliedstaaten das „Wie" der Werbung näher bestimmen dürfen. Letzteres gilt mit Blick auf zwei besondere Konstellationen indes nicht uneingeschränkt. Die spezifischen Problemstellungen des produktbezogenen Marketing-Mix sowie des Euro-Marketings erfordern in diesem Zusammenhang eigenständige Lösungsansätze.

aa) Produktbezogenes Marketing-Mix Die in der Keck-Y ormeì angelegte Differenzierung zwischen Produkt- und Verkaufsmodalitäten impliziert die individuelle Betrachtung der Ware einerseits sowie einzelner Werbemaßnahmen andererseits. 250 Häufig lassen sich Ware und Vertrieb jedoch nicht eindeutig voneinander trennen. 251 Dies gilt

247

Die früheren Urteile des Gerichtshofs zu sonntäglichen Verkaufsverboten sind seit dem KeckAlrteiX daher überholt; vgl. zur damaligen Rspr. EuGH, Rs. 145/88 (Torfaen Borough Council), Slg. 1989, 3885, Rn. 12 f.; EuGH, Rs. C-306/88 (Rochdale Borough Council), Slg. 1992,1-6457, Rn. 7; EuGH, Rs. C-312/89 (Conforama), Slg. 1991,1-997, Rn. 8; EuGH, Rs. C-332/89 (Marchandise), Slg. 1991, 1-1027, Rn. 11 f.; EuGH, Rs. C304/90 (Reading Borough Council), Slg. 1992, 1-6493, Rn. 8; EuGH, Rs. C-169/91 (Stoke on Trent), Slg. 1993,1-6635, Rn. 10. Näher dazu oben 3. Kapitel C. II. 1. d) u. e), S. 210 ff. 248 Im Ausgangspunkt ebenso Becker, in: Schwarze, Art. 28 EGV, Rn. 76. 249 Zutreffend Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 46; Perau, Werbeverbote, 1997, 34. Vgl. auch Dauses, EuZW 1995, 425 ff. (428); Lüder, EuZW 1996, 615 ff. (615); Stein, EuZW 1995,435 ff. (435); Wägenbaur, EuZW 1995,431 ff. (431). 250 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,134 ff. 251 Vgl. Fezer, JZ 1994, 317 ff. (323); Idot, CMLRev. 1996, 113 ff. (119); Jickeli, JZ 1995, 57 ff. (60); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemein-

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5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

insbesondere dann, wenn verschiedene Maßnahmen zur Absatzförderung derart kombiniert werden, dass die Werbung auf dem Produkt selbst erscheint. 252 In diesen Fällen kann von einem produktbezogenen Marketing-Mix gesprochen werden. 253 Tangieren mitgliedstaatliche Regelungen ein solches Marketing-Mix, so kann innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung nicht direkt auf die KeckRechtsprechung des Gerichtshofs rekurriert werden. 254 Gleichwohl gibt der dahinter stehende Grundgedanke hier die Lösung vor: Bietet der betreffende Wirtschaftsteilnehmer europaweit eine einheitliche Produktlinie an, so soll er nicht ohne weiteres durch nationale Anforderungen gezwungen werden, seine Produktion für den Vertrieb in einem einzelnen Mitgliedstaat umzugestalten.255 Entsprechende nationale Regelungen sind am Maßstab der Warenverkehrsfreiheit zu prüfen. Dies muss auch für Maßnahmen gelten, welche nicht die Ware als solche, sondern ein produktbezogenes Marketing-Mix betreffen. Aus Sicht des Produzenten macht es keinen Unterschied, ob die Ware oder die - damit verbundene - Vertriebsform den nationalen Anforderungen nicht entspricht; in beiden Fällen hat er seine Produktion umzustellen. Mitgliedstaatliche Maßnahmen, welche das „Wie" der Werbung regeln, unterfallen somit dann der Warenverkehrsfreiheit, wenn sie ein Marketing-Mix betreffen. 256

schaftsrechts, 1999, 134; Lüder, EuZW 1996, 615 ff. (616); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 50; Roth, CMLRev. 1994, 845 ff. (852). 252 So z.B., wenn auf der Verpackung eines Produktes der Hinweis „+10%" angebracht ist, wodurch dem Verbraucher ein preisgünstiges Angebot suggeriert wird; dazu EuGH, Rs. C-470/93 (Mars), Slg. 1995,1-1923, Rn. 4 ff. Vgl. auch EuGH, Rs. C-77/97 (Österreichische Unilever), Slg. 1999, 1-431, Rn. 16 ff. Dort ging es u.a. um die Aufschrift auf einer Zahnpastatube, welche dem Käufer eine besonders wirksame „Dreifachprophylaxe gegen Karies, Zahnbelag und Parodontose" versprach. 253 Vgl. allg. zum Marketing-Mix Bänsch, Marketing-Lehre, 250 ff.; Meffert, Marketing, 969 ff. 254 Auch eine Schwerpunktbetrachtung hilft hier nicht weiter. Die Fälle des produktbezogenen Marketing-Mixes zeichnen sich gerade dadurch aus, dass Produkt und Werbung eine untrennbare Einheit bilden. 255 Vgl. EuGH, Rs. C-315/92 (Clinique), Slg. 1994,1-317, Rn. 19. 256 Vgl. auch EuGH, Rs. C-470/93 (Mars), Slg. 1995, 1-1923, Rn. 12 ff.; EuGH, Rs. C-77/97 (Österreichische Unilever), Slg. 1999,1-431, Rn. 23 ff.

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

333

bb) Euro-Marketing Problematischer ist die Beurteilung von Werbemaßnahmen, welche auf einer europa weiten Vermarktungsstrategie aufbauen, ohne jedoch einen untrennbaren Bezug zu dem beworbenen Produkt aufzuweisen. Solche transnational konzipierte Werbung wird allgemein mit dem Begriff des Euro-Marketings bezeichnet. 257 Die Schwierigkeiten, das Euro-Marketing systematisch stimmig in die grundfreiheitliche Dogmatik zu integrieren, ist nach wie vor ungelöst. 258 Sie entsteht dadurch, dass Maßnahmen ohne Produktbezug nach dem Keck-Urteil im Wesentlichen nicht mehr dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit unterfallen, andererseits aber europaweite Vermarktungsstrategien besondere Bedeutung für den Binnenmarkt aufweisen. Kingreen meint die Problematik allein dadurch lösen zu können, dass eine konsequente Abgrenzung zwischen Warenverkehrsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit vorgenommen wird. 2 5 9 Sofern die Werbung zur Software des Produkts gehöre, seien entsprechende Regelungen eines Mitgliedstaates nicht am grundfreiheitlichen Maßstab zu beurteilen. Zwar sei Art. 28 EG dort im Grundsatz einschlägig; da allerdings nur der freie Verkehr der Ware selbst geschützt werde, seien diskriminierungsfreie Regelungen der Werbung bzw. des Produktvertriebs der Warenverkehrsfreiheit tatbestandlich entzogen.260 Gehöre dagegen die Werbung nicht zur Software des Produkts, sondern bilde sie das Produkt selbst, so fielen diesbezügliche Maßnahmen unter die Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EG. 261

257

Vgl. Dauses, EuZW 1995, 425 ff. (428); Fezer, JZ 1994, 317 ff. (323); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 134; Kotthoff, WRP 1996, 79 ff. (79); Lüder, EuZW 1996, 615 ff. (615); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 51; Stein, EuZW 1995, 435 ff. (435); Streinz, Rn. 733; Wägenbaur, EuZW 1995,431 ff. (431 f.). Der Terminus des Euro-Marketings umfasst grds. auch produktbezogene Werbemaßnahmen; da jedoch eine entsprechende Abschichtung bereits oben erfolgte, sollen diese hier nicht weiter betrachtet werden. 258 Vgl. nur Streinz, Rn. 733; ders., FS Rudolf, 199 ff. (211). 259 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 134 ff. 260 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 135: „Der Zugang des Produktes auf den Markt muß gewährleistet sein, nicht aber der 'Zugang' zu sämtlichen Bedingungen der ausländischen Rechtsordnung, auf deren Grundlage ein Produzent wirbt und vertreibt". 261 Näher Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 136 m.w.N.

334

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

Diese Auffassung verkennt indes wesentliche Aspekte moderner Marketingstrategien, wodurch die vorgeschlagene grundfreiheitliche Prüfung in praxi kaum durchführbar wird. 2 6 2 Denn auch ohne den bereits angesprochenen Produktbezug bilden Werbung und Ware häufig untrennbare Einheiten in Form unternehmerischer Leistungskomplexe.263 Sinnvoller erscheint demgegenüber der Versuch, die Existenz solcher untrennbaren Einheiten zu akzeptieren und mitgliedstaatliche Maßnahmen im Bereich des Euro-Marketings als solche mit der Keck-Formel in Einklang zu bringen. Teile des europarechtlichen Schrifttums rekurrieren dabei auf die tatbestandliche Rückausnahme des Keck-\Jrteils. So sieht Mojzesowicz mitgliedstaatliche Anforderungen im Bereich des Euro-Marketings deshalb von Art. 28 EG erfasst, weil dadurch eine Schlechterstellung des im Ausland werbenden Wirtschaftsteilnehmers begründet werde. 264 Entsprechende Maßnahmen der Mitgliedstaaten könnten nicht - wie von der Keck-YormeX gefordert - „den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren". 265 Dies ergebe sich daraus, dass der Werbende einem Diversifizierungszwang unterliege, welcher erst unter Geltung eines europaweit einheitlichen Werberechts behoben sei. 266 Letzteres ist in der Tat der richtige Ansatzpunkt; 267 allerdings kann das Argument der Schlechterstellung ausländischer Wirtschaftsteilnehmer an dieser Stelle nicht überzeugen. Denn die nationalen Werbeverbote bzw. -modalitäten treffen Inländer und Ausländer gleichermaßen. 268 Hemmnisse für den Wirtschaftsverkehr werden hier durch die Disparität der Rechtsordnungen hervorgerufen, nicht aber durch eine spezifische Schlechterstellung ausländischer Wirt-

262

Ebenfalls krit. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001,50. Ähnlich Fezer, JZ 1994, 317 ff. (323); Idot, CMLRev. 1996, 113 ff. (119); Kieninger, EWS 1998, 277 ff. (284); Reich, ZIP 1993, 1815 ff. (1817). 264 So Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 50 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eilmansberger, JB1. 1999, 434 ff. (437); Lenz, NJW 1994, 1633 ff. (1633); Schroeder/Federle, ZIP 1994, 1428 ff. (1429). 265 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, I6097, Rn. 16. 266 Vgl. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 51. 267 Vgl. Kieninger, EWS 1998, 277 ff. (285); Lüder, EuZW 1996, 615 ff. (618); Roth, CMLRev. 1994, 845 ff. (853 f.). 268 Zutreffend Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 135: „Jedenfalls enthält ein Verbot einer bestimmten Art und Weise der Werbung keine Anforderungen, die von Ausländern schwerer zu erfüllen wären als von Inländern". Vgl. auch Kotthoff, WRP 1996, 79 ff. (83). 263

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

335

schafitsteilnehmer. 269 Grundsätzlich wirken solche - auf der Disparität der Rechtsordnungen beruhenden - Belastungen binnenmarktneutral, 270 werden also von den Grundfreiheiten nicht erfasst; 271 insofern soll die Neutralität gegenüber den nationalen Teilmarktordnungen gewährleistet werden. 272 Jener Grundsatz erfährt indes eine Ausnahme, wenn der betreffende Wirtschaftsteilnehmer ein europaweit einheitliches Produktions- bzw. Marketingkonzept verfolgt. Dies ist gerechtfertigt, da mit der Anwendung der Grundfreiheiten in solchen Fällen keine Aussage zu Gunsten oder zu Lasten einer bestimmten Teilmarktordnung verbunden ist; die gebotene Teilmarktneutralität bleibt mithin gewahrt. Zugleich wird die Parallelität zu produktbezogenen Anforderungen betont. 273 Ein solches Ergebnis lässt sich mit der Keck-Formel in Einklang bringen, ohne an die tatbestandliche Rückausnahme anzuknüpfen: Nach Aussage des Gerichtshofs sind nicht sämtliche, sondern nur „bestimmte Verkaufsmodalitäten" der Prüfung der Warenverkehrsfreiheit entzogen.274 Beziehen sich mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten auf Aspekte des Euro-Marketings, so unterfallen diese tatbestandlich den Vorschriften über den freien Warenverkehr; 275 der Schwerpunkt der grundfreiheitlichen Prüfung verlagert sich insofern auf die Rechtfertigungsebene. 276 Zusammenfassend gilt somit für den Bereich des Marketings: Art. 28 EG gewährleistet das „Ob" der Werbung. Mitgliedstaatliche Regelungen, welche das „Wie" der Werbung betreffen, sind lediglich dann am Maßstab der Warenverkehrsfreiheit zu beurteilen, wenn sie entweder produktbezogene Anforderungen stellen oder Aspekte des Euro-Marketings tangieren. Im Übrigen sind

269 Hier zeigt sich erneut, dass die Implementierung eines relativen Maßstabs in die tatbestandliche Rückausnahme der Keck-Formel nicht unproblematisch ist; siehe bereits oben bei Fußn. 244. 270 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 135. 271 Siehe oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa) (2), S. 133 ff. 272 Siehe oben 3. Kapitel Β. II. 1. a) cc) (1), S. 148. 273 Dazu soeben bei Fußn. 255. 274 EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993, 1-6097, Rn. 16 (Hervorh. d. Verf.). 275 Vgl. EuGH, Rs. C-362/88 (GB-INNO), Slg. 1990, 1-667, Rn. 7; EuGH, Rs. ΟΙ 26/91 (Yves Rocher), Slg. 1993, 1-2361, Rn. 10. Zur Frage, ob diese Entscheidungen nach dem Keck-Urteil als „overruled" zu charakterisieren sind, siehe oben 3. Kapitel C. II. l.e), S. 213 ff. 276 Vgl. auch Streinz, Rn. 733.

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5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

sie gemäß der A^cfc-Rechtsprechung als „bestimmte Verkaufsmodalitäten" nicht mehr unter die Vorschriften der Artt. 28 ff. EG zu subsumieren. 277

2. Übertragbarkeit

der Keck-Rechtsprechung auf andere Grundfreiheiten

Die judikative Differenzierung im Sinne der Keck-Formel gilt expressis verbis nur fur die Warenverkehrsfreiheit. Versteht man jedoch sämtliche Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte, 278 so ist zu diskutieren, ob der Konkretisierungsgedanke der A^ci-Rechtsprechung nicht auf die übrigen Grundfreiheiten übertragbar ist. Insbesondere im Rahmen der Personenverkehrsfreiheiten ist jedoch eine Unterscheidung von Produkt- und Verkaufsmodalitäten bereits begrifflich ausgeschlossen; folglich kann es hier nur um eine analoge Anwendung der ATecÄ-Rechtsprechung gehen.

a) Anhaltspunkte in der grundfreiheitlichen Judikatur aa) Alpine Investments, Deliège In der Entscheidung Alpine Investments hat der Gerichtshof eine Übertragbarkeit ATec£-Grundsätze auf die Dienstleistungsfreiheit expressis verbis angesprochen. 279 Der Fall betraf eine Korrespondenzdienstleistung, weshalb die Anwendung der Dienstleistungsvorschriften in casu Parallelen zur Warenverkehrsfreiheit aufwies. 280 Der EuGH wiederholte zunächst den Wortlaut der Keck-Foxme\\ anschließend offenbarte er den dahinter stehenden Gedanken: Es kommt maßgeblich darauf an, ob die zu beurteilende Regelung „geeignet ist, den Marktzugang für diese [aus anderen Mitgliedstaaten stammenden] Erzeugnisse im Einfuhrmitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut". 2 8 1 Die Frage nach einer Transformation der A'ecfc-Rechtsprechung ließ der Gerichtshof jedoch letztlich offen. 282 Viel-

277

Vgl. EuGH, Rs. C-292/92 (Hünermund), Slg. 1993,1-6787, Rn. 21 f.; EuGH, Rs. C-412/94 (Leclerc-Siplec), Slg. 1995,1-179, Rn. 21 f. 278 Siehe bereits oben 3. Kapitel Β. I. 3. a) aa), S. 130 f. 279 Vgl. EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 35 ff. 280 Zu dieser strukturellen Parallelität siehe oben 3. Kapitel Α. II. 2., S. 120 f. 281 EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 37 (Hervorh. d. Verf.). 282 Ebenso Ohler, WM 1996, 1801 ff. (1806); a.A. Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (49).

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

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mehr bemühte er sich eingehend, die zugangsneutralen Maßnahmen im Sinne der Keck-Fovmei von der ihm vorliegenden Fallgestaltung zu unterscheiden. 283 Indem der EuGH auf den Marktzugang als das tragende Begründungselement der /^^-Rechtsprechung abstellte, offenbarte er mit der Entscheidung Alpine Investments sein Bestreben, die Konvergenz von Warenverkehrsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit weiter zu festigen. 284 Gleichwohl wurde der entscheidende Ansatz des Keck-Urteils, die Abschichtung unbeachtlicher Maßnahmen aufgrund formaler Kriterien, nicht ausdrücklich auf die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs übertragen oder gar präzisiert. 285 Obige Erkenntnis bestätigt sich in der Entscheidung Deliège ,286 welche personenbezogene Aspekte der Dienstleistungsfreiheit betraf. 287 Der Gerichtshof hatte dort die Auswahlregeln des europäischen Judoverbandes zu beurteilen; diese legten im Einzelnen fest, welche der in nationalen Verbänden organisierten Judoka an internationalen Turnieren teilnehmen durften. 288 Im Gegensatz zum Urteil Alpine Investments zitierte der EuGH hier seine Keck-Rechtsprechung nicht. Der dort entwickelte Begründungsansatz wurde jedoch erneut deutlich, als der Gerichtshof feststellte, die Auswahlregeln legten nicht die Bedingungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Berufssportler fest. 289

283

Vgl. EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 36 ff. Dazu auch Reich, EuZW 1995, 407 ff. (408). 284 Vgl. Becker, NJW 1996, 179 ff. (180 f.); Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (49 f.); Everling, ZLR 1994, 221 ff. (231); Füßer, DÖV 1999, 96 ff. (98); Kort, JZ 1996, 132 ff. (136); Meyer, GRUR Int. 1996, 697 ff. (706); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211). Zurückhaltend hingegen Stumpf, DZWir 1998, 124 ff. (126); Reich, EuZW 1995,407 ff. (408). 285 In diesem Zusammenhang ist auch auf das Urteil in der Rechtssache Schindler zu verweisen, welches nach der Entscheidung Keck u. Mithouard erging, eine unterschiedslos anwendbare Regelung im Dienstleistungsbereich betraf und dennoch nicht auf die Keck-Formel Bezug nahm; vgl. EuGH, Rs. C-275/92 (Schindler), Slg. 1994, 1-1039, Rn. 44 ff. Näher dazu Mülbert, ZHR 159 (1995), 2 ff. (29, Fußn. 123). 286 EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. C-l91/97 (Deliège), Slg. 2000,1-2549. 287 Hierzu auch Röthel, EuZW 2000, 379 f. (380); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211). 288 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. C-191/97 (Deliège), Slg. 2000,1-2549, Rn. 3 f. 289 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. C-191/97 (Deliège), Slg. 2000,1-2549, Rn. 61. 22 Mühl

338

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

bb) Bosman Eine mögliche Anwendung der A^cA>Grundsätze auf den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit diskutierte der Gerichtshof im Bosman-Urteil. 290 Dort hatten die beklagten Parteien argumentiert, die zu beurteilenden Transferregeln der UEFA seien den Regelungen von Verkaufsmodalitäten im Sinne der KeckRechtsprechung gleichzustellen. Wie in der Entscheidung Alpine Investments zitierte der EuGH die entscheidende Textpassage des ATec£-Urteils,291 verneinte jedoch deren Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall. 292 Wiederum nahm er allerdings auf den Grundgedanken der AecÄ-Rechtsprechung Bezug, indem er betonte, dass die Transferregeln „den Zugang der Spieler zum Arbeitsmarkt in anderen Mitgliedstaaten unmittelbar beeinflussen". 293 Ähnlich den erwähnten Entscheidungen zur Dienstleistungsfreiheit offenbarte der EuGH mit dem Bosman-Urteil hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit strukturelle Parallelitäten zur Warenverkehrsfreiheit. 294 Relativiert wird diese Feststellung durch die Tatsache, dass die Keck-Formel auf den Sachverhalt in der Rechtssache Bosman im Ergebnis nicht anwendbar war. Unklar bleibt zudem, nach welchen Kriterien im Einzelnen zwischen Zugangs- und Ausübungsbeschränkungen zu differenzieren ist. 295

cc) Semeraro Mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit lässt sich die Entscheidung Semeraro 296 als Indiz für die analoge Anwendung der A^c^-Grundsätze anführen. 297 Dort judizierte der Gerichtshof zu der Frage, ob Art. 52 EGV (jetzt Art. 43 EG)

290

Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 102 f. Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 102 mit Verweis auf EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,1-6097, Rn. 16. 292 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 103. 293 Ebd. 294 Ähnlich Reichold, ZEuP 1998, 434 ff. (444 f.); Schroeder, JZ 1996, 254 ff. (255). 295 Vgl. Schroeder, JZ 1996, 254 ff. (255). 296 EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C9/94 bis C-l 1/94, C-14/94, C-15/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996,1-2975. 297 Ebenso i.E. Eberhartinger, EWS 1997,43 ff. (49). 291

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

339

einer nationalen Ladenschlussregelung entgegenstehen kann. 298 Dies verneinte der EuGH unter Verweis auf seine zuvor zur Warenverkehrsfreiheit gemachten Ausführungen. 299 Letztere nahmen ausdrücklich auf die Äec£-Rechtsprechung Bezug. 300 Damit wurde in der Judikatur zur Niederlassungsfreiheit erstmals auf die Keck-Yorme\ rekurriert, um positiv zu begründen, dass die betreffende Maßnahme bereits tatbestandlich nicht jener Grundfreiheit unterfällt. 301 Mit dem Urteil in der Rechtssache Semeraro hat der Gerichtshof seine in den Entscheidungen Ramrath und Kraus angelegte Entwicklung konsequent fortgeführt, 302 wonach allgemeine rechtliche Rahmenbedingungen die Niederlassungsfreiheit nicht beeinträchtigen. 303 Die entscheidende Frage, welche Kriterien der Differenzierung zwischen Produkt- und Verkaufsmodalitäten im Sinne der KeckGrundsätze entsprechen, ließ der EuGH jedoch wiederum offen.

b) Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte Die vorgenannten ausgewählten Urteile des Gerichtshofs beantworten die Frage nach einer analogen Anwendung der A^c£-Formel auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit sowie die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs nicht im Detail. 304 Sie geben lediglich die abstrakte Richtung vor:

298 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-l 1/94, C-l4/94, C-l5/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996,1-2975, Rn. 1 ff. 299 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-l 1/94, C-l4/94, C-l5/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996,1-2975, Rn. 32. 300 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-l 1/94, C-l4/94, C-l5/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94 (Semeraro), Slg. 1996,1-2975, Rn. 24 ff. 301 Dadurch unterscheidet sich die Entscheidung Semeraro wesentlich von den vorgenannten Urteilen Alpine Investments, Deliège und Bosman. 302 Vgl. auch Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (49); Reichold, ZEuP 1998, 434 ff. (445). 303 Vgl. EuGH, Rs. C-l06/91 (Ramrath), Slg. 1992, 1-3351, Rn. 28; EuGH, Rs. C19/92 (Kraus), Slg. 1993,1-1663, Rn. 20 ff. Diese Entscheidungen ergingen freilich vor dem Urteil Keck u. Mithouard, so dass sie in der vorliegenden Betrachtung nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden sollen. 304 Hinsichtlich der Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs hat der EuGH die Frage nach einer Anwendung der /Tec£-Grundsätze bislang nicht ausdrücklich erörtert; 22*

340

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

Allein die den Marktzugang behindernden Maßnahmen sollen den grundfreiheitlichen Tatbeständen unterfallen. Die Bedeutung der A^c£-Rechtsprechung liegt jedoch gerade darin, im Hinblick auf die Warenverkehrsfreiheit das Kriterium des Marktzugangs zu präzisieren. 305 Eine solche Konkretisierung nimmt der EuGH bezüglich der anderen Grundfreiheiten nicht ausdrücklich vor; sie soll nachfolgend versucht werden. Mit Blick auf die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs sowie die Kapitalverkehrsfreiheit lassen sich zunächst die produktbezogenen Aspekte der Grundfreiheiten abschichten. Aufgrund der strukturellen Parallelität zur Warenverkehrsfreiheit bietet es sich an, diese direkt der Keck-YormçX des EuGH zu unterstellen. 306 Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Produkt- und Verkaufsmodalitäten ist auch hier sachgerecht. Sofern die betreffenden Maßnahmen daher Dienstleistungen oder Kapital als Produkte betreffen, sind sie am grundfreiheitlichen Maßstab zu beurteilen. 307 Regeln sie dagegen - ohne Produktbezug - nur den Verkauf dieser Produkte, unterfallen sie tatbestandlich nicht der Dienstleistungs- bzw. Kapitalverkehrsfreiheit. Die zuvor herausgearbeiteten Besonderheiten im Bereich des Marketings gelten hier entsprechend. Schwieriger ist die Übertragung der Keck-Formel auf die personenbezogenen Aspekte der Grundfreiheiten, da dort keine Produkte verkauft werden, eine Differenzierung zwischen Produkt- und Verkaufsmodalitäten mithin begrifflich nicht möglich ist. Zur Konkretisierung des Marktzugangskriteriums muss auf die Charakteristika der Personenverkehrsfreiheiten abgestellt werden. Entscheidend ist, dass in diesem Bereich kein bloßer Produktvertrieb erfolgt, sondern individuelle, d.h. von der Person des Wirtschaftsteilnehmers geprägte, wirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt werden. Eine mitgliedstaatliche Regelung tangiert dann den Zugang zum nationalen Teilmarkt, also die Frage nach dem

vgl. dazu Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 51; Ohler, WM 1996, 1801 ff.

(1806). 305

Siehe oben 1. a), bei Fußn. 237. Zur systematischen Verklammerung produktbezogener Aspekte der Grundfreiheiten siehe bereits oben 3. Kapitel Α. II. 2., S. 120 f. 307 Beispielhaft kann hier auf die Entscheidung Alpine Investments verwiesen werden. Das dort zu beurteilende Verbot des „cold calling" untersagte es der Klägerin, mit Privatpersonen ohne deren vorherige Zustimmung telefonisch Kontakt aufzunehmen, um ihnen verschiedene Finanzdienstleistungen anzubieten. Somit war die Dienstleistung selbst von der Regelung betroffen. Zutreffend führt der Gerichtshof daher aus: „Ein solches Verbot entspricht nicht den Regelungen der Verkaufsmodalitäten, die nach der Rechtsprechung Keck und Mithouard dem Anwendungsbereich des Artikels 30 EWGVertrag [jetzt Art. 28 EG] entzogen sind"; EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 36. 306

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

341

„Ob" der wirtschaftlichen Betätigung, wenn mit ihr auf jene individuelle Prägung der Wirtschaftsleistung bzw. auf die persönliche Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers Bezug genommen wird. Der Marktzugang ist demgegenüber nicht mehr berührt, wenn ein Mitgliedstaat über so genannte Ausübungs- bzw. Aufenthaltsmodalitäten lediglich die Art und Weise regelt, wie die wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben ist. 308 Zur Verdeutlichung sei auf folgende Beispielsfälle verwiesen: Ein Verbot der Doppelniederlassung für Rechtsanwälte betrifft nicht nur allgemeine Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern berührt unmittelbar die persönliche Sphäre des Niederlassungswilligen; dieser muss seine ursprüngliche Niederlassung im Herkunftsstaat aufgeben. 309 Die im Bosman-Urteil zu beurteilenden Transferregeln der UEFA machten den Vereinswechsel eines Fußballspielers davon abhängig, dass der neue Verein (oder der Spieler selbst) 310 eine bestimmte Ablösesumme zahlt; die Transferregeln erforderten somit eine Veränderung der Gegebenheiten in der persönlichen Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers. Besonders plastisch wird der maßgebliche persönliche Bezug einer Regelung im Fall Überseering? u Auf Vorlage des BGH hatte der EuGH (erneut) darüber zu entscheiden,312 inwieweit bei der grenzüberschreitenden Verlegung eines Gesellschaftssitzes die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit zu beachten sind. 313 Nach Ansicht des BGH führte die - im deutschen internationalen Gesellschaftsrecht geltende - Anwendung der Sitztheorie dazu, dass die klagende Gesellschaft ihre Rechtsfähigkeit verlor. 314 Damit war nicht nur ein bloßer Bezug zur persönlichen Sphäre der Gesellschaft gegeben; es ging - zumindest nach Auffassung des vorlegenden Gerichts - schlicht um

308

Allg. zu Ausübungs- bzw. Aufenthaltsmodalitäten z.B. Reichold, ZEuP 1998, 434 ff. (447); Köthel, EuZW 2000, 379 f. (380); Schroeder, JZ 1996, 254 ff. (255); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (211 f.). Die erforderliche Präzisierung dieser Begrifflichkeiten erfolgt nach dem hier vertretenen Ansatz dadurch, dass sie - wie soeben gezeigt - den Regelungen gegenübergestellt werden, welche sich durch Bezugnahme auf die persönliche Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers auszeichnen. 309 Vgl. dazu EuGH, Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, 2971, Rn. 17 ff. 310 Vgl. GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 210. 311 EuGH, Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002,1-9919. 312 Vgl. aus der früheren Judikatur bereits EuGH, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483, Rn. 11 ff.; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999,1-1459, Rn. 14 ff. 313 Vgl. EuGH, Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002,1-9919, Rn. 21 ff. 314 Die Gesellschaft war ursprünglich in Form einer niederländischen BV organisiert. Diese Gesellschaftsform ist der einer deutschen GmbH vergleichbar; dazu etwa von Halen, EWS 2002, 107 ff. (108 f.).

342

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

deren rechtliche Existenz als juristische Person. 315 Hierin sah der EuGH folgerichtig eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit. 316 Um allgemeine Ausübungsmodalitäten handelt es sich hingegen, wenn ein Sportverband - wie in der erwähnten Rechtssache Deliège - abstrakt die Teilnehmerzahl für bestimmte Turniere festlegt. 317 Gleiches gilt etwa für allgemeine Krankenversicherungspflichten oder Bestimmungen der Arbeitssicherheit. Analog der /^^-Rechtsprechung lässt sich somit auch hinsichtlich der personenbezogenen Aspekte der Grundfreiheiten das Kriterium des Marktzugangs konkretisieren; maßgeblich ist insofern eine Differenzierung zwischen Regelungen, welche die persönliche Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers tangieren, und bloßen Ausübungs- bzw. Aufenthaltsmodalitäten.

3. Einfuhrfreiheiten

und Ausfuhrfreiheiten

Im Rahmen der Prüfung bloß beschränkender Maßnahmen ist schließlich auf die Frage einzugehen, ob insofern zwischen Einfuhr- und Ausfuhrfreiheiten zu differenzieren ist. Insbesondere mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit wird im Schrifttum häufig vertreten, die Ausfuhrfreiheit des Art. 29 EG erfasse nur diskriminierende Maßnahmen.318 Zur Begründung ließe sich die Judikatur des Gerichtshofs anführen, wonach eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung zur Voraussetzung habe, dass eine „spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme" bezweckt oder bewirkt werde. 319

315

Abweichend der Ansatz des II. Zivilsenats in BGH, DB 2002, 2039. Danach habe die (kollisionsrechtliche) Anwendung der Sitztheorie keine Auswirkungen auf die (sachrechtlich zu beurteilende) Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft. Eingehend hierzu Leible/Hojfmann, DB 2002, 203 ff. 316 Vgl. EuGH, Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, 1-9919, Rn. 78 ff. Der Schwerpunkt der grundfreiheitlichen Prüfung lag in diesem Fall auf der Rechtfertigungsebene; vgl. EuGH, Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002,1-9919, Rn. 83 ff. Die zum Teil nicht unproblematische - Abwägung mit den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. 317 Vgl. dazu auch Röthel, EuZW 2000, 379 f. (380). 318 Näher zu dieser Problematik z.B. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 29 EGV, Rn. 7 ff.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 90 ff. 319 So z.B. EuGH, Rs. 15/79 (Groenveld), Slg. 1979, 3409, Rn. 7; EuGH, Rs. 155/80 (Oebel), Slg. 1981, 1993, Rn. 15; EuGH, Rs. 174/84 (Bulk Oil), Slg. 1986, 559, Rn. 41 f.; EuGH, Rs. C-47/90 (Delhaize), Slg. 1992,1-3669, Rn. 12; EuGH, Rs. C-80/92 (Kommission/Belgien), Slg. 1994,1-1019, Rn. 24.

C. Praktische Prüfung der verschiedenen Beeinträchtigungsformen

343

Die frühe Rechtsprechung zu Art. 34 EWGV (jetzt Art. 29 EG) bejahte - in Anlehnung an die Entscheidung Dassonville - Maßnahmen gleicher Wirkung allerdings bereits dann, „soweit sie geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern". 320 Allgemein ist der EuGH zunächst von einer in jeder Beziehung parallelen Auslegung von Artt. 30 u. 34 EWGV (jetzt Artt. 28 f. EG) ausgegangen.321 Die Restriktionen späterer Urteile dürften auf das Bestreben des Gerichtshofs zurückzuführen sein, rein innerstaatliche Sachverhalte aus dem grundfreiheitlichen Anwendungsbereich herauszunehmen. 322 Entsprechende Ergebnisse lassen sich jedoch auch mittels konsequenter Anwendung des notwendigen transnationalen Prüfkriteriums erzielen; mitgliedstaatliche Interessen können im Übrigen auf der Rechtfertigungsebene hinreichend berücksichtigt werden. Nach dem hier vertretenen Ansatz bedarf es hinsichtlich der verschiedenen grundfreiheitlichen Beeinträchtigungsformen daher keiner Differenzierung zwischen Einfuhr- und Ausfuhrfreiheit. 323 Hierdurch wird zugleich die einheitliche Interpretation der Artt. 28 ff. EG einerseits und der übrigen grundfreiheitlichen Bestimmungen andererseits betont. 324 Die Feststellung einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten schließt die Ausführungen zur grundfreiheitlichen Tatbestandsebene ab. In diesem Teil der grundfreiheitlichen Prüfung lassen sich sowohl Konvergenzen als auch verbleibende Differenzierungen zwischen den einzelnen Grundfreiheiten erkennen. Zunächst ist der Kreis der Verpflichtungsadressaten nach identischen Maßstäben zu bestimmen. Ebenfalls einheitlich erfolgt die Beurteilung diskriminierender Maßnahmen. Die anschließende Untersuchung bloßer Beschränkungen lässt sich auf das übergeordnete Kriterium des Marktzugangs zurückfuhren; notwen-

320

EuGH, Rs. 53/76 (Bouhelier), Slg. 1977, 197, Rn. 16/17. Vgl. Müller-Graff in: GTE, Art. 34, Rn. 11. 322 Vgl. auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 29 EGV, Rn. 9. 323 Ebenso z.B. Streit, in: BBPS4, 297. 324 Zu grundfreiheitlichen Beeinträchtigungen durch den Herkunftsstaat im Hinblick auf Artt. 39 ff., 43 ff, 49 ff. u. 56 ff. EG vgl. etwa EuGH, Verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, 377, Rn. 34; EuGH, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483, Rn. 16; EuGH, Verb. Rs. C-358/93 u. C-416/93 (Bordessa), Slg. 1995, 1-361, Rn. 16 ff.; EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 96 f.; Verb. Rs. C163/94, C-165/94 u.C-250/94 (Sanz de Lera), Slg. 1995, 1-4821, Rn. 16 ff.; EuGH, Rs. C-70/95 (Sodemare), Slg. 1997,1-3395, Rn. 37; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999, 1-2517, Rn. 11; EuGH, Rs. C-55/98 (Vestergaard), Slg. 1999, 1-7641, Rn. 20. Siehe zudem bereits oben 4. Kapitel A. II. 3, S. 264. 321

344

5. Kapitel: Die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten

dige Konkretisierungen sind allerdings im Hinblick auf produkt- und personenbezogene Aspekte der Grundfreiheiten unterschiedlich vorzunehmen. Einer weitergehenden Differenzierung zwischen Einfuhr- und Ausfuhrfreiheiten bedarf es dagegen nicht.

6. Kapitel

Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen Die Grundfreiheiten normieren Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote.1 Dabei können lediglich solche Maßnahmen verpönt sein, welchen das Merkmal der Rechtswidrigkeit anhaftet. 2 Die grundfreiheitliche Verbotswirkung entfällt somit unter Umständen selbst dann, wenn die zu beurteilende Maßnahme diskriminierenden bzw. beschränkenden Charakter besitzt, also die Grundfreiheiten beeinträchtigt. 3 Hierbei ist der dogmatisch bedeutsame Unterschied zwischen den Grenzen des grundfreiheitlichen Anwendungsbereichs einerseits und der Rechtfertigungsebene andererseits zu beachten.4 Während der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten abstrakt begrenzt wird, 5 findet innerhalb der Rechtfertigungsprüfung eine konkrete Abwägung zwischen festgestellter Beeinträchtigung und kollidierenden Rechtsgütern statt.6 Dieser Abwägungsvorgang wird von der notwendigen Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entscheidend beeinflusst. 7 Zudem differieren grundfreiheitlicher Anwendungsbereich und Rechtfertigungsprüfung im Hinblick auf die Beweislastverteilung. 8 Die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten im konkreten Fall hat zu beweisen, wer eine Verletzung grundfreiheitlicher Gewährleistungen behauptet; demgegenüber trägt im Bereich der Rechtfertigung deqenige die Beweislast, welcher die Verletzung bestreitet. 9

1

Siehe dazu die eingehenden Ausführungen des dritten Kapitels, S. 112 ff. Zum normativen Begriff der Rechtswidrigkeit vgl. z.B. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991,482 f. 3 Vgl. Ehlers, Jura 2001,482 ff. (486). 4 Jarass, EuR 2000, 705 ff. (717) bezeichnet die Abgrenzung jener beiden Prüfungselemente als „zentral für das Verständnis der Rechtfertigungsstufe". 5 Siehe bereits oben 4. Kapitel, S. 248. 6 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 149 f. 7 Näher Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (214) m.w.N. 8 Dazu auch Jarass, EuR 2000, 705 ff. (718). 9 Vgl. Oliver, CMLRev. 1999, 783 ff. (804 f.). 2

346

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Auf der Rechtfertigungsebene bestimmt sich, ob eine diskriminierende oder beschränkende Maßnahme letztlich mit den Grundfreiheiten des EG-Vertrages in Einklang zu bringen ist. Hieraus folgt die besondere Bedeutung der Interpretation der vertraglichen Rechtfertigungsvorschriften bzw. der Rechtfertigungsdogmatik insgesamt. Letztere ist in jüngerer Zeit wieder in das Blickfeld wissenschaftlicher Auseinandersetzungen gelangt. Dabei geht es um die in der Praxis wichtige Frage, inwiefern innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik zwischen verschiedenen Rechtfertigungsstrukturen zu differenzieren ist. 10 Die folgenden Ausführungen beziehen sich zunächst auf die im Grundsatz bestehenden Rechtfertigungsmöglichkeiten (Α.), bevor mit den so genannten Schranken-Schranken notwendige Restriktionen innerhalb der Rechtfertigungsprüfung näher betrachtet werden (B.). Abschließend soll die vorgenannte Diskussion um eine einheitliche Rechtfertigungsdogmatik vertieft werden (C.).

A. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten lassen sich über zwei strukturell unterschiedliche Wege rechtfertigen. 11 Zum einen existieren hier ausdrückliche Anknüpfungspunkte im EG-Vertrag (I.). Andererseits hat der Gerichtshof mit seiner so genannten Ca^w-Rechtsprechung die Möglichkeiten der Rechtfertigung diskriminierender bzw. beschränkender Maßnahmen erheblich erweitert (II.).

I. Anknüpfungspunkte im EG-Vertrag Auch mit Blick auf die Rechtfertigungsdogmatik als Teil einer Dogmatik der Grundfreiheiten bildet der Vertragstext den notwendigen Ausgangspunkt.12 Im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion wird dabei zumeist lediglich auf die klassischen geschriebenen Rechtfertigungsgründe innerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften eingegangen.13 Weitere positivierte Rechtfertigungsmöglich-

10

Vgl. dazu bereits die erste Übersicht oben 1. Kapitel Α. I. 2. b) bb) u. 2. Kapitel, S. 39 f. u. 62. 11 Vgl. Ehlers, Jura 2001,482 ff. (486). 12 Allg. dazu oben 1. Kapitel Β. I. 1., S. 49. 13 Vgl. z.B. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (486); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 162; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 191 ff.; Streinz, Rn. 693 ff.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

347

keiten werden oftmals nicht in die Betrachtung einbezogen,14 obwohl die Grundfreiheiten vielfältige Verbindungslinien zu übergeordneten vertraglichen Prinzipien aufweisen, welche über den Kreis der grundfreiheitlichen Vorschriften im engeren Sinne hinausgehen.15

7. Klassische grundfreiheitliche

Rechtfertigungsgründe

a) Die Regelungen im Einzelnen Innerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften finden sich für alle Grundfreiheiten geschriebene Rechtfertigungsgründe. 16 A m weitesten erscheint dabei der Regelungsbereich von Art. 30 EG, wonach mitgliedstaatliche Maßnahmen „aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind". Trotz dieser weitgefassten Aufzählung ist allein der Begriff der „öffentlichen Ordnung und Sicherheit" einer extensiveren Auslegung zugänglich; 17 im Übrigen bleiben die Interpretationsspielräume begrenzt. 18 Für alle in Art. 30 EG genannten Rechtfertigungsgründe gilt, dass sie nicht nur Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverbote oder beschränkungen erfassen, 19 sondern auch sämtliche Maßnahmen gleicher Wirkung. 20 Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer entfaltet ihre Gewährleistungen gemäß Art. 39 Abs. 3 EG „vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung,

14

Eine positive Ausnahme macht Jarass, EuR 1995, 202 ff. (221); ders., EuR 2000, 705 ff. (717) mit der Berücksichtigung von Art. 86 Abs. 2 EG. 15 Siehe zu Letzterem insb. oben 3. Kapitel B., S. 121 ff. 16 Vgl. Artt. 30, 39 Abs. 3,46 i.V.m. 55, 58 Abs. 1 EG. 17 Vgl. auch Streinz, Rn. 693; ders., FS Rudolf, 199 ff. (212). 18 Hinsichtlich der in Art. 30 S. 1 EG genannten Schutzgüter existiert eine konkretisierende Rspr. des EuGH, welche im Schrifttum weitestgehend nachvollzogen wird. Sie soll hier nicht weiter verfolgt werden. Näher zu den einzelnen Aspekten etwa Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 30 ff.; Leibte, in: Grabitz/Hilf, Art. 30, Rn. 12 ff.; Lux, in: Lenz, Art. 30, Rn. 4 ff. 19 Vgl. hier den Wortlaut von Art. 30 S. 1 EG. 20 Allgemeine Meinung; vgl. nur Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 9 m.w.N.

348

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen". Eine ähnliche Regelung enthält Art. 46 Abs. 1 EG fur die Niederlassungsfreiheit, welche nach Art. 55 EG auch für den Bereich des freien DienstleistungsVerkehrs Anwendung findet. Die normative Wirkung von Art. 46 Abs. 1 EG ist insofern eingeschränkt, als lediglich ,,Sonderregelung[en] für Ausländer" der genannten Rechtfertigung zugänglich sind. 21 Nichtdiskriminierende Maßnahmen können daher von vornherein nicht über Art. 46 Abs. 1 EG (ggf. i.V.m. Art. 55 EG) gerechtfertigt werden. 22 Auch auf dem Gebiet des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs findet sich der ausdrückliche Rechtfertigungsgrund der „öffentlichen Ordnung oder Sicherheit", vgl. Art. 58 Abs. 1 lit. b EG. Zudem normiert diese Vorschrift die Zulässigkeit unerlässlicher Maßnahmen, „um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts und der Aufsicht über Finanzinstitute, zu verhindern"; 23 trotz der lediglich beispielhaften Aufzählung bestimmter Bereiche der Rechtsordnung dürfte hier nur eine Ausdehnung auf wesensähnliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften zulässig sein.24 Schließlich begründet Art. 58 Abs. 1 lit. a EG einen Rechtsnormvorbehalt, welcher wiederum explizit diskriminierende Regelungen betrifft. 25

b) Konvergenzen und verbleibende Differenzierungen Aus der übergreifenden Sicht der vorliegenden Arbeit ist insbesondere von Interesse, inwieweit die grundfreiheitlichen Rechtfertigungsvorschriften des EG-Vertrages Gemeinsamkeiten aufweisen bzw. Unterschiede offenbaren. Konvergente Strukturen werden zunächst im Hinblick auf die grundsätzliche Anwendbarkeit der geschriebenen Rechtfertigungsgründe sichtbar. So wird für sämtliche Grundfreiheiten allgemein vertreten, dass eine Berufung auf die vertraglichen Rechtfertigungsvorschriften nicht mehr in Betracht kommt, wenn der

21 Dazu Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 46 EGV, Rn. 1; Scheuer, in: Lenz, Art. 46, Rn. 1. 22 Vgl. Streinz, Rn. 694 mit Hinweis auf entsprechende Folgewirkungen. 23 Zu dieser sog. „Rechtsbruchverhinderung" Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 58, Rn. 8 ff. 24 Vgl. Weber, EuZW 1992, 561 ff. (564). 25 Aufgrund einer Erklärung der Mitgliedstaaten zum früheren Art. 73d EGV gilt der Vorbehalt nur für solche diskriminierenden Steuervorschriften, welche Ende 1993 schon bestanden; näher hierzu Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 58 EGV, Rn. 2 m.w.N.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

349

betreffende Bereich durch sekundärrechtliche Bestimmungen bereits abschließend geregelt ist. 26 Besteht eine solche Regelung des Sekundärrechts, wird zwar die grundfreiheitliche Prüfung nicht obsolet;27 gleichwohl kommt es aufgrund kompetentieller Konsequenzen hier zu einer Veränderung des Prüfungsmaßstabs.28 Gemeinsamkeiten bestehen innerhalb der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsvorschriften auch insoweit, als ihre Anwendung nicht allein ökonomischer Zweckverfolgung dienen darf. 29 Wirtschaftliche Störungen werden daher von den Rechtfertigungsgründen grundsätzlich nicht erfasst. 30 Anderes gilt nur, wenn die Mitgliedstaaten neben den in den Rechtfertigungsvorschriften genannten Schutzgütern auch ökonomische Ziele verfolgen. 31 Betrachtet man die geschriebenen Rechtfertigungsgründe im Einzelnen, so findet sich für alle Grundfreiheiten der gemeinsame Aspekt der „öffentlichen Ordnung und Sicherheit". Insofern erscheint es zulässig, von einem allgemeinen grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalt zu sprechen. Der Terminus der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist dabei spezifisch gemeinschaftsrechtli-

26

Vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 95; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 46 EGV, Rn. 4; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 10; Jarass, EuR 2000, 705 ff. (720); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 151; Lackhojf, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, 460. Aus der Rspr. des Gerichtshofs vgl. nur EuGH, Rs. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629, Rn. 36; EuGH, Rs. 251/78 (Denkavit), Slg. 1979, 3369, Rn. 14; EuGH, Rs. 25/88 (Wurmser), Slg. 1988, 1105, Rn. 12; EuGH, Rs. C-323/93 (Crespelle), Slg. 1994, I5077, Rn. 31; EuGH, Rs. C-5/94 (Lomas), Slg. 1996, 1-2553, Rn. 18; EuGH, Rs. C352/95 (Phyteron International), Slg. 1997,1-1729, Rn. 17. 27 Unzutreffend Emmert, § 37, Rn. 13, wonach ein „Vorrang" des sekundären Rechts vor den Grundfreiheiten bestehen soll; vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 151: „[...] konkretisiert das Sekundärrecht das Primärrecht und ist in diesem Umfang alleiniger Maßstab für mitgliedstaatliches Handeln". 28 Vgl. dazu Jarass, EuR 2000, 705 ff. (720). 29 Vgl. EuGH, Rs. 95/81 (Kommission/Italien), Slg. 1982, 2187, Rn. 27; EuGH, Rs. 238/82 (Duphar), Slg. 1984, 523, Rn. 23; EuGH, Rs. 72/83 (Campus Oil), Slg. 1984, 2727, Rn. 35 f.; EuGH, Rs. 231/83 (Cullet), Slg. 1985, 305, Rn. 30 ff.; EuGH, Rs. 131/85 (Gül), Slg. 1986, 1573, Rn. 17; EuGH, Rs. C-324/93 (Evans), Slg. 1995, 1-563, Rn. 36; EuGH, Rs. C-l 14/97 (Kommission/Spanien), Slg. 1998,1-6717, Rn. 42. Mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit vgl. auch Art. 2 Abs. 2 der RL 64/221 /EWG. 30 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30, Rn. 14. 31 Vgl. EuGH, Rs. 118/86 (Geflügelschlachtabfälle), Slg. 1987, 3883, Rn. 18 m.w.N.

350

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

eher Natur, dessen begriffliche Konkretisierung nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen zu erfolgen hat. 32 Gleichwohl steht den Mitgliedstaaten hier ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum zu. 33 Der Gerichtshof hat die bestehenden Interpretationsmöglichkeiten jedoch nicht umfassend genutzt,34 sondern in ständiger Rechtsprechung die Notwendigkeit einer engen Auslegung der Rechtfertigungsvorschriften betont. 35 Damit hat der EuGH die Chance ungenutzt gelassen, die aufgrund der Erweiterung des judikativen Diskriminierungsbegriffs notwendige Ausweitung der Rechtfertigungsgründe durch eine extensive Auslegung jenes Merkmals vorzunehmen. 36 Stattdessen setzt der Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nach der Rechtsprechung voraus, dass staatliche Interessen von fundamentaler Bedeutung bzw. Grundinteressen der Gesellschaft berührt sind. 37 So werden etwa der Verbraucherschutz oder der Umweltschutz von der grundfreiheitlichen ordre-public-Klausel nicht erfasst. 38 Im Übrigen unterscheiden sich die geschriebenen Rechtfertigungsgründe innerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften. Hier ist zwischen der Warenverkehrsfreiheit, den Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs sowie den sonstigen Grundfreiheiten zu differenzieren.

32

Vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 90; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 21; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 155; Streinz, Rn. 703; Weber, EuZW 1992, 561 ff. (563). 33 Vgl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 90 m.w.N.; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 30, Rn. 12; Lux, in: Lenz, Art. 30, Rn. 6. 34 Siehe bereits oben bei Fußn. 17. 35 Vgl. nur EuGH, Rs. 7/61 (Kommission/Italien), Slg. 1961, 693, 720; EuGH, Rs. 13/68 (Salgoil), Slg. 1968, 679, 694; EuGH, Rs. 41/74 (von Duyn), Slg. 1974, 1337, Rn. 19; EuGH, Rs. 36/75 (Rutiii), Slg. 1975, 1219, Rn. 26/28; EuGH, Rs. 46/76 (Bauhuis), Slg. 1977, 5, Rn. 12/15; EuGH, Rs. 30/77 (Bouchereau), Slg. 1977, 1999, Rn. 33/35; EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 7; EuGH, Rs. C-205/89 (Kommission/Griechenland), Slg. 1991, 1-1361, Rn. 9; EuGH, Rs. C-348/96 (Calfa), Slg. 1999,1-3955, Rn. 23. Zur Begründung verweist der Gerichtshof auf den Charakter der Rechtfertigungsvorschriften als Ausnahmebestimmungen; vgl. Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 30, Rn. 3. Krit. zur Rspr. des EuGH etwa Sack, EWS 1994, 37 ff. (45 f.). 36 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 154 ff.; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (205, 212). Zur Erweiterung des judikativen Diskriminierungsbegriffs siehe oben 2. Kapitel, B, III, 2, S. 82 ff. 37 Vgl. Becker, in: Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 11; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 90. 38 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (486); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (212).

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

351

Für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit enthält Art. 30 EG über die ordre-public-Klausel hinaus einen weitreichenden Katalog positivierter Rechtfertigungsmöglichkeiten.39 Allerdings kommt den Aspekten der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gegenüber den anderen Rechtfertigungsgründen gleichwohl eine Sonderrolle zu; 40 sie können als Oberbegriffe aufgefasst werden, welche dann Anwendung finden, wenn die anderen in Art. 30 EG erwähnten Schutzgüter nicht einschlägig sind. 41 Beachtenswert ist im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit zudem die undifferenzierte Geltung der Rechtfertigungsgründe im Hinblick auf die Beeinträchtigungsqualität der zu beurteilenden Maßnahme; sowohl Diskriminierungen als auch Beschränkungen werden hiervon erfasst. 42 Gegenüber der Regelung zum freien Warenverkehr wird in den Artt. 39 Abs. 3 u. 46 Abs. 1 EG der grundfreiheitliche ordre-public-Vorbehalt lediglich um den Aspekt der öffentlichen Gesundheit ergänzt. 43 Dies gilt über Art. 55 EG auch für die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs. Zugleich bleibt die Anwendung von Art. 46 Abs. 1 EG auf diskriminierende Maßnahmen beschränkt. 44 Besonderheiten finden sich schließlich in Art. 58 Abs. 1 EG mit Blick auf die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Hier werden neben der öffentlichen Ordnung und Sicherheit keine weiteren Rechtfertigungsgründe eingeführt. Allerdings bleibt die Anwendung diskriminierender Regelungen in den nationalen Steuerrechtsordnungen gemäß Art. 58 Abs. 1 lit. a EG von den Vorschriften des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs unberührt. Darüber hinaus normiert Art. 58 Abs. 1 lit. b EG eine spezifische „Rechtsbruchverhinderung". 45

39

Näher zu den weiteren Rechtfertigungsgründen des Art. 30 EG etwa Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 30, Rn. 16 ff.; Lux, in: Lenz, Art. 30, Rn. 7 ff. 40 Dies gilt ungeachtet des hohen Stellenwerts der anderen Rechtfertigungsgründe; vgl. dazu etwa EuGH, Rs. 104/75 (De Peijper), Slg. 1976, 613, Rn. 14/18 u. EuGH, Rs. C-320/93 (Ortscheit), Slg. 1994, 1-5243, Rn. 15, wonach die Gesundheit und das Leben von Menschen unter den in Art. 30 EG genannten Gütern den „ersten Rang" einnehmen. 41 Vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 31 ; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 156; Müller-Graff, in: GTE, Art. 36, Rn. 49. 42 Vgl. Ehlers, Jura 2001,482 ff. (486). 43 Der Terminus der öffentlichen Gesundheit wird konkretisiert durch Art. 4 i.V.m. Anhang A der RL 64/221/EWG. 44 Vgl. Streinz, Rn. 694. Unzutreffend insoweit Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (486), der eine undifferenzierte Anwendung auf Diskriminierungen und Beschränkungen für sämtliche grundfreiheitlichen Rechtfertigungsvorschriften postuliert. 45 Dazu Weber, in: Lenz, Art. 58, Rn. 5 m.w.N.

352

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

2. Weitere positivierte

Rechtfertigungsmöglichkeiten

Neben den klassischen grundfreiheitlichen Rechtfertigungsgründen sind innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten weitere vertraglich verankerte Rechtfertigungsmöglichkeiten zu diskutieren. Vorliegend sollen dabei lediglich die wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahme gemäß Art. 86 Abs. 2 EG sowie das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip in die Betrachtung einbezogen werden.

a) Art. 86 Abs. 2 EG Nach der wettbewerbsrechtlichen Bereichsausnahme des Art. 86 Abs. 2 EG gelten fur dort näher bezeichnete Unternehmen „die Vorschriften dieses Vertrags, [...] soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert". 46 Damit eignet sich Art. 86 Abs. 2 EG im Grundsatz als geschriebener Rechtfertigungsgrund auch für die Grundfreiheiten. 47 Zwar ließe sich hier die systematische Stellung innerhalb der Wettbewerbsvorschriften als Argument für einen begrenzten Anwendungsbereich jener Vorschrift heranziehen. 48 Gegen eine solche restriktive Interpretation spricht jedoch der eindeutige Wortlaut des Art. 86 Abs. 2 EG, welcher ohne Einschränkung auf sämtliche vertraglichen Vorschriften Bezug nimmt und damit denkbar weit gefasst ist. 49 Der Gerichtshof hatte in einem früheren Urteil entschieden, dass die wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahme einen Mitgliedstaat nicht vom Verbot des Art. 30 EWGV (jetzt Art. 28 EG) befreie. 50 Nach neuerer Rechtsprechung können sich die Mitgliedstaaten jedoch auch zur Rechtfertigung grundfreiheitlicher

46

Die einzelnen Tatbestandsmerkmale von Art. 86 Abs. 2 EG sollen hier nicht vertieft diskutiert werden; vgl. dazu nur Grill, in: Lenz, Art. 86, Rn. 21 ff.; Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 86 EGV, Rn. 36 ff. 47 Zutreffend Jarass, EuR 1995, 202 ff. (221); ders, EuR 2000, 705 ff. (717). 48 So wird die Anwendung der wettbewerbsrechtlichen Bereichsausnahme auf die Grundfreiheiten i.E. auch abgelehnt von Müller-Graff, in: GTE4, Art. 30, Rn. 156; von Wilmowsky, ZHR 155 (1991), 545 ff. (563 ff.); ders, Abfall Wirtschaft im Binnenmarkt, 1990, 114 ff. 49 Vgl. auch Jarass, RIW 1993, 1 ff. (4). 50 Vgl. EuGH, Rs. 72/83 (Campus Oil), Slg. 1984, 2727, Rn. 19.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

353

Beeinträchtigungen auf Art. 86 Abs. 2 EG berufen; 51 die ältere Judikatur ist insofern überholt. 52 Ungeachtet der Wortlautinterpretation sowie der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH folgt die extensive Auslegung der wettbewerbsrechtlichen Bereichsausnahme auch aus teleologischen Aspekten. Ausgangspunkt ist dabei die Vorschrift des Art. 86 Abs. 1 EG. Zweck dieser Vorschrift ist es, eine mittelbare Vertragsverletzung durch die Mitgliedstaaten kraft ihres bestimmenden Einflusses auf Unternehmen zu verhindern. 53 Diese Schutzrichtung betrifft neben dem vertraglichen Beihilfeverbot insbesondere die Warenverkehrsfreiheit. 54 Art. 86 Abs. 2 EG legt nun fest, unter welchen Voraussetzungen jene Unternehmen von den Vorschriften des EG-Vertrages ausnahmsweise abweichen dürfen. 55 Somit kann sich ein Mitgliedstaat auf die wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahme berufen, um bestimmten Unternehmen Rechte zu übertragen, welche im Übrigen gegen die Grundfreiheiten verstoßen. 56 Hieraus lässt sich abstrahieren: Soweit der Tatbestand von Art. 86 Abs. 2 EG erfüllt wird, 57 sind über diese Vorschrift Einschränkungen der Grundfreiheiten zulässig.58 Innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung ist jene Berücksichtigung von Art. 86 Abs. 2 auf der Rechtfertigungsebene zu verorten. 59

51

Vgl. EuGH, Rs. C-320/91 (Corbeau), Slg. 1993,1-2533, Rn. 13 ff.; EuGH, Rs. C393/92 (Almelo), Slg. 1994, 1-1477, Rn.46ff.; EuGH, Rs. C-157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, 1-5699, Rn. 38 ff.; EuGH, Rs. C-158/94 (Kommission/Italien), Slg. 1997, 1-5789, Rn. 43; EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997, 1-5815, Rn. 49 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-147/97 u. C-148/97 (Deutsche Post), Slg. 2000,1-825, Rn. 54 f. 52 Vgl. von Burchard, in: Schwarze, Art. 86 EGV, Rn. 54. 53 Aus der Rspr. vgl. etwa EuGH, Rs. C-157/94 (Kommission/Niederlande), Slg. 1997, 1-5699, Rn. 30; EuGH, Rs. C-158/94 (Kommission/Italien), Slg. 1997, 1-5789, Rn. 41; EuGH, Rs. C-159/94 (Kommission/Frankreich), Slg. 1997,1-5815, Rn. 47. 54 Vgl. Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 86 EGV, Rn. 3 m.w.N. 55 Vgl. dazu aktuell EuGH, Rs. C-53/00 (Ferring), Slg. 2001,1-9067, Rn. 30 ff. 56 Vgl. von Burchard, in: Schwarze, Art. 86 EGV, Rn. 54. 57 Zu notwendigen Konkretisierungen vgl. Jarass, RIW 1993,1 ff. (4). 58 Ebenso i.E. Jarass, RIW 1993, 1 ff. (4); Marenco, CMLRev. 1983, 495 ff. (519); Randelzhofer, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 59, Rn. 5; Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990, 79 f. 59 Vgl. Jarass, EuR 1995, 202 ff. (221); ders., EuR 2000, 705 ff. (717). 2

Mühl

354

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

b) Gemeinschaftsrechtliches Umweltprinzip Geschriebene Rechtfertigungsgründe sind nach dem hier vertretenen Ansatz nicht nur die in Artt. 30, 39 Abs. 3, 46 (ggf i.V.m. 55), 58 EG genannten Aspekte, sondern darüber hinaus alle übergeordneten positivierten Rechtfertigungsmöglichkeiten.60 In den vorangegangenen Ausführungen wurde die besondere Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Umweltprinzips für die Grundfreiheiten aufgezeigt. 61 Daher erscheint die Frage berechtigt, ob nicht auch das Umweltprinzip als übergeordneter geschriebener Rechtfertigungsgrund innerhalb einer grundfreiheitlichen Dogmatik berücksichtigt werden kann, ohne zugleich die Differenzierung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen aufzugeben. Die Problematik ist - soweit ersichtlich - im europarechtlichen Schrifttum bislang nicht erörtert worden. 62 Der Grund hierfür mag darin liegen, dass nach bisher gefestigter Rechtsprechung Umweltschutzbelange als so genannte Cassw-Kriterien, d.h. als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in die grundfreiheitliche Prüfung integriert werden. 63 Die Frage nach der Einordnung des Umweltschutzes in geschriebene oder ungeschriebene Rechtfertigungsstrukturen ist dabei nicht lediglich theoretischer Natur. In der traditionellen Judikatur wird den positivierten Rechtfertigungsgründen gegenüber den ungeschriebenen Cassw-Kriterien ein weitergehender Anwendungsbereich zugebilligt, 64 so dass jene Fragestellung praktische Relevanz besitzt.

aa) Wortlaut der Vertragsvorschriften Inwiefern die Aspekte des Umweltschutzes als geschriebene oder als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe des Gemeinschaftsrechts angesehen werden

60

Siehe bereits oben bei Fußn. 14 u. 15. Eingehend oben 3. Kapitel B. III, S. 168 ff. 62 Lediglich vereinzelt wird die Nähe von Umweltschutz und Art. 30 EG (insb. dessen Merkmal des Gesundheitsschutzes) angesprochen; vgl. dazu Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 275 mit Verweis auf Montag, RIW 1987, 935 ff. (938); Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. (617). 63 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607, Rn. 6 ff.; EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-4431, Rn. 22 ff.; EuGH, Rs. C284/95 (Safety Hi-Tech), Slg. 1998, 1-4301, Rn. 64. Vgl. auch Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992, 27; Hailbronner, EuGRZ 1989, 101 ff. (106); Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 19; Montag, RIW 1987, 935 ff. (938); Rüge, EuZW 2001, 247 f. (248); krit. Kahl, Umweltprinzip, 1993, 39 f. 64 Nachweise oben 1. Kapitel, Fußn. 44. 61

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

355

können, ist zunächst anhand der bestehenden Vorschriften im EG-Vertrag zu beurteilen.

(1) Grundfreiheitliche

Rechtfertigungsvorschriften

Die grundfreiheitlichen Rechtfertigungsvorschriften im engeren Sinne nehmen nicht ausdrücklich auf den Umweltschutz Bezug. 65 Lediglich in Art. 30 S. 1 EG wird der Schutz „der Gesundheit des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen" als möglicher Rechtfertigungsgrund für Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit festgeschrieben. Wenngleich diesen Merkmalen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein besonderer Stellenwert zukommt, 66 so lassen sich Aspekte des Umweltschutzes angesichts der restriktiven Judikatur des EuGH hierunter nicht subsumieren. 67 Diese sind vielmehr als eigenständiger Rechtfertigungsgrund von den in Art. 30 S. 1 genannten Kriterien zu unterscheiden.68 Insofern ist auch der vereinzelt unternommene Versuch abzulehnen, wonach umweltpolitisch motivierte Rechtfertigungsmöglichkeiten dem grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalt als Auffangtatbestand zuzuordnen seien.69 Eine solche Auslegung erscheint zwar hinsichtlich der notwendigen engen Ausrichtung am Vertragstext wünschenswert. 70 Zugleich entfernt sich jener Ansatz aber zu weit von der Rechtsprechung als der zweiten wesentlichen Leitlinie grundfreiheitlicher Dogmatik. 71 Im Ergebnis offenbaren die Rechtfertigungsvorschriften somit eine gewisse Affinität zum Umweltschutz; im Hinblick auf einen geschriebenen Rechtfertigungsgrund „Umweltschutz" bilden sie für sich genommen jedoch keine tauglichen dogmatischen Anknüpfungspunkte.

(2) Sonstige vertragliche

Bestimmungen

Abweichend erscheint die Situation, wenn die übrigen Vorschriften des EGVertrages in die Betrachtung einbezogen werden. Deutliche Parallelen zwi-

65

Gemeint sind die Vorschriften der Artt. 30, 39 Abs. 3,46 (ggf. i.V.m. 55), 58 EG. Siehe bereits oben Fußn. 40 m.w.N. 67 Zur engen Auslegung der RechtfertigungsVorschriften als Ausnahmevorschriften siehe bereits die Nachweise oben in Fußn. 35. 68 Vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 22; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. 66

(212). 69

Vgl. in diesem Sinne etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 158 m.w.N. 70 Siehe bereits oben 1. Kapitel Β. I., S. 49 ff. 71 Siehe oben 1. Kapitel Β. I , S. 55 ff. 23*

356

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

sehen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des Art. 30 S. 1 EG einerseits und dem Umweltschutz andererseits zeigt zunächst die so genannte EscapeKlausel des Art. 95 Abs. 4 EG. Beide Aspekte werden dort ohne weitergehende Differenzierung erwähnt. Dies ist insofern bemerkenswert, als andere klassische C&ssw-Kriterien, wie etwa der Verbraucherschutz oder die Lauterkeit des Handelsverkehrs, in Art. 95 Abs. 4 EG nicht genannt sind; anders als der Umweltschutz sind sie somit keine Rechtfertigungsgründe im Sinne dieser Vorschrift. 72 Entscheidend für eine Zuordnung des Umweltschutzes in die Kategorie der geschriebenen Rechtfertigungsgründe spricht die Querschnittsklausel des Art. 6 EG. Dabei kann auf die bisherigen Ausführungen zurückgegriffen werden: Sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung der umweltpolitischen Querschnittsklausel haben durch den Amsterdamer Vertrag wesentliche Änderungen erfahren. 73 Aus der Vertragssystematik folgt die Notwendigkeit einer übergreifenden Berücksichtigung von Umweltbelangen im Rahmen sämtlicher Gemeinschaftspolitiken des Art. 3 EG; dies gilt insbesondere mit Blick auf das Binnenmarktziel gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. c EG. Die durch den neuen Wortlaut zum Ausdruck kommende verstärkte Schutzwirkung bedingt Konsequenzen für die Qualität jener Berücksichtigung. Insgesamt wird so die gemeinschaftsrechtliche Entwicklung zu einem „Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes" sichtbar. 74 Angesichts der herausragenden Stellung des Umweltschutzes im bestehenden Vertragsgefüge besteht -zumindest nach den Veränderungen durch den Amsterdamer Vertrag - kein Bedürfnis mehr, Rechtfertigungsaspekte des Umweltschutzes zwingend als ungeschriebene Cassw-Kriterien aufzufassen. Vielmehr ließe sich direkt ein geschriebener Rechtfertigungsgrund des Umweltschutzes entwickeln, wobei die Querschnittsklausel des Art. 6 EG als dogmatischer Anknüpfungspunkt fungiert. Gegenüber anderen klassischen Cass/s-Kriterien erscheint diese Übertragung speziell der Umweltaspekte in die Rechtfertigungsstruktur der geschriebenen Gründe berechtigt. Zwar ist zum Beispiel auch der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund des Verbraucherschutzes über Art. 153 Abs. 2 EG mit einer Querschnittsklausel im EG-Vertrag verbunden. Im Vergleich zu Art. 6 EG spielen die sonstigen vertraglichen Querschnittsklauseln jedoch nur eine untergeordnete Rolle. 75 Dies gilt auch für den

72 Vgl. auch Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV, Rn. 25; Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Archivband I), Art. 100a, Rn. 71. 73 Siehe insb. oben 3. Kapitel B. III. 1. a) cc) (3), S. 184 f. 74 Vgl. eingehend Kahl, Umweltprinzip, 1993, 283 ff.; ähnlich Schröer, Kompetenzverteilung, 1992, 133 ff. 75 Dies folgt aus der Berücksichtigung von Wortlaut und Vertragssystematik; näher dazu oben 3. Kapitel B. III, bei Fußn. 305.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

357

Bereich des Verbraucherschutzes. Art. 153 Abs. 2 EG begründet somit keinen „Grundsatz des bestmöglichen Verbraucherschutzes". 76 Folglich bleibt es bei der bisherigen Erkenntnis: Betrachtet man allein die Bestimmungen des EGVertrages, lässt sich der Umweltschutz aus der Gruppe der ungeschriebenen Cßssw-Kriterien herauslösen und als eigenständiger geschriebener Rechtfertigungsgrund auffassen.

bb) Rechtsprechung Gerade weil die Differenzierung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen der Judikatur des Gerichtshofs entspringt, erscheint es in besonderer Weise notwendig, die Einordnung des Umweltschutzes in jene Kategorien auch am richterlichen Maßstab auszurichten. Hierbei sind zwei grundsätzliche Rechtsprechungslinien zu unterscheiden. 77 In der traditionellen Judikatur werden Aspekte des Umweltschutzes im Rahmen der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung als klassische Cassis Kriterien angesehen.78 Leitentscheidung ist insoweit das Urteil Dänische Pfandflaschen 79 während der EuGH zuvor das Ziel eines gemeinschaftsweiten Umweltschutzes lediglich abstrakt betont hat. 80 Seitdem konnte bislang von einer gefestigten Judikatur gesprochen werden, wenn der Gerichtshof die Umweltbelange den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen zuordnete. Neuere Urteile zeichnen sich allerdings durch eine mögliche Lockerung dieser Zuordnung aus. Hier ist vor allem auf die bereits angesprochene Entschei-

76

Zutreffend Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 153 EGV, Rn. 21 m.w.N. Die folgenden Ausführungen nehmen auf bereits erwähnte Entscheidungen zu umweltpolitischen Fragestellungen Bezug; siehe dazu oben 3. Kapitel B. III. 1. b), S. 187 ff. 78 Vgl. nur Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 22; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 19. 79 Vgl. EuGH, Rs. 302/86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, 4607. Teilweise wird bereits in dieser Entscheidung die richterlich betonte Nähe von Umweltschutz und Rechtfertigungsgründen des Art. 36 EWGV (jetzt Art. 30 EG) gesehen (insb. Gesundheitsschutz); vgl. dazu Schmitz, Die Europäische Union als Umweltunion, 1996, 275 mit Verweis auf Montag, RIW 1987, 935 ff. (938); Rengeling/Heinz, JuS 1990, 613 ff. (617). 80 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 172/82 (Inter-Huiles), Slg. 1983, 555, Rn. 14; EuGH, Rs. 240/83 (ADBHU), Slg. 1985, 531, Rn. 13 ff. Zu weiteren Entscheidungen siehe oben 3. Kapitel, Fußn. 449. 77

358

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

dung in der Rechtssache PreussenElektra zu verweisen. 81 Den dort zu beurteilenden mitgliedstaatlichen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit - konkret: die aus §§ 1 und 2 StrEinspG folgende Pflicht zur Abnahme im Inland erzeugten elektrischen Stroms - rechtfertigt der Gerichtshof, indem er Aspekte des Umweltschutzes heranzieht. 82 Ohne die umweltpolitischen Rechtfertigungsmöglichkeiten expressis verbis in Art. 36 EGV (jetzt Art. 30 EG) zu verankern, 83 verknüpft der EuGH seine Argumentation mit jener geschriebenen Rechtfertigungsvorschrift: Die gemeinschaftsrechtliche Umweltpolitik „bezweckt zugleich den [in Art. 30 EG genannten] Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen". 84 Auch im Übrigen orientiert sich der Gerichtshof in der Entscheidung PreussenElektra an positivierten Kriterien. So betont er den Zusammenhang mit Art. 130r Abs. 2 UAbs. 1 EG (jetzt Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 EG); 85 darüber hinaus verweist der EuGH ausdrücklich auf die umweltpolitische Querschnittsklausel, 86 welche durch die Verlagerung in die Grundsatzvorschrift des Art. 6 EG einen erhöhten Stellenwert besitzt.87 Die von der ursprünglichen Judikatur abweichenden Erwägungen im Urteil PreussenElektra sind auch vom europarechtlichen Schrifttum nicht unbeachtet geblieben. 88 Dabei wird jedoch zumeist nur die Frage diskutiert, ob der Gerichtshof seine Differenzierung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen insgesamt aufgibt. 89 In Anbetracht der Gefahren übereilter Interpretationsversuche 90 erscheint es hingegen sinnvoller, der Entscheidung PreussenElektra eine weniger weitreichende Bedeutung zuzumessen und den spezifischen Bezug zu Umweltaspekten nicht unberücksichtigt zu lassen: Ohne die grundsätzliche Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen anzutasten, kann angesichts der erfolgten Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts der Umweltschutz als zusätzliches geschriebenes Rechtfertigungskriterium angesehen werden. Dieses Verständnis einer besonderen Behandlung

81

EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001, 1-2099; siehe dazu oben 3. Kapitel B. III. 1. b) ee), S. 192 ff. 82 Vgl. EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 72 ff. 83 Dies - wie bereits ausgeführt - zu Recht; siehe oben aa) (1), S. 355. 84 EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 75. 85 Vgl. EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 74. 86 Vgl. EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 76. 87 Siehe dazu die Bemerkung oben 3. Kapitel, Fußn. 502. 88 Vgl. etwa Dederer, BayVBl. 2001, 366 ff. (367); Leibte, EuZW 2001, 253 ff. (254); Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 316 f.; Rüge, EuZW 2001, 247 f. (248). 89 Vgl. nur Leible, EuZW 2001, 253 ff. (254); Rüge, EuZW 2001, 247 f. (248). 90 Siehe oben 1. Kapitel, bei Fußn. 51.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

359

von Umweltschutzbelangen klingt bereits im erwähnten Wallonien-Urteil des EuGH an. 91

cc) Folgerungen In der Zusammenschau von textlicher Interpretation einerseits und Rechtsprechungsentwicklung andererseits lassen sich bereits erste Konsequenzen für die Behandlung von Umweltschutzaspekten innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik aufzeigen. Diesbezüglich ist auf die obigen Ausführungen des dritten Kapitels zurückzukommen, wonach grundsätzlich vier verschiedene dogmatische Ansatzpunkte für die Berücksichtigung des Umweltschutzes auf der Rechtfertigungsebene der Grundfreiheiten bestehen.92 Zwei der dort genannten vier Möglichkeiten sollen nach den nunmehr gewonnenen Erkenntnissen nicht mehr weiterverfolgt werden. Zum einen ist die ursprüngliche Eingliederung des Umweltschutzes in die Kategorie der ungeschriebenen Gmzs-Kriterien nicht mehr notwendig und aufgrund der bestehenden positivierten dogmatischen Anknüpfungspunkte als obsolet anzusehen. Andernfalls würde der erforderlichen Ausrichtung am Vertragstext nicht in dem gebotenen Maße Rechnung getragen. 93 Darüber hinaus bedingte das Festhalten an dem Cassis- Kriterium „Umweltschutz" eine extensivere Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes innerhalb der grundfreiheitlichen Rechfertigungsprüfung; nur so ließe sich die erfolgte Aufwertung des Umweltschutzgedankens im Gemeinschaftsrecht hinreichend berücksichtigen. 94 Aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit ist jedoch eine weitgehende Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes möglichst zu vermeiden. 95 Zum anderen wird die Bereitstellung einer echten „Sonderlösung" im Hinblick auf umweltbezogene Rechtfertigungsgründe nunmehr verworfen. 96

91

Näher dazu oben 3. Kapitel B. III. 1. b) dd), S. 191. Siehe oben 3. Kapitel B. III. 2. b), S. 195 f. 93 Wegen der notwendigen Orientierung einer Dogmatik der Grundfreiheiten am Text des EG-Vertrages muss auf positivierte Anknüpfungspunkte rekurriert werden, sofern solche bestehen. Dies ist im Bereich des Umweltschutzes seit Inkrafftreten des Amsterdamer Vertrages der Fall. 94 Dazu bereits oben 3. Kapitel, bei Fußn. 519. 95 Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 173 f. 96 Siehe oben 3. Kapitel, bei Fußn. 515. 92

360

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Nimmt man den Umweltschutz aus dem bisherigen Differenzierungsschema der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe heraus, so wird dadurch die grundfreiheitliche Rechtfertigungsprüfung nur unnötig verkompliziert. Innerhalb einer Dogmatik der Grundfreiheiten sollen gerade möglichst einfache Strukturen aufgezeigt werden; 97 die Entwicklung eines umweltbezogenen Rechtfertigungsgrundes sui generis erscheint diesbezüglich wenig weiterführend. Somit verbleiben nach dem vorliegend vertretenen Verständnis nur noch zwei unterschiedliche Ansatzpunkte, den gemeinschaftsrechtlichen Umweltschutz in die Rechtfertigungsdogmatik der Grundfreiheiten einzuordnen. Denkbar ist zunächst die Umgruppierung der Umweltaspekte von der Kategorie der Cosm-Kriterien in die Ordnung der im EG-Vertrag positivierten Rechtfertigungsgründe. Alternativ ließe sich die Differenzierung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsstrukturen insgesamt in Frage stellen; umweltpolitische Gesichtspunkte treten in diesem Fall ohne Unterschied neben die sonstigen Rechtfertigungsmöglichkeiten. Auf diese Problematik wird an späterer Stelle vertiefter einzugehen sein.

c) Konvergenz der Grundfreiheiten Über den Kreis der in den grundfreiheitlichen Vorschriften genannten Aspekte hinaus existieren nach den vorangegangenen Ausführungen weitere geschriebene Rechtfertigungsmöglichkeiten. Sowohl die Bestimmung des Art. 86 Abs. 2 EG als auch das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip sind dabei in ihrer Anwendung nicht auf einzelne Grundfreiheiten beschränkt. Vielmehr gelten sie für sämtliche denkbaren grundfreiheitlichen Beeinträchtigungen. Deutlich wird die übergreifende Wirkrichtung jener positivierten Rechtfertigungsgründe vor allem hinsichtlich des Umweltprinzips; dort lässt sich über Art. 6 EG auf eine Vorschrift Bezug nehmen, welche bereits aufgrund ihrer systematischen Stellung im Vertragsgefüge umfassend 211 beachten ist. 98 Für die wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahme gilt angesichts des weitreichenden Wortlauts von Art. 86 Abs. 2 EG nichts anderes. Auch bestehen keine Anhaltspunkte, bei der Anwendung vorgenannter geschriebener Rechtferti-

97

Grundlegend dazu oben 1. Kapitel A. I. 1. a) u. 3. b) aa), S. 32 u. 46. Die systematische Auslegung von Art. 6 EG wird durch den weitgefassten Wortlaut dieser Vorschrift ergänzt. 98

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

361

gungsgründe zwischen den Beeinträchtigungsformen der Diskriminierung und der Beschränkung zu differenzieren." Insgesamt wird über die positivierten Rechtfertigungsmöglichkeiten außerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften ein weiterer Beitrag zur Konvergenz der Grundfreiheiten geleistet.

II. Die Erweiterung der Rechtfertigungsgründe durch den EuGH Neben den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des EG-Vertrages sind im Rahmen der grundfreiheitlichen Prüfung die ungeschriebenen Aspekte der Rechtfertigung zu beachten, wie sie der Gerichtshof in nunmehr gefestigter Rechtsprechung entwickelt hat. 100 In diesem Zusammenhang soll im Folgenden die Cass is -Rechtsprechung des EuGH nachgezeichnet werden (1.), bevor anschließend ein alternativer Lösungsansatz diskutiert wird (2.).

1. „Immanente Schranken " im Sinne der Cassis-Rechtsprechung In Folge der bereits dargestellten tatbestandlichen Ausweitung der Grundfreiheiten durch Verwendung eines erweiterten judikativen Diskriminierungsbegriffs musste der Gerichtshof korrespondierend auch den Kreis der Rechtfertigungsgründe ausdehnen.101 Nachdem in ständiger Rechtsprechung die restriktive Interpretation vertraglicher Rechtfertigungsvorschriften betont wurde, 102 bestand die Notwendigkeit, ungeschriebene Aspekte der grundfreiheitlichen Rechtfertigung zu postulieren. 103

99

Zu diesbezüglichen Differenzierungen im Bereich der grundfreiheitlichen Vorschriften siehe oben 1, b, bei Fußn. 44. 100 Vgl. dazu den Überblick bei Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487 f.); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (213 f.). 101 Vgl. auch Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (212). Zur Ausdehnung des judikativen Diskriminierungsbegriffs siehe oben 2. Kapitel B. III. 2, S. 82 ff. 102 Siehe oben bei Fußn. 35. 103 Vgl. nur Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (486). Zur dogmatischen Einordnung dieser „immanenten Schranken" siehe sogleich unten b), S. 367.

362

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

a) Entwicklung der Rechtsprechung Diese ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe werden vom EuGH als so genannte „immanente Schranken" in die tatbestandlichen Vorschriften der Grundfreiheiten hineingelesen.104 Sie erfassen nunmehr sämtliche Grundfreiheiten des EG-Vertrages, nachdem zuvor hinsichtlich einzelner grundfreiheitlicher Bestimmungen divergierende Rechtsprechungslinien zu verzeichnen waren. 105

aa) Warenverkehrsfreiheit Dem freien Warenverkehr wird bezüglich dogmatischer Entwicklungen im Bereich der Grundfreiheiten oftmals eine Pionierfunktion zugesprochen. 106 Demgemäß steht mit dem Urteil in der Rechtssache Cassis eine Entscheidung zur Warenverkehrsfreiheit pars pro toto für die richterliche Herausbildung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe; 107 teilweise wird das Coww-Urteil in diesem Zusammenhang sogar als Leitentscheidung herangezogen. 108 Dies ist insofern nicht ganz zutreffend, als der Beginn jener Rechtsprechungslinie - wie noch zu zeigen sein wird- von Entscheidungen zur Dienstleistungsfreiheit markiert wird. 1 0 9 Dennoch soll vorliegend an der etablierten Terminologie festgehalten werden.

(1) „ Zwingende Erfordernisse

"

Nach dem Urteil in der Rechtssache Cassis sind Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, welche sich aus den Unterschieden nationaler Vermarktungsregeln ergeben, hinzunehmen, soweit sie „notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes". 110 Damit kreiert der Gerichtshof den Oberbegriff der „zwingenden Erfordernisse"

104 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,41; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (213). 105 Vgl. Gundel, Jura 2001, 79 ff. (79). 106 So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,40. 107 Vgl. EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766. 108 Vgl. etwa Ehlers, Jura 2001,482 ff. (486). 109 Dazu sogleich unten bb), S. 364. 110 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

363

und ordnet ihm einzelne Aspekte zu. Diese so genannte Cassis- Formel wird seitdem in ständiger Rechtsprechung wiederholt. 111 Neben den bereits erwähnten Kriterien finden sich in der Judikatur nunmehr weitere untergeordnete Elemente der zwingenden Erfordernisse; 112 zu nennen sind vor allem der Umweltschutz,113 die Kulturpolitik 114 sowie die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt. 115

(2) Dissonanzen Die Rechtsprechungsentwicklung zu den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen im Bereich der Warenverkehrsfreiheit verläuft nicht immer widerspruchsfrei. Dissonanzen ergeben sich hauptsächlich mit Blick auf den Gesundheitsschutz,116 welcher vom Gerichtshof trotz der Erwähnung in Art. 30 EG als ungeschriebenes Cassis- Kriterium der Rechtfertigungsprüfung genannt wurde. 117 Ungeachtet dieser systemwidrigen Verschränkung geschriebener und ungeschriebener Rechtfertigungsgründe werden im Schrifttum gegensätzliche Aussagen des EuGH zum Rechtfertigungsgrund des Gesundheitsschutzes konstatiert. 118 So soll einerseits die Rechtfertigung nur dann in Betracht kommen, wenn die betreffende Maßnahme zur Erfüllung des Gesundheitsschutzes not-

111

Vgl. nur EuGH, Rs. 788/79 (Gilli), Slg. 1980, 2071, Rn. 3 ff.; EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 10; EuGH, Rs. 130/80 (Keldermann), Slg. 1981, 527, Rn. 6; EuGH, Rs. 193/80 (Kommission/Italien), Slg. 1982, 3019, Rn. 17 ff.; EuGH, Rs. 6/81 (Beele), Slg. 1981, 707, Rn. 7; EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 10 ff.; EuGH, Rs. 16/83 (Prantl), Slg. 1984, 1299, Rn. 25; EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 28; EuGH, Rs. 407/85 (3 Glocken GmbH), Slg. 1988, 4233, Rn. 15 ff.; EuGH, Rs. C-39/90 (Denkavit II), Slg. 1991, I3069, Rn. 16 ff.; EuGH, Rs. C-126/91 (Yves Rocher), Slg. 1993,1-2361, Rn. 12; EuGH, Rs. C-313/94 (Graffione), Slg. 1996, 6039, Rn. 17; EuGH, Rs. C-448/98 (Guimont), Slg. 2000,1-10663, Rn. 27. 112 Die Aufzählung der Kriterien in der Entscheidung Cassis ist nicht abschließend („insbesondere"); vgl. EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8. 113 Siehe dazu eingehend oben I. 2. b) bb), S. 357 f. 114 Vgl. EuGH, Verb. Rs. 60/84 u. 61/84 (Cinéthèque), Slg. 1985, 2605, Rn. 23; EuGH, Rs. C-288/89 (Collectieve Antennevoorziening Gouda), Slg. 1991, 1-4007, Rn. 23; EuGH, Rs. C-353/89 (Kommission/ Niederlande), Slg. 1991, 1-4069, Rn. 29 f.; EuGH, Rs. C-l48/91 (Veronica), Slg. 1993,1-487, Rn. 9 f. 115 Vgl. EuGH, Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997,1-3689, Rn. 18. 116 Vgl. hierzu auch Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (213). 117 Hieraus resultierten Versuche, den Gesundheitsschutz differenziert im Rahmen geschriebener und ungeschriebener Rechtfertigungsgründen zu erfassen; vgl. dazu krit. Müller-Graff in: GTE4, Art. 30, Rn. 88. 118 Vgl. näher Brouwer, CMLRev. 1988, 237 ff.

364

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

wendig ist und dieses Ziel nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, welche den Warenaustausch innerhalb der Gemeinschaft weniger beschränkt. 119 Andererseits betont der Gerichtshof, es sei mangels erfolgter Harmonisierung Sache der Mitgliedstaaten, unter Berücksichtigung der Erfordernisse des freien Warenverkehrs zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Gesundheitsschutz gewährleisten wollen. 120 Teilweise werden die beiden genannten Formeln nebeneinander genannt,121 teilweise wird versucht, die gegensätzlichen Aussagen miteinander zu verbinden. 122 Mittlerweile hat der EuGH zumindest klargestellt, dass Erfordernisse des Gesundheitsschutzes im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit allein über Art. 36 EGV (jetzt Art. 30 EG) geprüft werden. 123

bb) Dienstleistungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit Auch hinsichtlich der Dienstleistungsfreiheit rekurriert der Gerichtshof auf ungeschriebene Rechtfertigungsgründe. 124 In etwas abweichender Terminologie spricht der EuGH hier von „(zwingenden) Gründen des Allgemeininteresses". 125 Mit den Urteilen in den Rechtssachen van Binsbergen™ und van Wesemael 127 wird dabei zeitlich noch vor der Cassw-Entscheidung auf diese Rechtfertigungsstruktur Bezug genommen. Der Grund hierfür dürfte darin zu sehen sein, dass die positivierten Rechtfertigungsgründe des Art. 56 EGV (jetzt Art. 46 EG) i.V.m. Art. 66 EGV (jetzt Art. 55 EG) a priori nur für diskriminierende Maßnahmen gelten; der erfolgten Ausweitung des grundfreiheitlichen Tatbestandes kann im Bereich der Dienstleistungsfreiheit daher nur über unge-

119

Vgl. EuGH, Rs. 104/75 (De Peijper), Slg. 1976, 613, Rn. 14/18; EuGH, Rs. 247/81 (Kommission/Deutschland), Slg. 1984, 1111, Rn. 11. 120 Vgl. EuGH, Rs. 272/80 (Biologische Producten), Slg. 1981, 3277, Rn. 12; EuGH, Rs. 174/82 (Sandoz), Slg. 1983, 2445, Rn. 16. 121 Vgl. EuGH, Rs. 304/84 (Muller), Slg. 1986, 1511, Rn. 21 u. 23; ähnlich EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 41 u. 44. 122 Vgl. EuGH, Rs. 274/87 (Kommission/Deutschland), Slg. 1989, 229, Rn. 6; hierzu Everling, ZLR 1989, 304 ff. (316). 123 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-176/90 (Aragonesa), Slg. 1991,1-4151, Rn. 13; EuGH, Rs. C-l72/00 (Ferring Arzneimittel), Slg. 2002,1-6891, Rn. 33 ff. 124 Vgl. die Übersicht bei Holoubek, in: Schwarze, Art. 49 EGV, Rn. 100; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 118 ff. 125 Vgl. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 26; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 136. 126 EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299, Rn. 10/12. 127 EuGH, Verb. Rs. 110/78 u. 111/78 (van Wesemael), Slg. 1979, 35, Rn. 28.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

365

schriebene Rechtfertigungsgründe Rechnung getragen werden. Analog der Entwicklung im Bereich des freien Warenverkehrs führt der Gerichtshof immer neue Aspekte der „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses" ein. 128 Zu nennen sind insbesondere die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, 129 der Schutz der Rundfunkteilnehmer vor übermäßiger Werbung 130 sowie das Ansehen des nationalen Finanzsektors. 131 Parallelen zeigen sich in der Judikatur zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und zur Niederlassungsfreiheit. Dort herausgearbeitete Casm-Kriterien fasst der Gerichtshof unter dem Begriff der „objektiven Erwägungen" bzw. der „zwingenden Gründe des Gemeinwohls" zusammen.132 Ebenso wie bei den Grundfreiheiten des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs ist bei den Personenverkehrsfreiheiten die Tendenz zu beobachten, den Kreis der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe immer weiter auszudehnen.133 Als Beispiel für die kaum mehr konturierte Rechtsprechung mag hier das Bosman-Urteil herangezogen werden; die zu beurteilenden Transferregelungen im europäischen Fußballsport prüft der EuGH auf ihre Eignung, „das finanzielle und sportliche Gleichgewicht zwischen den Vereinen aufrechtzuerhalten und die Suche nach Talenten sowie die Ausbildung der jungen Spieler zu unterstützen". 134

cc) Freier Kapital- und Zahlungsverkehr Schließlich wird die vorgenannte Rechtsprechungsentwicklung auch im Bereich des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs nachvollzogen.135 In der Entscheidung Trümmer diskutiert der Gerichtshof beispielsweise die nationale „Transparenz des Grundpfandrechtssystems" als „zwingenden Grund des Gemeinwohls", lehnt im Ergebnis jedoch eine mögliche Rechtfertigung ab. 136

128

Vgl. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 137 m.w.N.; zahlreiche Nachweise zur Rspr. finden sich etwa bei Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 26. 129 Vgl. EuGH, Rs. C-3/95 (Broede), Slg. 1996,1-6511, Rn. 38 ff. 130 Vgl. EuGH, Rs. 52/79 (Debauve), Slg. 1980, 833, Rn. 28. 131 Vgl. EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Slg. 1995,1-1141, Rn. 44. 132 Vgl. einerseits EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996,1-2617, Rn. 19; EuGH, Rs. C-l5/96 (Schöning-Kougebetopoulou), Slg. 1998, 1-47, Rn. 21 ; andererseits EuGH, Rs. C-255/97 (Pfeiffer/Löwa), Slg. 1999,1-2835, Rn. 19. 133 Vgl. nur Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 47; Scheuer, in: Lenz, Art. 39, Rn. 38. 134 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 105 f. 135 Vgl. z.B. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 56 EGV, Rn. 52 a.E. 136 EuGH, Rs. C-222/97 (Trümmer), Slg. 1997,1-1661, Rn. 29 ff.

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6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Ebenso werden die im Zusammenhang mit anderen Grundfreiheiten bereits als CoArä-Kriterien formulierten „Ziele der Kulturpolitik" auf die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs übertragen. 137 Weitere ungeschriebene Rechtfertigungsgründe sind vor allem die wirksame Steuerkontrolle, die Lauterkeit des Börsengeschäfts sowie der Anlegerschutz. 138

dd) Konvergenz der Grundfreiheiten Die obigen Ausführungen verdeutlichen den Versuch des EuGH, einzelne Aspekte der ungeschriebenen Rechtfertigungsstruktur unter einem gemeinsamen Begriff zusammenzufassen. Die festgestellte uneinheitliche Terminologie bedeutet dabei keinen Unterschied in der Sache;139 „zwingende Erfordernisse", „Gründe des Allgemeininteresses" und „zwingende Gründe des Gemeinwohls" weisen einheitlich darauf hin, dass im Rahmen der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung sämtliche legitimen Belange des Allgemeinwohls als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen. 140 Ausgeschlossen ist jedoch im Hinblick auf alle Grundfreiheiten die Verfolgung rein wirtschaftlicher Zwecke. 141 Im Folgenden werden die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe übergreifend mit dem Begriff der „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses" gekennzeichnet.142 Dies entspricht der Terminologie des Gerichtshofs in der Entscheidung Gebhardt Dieses Urteil ist besonders deshalb interessant, weil dort allgemein auf die „durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten" Bezug genommen wird. 1 4 4 Damit wird die Entwicklung eines einheitlichen, die Grundfreiheiten übergreifenden Rechtfertigungsstandards in der Judikatur des EuGH abge-

137

Vgl. EuGH, Rs. C-l48/91 (Veronica), Slg. 1993,1-487, Rn. 8 ff. mit Verweis auf EuGH, Rs. C-288/89 (Collectieve Antennevoorziening Gouda), Slg. 1991, 1-4007, Rn. 23 f. u. EuGH, Rs. C-353/89 (Kommission/ Niederlande), Slg. 1991, 1-4069, Rn. 41 f. 138 Vgl. Weber, in: Lenz, Art. 56, Rn. 16 m.w.N. 139 Ebenso Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (486); Gundel, Jura 2001, 79 ff. (79); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 136 f.; Roth, WRP 2000, 979 ff. (981). 140 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (718 f.). 141 Vgl. EuGH, Rs. C-120/95 (Decker), Slg. 1998, 1-1831, Rn. 39; EuGH, Rs. C203/96 (Dusseldorp), Slg. 1998,1-4075, Rn. 44. 142 So auch Jarass, EuR 2000, 705 ff. (718); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 136 f. 143 Vgl. EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 37. 144 Ebd.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

367

schlossen.145 Die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses im Sinne der Ca^w-Rechtsprechung sind mithin ein weiterer Aspekt fortschreitender Konvergenz der Grundfreiheiten des EG-Vertrages. 146

b) Dogmatische Einordnung der Ca&sw-Kriterien Nachdem der Gerichtshof die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses als „immanente Schranken" in die grundfreiheitlichen Tatbestände hineinliest, 147 ist die dogmatische Zuordnung jener Merkmale problematisch und umstritten. 148 Einerseits wird in der Formulierung der Ca^w-Kriterien eine teleologische Reduktion der Grundfreiheiten auf der Tatbestandsebene gesehen. 149 Demgegenüber betonen andere die Einordnung der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses als spezifische Elemente der Rechtfertigungsebene. 150 Teilweise werden jene Aspekte - wenig weiterführend - „ohne Festlegung in der Sache als immanente Schranken der Grundfreiheiten bezeichnet".151

145

Vgl. Herdegen, Rn. 282; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (199). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 136 mit dem Versuch, die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses i.S.d. Gebhard-Formel als Neufassung vorheriger Begrifflichkeiten des EuGH zu interpretieren. Angesichts der in nachfolgenden Entscheidungen weiterhin uneinheitlich verwandten Terminologie dürfte dieser Ansatz indes keine hinreichende Stütze in der Rspr. finden. 147 Siehe bereits oben bei Fußn. 104. 148 Vgl. allg. zum Streitstand Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 184 ff. 149 So z.B. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse, 1997, 81 f.; Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, C.I, Rn. 108 f.; Dörr, RabelsZ 54 (1990), 677 ff. (684 f.); Jestaedt/Kästle, EWS 1994, 26 ff. (27); Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 20; Meyer, GRUR Int. 1996, 697 ff. (702). 150 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (483); Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 38; Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (511); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (224); ders, EuR 2000, 705 ff. (719); Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 188 f.; Oliver, CMLRev. 1999, 783 ff. (804); ders, Free Movements of Goods in the EEC, 1996, 110 ff.; Roth, WRP 2000, 979 ff. (980, Fußn. 5) m.w.N.; Sack, EWS 1994, 37 ff. (46); ders., GRUR 1998, 871 ff. (877); Solbach, Verkaufsmodalitäten, 1996, 224 ff. 151 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 53. 146

368

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Formulierungen des EuGH in frühen Urteilen indizieren eine Verortung der CaAs/s-Kriterien auf der Tatbestandsebene.152 Neuere Entscheidungen rücken die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses allerdings in die Nähe der geschriebenen Rechtfertigungsgründe; 153 teilweise wird sogar expressis verbis auf die grundfreiheitliche Rechtfertigungsebene Bezug genommen.154 Entscheidend für die Berücksichtigung der Ca^s/s-Kriterien innerhalb der Rechtfertigungsprüfung spricht deren notwendige Ausrichtung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.155 Gerade die Rechtfertigungsebene wird - in Abgrenzung zur Tatbestandsebene - von der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geprägt. 156 Auch wenn trotz der neueren Judikatur des EuGH noch Zweifel im Hinblick auf die richterliche Einordnung verbleiben, 157 so sind daher die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses aufgrund sachlicher Erwägungen als Elemente der Rechtfertigungsprüfung anzusehen.

2. Alternativlösung:

Extensive Auslegung der Schrankenbestimmungen?

Die Case's-Rechtsprechung des EuGH wird im europarechtlichen Schrifttum teilweise kritisiert. 158 Insbesondere wird dem Gerichtshof vorgeworfen, er konterkariere mit der Einführung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe die von ihm propagierte restriktive Auslegung der vertraglichen Rechtfertigungsvorschriften. 159

152

Zutreffend insoweit Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 41 f. mit Verweis auf EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8. 153 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (719). Beispielhaft für den Umweltschutz siehe bereits oben bei Fußn. 84. 154 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, 1-4921, Rn. 105 ff. u. 121 ff.; EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 37; Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997, 1-3843, Rn. 46; EuGH, Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997,1-3689, Rn. 18. 155 Näher hierzu Streinz, Rn. 700a. 156 Eingehend bereits oben bei Fußn. 4 ff. 157 Vgl. Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (213 a.E.). 158 So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 52 f. u. 162 f. Vgl. auch Schweitzer/Hummer, Rn. 1135. Weitere Nachweise bei Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (212). 159 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 52.

Α. Grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten

369

Alternativ ließe sich über den grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalt an die offenen Begriffe der Vertragsvorschriften anknüpfen. 160 Diesen Weg geht vor allem Kingreen, indem er die genannten Rechtsprechungslinien des EuGH verwirft und stattdessen für eine extensive Interpretation der grundfreiheitlichen Schrankenbestimmungen plädiert. 161 Neben der strengen Orientierung am Vertragstext sieht Kingreen hierin den Vorteil eines einheitlichen Rechtfertigungsmaßstabs für die verschiedenen Beeinträchtigungsqualitäten innerhalb der Dogmatik der Grundfreiheiten. 162 Im Grundsatz erscheint die Heranziehung allein der geschriebenen Rechtfertigungsgründe sinnvoll. Für alle Grundfreiheiten existiert mit dem in den Rechtfertigungsvorschriften genannten Begriff der „öffentlichen Ordnung" ein normativer Ansatzpunkt, 163 wodurch der Vertragstext - eine wesentliche Leitlinie grundfreiheitlicher Dogmatik - gebührende Berücksichtigung findet. 164 Die eigentliche Problematik liegt jedoch darin, dass die gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs - in gleichem Maße wichtiger Orientierungspunkt einer Dogmatik der Grundfreiheiten - ohne Not nicht ausreichend einbezogen wird. 1 6 5 Zudem ist auch die geäußerte Kritik an der Gws/s-Rechtsprechung nicht immer überzeugend. So kann etwa die Aussage Kingreens, jene Judikatur füge sich nicht in die Struktur der Grundfreiheiten ein, 166 in ihrer Absolutheit keinen Bestand haben; gerade die differenzierte Anwendungsmöglichkeit der Cassis Kriterien im Hinblick auf diskriminierende und nichtdiskriminierende Maßnahmen wird möglicherweise den strukturellen Besonderheiten der Grundfreiheiten erst hinreichend gerecht. 167 Trotz teilweise beachtlicher Argumentation ist die Alternativlösung im Sinne Kingreens daher im Ergebnis abzulehnen.

160 Vgl. Schweitzer/Hummer, Rn. 1135. Zum grundfreiheitlichen ordre-publicVorbehalt siehe bereits oben I. 1. b), S. 348 f. 161 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 156 ff. 162 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 156 f. 163 Vgl. auch Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (212). 164 Siehe bereits oben 1. Kapitel Β. I. 1, S. 49. 165 Zur notwendigen Berücksichtigung der Judikatur des EuGH siehe oben 1. Kapitel Β. I I , S. 55 ff. 166 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 52. 167 Vgl. hierzu Ehlers, Jura 2001,482 ff. (487). 24 Mühl

370

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

III. Zusammenfassung Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages sind nicht ohne weiteres verboten; sie sind der Rechtfertigung fähig. Im Rahmen der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung stehen zwei unterschiedliche Strukturen zur Verfügung: zum einen die Rechtfertigung über vertraglich positivierte Aspekte, zum anderen die Bezugnahme auf ungeschriebene Kriterien im Sinne der Cassis- Rechtsprechung. Die geschriebenen Rechtfertigungsgründe sind in erster Linie den grundfreiheitlichen Vorschriften zu entnehmen. Neben einzelnen, speziell auf bestimmte Grundfreiheiten zugeschnittenen Aspekten lässt sich übergreifend für sämtliche Grundfreiheiten der Rechtfertigungsgrund des ordre-public-Vorbehalts entwickeln. Darüber hinaus bestehen weitere positivierte Rechtfertigungsmöglichkeiten; zu nennen sind vor allem die wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahme des Art. 86 Abs. 2 EG sowie das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip. Diese sind in ihrem Anwendungsbereich nicht auf einzelne wirtschaftliche Freiheiten begrenzt, so dass hierdurch ein weiterer Beitrag zur Konvergenz der Grundfreiheiten geleistet wird. Die ungeschriebenen Ca^w-Kriterien lassen sich unter dem übergeordneten Begriff der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses zusammenfassen. Grundsätzlich können jegliche Belange des Gemeinwohls Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten rechtfertigen; ausgenommen sind allerdings rein wirtschaftliche Zweckverfolgungen. Die Berufung auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses ist hinsichtlich aller Grundfreiheiten zulässig; hier kommt wiederum die fortschreitende Konvergenz der Grundfreiheiten zum Ausdruck. Trotz uneinheitlicher Terminologie in der Judikatur sind die Casszs-Kriterien sachlich-logisch nicht der Tatbestandsebene, sondern der Rechtfertigungsebene zuzuordnen. Die extensive Interpretation vertraglicher Rechtfertigungsvorschriften als mögliche Alternative zur Struktur der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe ist angesichts der nunmehr gefestigten Rechtsprechung des EuGH im Ergebnis abzulehnen.

B. Schranken-Schranken Bevor die aktuelle Problematik einer differenzierten Anwendung vorgenannter Rechtfertigungsstrukturen eingehender diskutiert wird, ist das System der so genannten Schranken-Schranken zu betrachten: Die Beschränkung grundfreiheitlicher Gewährleistungen durch bestehende Rechtfertigungsmöglichkeiten ist nicht grenzenlos zulässig, sondern unterliegt ihrerseits gewissen Gegenschranken. 168

Β. Schranken-Schranken

371

Der Terminus der Schranken-Schranken entstammt der nationalen Grundrechtsdogmatik. 169 Auch wenn die Grundfreiheiten des EG-Vertrages strukturell nicht mit Grundrechten gleichgesetzt werden können, 170 so wird doch die Begrenzung der Rechtfertigungsmöglichkeiten innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung überwiegend mit dem Begriff der Schranken-Schranken gekennzeichnet. 171 Demgemäß wird auch in der vorliegenden Arbeit an jener Terminologie festgehalten. Im Zusammenhang mit den Restriktionen der Rechtfertigungsprüfung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders zu beachten (I.); darüber hinaus wird auf die Bedeutung der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranke (II.) sowie auf Einflüsse des sekundären Gemeinschaftsrechts (III.) einzugehen sein.

I. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH muss die Rechtfertigung grundfreiheitlicher Beeinträchtigungen verhältnismäßig sein. 172 Im Vergleich zu anderen Schranken-Schranken steht die Ausrichtung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit meist im Vordergrund der richterlichen Rechtfertigungspriifang." 3

168 Vgl. nur Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 164. 169 Näher zur Bedeutung der Schranken-Schranken etwa für die deutschen Grundrechte Pieroth/Schlink, Rn. 274 ff. 170 Siehe dazu oben 3. Kapitel C. III. 3. b), S. 236 f. 171 Vgl. z.B. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487); Jarass, EuR 1995, 202 ff. (223); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 164 ff.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 190; Streinz, Rn. 703. 172 Vgl. nur EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 12; EuGH, Rs. 174/82 (Sandoz), Slg. 1983, 2445, Rn. 18; EuGH, Rs. 178/84 (Reinheitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, Rn. 44; EuGH, Rs. 247/84 (Motte), Slg. 1985, 3887, Rn.23; EuGH, Rs. 304/84 (Muller), Slg. 1986, 1511, Rn. 23; EuGH, Verb. Rs. C-l3/91 u. C-l 13/91 (Debus), Slg. 1992, 1-3617, Rn. 16; EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, 1-4165, Rn. 37. 173 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (721); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 168. Eingehend zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich der Grundfreiheiten Emmerich-Pritsche, 410 ff.

24*

372

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

1. Dogmatische Herleitung Normative Anhaltspunkte für eine Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz existieren im Hinblick auf die geschriebenen Rechtfertigungsgründe zunächst innerhalb der grundfreiheitlichen Vorschriften des EG-Vertrages. So kann Art. 30 S. 2 EG herangezogen werden, wonach Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen" dürfen. 174 Eine ähnliche Formulierung findet sich in Art. 58 Abs. 3 EG hinsichtlich der Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Die übrigen Grundfreiheiten fordern ebenfalls die Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; dies wird allgemein daraus abgeleitet, dass nach den vertraglichen Schrankenbestimmungen Maßnahmen der Mitgliedstaaten „gerechtfertigt" sein müssen.175 Teilweise wird zudem auf den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatz des Verhältnismäßigkeitsprinzips rekurriert. 176 Für die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe im Sinne der CassisRechtsprechung lässt sich die ständige Formulierung des EuGH heranziehen. Danach können durch mitgliedstaatliche Bestimmungen erfolgte Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten nur gerechtfertigt sein, „soweit diese Bestimmungerecht zu werden". 177 gen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen Unverhältnismäßige Beeinträchtigungen sind daher auch über die ungeschriebenen Cassw-Kriterien nicht zu rechtfertigen. 178

2. Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit setzt sich aus drei Teilelementen zusammen, welche aufeinander aufbauen und die Relation zwischen der beeinträchtigenden Maßnahme und dem damit verfolgten Regelungszweck betreffen:

174

Hervorh. d. Verf. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit vgl. auch Emmerich-Pritsche, 420 ff. 175 Vgl. statt vieler Jarass, EuR 2000, 705 ff. (721). 176 So etwa Ehlers, Jura 2001,482 ff. (487). 177 Vgl. EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8 (Hervorh. d. Verf.). 178 Vgl. Streinz, Rn. 700a.

Β. Schranken-Schranken

373

Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit.179 Wiederum werden hier Parallelen zur deutschen Grundrechtsdogmatik sichtbar, 180 wobei die Spezifika des Gemeinschaftsrechts zu beachten sind. Zunächst muss die betreffende mitgliedstaatliche Maßnahme geeignet sein, das mit ihr angestrebte Ziel zu erreichen. 181 Dabei steht den Mitgliedstaaten ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum zu; 1 8 2 auch kann die bloße Förderung des verfolgten Ziels genügen.183 Diese geringen Anforderungen an die Geeignetheit der betreffenden Maßnahmen führen dazu, dass der Gerichtshof diesen Aspekt der Verhältnismäßigkeit zumeist bejaht; 184 dennoch fällt die richterliche Rechtfertigungsprüfung vereinzelt bereits an dieser Stelle negativ aus. 185 Erforderlich ist die zu beurteilende Maßnahme (nur) dann, wenn ihre Zielverfolgung nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, welche die jeweilige Grundfreiheit weniger stark beeinträchtigen. 186 In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu prüfen, ob nicht schon die Beachtung der Vorschriften des

179

Zu den drei Teilaspekten der Verhältnismäßigkeitsprüfung vgl. auch EmmerichPritsche, 418; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 51 ff.; Herdegen, Rn. 282 f.; Jarass, EuR 2000, 705 ff. (721 ff.); Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 169 ff.; Schilling, EuR 1994, 50 ff. (53). 180 Vgl. nur Pieroth/Schlink, Rn. 279 ff. 181 Vgl. EuGH, Rs. C-l24/97 (Läärä), Slg. 1999,1-6067, Rn. 31. 182 Vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 53; dies., Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 303 ff. Aus der Rspr. vgl. etwa EuGH, Rs. C-293/93 (Houtwipper), Slg. 1994,1-4249, Rn. 22. 183 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (722) mit Verweis auf EuGH, Rs. 152/78 (Kommission/Frankreich), Slg. 1980, 2299, Rn. 18. 184 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 174/82 (Sandoz), Slg. 1983, 2445, Rn. 18 ff.; EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-l76/90 (Aragonesa), Slg. 1991, 1-4151, Rn. 15; EuGH, Rs. C-39/90 (Denkavit II), Slg. 1991,1-3069, Rn. 23. 185 So etwa in EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 10 f.; das Vorbringen der Beklagten, die Festsetzung eines Mindestweingeistgehalts diene dem Gesundheitsschutz und sei daher gerechtfertigt, hat der Gerichtshof zu Recht dezidiert zurückgewiesen. 186 Vgl. EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1986, 3755, Rn. 33; EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997,1-3843, Rn. 45; EuGH, Rs. C-l89/95 (Franzén), Slg. 1997, 1-5909, Rn. 75; EuGH, Rs. C-389/96 (AherWaggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 20.

374

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Herkunftslandes dem inländischen Regelungszweck hinreichend genügt. 187 Damit werden vor allem die mehrfach erwähnten Anerkennungsfälle angesprochen; 188 die in der Judikatur zu den Personenverkehrsfreiheiten postulierte Priifund Anerkennungspflicht mit Blick auf im Ausland erworbene Diplome oder sonstige berufliche Qualifikationen entspringt der Erforderlichkeitsprüfung. Eine weitere Auswirkung ergibt sich unter Einbeziehung des grundfreiheitlichen Stufenmodells: 189 Da bloße Beschränkungen im Verhältnis zu Diskriminierungen eine geringere Eingriffsqualität aufweisen, ist bei diskriminierenden Maßnahmen zu prüfen, ob das angestrebte Ziel nicht ebenso wirksam durch eine unterschiedslose Ausgestaltung erreicht werden kann. 190 In einem letzten Schritt ist schließlich die Angemessenheit der beeinträchtigenden Maßnahme hinsichtlich des verfolgten Schutzinteresses festzustellen. 191 Gegenüber der grundfreiheitlichen Beeinträchtigung muss der Zweck der Maßnahme als hinreichend schwerwiegend zu charakterisieren sein. 192 Dies erfordert eine Abwägung im konkreten Einzelfall; 193 zwischen Zielverfolgung und Beeinträchtigung der jeweiligen Grundfreiheit darf im Ergebnis kein grobes Missverhältnis vorliegen. 194 Angesichts der Gefahr, im Rahmen dieser Abwägung die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nicht ausreichend zu beachten,195 konstatiert der Gerichtshof nur selten eine fehlende Angemessenheit. 196 Meist ist bereits das Merkmal der Erforderlichkeit zu verneinen. 197

187

Näher Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 170 f. 188 Siehe dazu eingehender oben 3. Kapitel C. II. 2. b), S. 222 f. 189 Zu diesem Ansatz siehe oben 3. Kapitel C. IV. 3. b), S. 245 ff. 190 Ähnlich Jarass, RIW 1993, 1 ff. (6); ders, EuR 2000, 705 ff. (721). 191 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997, I3843, Rn. 45; EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 20. 192 So die Formulierung in EuGH, Rs. 121/85 (Conegate), Slg. 1986, 1007, Rn. 15. 193 Vgl. auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 57; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 173; MüllerGraff, in: GTE, Art. 36, Rn. 157. 194 Vgl. Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000,465. 195 Näher Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 173 f. 196 Vgl. aber die zitierte Entscheidung Conegate (oben Fußn. 192): Zollbeamte des Vereinigten Königreiches hattten aus Deutschland importierte aufblasbare Gummipuppen wegen ihres anstößigen bzw. unzüchtigen Charakters eingezogen. Nach Ansicht des EuGH kann die „ärgerniserregende Wirkung einer Ware [...] nicht als hinreichend schwerwiegend" im Verhältnis zur Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit angesehen werden; vgl. EuGH, Rs. 121/85 (Conegate), Slg. 1986, 1007, Rn. 15. 197 Zutreffend Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 57.

Β. Schranken-Schranken

375

Die genannten drei Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen kumulativ vorliegen, um eine Rechtfertigung der betreffenden Maßnahme zu ermöglichen. 198 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, erfolgt die gerichtliche Überprüfung diesbezüglich nicht immr mit der gleichen Intensität.

3. Unterschiedliche

Kontrolldichte

Die judikative Kontrolldichte innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist maßgeblich für die Rechtfertigung grundfreiheitlicher Beeinträchtigungen in der Praxis. In diesem Zusammenhang sind eventuelle Beurteilungsspielräume der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, welche einer richterlichen Überprüfung nicht oder nur eingeschränkt zugänglich sind. 199 Solche Beurteilungsspielräume sind Folge des erforderlichen Abwägungsvorgangs; dort werden oftmals Prognoseentscheidungen zu treffen sein, wodurch die Verhältnismäßigkeitsprüfung mit Unsicherheiten belastet wird. 2 0 0 Gesetzgeberische Einschätzungsprärogativen werden vom Gerichtshof dabei in unterschiedlichem Ausmaß beachtet.201

a) Unterschiede zwischen den einzelnen Grundfreiheiten Zunächst divergiert die judikative Kontrolldichte innerhalb der verschiedenen Grundfreiheiten des EG-Vertrages. 202 So sind Eingriffe in den Gewährleistungsgehalt von Art. 39 EG und Art. 43 EG leichter zu rechtfertigen als Beeinträchtigungen der übrigen Grundfreiheiten; 203 insbesondere betont der Gerichtshof den unterschiedlichen Prüfungsmaßstab hinsichtlich Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit. 204 Diese Differenzierung auf der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsebene ist berechtigt; gemäß Art. 50 Abs. 3 EG ist nur die vorübergehende Dienstleistungserbringung grundfreiheitlich geschützt, während die

198

Der Gerichtshof nennt teilweise nur die beiden Merkmale der Erforderlichkeit und Angemessenheit; vgl. EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997,1-3843, Rn. 45; EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 20. 199 Vgl. auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 53; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (215). 200 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (723). 201 Dazu Emmerich-Fritsche, 436 ff. 202 Vgl. hierzu Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 172, der selbst jedoch anderer Ansicht ist. 203 Vgl. Ehlers, Jura 2001,482 ff. (488); Streinz, Rn. 678. 204 Vgl. EuGH, Rs. C-76/90 (Säger), Slg. 1991,1-4221, Rn. 13.

376

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Niederlassungsfreiheit an das Element der Dauerhaftigkeit anknüpft. 205 Wer sich indes zur Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit dauerhaft in einen anderen Mitgliedstaat begibt, dem ist es eher zuzumuten, sich der Jurisdiktion des Aufenthaltsstaates zu unterwerfen. 206 Jene unterschiedliche Kontrolldichte wird teilweise mit dem Argument kritisiert, auch Waren oder Dienstleistungen könnten dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat vertrieben werden. 207 Überzeugen kann diese Argumentation nicht: Dienstleistungen im Sinne von Art. 50 EG werden per definitionem nur vorübergehend erbracht; gleiches gilt für Warenlieferungen. Sofern ein dauerhafter Vertrieb vorliegt, handelt es sich daher um ein Bündel einzelner grundfreiheitlich geschützter Wirtschaftsleistungen, welche für sich genommen die Adaption der ausländischen Rechtsordnung nicht bedingen. Demgegenüber stellt die dauerhafte Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat einen einheitlichen Wirtschaftsvorgang dar, welcher nicht in mehrere vorübergehende Leistungserbringungen unterteilt werden kann. Im Ergebnis ist somit an der unterschiedlich strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung festzuhalten.

b) Diskriminierung und Beschränkung Abstufungen der Kontrolldichte innerhalb der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung bestehen auch im Hinblick auf die Eingriffsqualität beeinträchtigender Maßnahmen. Insofern ist zwischen Diskriminierungen und bloßen Beschränkungen zu differenzieren. 208 Hierbei kann an die obigen Ausführungen des dritten Kapitels angeknüpft werden, wonach bloße Beschränkungen eine geringere Eingriffsqualität aufweisen als Diskriminierungen. 209 Als dogmatische Konsequenz wurde eine - auf der Rechtfertigungsebene anzusiedelnde differenzierte Beweislastverteilung postuliert; bei diskriminierenden Maßnahmen wird deren Rechtswidrigkeit vermutet, während bloße Beschränkungen keine solche Vermutungswirkung begründen. 210 Konkrete Auswirkungen hat dies beispielsweise auf die Kontrolldichte von Art. 46 Abs. 1 EG einerseits

205 Vgl. zu Letzterem EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, 1-4165, Rn. 25; EuGH, Rs. C-70/95 (Sodemare), Slg. 1997,1-3395, Rn. 24. 206 Zutreffend Jarass, EuR 2000, 705 ff. (722); Streinz, Rn. 678. 207 So Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 172. 208 Vgl. auch Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (488); Jarass, EuR 2000, 705 ff. (723) m.w.N. 209 Näher zum angesprochenen grundfreiheitlichen Stufenmodell oben 3. Kapitel C. IV. 3. b), S. 245 ff. 210 Siehe oben 3. Kapitel Β. II. 1. a) cc) (1), S. 148 f.

Β. Schranken-Schranken

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bzw. die ungeschriebenen Ca&sw-Kriterien andererseits; Letztere erlauben eine weniger strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung als die auf Diskriminierungen zugeschnittene Vorschrift des Art. 46 Abs. 1 EG. 2 1 1

II. Gemeinschaftsgrundrechte Neben dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird die Bedeutung der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranke innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung diskutiert. 212 Früher bestehende Unsicherheiten sind durch die gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch nunmehr beseitigt worden. 213 Danach sind die grundfreiheitlichen Rechtfertigungsvorschriften „ i m Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen".214 Gleiches gilt für die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe im Sinne der Om/s-Rechtsprechung des EuGH. 215 Im europarechtlichen Schrifttum wird die Judikatur des Gerichtshofs zumeist nachvollzogen.216 Zur Begründung wird auf den effektiven Rechtsschutz gemäß den Gemeinschaftsgrundrechten, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts sowie die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung verwiesen. 217 Vereinzelte Stimmen in der Literatur lehnen hingegen die Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranke im dargelegten Sinne ab. 218

211

Zutreffend Streinz, Rn. 702; ders., FS Rudolf, 199 ff. (215). Vgl. dazu den Überblick bei Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 164 ff.; ders., in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 60 ff. 213 Vgl. Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (215 f.). 214 So EuGH, Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, 1-2925, Rn. 43 mit Blick auf Art. 66 EGV (jetzt Art. 55 EG) i.V.m. Art. 56 EGV (jetzt Art. 46 EG). Vgl. allgemein zur (eingeschränkten) Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte EuGH, Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609, Rn. 18; EuGH, Verb. Rs. 60/84 u. 61/84 (Cinéthèque), Slg. 1985, 2605, Rn. 26; EuGH, Rs. C-299/95 (Kremzow), Slg. 1997,1-2629, Rn. 15. 215 Vgl. nur EuGH, Rs. C-368/95 (Familiapress), Slg. 1997,1-3689, Rn. 24. 216 Vgl. etwa Ahlt, 36; Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487); Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (506 f.) ; Jarass, EuR 2000, 705 ff. (720 f.); Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000, 459 f.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 190 f.; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (215 f.). 217 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487); Streinz, Rn. 703. Weitere Nachweise bei Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff. (523). 218 So z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 168; ders./Störmer, EuR 1998, 263 ff. (283 ff.); Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff. (528 f.). 212

378

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Soweit der EG-Vertrag die Kompetenz und Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten anerkenne, verbiete sich eine Vereinheitlichung über die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte; dies gelte insbesondere für die Ausnahmeklauseln der Grundfreiheiten. 219 Hieran ist zunächst richtig, dass die Gemeinschaftsgrundrechte nur bei gemeinschaftsrechtlich geregelten Sachverhalten gelten; 220 vertraglich anerkannte Kompetenzen der Mitgliedstaaten bleiben insoweit unberührt. Der mitgliedstaatliche Kompetenzbereich wird jedoch durch die Interpretation der Grundfreiheiten einschließlich ihrer Rechtfertigungsmöglichkeiten erst (mitbestimmt. 221 Unzutreffend ist daher die Ansicht, der Bereich der grundfreiheitlichen Rechtfertigung sei als solcher einer Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte prinzipiell entzogen. Ansonsten ließen sich zudem Systemwidersprüche nicht vermeiden: eine mitgliedstaatliche Regelung könnte unter Zugrundelegung des grundfreiheitlichen Prüfungsmaßstabs gerechtfertigt sein und zugleich gegen Gemeinschaftsgrundrechte verstoßen. 222 Im Ergebnis ist daher mit dem Gerichtshof sowie der überwiegenden Literaturmeinung die Schranken-Schranke der Gemeinschaftsgrundrechte zu beachten.

III. Sekundärrecht Schließlich sind als weitere Schranken-Schranken innerhalb der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung die sekundärrechtlichen Bestimmungen anzusehen.223 Zwar wird die Überprüfung einer mitgliedstaatlichen Regelung am Maßstab der Grundfreiheiten nicht obsolet, wenn diese sekundärrechtlichen Anforderungen genügt. 224 Andererseits lässt sich eine die Grundfreiheiten beeinträchtigende Maßnahme nicht rechtfertigen, soweit hierdurch gegen bestehendes Sekundärrecht verstoßen wird. 225 Auch der Gerichtshof hält die Berufung auf grundfreiheitliche Rechtfertigungsmöglichkeiten für ausgeschlossen,

219

Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 62. Vgl. nur Streinz, Rn. 368 m.w.N. 221 Zu Rückwirkungen der Grundfreiheiten auf die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten siehe oben 3. Kapitel Β. II. 1. a) cc) (2), S. 150. 222 Vgl. auch Jarass, EuR 2000, 705 ff. (720), der in solchen Fällen allerdings „primär [...] eine Verletzung der Grundrechte und nicht der Grundfreiheiten" annimmt. 223 Vgl. hierzu Ehlers, Jura 2001,482 ff. (487 f.); Jarass, EuR 2000, 705 ff. (720). 224 Vgl. EuGH, Rs. C-l58/96 (Kohll), Slg. 1998,1-1931, Rn. 25. 225 Vgl. etwa Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 95; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 46 EGV, Rn. 4; Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV, 2000,460; Streinz, ZfRV 1991, 98 ff. (104); Wölker, in: GTE, Art. 48, Rn. 99 ff. 220

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

379

wenn der betreffende Bereich durch sekundärrechtliche Vorschriften abschließend harmonisiert worden ist. 226 Die notwendige Berücksichtigung sekundärrechtlicher Bestimmungen ist dogmatisch schwieriger zu begründen als dies bei den vorgenannten Schranken-Schranken der Fall war. Der Grund hierfür liegt darin, dass das Sekundärrecht - anders als die Gemeinschaftsgrundrechte sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - gegenüber den Grundfreiheiten nachrangig ist. 227 Entscheidend ist hier jedoch das Vorrangverhältnis gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten,228 woraus sich kompetentielle Konsequenzen für die grundfreiheitliche Rechtfertigungsprüfung ergeben: Soweit sekundärrechtlich bestimmte Bereiche abschließend normiert sind, besitzen die Mitgliedstaaten keine Regelungskompetenz zum Erlass abweichender Vorschriften. 229 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Gemeinschaftsgrundrechte sowie das Sekundärrecht bilden somit die drei Schranken-Schranken, welche eine Dogmatik der Grundfreiheiten zu berücksichtigen hat. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt dabei zentrale Bedeutung zu. 230

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen Zuvor wurde gezeigt, dass im Anwendungsfeld der europäischen Grundfreiheiten zwei verschiedene Rechtfertigungsmaßstäbe zu beachten sind: die geschriebenen Rechfertigungsgründe des EG-Vertrages sowie die vom Gerichtshof im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten ungeschriebenen CöLsm-Kriterien. 231 Zu den umstrittensten und nach wie vor noch ungelösten Problemen in diesem Bereich gehört die Frage nach der Anwendbarkeit der

226

Vgl. EuGH, Rs. 215/87 (Schumacher), Slg. 1989, 617, Rn. 15; EuGH, Rs. C369/88 (Delattre), Slg. 1991, 1-1487, Rn.48; EuGH, Rs. C-62/90 (Kommission/Deutschland), Slg. 1992, 1-2575, Rn. 10; EuGH, Rs. C-317/92 (Kommission/Deutschland), Slg. 1994,1-2039, Rn. 14; EuGH, Rs. C-320/93 (Ortscheit), Slg. 1994, 1-5243, Rn. 14. 227 Vgl. nur Streinz, Rn. 346. 228 Eingehend zum Rangverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht Bleckmann, Rn. 1045 ff.; Herdegen, Rn. 228 ff.; Koenig/Haratsch, Rn. 113 ff.; Oppermann, Rn. 615 ff.; Schweitzer/Hummer, Rn. 845 ff. 229 Zutreffend Ehlers, Jura 2001,482 ff. (488); Jarass, EuR 2000, 705 ff. (720). 230 Siehe bereits oben bei Fußn. 173. 231 Siehe oben A , S. 346 ff.

380

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe. 232 Insbesondere ist hier nicht geklärt, ob bzw. inwieweit eine Konvergenz der Rechtfertigungsstrukturen anzunehmen ist oder ob die Rechtfertigungsmöglichkeit über die Casszs-Kriterien nicht auf bestimmte Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten beschränkt sein sollte. Diese Frage muss eine Dogmatik der Grundfreiheiten aufgreifen. Ihr kommt nicht lediglich eine formale Bedeutung zu; vielmehr hat ihre Beantwortung beachtliche Auswirkungen auf die Anwendung der Grundfreiheiten in der Praxis: Indem (bestimmte) Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten zusätzlich durch ungeschriebene Aspekte gerechtfertigt werden können, erweitert sich der durch die Rechtsordnung des EG-Vertrages beschränkte Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten. Unter Berücksichtigung der abstrakten Überlegungen des ersten Kapitels wird in den nachstehenden Ausführungen zunächst erörtert, ob bzw. inwieweit die Leitlinien des Normtextes (I.) und der Judikatur (II.) zur Lösung der vorgenannten Problematik heranzuziehen sind. Im Anschluss wird ein eigener Lösungsansatz dargestellt (III.).

I. Normtext Ausgangspunkt dogmatischer Betrachtungen zu den Grundfreiheiten muss grundsätzlich der Text des EG-Vertrages sein. 233 Mit Blick auf die Frage der (differenzierten) Anwendbarkeit geschriebener und ungeschriebener Rechtfertigungsmöglichkeiten ist diese Forderung indes nicht zu erfüllen. Weil die Casm-Kriterien gerade nicht als positivierte Rechtfertigungsgründe existieren, sondern vom EuGH im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt wurden, kann das äußere System 234 der Grundfreiheiten nicht zur Lösung vorgenannter Problemstellung herangezogen werden. Zwar mögen hier Aussagen zur Anwendbarkeit der im EG-Vertrag ausdrücklich genannten Rechtfertigungsmöglichkeiten erkennbar sein; die Anwendungsproblematik der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe und insbesondere das Verhältnis beider Rechtfertigungsmaßstäbe zueinander kann allein durch die Heranziehung des Normtextes jedoch nicht geklärt werden.

232

Nachweise oben 1. Kapitel, Fußn. 32. Siehe bereits oben 1. Kapitel Β. I., S. 49 ff. 234 Zum Begriff des äußeren Systems in der Rechtswissenschaft siehe oben 3. Kapitel Α. I , S. 113. 233

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

381

II. Judikatur Aus diesem Grund kommt der Rechtsprechung des Gerichtshofs demgegenüber verstärkte Bedeutung zu. 235 Nachdem der EuGH die ungeschriebenen Ca&szs-Kriterien als zusätzlichen Rechtfertigungsmaßstab formuliert hatte, sah er sich gezwungen, den Anwendungsbereich dieser neu geschaffenen Rechtfertigungsgründe näher zu definieren. Diesbezüglich wurde schon bald offenbar, dass der Gerichtshof innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung nicht einen einheitlichen erweiterten Rechtfertigungsmaßstab zugrunde legte. Stattdessen differenzierte er zwischen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen einerseits und den zusätzlich entwickelten immanenten Schranken andererseits. 236 Inwiefern diese Trennung der Rechtfertigungsstrukturen in der Judikatur des EuGH aufrechterhalten wird, soll im Folgenden kurz nachgezeichnet werden. Insbesondere ist hier auf neuere, Unsicherheiten hervorrufende Entscheidungen einzugehen.

1. Produktverkehr Der Anfangspunkt der Rechtsprechungslinie, wonach zwischen den vorgenannten Rechtfertigungsstrukturen in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich zu differenzieren sei, liegt - wie häufig bei dogmatisch bedeutsamen Weichenstellungen des Gerichtshofs - im Bereich der Warenverkehrsfreiheit. 237 In der Entscheidung Cassis entwickelte der EuGH die so genannten immanenten Schranken; eine Einschränkung der Anwendbarkeit dieser Kriterien wurde im CassisUrteil selbst allerdings noch nicht postuliert. 238 Erst in späteren Urteilen formulierte der Gerichtshof die These, dass unterschiedlich geltende Regelungen allein den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des EG-Vertrages unterliegen, mithin die weitergehenden Cassw-Kriterien lediglich zur Rechtfertigung unterschiedslos geltender Maßnahmen herangezogen werden können. 239 Dabei

235

Zur besonderen Bedeutung der europarechtlichen Judikatur im Hinblick auf eine Dogmatik der Grundfreiheiten siehe oben 1. Kapitel Β. II., S. 55 ff. 236 Vgl. dazu nur Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200) m.w.N. 237 Allg. zur besonderen Bedeutung der Warenverkehrsfreiheit für die grundfreiheitliche Dogmatik vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemei η schaftsrechts, 1999,40. 238 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 1766, Rn. 8. Dies wird in der Literatur gelegentlich übersehen, vgl. z.B. Koenig/Haratsch, Rn. 510 f. 239 So ausdrücklich EuGH, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, 1625, Rn. 11; EuGH, Rs. 59/82 (Weinvertriebs-GmbH), Slg. 1983, 1217, Rn. 11; EuGH, Rs. 177/83 (Kohl/Ringelhan), Slg. 1984, 3651, Rn. 14; EuGH, Rs. 207/83 (Kommission/Vereinigtes

382

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

wurden die unterschiedlich geltenden Maßnahmen in den Entscheidungsgründen zum Teil auch als „diskriminierende" oder „benachteiligende" Maßnahmen bezeichnet.240 Die divergente Terminologie des EuGH führt zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten bei der Frage nach dem genauen Inhalt der hier zu untersuchenden Rechtsprechungslinie. Allerdings lässt sich diesbezüglich feststellen, dass in der Judikatur überhaupt eine - wie auch immer geartete - Differenzierung zwischen den genannten Rechtfertigungsstrukturen vorgenommen wurde. Dabei ist inzwischen auch geklärt, dass die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des EG-Vertrages einheitlich auf alle die Grundfreiheiten beeinträchtigenden Maßnahmen Anwendung finden, insofern also keine Restriktionen bestehen.241 In der Folge bestätigte der Gerichtshof seine Rechtsprechung. 242 Nun mehren sich indes Stimmen, welche in späteren Urteilen des EuGH teilweise eine Abkehr von dieser Differenzierung erblicken, zumindest aber diesbezüglich Dissonanzen feststellen. 243

Königreich), Slg. 1985, 1201, Rn. 19 f.; EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc/Au blé vert), Slg. 1985, 1, Rn. 29; EuGH, Rs. 231/83 (Cullet), Slg. 1985, 305, Rn. 31; EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 32 f.; EuGH, Rs. C-288/89 (Collectieve Antennevoorziening Gouda), Slg. 1991,1-4007, Rn. 11; EuGH, Rs. C-353/89 (Kommission/Niederlande), Slg. 1991,1-4069, Rn. 15; EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999,12517, Rn. 16. Angedeutet bereits in EuGH, Rs. 788/79 (Gilli), Slg. 1980, 2071, Rn. 6; vgl. auch EuGH, Rs. 261/81 (Rau), Slg. 1982, 3961, Rn. 12. Zur Gleichsetzung von unterschiedslos anwendbaren und unterschiedslos geltenden Maßnahmen im Sinne dieser Rechtsprechungslinie siehe nur EuGH, Rs. 177/83 (Kohl/Ringelhan), Slg. 1984, 3651, Rn. 12 u. 14. Vgl. dazu auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999,48. 240 EuGH, Rs. 59/82 (Weinvertriebs-GmbH), Slg. 1983, 1217, Rn. 11; EuGH, Rs. 229/83 (Leclerc/Au blé vert), Slg. 1985, 1, Rn. 29. Zu diesem formalen Verständnis des Diskriminierungsbegriffs siehe bereits oben 2. Kapitel, Β, V, S. 90 ff. 241 Zu Letzterem vgl. nur EuGH, Rs. 25/88 (Wurmser), Slg. 1988, 1105, Rn. 11; EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. C-l76/90 (Aragonesa), Slg. 1991,1-4151, Rn. 13. Aus der Kommentarliteratur vgl. Becker, in: Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 5; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 30 EGV, Rn. 3; Lux, in: Lenz, Art. 30, Rn. 1. 242 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 25/88 (Wurmser), Slg. 1988, 1105, Rn. 10 f.; EuGH, Rs. C238/89 (Pall/Dahlhausen), Slg. 1990, 1-4827, Rn. 14 f.; EuGH, Verb. Rs. C-l/90 u. ΟΙ 76/90 (Aragonesa), Slg. 1991,1-4151, Rn. 13. 243 Vgl. etwa Maduro, MJ 1998, 298 ff. (310); Novak, DB 1997, 2589 ff. (2593); Sack, WRP 1998, 103 ff. (110); ders., GRUR 1998, 871 ff. (876); Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (497 f.).

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

383

a) Wallonien So hat der Gerichtshof in seiner Wallonien-Entscheidung vom 9.7.1992 244 - es ging um die Vereinbarkeit einer belgischen Abfallregelung mit der Warenverkehrsfreiheit - die grundfreiheitliche Rechtfertigungsprüfung auf die zwingenden Erfordernisse im Sinne der Cassis -Rechtsprechung gestützt, obwohl der dazu erforderliche nichtdiskriminierende Charakter der Regelung durchaus zweifelhaft war. 245 Der EuGH betonte zwar den unterschiedlichen Anwendungsbereich der beiden Rechtfertigungsstrukturen nochmals ausdrücklich, 246 weshalb in dieser Entscheidung keine richterliche Entwicklung eines einheitlichen Rechtfertigungsmaßstabs für diskriminierende und nichtdiskriminierende Maßnahmen gesehen werden kann. Das Wallonien-Urteil führte jedoch zu Problemen auf der vorgelagerten Ebene des Diskriminierungsbegriffs: In den Entscheidungsgründen hat der EuGH das Vorliegen einer Diskriminierung ausdrücklich verneint, 247 um so widerspruchsfrei auf die Umweltschutzaspekte als Rechtfertigungsgründe Bezug nehmen zu können. Allerdings wurde hier der nichtdiskriminierende Charakter der betreffenden Regelung allein mit der „Besonderheit der Abfälle" sowie den „Grundsätzen der Entsorgungsautarkie und der Entsorgungsnähe" begründet, 248 was kaum als tragfähige Erklärung genügen kann. 249

244

EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431. So hielt die Kommission die betreffenden Maßnahmen für diskriminierend, vgl. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-4431, Rn. 33. Ebenso - in der Nachbetrachtung - Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 49 f.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 121; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200). 246 Vgl. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 34. 247 Vgl. EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 36. 248 EuGH, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992,1-4431, Rn. 34 f. 249 Ebenfalls krit. Müller-Graff in: GTE, Art. 30, Rn. 197; Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 225; Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 50; Oliver, CMLRev. 1999, 783 ff. (805); Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200), v. Wilmowsky, CMLRev. 1993, 541 ff. (543 f.). 245

384

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

b) De Agostini Auch das Urteil vom 9.7.1997 in der Rechtssache De Agostini 250 rief in der Literatur kritische Stimmen hervor. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine unterschiedslos anwendbare 251 Verbotsregelung, welche eine Verkaufsmodalität im Sinne der Ä^cA>Rechtsprechung betraf, dem Anwendungsbereich des Art. 30 EGV (jetzt Art. 28 EG) unterfalle und somit einer Rechtfertigungsprüfung bedürfe, sofern diese Regelung den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich nicht in der gleichen Weise berühre. 252 Diese Rechtfertigung könne dann aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses im Sinne der Cassw-Rechtsprechung oder aus den in Art. 36 EGV (jetzt Art. 30 EG) genannten Rechtfertigungsgründen erfolgen. 253 Daraufhin wurde zum einen konstatiert, der EuGH gebe die Differenzierung zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung auf und gehe nunmehr auch im Bereich der diskriminierenden Maßnahmen von zwei möglichen Rechtfertigungsstrukturen aus, was zuvor lediglich diskriminierungsfreien Maßnahmen vorbehalten war; damit sei der Schritt zu einem einheitlichen Rechtfertigungstatbestand vollzogen. 254 Zum anderen wurde an diesem Ergebnis kritisiert, dass danach Diskriminierungen in vertriebsbezogenen Regelungen - wie in denjenigen der Entscheidung De Agostini - leichter zu rechtfertigen seien als in produktbezogenen Regelungen.255 Beide Argumentationsstrukturen beruhen allerdings auf der Prämisse, dass Maßnahmen, welche im Sinne der A^c£-Rechtsprechung den Absatz der inlän-

250

EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997,1-3843. Die betreffende Regelung war zwar unterschiedslos auf alle Marktteilnehmer anwendbar, entfaltete jedoch unterschiedliche Wirkungen. Hinsichtlich der bedeutsamen Frage, ob dies eine Diskriminierung darstellt, hat sich der EuGH in seiner Entscheidung allerdings nicht ausdrücklich festgelegt. 252 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997, I3843, Rn. 44. 253 Vgl. EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997, I3843, Rn. 45. 254 So Novak, , DB 1997, 2589 ff. Vgl. auch Oliver, CMLRev. 1999, 783 ff. (805); Sack, WRP 1998, 103 ff. (110), ders, GRUR 1998, 871 ff. (876). Dagegen z.B. Heermann, GRUR Int. 1999, 579 ff. (588 ff.); Stuyck, CMLRev. 1997, 1445 ff. (1466); Weyer, EuR 1998, 435 ff. (448). Diff. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 160 ff. 255 Vgl. Kingreen, S.55. 251

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

385

dischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich nicht in der gleichen Weise berühren, diskriminierend sind und der EuGH in dem genannten Urteil somit zu einer - potentiell 256 - diskriminierenden Maßnahme judiziert hat. Diese Annahme ist indes nicht ohne weiteres berechtigt. Nachdem der Gerichtshof in der Entscheidung De Agostini die betreffende Regelung weder als diskriminierend noch als nichtdiskriminierend qualifizierte, 257 ließe sich das Urteil durchaus widerspruchsfrei in die bisherige Rechtsprechung einordnen, wenn man die Formulierung des EuGH durch die Verknüpfung mit tatbestandlichen Rückausnahme der Keck-Formel erklärte. 258 Eine Aufgabe der Differenzierung zwischen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des Art. 30 EG einerseits und den Casrò-Kriterien andererseits ist hierin nicht zwingend zu erblicken.

c) Decker Eine ähnliches Bild lässt sich im Hinblick auf die Entscheidung vom 28.4.1998 in der Rechtssache Decker 259 zeichnen. Dort hatte der Gerichtshof eine nationale Regelung zu beurteilen, welche er selbst als „Hindernis für den freien Warenverkehr" bezeichnete.260 Im Anschluss an die tatbestandliche Prüfung des Art. 30 EGV (jetzt Art. 28 EG) bejahte der EuGH zwar die abstrakte Rechtfertigungsmöglichkeit anhand der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses, lehnte eine Rechtfertigung jedoch im Ergebnis ab, da Belange des Allgemeinwohls im konkreten Fall nicht berührt seien.261 Nach Erlass dieses Urteils wurde in der Literatur erneut darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechungslinie verlassen habe und die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses nunmehr auch bei (versteckt) diskriminierenden Maßnahmen als Kriterien innerhalb der Rechtfertigungs-

256

Die Frage, ob die betreffende Maßnahme den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühre, hat der EuGH im konkreten Fall dem vorlegenden Gericht zur Beantwortung überlassen; vgl. EuGH, Verb. Rs. C-34/95, C-35/95 u. C-36/95 (De Agostini), Slg. 1997, 1-3843, Rn. 42-45. Dies verkennt Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 123 (bei Fußn. 862). 257 Siehe oben Fußn. 251. 258 So Streinz, Rn. 793, Fußn. 92; ders., FS Rudolf, 199 ff. (200). 259 EuGH, Rs. C-l20/95 (Decker), Slg. 1998,1-1831. 260 EuGH, Rs. C-l20/95 (Decker), Slg. 1998,1-1831, Rn. 36. 261 Vgl. EuGH, Rs. C-l20/95 (Decker), Slg. 1998,1-1831, Rn. 39. 2

Mühl

386

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Prüfung berücksichtige. 262 Dieser Schluss ist jedoch nicht ohne weiteres zulässig, nachdem der EuGH in der genannten Entscheidung - ebenso wie im zuvor erwähnten Urteil De Agostini - die betreffenden Maßnahmen nicht eindeutig als unterschiedslos oder unterschiedlich anwendbar kennzeichnet.263 Auch vermeidet es der Gerichtshof, in seinen Ausführungen den Begriff der Diskriminierung zu verwenden. 264 Dies mag zwar unbefriedigend erscheinen, entspricht jedoch der aktuellen Tendenz des Gerichtshofs, immer häufiger nicht mehr im Einzelnen festzustellen, ob eine diskriminierende oder diskriminierungsfreie Maßnahme vorliegt, sondern stattdessen den einheitlichen Begriff der „Beschränkung" zu verwenden. 265

d) Dusseldorp Ähnlich der Wallonien-Entscheidung hatte der EuGH in der Rechtssache Dusseldorp 266 über die Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über den freien Warenverkehr hinsichtlich einer nationalen Abfallregelung zu judizieren. In seinem Urteil vom 25.6.1998 stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass eine spezifische Ausfuhrbeschränkung im Sinne von Art. 34 EGV (jetzt Art. 29 EG) vorliege. 267 Im Rahmen der anschließenden Rechtfertigungsprüfimg ließ er jedoch ausdrücklich offen, ob diese Maßnahme grundsätzlich durch Umweltschutzbelange, also zwingende Erfordernisse im Sinne der CflAszs-Rechtsprechung, gerechtfertigt werden könne. 268 Hierzu wurde vereinzelt festgestellt, der EuGH beginne nunmehr seine frühere Rechtsprechung bezüglich der differenzierten Rechtfertigungsstrukturen

262

So Nowak!Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff. (628 f, 631). Vgl. auch Oliver, CMLRev. 1999, 783 ff. (805). 263 An diesem Befund ändert sich auch dann nichts, wenn - i.E. durchaus nachvollziehbar - versucht wird nachzuweisen, dass es sich um tatsächlich unterschiedlich anwendbare Maßnahmen handelt; vgl. eingehend dazu Nowak/Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff. (629). 264 Auch aus dem Verweis des Gerichtshofs auf EuGH, Rs. 18/84 (Kommission/Frankreich), Slg. 1985, 1339, Rn. 16 ergibt sich nichts Gegenteiliges. Die zitierte Entscheidung betraf zwar eine diskriminierende Regelung; das verbindende Element zwischen den beiden Urteilen ist indes allein darin zu sehen, dass die nationale Regelung über den eigentlichen Regelungsgegenstand hinaus jeweils ein bestimmtes Folgeverhalten der Adressaten bewirkte. 265 Vgl. Hakenberg, 99. 266 EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp), Slg. 1998,1-4075. 267 Vgl. EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp), Slg. 1998,1-4075, Rn. 40 ff. 268 Vgl. EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp), Slg. 1998,1-4075, Rn. 44.

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

387

zu überdenken. 269 Eine solche Aussage ist jedoch nur unter zwei Prämissen zutreffend, welche nicht ohne weiteres Geltung beanspruchen: Zum einen wird vorausgesetzt, dass die Ausfuhrfreiheit des Art. 29 EG allein vor (offen und versteckt) diskriminierenden Maßnahmen schützt. Dies erscheint vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung durchaus vertretbar, 270 ist aber nicht zwingend anzunehmen.271 Darüber hinaus besteht ein Widerspruch zur bisherigen Judikatur nur dann, wenn man Letzterer unterstellt, sie differenziere auf der Rechtfertigungsebene zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen. Angesichts der uneinheitlichen judikativen Terminologie ist es jedoch fraglich, ob der EuGH seine Rechtsprechung nicht an der Trennlinie zwischen offenen Diskriminierungen einerseits und versteckten Diskriminierungen sowie bloßen Beschränkungen andererseits ausrichtet. 272 Dann ließe sich die vorliegende Entscheidung widerspruchslos in die bisherige Rechtsprechungslinie einordnen. 273 Schließlich dürfte eine eindeutige Aussage des EuGH zur Rechtfertigungsdogmatik dem Urteil Dusseldorp schon deshalb nur schwer zu entnehmen sein, weil der EuGH das rechtfertigende Vorbringen der niederländischen Regierung letztlich als einen Aspekt wirtschaftlicher Art qualifizierte und aus diesem Grunde folgerichtig zurückwies. 274

269 Vgl. Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001, I2099, Rn. 227. 270 Vgl. EuGH, Rs. 15/79 (Groenveld), Slg. 1979, 3409, Rn. 7; EuGH, Rs. 155/80 (Oebel), Slg. 1981, 1993, Rn. 15; EuGH, Verb. Rs. 141/81 bis 143/81 (Holdijk), Slg. 1982, 1299, Rn. 11; EuGH, Rs. 286/81 (Oosthoek), Slg. 1982, 4575, Rn. 13; EuGH, Rs. 172/82 (Inter-Huiles), Slg. 1983, 555, Rn. 12; EuGH, Rs. 237/82 (Jongeneel Kaas), Slg. 1984, 483, Rn. 22; EuGH, Rs. 174/84 (Bulk Oil), Slg. 1986, 559, Rn. 41 f.; EuGH, Rs. C-302/88 (Hennen Olie), Slg. 1990, 4625, Rn. 17; EuGH, Rs. C-339/89 (Alsthom Atlantique), Slg. 1991, 1-107, Rn. 14; EuGH, Rs. C-47/90 (Delhaize), Slg. 1992, 1-3669, Rn. 12; EuGH, Rs. C-80/92 (Kommission/ Belgien), Slg. 1994, 1-1019, Rn. 24; EuGH, Rs. C-412/97 (ED), Slg. 1999,1-3845, Rn. 10. 271 Siehe dazu oben 5. Kapitel C. II. 3, S. 342. 272 Zu terminologischen Divergenzen in der hier interessierenden Judikatur siehe oben bei Fußn. 240. 273 Die Frage, ob die betreffende Regelung eine offene oder eine versteckte Diskriminierung darstellt, hat der Gerichtshof in der vorliegenden Entscheidung nicht entschieden; vgl. EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp), Slg. 1998,1-4075, Rn. 51. 274 Vgl. EuGH, Rs. C-203/96 (Dusseldorp), Slg. 1998, 1-4075, Rn. 44. Zur Nichtberücksichtigung wirtschaftlicher Belange im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung vgl. erstmals EuGH, Rs. 7/61 (Kommission/Italien), Slg. 1961, 693, 720; siehe dazu auch oben Α. I. 1. b) u. Α. II. 1. a) dd), S. 348 u. 366. 2*

388

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

e) Aher-Waggon Das Urteil vom 14.7.1998 in der Rechtssache Aher-Waggon 275 scheint weitere Zweifel an der Aufrechterhaltung der Differenzierung zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen auf der Rechtfertigungsebene zu begründen. So hat der Gerichtshof in dieser Entscheidung wiederum die Berufung unter anderem auf Umweltschutzaspekte - nach traditioneller Auffassung ungeschriebene Rechtfertigungsgründe - zugelassen,276 obwohl die zu beurteilende nationale Maßnahme anscheinend als diskriminierend zu qualifizieren war. 277 Indes erscheint der Schluss, der EuGH möchte seine bisherige Rechtsprechungslinie zur Rechtfertigung diskriminierender und nichtdiskriminierender Regelungen verlassen, auch hier übereilt. Das Problem ist vielmehr erneut auf einer vorgelagerten Ebene anzusiedeln, nämlich bei der Frage, ob überhaupt eine Diskriminierung vorliegt. Der Gerichtshof selbst gibt in der Entscheidung Aher-Waggon hierzu keine ausdrückliche Antwort. In den Urteilsgründen ist lediglich von einer „Behinderung" die Rede, welche den innergemeinschaftlichen Handel „beschränkt". 278 Auch wenn die betreffende Maßnahme unter Zugrundelegung eines eigenen begrifflichen Maßstabs als (versteckte) Diskriminierung zu qualifizieren wäre 279 - eine Antwort des EuGH auf rechtsdogmatische Fragestellungen lässt sich der Entscheidung Aher-Waggon kaum entnehmen.

f) TK-Heimdienst

Sass

Die Entscheidung des EuGH vom 13.1.2000 in der Rechtssache TKHeimdienst Sass280 ist mit dem oben erwähnten Urteil in der Rechtssache De Agostini vergleichbar. Eine Regelung, wonach Bäcker, Fleischer und Lebensmittelhändler nur unter bestimmten Voraussetzungen Waren im Umherziehen feilbieten durften, war am Maßstab der Warenverkehrsfreiheit zu prüfen. 281

275

EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473. Vgl. EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 19. 277 Vgl. dazu GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 227; Leibte, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 20; Roth, WRP 2000, 979 ff. (982). 278 EuGH, Rs. C-389/96 (Aher-Waggon), Slg. 1998,1-4473, Rn. 18 u. 19. 279 Siehe dazu oben 1. Kapitel Α. I. 2. b) bb), bei Fußn. 51. 280 EuGH, Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst Sass), Slg. 2000,1-151. 281 Vgl. EuGH, Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst Sass), Slg. 2000,1-151, Rn. 3. 276

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

389

Auch hier hat der Gerichtshof die nationale Regelung als unterschiedslos anwendbar qualifiziert, ihr aber gleichzeitig eine unterschiedliche Wirkung attestiert, so dass die Tatbestandsrestriktion im Sinne der £ec£-Rechtsprechung vorliegend nicht gegeben war. Im Rahmen der anschließenden Rechtfertigungsprüfung ging der EuGH neben dem in Art. 30 EG genannten Aspekt des Gesundheitsschutzes auch auf einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund ein: Die Klägerseite hatte vorgebracht, die Regelung solle verhindern, dass eine Verschlechterung der Nahversorgungsbedingungen eintrete. 282 Der Gerichtshof hat demnach in der Entscheidung TK-Heimdienst Sass sowohl geschriebene Rechtfertigungsgründe als auch Kriterien im Sinne der Casm-Rechtsprechung abstrakt als Möglichkeiten der Rechtfertigung zugelassen. Dieses Vorgehen erscheint konsequent und steht keineswegs im Widerspruch zu der Rechtsprechungslinie, wonach zwischen unterschiedslos anwendbaren und unterschiedlich anwendbaren Regelungen zu differenzieren sei. Wiederum lässt sich das Urteil widerspruchsfrei mit der Keck-YormeX erklären: Entscheidend für die Schrankendogmatik ist allein die Tatsache, ob die Regelung unterschiedslos anwendbar ist; dass sie darüber hinaus den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich oder tatsächlich nicht in der gleichen Weise berührt, betrifft nur die Anwendung der den Tatbestand einschränkenden Keck -Έormel, bleibt jedoch ohne Bedeutung für die Frage des Rechtfertigungsmaßstabs. 283

g) PreussenElektra Zu Unsicherheiten in der Literatur führte auch das am 13.3.2001 ergangene Urteil in der Rechtssache PreussenElektra. 284 Der Gerichtshof hatte hier unter anderem darüber zu entscheiden, ob eine nationale Regelung gegen Art. 30 EGV (jetzt Art. 28 EG) verstößt, wenn hierdurch Unternehmen verpflichtet werden, Strom aus erneuerbaren Energien abzunehmen, welcher allein im Inland erzeugt wurde. 285 Indem der EuGH auf seine Ausführungen in den Urteilen

282 Vgl. EuGH, Rs. C-254/98 (TK-Heimdienst Sass), Slg. 2000, 1-151, Rn. 34. Das Vorbringen wurde im Ergebnis aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zurückgewiesen. 283 Zur häufig feststellbaren unzureichenden Unterscheidung von Tatbestands- und Rechtfertigungsebene vgl. Gundel, Jura 2001, 79 ff. (81). 284 EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099. 285 Vgl. EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 27. Diese Regelung entspricht den §§ 1 u. 2 desfrüheren deutschen StrEinspG, welche im Ausgangsrechtsstreit vor dem LG Kiel Bedeutung erlangten.

390

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Campus Oil und Du Pont de Nemours Italiana verwies, 286 qualifizierte er die zu beurteilende Regelung als diskriminierend. 287 Im Rahmen der anschließenden Rechtfertigungsprüfung hielt der Gerichtshof die nationale Regelung aus Umweltschutzgründen für gerechtfertigt. 288 Hierin wurde ein Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH gesehen, wonach zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses als Rechtfertigungsgründe lediglich bei diskriminierungsfreien Maßnahmen zugelassen seien. 289 Ob bzw. inwieweit die Ausführungen des Gerichtshofs zur Rechtfertigung der nationalen Regelung tatsächlich im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung stehen, bedarf einer differenzierten Betrachtung. Eine solche Diskrepanz ergibt sich ohne weiteres, wenn man die Berufung auf Umweltschutzgründe als eine klassische Rechtfertigung im Sinne der GzAs/s-Rechtsprechung ansieht.290 Andererseits wurde bereits ausgeführt, dass sich die Aspekte des Umweltschutzes mit guten Gründen auch als geschriebene Rechtfertigungsgründe des EGVertrages qualifizieren lassen.291 Insofern ließe sich die Entscheidung PreussenElektra - im Hinblick auf die zwischen den Rechtfertigungsstrukturen differenzierende Judikatur - widerspruchsfrei in dem Sinne interpretieren, dass möglicherweise auch der EuGH von einer besonderen Behandlung der Umweltbelange als Rechtfertigungsgründe ausgeht.292

h) Zwischenergebnis Die vorgenannten Urteile des Gerichtshofs zum Produktverkehr sind in schrankendogmatischer Hinsicht wenig aufschlussreich. Sie zeigen lediglich, dass in der Judikatur die Unterscheidung zwischen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen und den „immanenten Schranken" bislang nicht aufgegeben wird. Diese differenzierende Rechtsprechung wird in anderen als den hier er-

286

EuGH, Rs. C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001, 1-2099, Rn. 70 mit Verweis auf EuGH, Rs. 72/83 (Campus Oil), Slg. 1984, 2727, Rn. 16; EuGH, Rs. 21/88 (Du Pont de Nemours Italiana), Slg. 1990,1-889, Rn. 11. 287 Näher dazu bereits oben 3. Kapitel B. III. 1. b) ee), S. 192 f. 288 Vgl. EuGH, Rs, C-379/98 (PreussenElektra), Slg. 2001,1-2099, Rn. 72 ff. 289 So z.B. Rüge, EuZW 2001, 247 f. (248). 290 So die traditionelle Auffassung; vgl. nur Epiney/Möllers, Warenverkehr und Umweltschutz, 1992, 27; Hailbronner, EuGRZ 1989, 101 ff. (106); Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 19; Montag, RIW 1987, 935 ff. (938); Rüge, EuZW 2001, 247 f. (248). 291 Dazu eingehend oben Α. I. 2. b), S. 354 ff. 292 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Dederer, BayVBl. 2001, 366 ff. (367).

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

391

wähnten problematischen Entscheidungen immer wieder ausdrücklich bestätigt. 293 Es bleibt jedoch nach wie vor unklar, inwieweit im Übrigen von einer gefestigten Rechtsprechungslinie auszugehen ist. Dies betrifft die Frage, nach welchen Kriterien der EuGH die Anwendung der beiden Rechtfertigungsstrukturen unterscheidet. Angesichts der in hohem Maße uneinheitlichen Terminologie ergeben sich hier keine zwingenden Schlussfolgerungen. In den jeweiligen Entscheidungsgründen fehlen kohärente begriffliche Zusammenhänge. Insbesondere werden die verschiedenen Formen der Diskriminierung selten ausreichend differenziert betrachtet, sondern oftmals mit übergeordneten Begriffen und damit aussageschwach - gekennzeichnet. Wenngleich im allgemeinen Teil der vorliegenden Arbeit die Ausrichtung dogmatischer Erkenntnisse an die bestehende Judikatur postuliert wurde, 294 so ist es nicht möglich, die Entscheidungen des Gerichtshofs zu den produktbezogenen Grundfreiheiten insoweit ausreichend fruchtbar zu machen.

2. Personenverkehr Während der EuGH im Bereich der personenbezogenen Grundfreiheiten die so genannten immanenten Schranken bereits vor der zur Warenverkehrsfreiheit ergangenen Entscheidung Cassis entwickelt hatte, 295 erfolgte eine ausdrückliche Differenzierung zwischen den seither bestehenden Rechtfertigungsstrukturen zeitlich erst nach der entsprechenden Leitentscheidung zu den produktbezogenen Freiheiten. 296 Auch hier beschränkte der Gerichtshof die Anwendung der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe. So wurde zur Dienstleistungsfreiheit entschieden, dass Regelungen, „die nicht unterschiedslos auf alle Dienstleistungen ohne Rücksicht auf deren Ursprung anwendbar und die somit

293

Vgl. z.B. EuGH, Rs. 21/88 (Du Pont de Nemours Italiana), Slg. 1990, 1-889,

Rn. 14. 294

Siehe oben 1. Kapitel B. I I , S. 55. Vgl. EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974,1299, Rn. 10 ff.; EuGH, Verb. Rs. 110/78 u. 111/78 (van Wesemael), Slg. 1979, 35, Rn. 28. 296 Erstmals - soweit ersichtlich - EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 32 f. Bestätigt u.a. durch EuGH, Rs. C-288/89 (Collectieve Antennevoorziening Gouda), Slg. 1991, 1-4007, Rn. 11; EuGH, Rs. C-353/89 (Kommission/Niederlande), Slg. 1991, 1-4069, Rn. 15. Für die produktbezogenen Grundfreiheiten siehe bereits oben bei Fußn. 239. 295

392

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

diskriminierend sind", 297 allein dann zu rechtfertigen seien, wenn sie unter eine ausdrückliche vertragliche Bestimmung fallen. 298 Inwiefern der EuGH an dieser Differenzierung festhält bzw. nach welchen Kriterien die Unterscheidung erfolgt, wird mit Blick auf weitere Urteile zu den personenbezogenen Grundfreiheiten uneinheitlich beantwortet.

a) Versicherungsurteil Dissonanzen entstanden bereits im Hinblick auf eine frühere Entscheidung des Gerichtshofs zur personenbezogenen Dienstleistungsfreiheit. Schon vor der entsprechenden Leitentscheidung Bond van Adverteerders hatte der EuGH im vom 4.12.1986 zur Rechtfertigung einer die so genannten Versicherungsurteil Dienstleistungsfreiheit beschränkenden Regelung auf die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses rekurriert. 299 In der Literatur wurde zum Teil angenommen, der Gerichtshof habe hier zu einer versteckten Diskriminierung judiziert, so dass bei versteckt diskriminierenden und lediglich beschränkenden Maßnahmen ein einheitlicher Rechtfertigungsmaßstab anzunehmen sei. 300 Dies wäre in der Tat ein Widerspruch zur späteren Entscheidung Bond van Adverteerders: Wenngleich die grundsätzliche Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Rechtfertigungsstrukturen bliebe, so wäre doch die Grenzlinie anders zu ziehen. 301 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof im Versicherungsurteil hinsichtlich der zu beurteilenden nationalen Maßnahme wiederum den übergeordneten Begriff der Beschränkung verwendet hat; eine (versteckte) Diskriminierung wurde nicht festgestellt. Indem der EuGH erneut seinen begrifflichen Maßstab nicht offenlegt, kommt dem Urteil nur eine begrenzte Aussagekraft in Bezug auf die unterschiedliche Anwendung der beiden Rechtfertigungsstrukturen zu. Dies gilt auch deswegen, weil jene Entscheidung

297

EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 32. In späteren Entscheidungen wurde der Zusatz „und die somit diskriminierend sind" fallengelassen. 298 Vgl. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit z.B. EuGH, Rs. C-l0/90 (Masgio), Slg. 1991,1-1119, Rn. 23 f. Näher hierzu Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 131. 299 Vgl. EuGH, Rs. 205/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1986, 3755, Rn. 29 ff. 300 So die Meinung von Roth, WRP 2000, 979 ff. (982). 301 Gemäß der Entscheidung Bond van Adverteerders verläuft die Grenzlinie zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen einerseits und bloßen Beschränkungen andererseits. Nach Roth, WRP 2000, 979 ff. (982) sind dagegen offene Diskriminierungen einerseits und versteckte Diskriminierungen sowie bloße Beschränkungen andererseits zu unterscheiden.

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

393

vor der ausdrücklichen Weichenstellung im Urteil Bond van Adverteerders ergangen ist, also zu einem Zeitpunkt, in dem der EuGH eine explizite Einschränkung des Anwendungsbereichs der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe noch nicht vorgenommen hatte.

b) Groener Zu Unsicherheiten führte ein EuGH-Urteil vom 28.11.1989 aus dem Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit. In der Rechtssache Groener* 01 entschied der Gerichtshof darüber, inwiefern die Besetzung einer Stelle an einer öffentlichen Bildungseinrichtung in Dublin vom Nachweis hinreichender Kenntnisse der irischen Sprache abhängig gemacht werden durfte. Das Urteil wurde teilweise als Beleg dafür angesehen, dass auch (versteckt) diskriminierende Maßnahmen der Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses zugänglich seien.303 Es darf allerdings bezweifelt werden, dass der Entscheidung Groener eine solche Belegfunktion im Hinblick auf eine fundierte Schrankendogmatik zukommt. In dem Vorlage verfahren nach Art. 177 EWGV (jetzt Art. 234 EG) hat der EuGH lediglich eine Frage zur Auslegung der sekundärrechtlichen Bestimmung von Art. 3 der VO Nr. 1612/68 eingehend beantwortet; die weitere Vorlagefrage zur Auslegung von Art. 48 EWGV (jetzt Art. 39 EG) wurde dagegen vom Gerichtshof ausdrücklich unbeantwortet gelassen.304 Darüber hinaus charakterisierte der EuGH die betreffende nationale Maßnahme nicht als diskriminierend; ebensowenig bezeichnete er die Rechtfertigungsgründe im konkreten Fall als zwingende Erfordernisse. 305 Insgesamt erscheinen die Erwägungsgründe im Urteil Groener als zu unpräzise, um auf eine entsprechende dogmatische Erkenntnis des EuGH schließen zu können.

302

EuGH, Rs. 379/87 (Groener), Slg. 1989, 3967. So z.B. Roth, WRP 2000,979 ff. (980 f.). 304 Selbst diese Vorlagefrage betreffend Art. 48 EWGV (jetzt Art. 39 EG) zielte expressis verbis allein auf die Auslegung des geschriebenen Rechtfertigungsgrundes; vgl. EuGH, Rs. 379/87 (Groener), Slg. 1989, 3967, Rn. 10. 305 Dies wird auch von Roth, WRP 2000, 979 ff. (981) gesehen, allerdings als bloßes Terminologieproblem qualifiziert. 303

394

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

c) Bachmann Ebenfalls ungenau sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des EuGH in der Entscheidung Bachmann306 vom 28.1.1992. Dieses Urteil zur Arbeitnehmerfreizügigkeit wird mitunter dahingehend gedeutet, der Gerichtshof wolle nunmehr grundsätzlich auch unterschiedlich anwendbare Regelungen aus Gründen des Allgemeininteresses rechtfertigen. 307 Hier stellte der EuGH fest, die zu beurteilende nationale Regelung aus dem Bereich des Steuerrechts wirke sich besonders zum Nachteil ausländischer Arbeitnehmer aus. 308 Gleichwohl rechtfertigte er dies mit der Kohärenz des Steuersystems - einem ungeschriebenen Grund des Allgemeininteresses. 309 Angesichts der Tatsache, dass der Gerichtshof die zu beurteilende Maßnahme nicht als (versteckte) Diskriminierung bezeichnete, sondern mit Blick auf den Betroffenen allgemein eine „Beeinträchtigung seiner Freizügigkeit" konstatierte, 310 sind in diesem Fall eindeutige Schlussfolgerungen nicht erkennbar. 311 So wird der Entscheidung Bachmann teilweise auch keine Bedeutung für die grundfreiheitliche Schrankendogmatik zugemessen; vielmehr habe der EuGH dort nur den judikativen Diskriminierungsbegriff vom umfassenderen Begriff der Ungleichbehandlungen abgegrenzt. 312 Allerdings hat der Gerichtshof in einem späteren Urteil ausdrücklich klargestellt, dass der Sachverhalt in der Rechtssache Bachmann eine versteckte Diskriminierung betraf. 313 Folglich ist hier zumindest eine Andeutung dahingehend erkennbar, dass nach der Rechtsprechung des EuGH auch versteckt diskriminierende Maßnahmen einer Rechtfertigung durch ungeschriebene Gründe des Allgemeininteresses zugänglich sind.

306

EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Slg. 1992,1-249. Vgl. auch das gleichgerichtete Vertragsverletzungsverfahren EuGH, Rs. C-300/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, 1-305. 307 Vgl. Fosselard, CDE 1993, 472 ff. (482 ff.); Nowak!Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff. (629); Roth, CMLRev. 1993, 387 ff. (392); ders., WRP 2000, 979 ff. (981). 308 Vgl. EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Slg. 1992,1-249, Rn. 9. 309 Vgl. EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Slg. 1992,1-249, Rn. 21 ff. 310 EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Slg. 1992,1-249, Rn. 13. 311 Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 50. 312 Dazu Wölker, in: GTE, Art. 48, Rn. 46. 313 Vgl. EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996,1-2617, Rn. 18 a.E.

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

395

d) Ramrath Deutlicher äußerte sich der EuGH im Urteil vom 20.5.1992 in der Rechtssache Ramrath, 314 Prüfungsgegenstand war hier eine luxemburgische Maßnahme, wonach einem in Deutschland niedergelassenen Wirtschaftsprüfer die Ausübung seiner Tätigkeit in Luxemburg versagt wurde, weil dieser seiner luxemburgischen Präsenzpflicht nicht nachgekommen sei. 315 Die am Maßstab der personenbezogenen Grundfreiheiten zu beurteilende nationale Regelung, welche der Gerichtshof als Diskriminierung qualifizierte, 316 wurde unter Rückgriff auf die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt. 317 Zugleich hat der EuGH hier seine frühere Rechtsprechung zitiert, wonach die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses auf unterschiedslos geltende Maßnahmen Anwendung finden. 318 Im Urteil Ramrath wurden demnach unisono die entscheidenden begrifflichen Parameter für die hier zu untersuchende Rechtsprechungslinie genannt: Die vom Gerichtshof entwickelten ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe beziehen sich auf unterschiedslos geltende Maßnahmen; dabei ist es unerheblich, ob die unterschiedslose Geltung zu einer (versteckten) Diskriminierung führt oder eine bloße Beschränkung des grundfreiheitlich geschützten Wirtschaftsverkehrs hervorruft. 319 Weitergehende Aussagen zur Frage nach einem einheitlichen Rechtfertigungsstandard für alle Beeinträchtigungsformen lassen sich der Entscheidung Ramrath jedoch nicht entnehmen.

e) Svensson Für die Anwendung eines solchen einheitlichen Rechtfertigungsstandards und damit die Aufgabe der bisherigen Differenzierung zwischen den geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen wird das EuGH-Urteil

314

EuGH, Rs. C-l06/91 (Ramrath), Slg. 1992,1-3351. Zum hier verwendeten Begriff der Präsenzpflicht vgl. Troberg, in: GTE, Art. 59, Rn. 9 u. 13. 316 Vgl. EuGH, Rs. C-l06/91 (Ramrath), Slg. 1992,1-3351, Rn. 27 f. mit ausdrücklichem Verweis auf EuGH, Rs. 279/80 (Webb), Slg. 1981, 3305, Rn. 14. 317 Vgl. EuGH, Rs. C-l06/91 (Ramrath), Slg. 1992,1-3351, Rn. 29 ff. Krit. dazu Troberg, in: GTE, Art. 59, Rn. 13. 318 Vgl. EuGH, Rs. C-l06/91 (Ramrath), Slg. 1992,1-3351, Rn. 29 unter Verweis auf EuGH, Rs. C-l80/89 (Kommission/Italien), Slg. 1991,1-709, Rn. 17. 319 Dazu auch Roth, WRP 2000, 979 ff. (982). 315

396

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

vom 14.11.1995 in der Rechtssache Svensson 320 angeführt. 321 In dieser Entscheidung zum personenbezogenen Kapital- und Dienstleistungsverkehr hat der Gerichtshof eine nationale Regelung in ihrer Wirkung als „Diskriminierung aus Gründen der Niederlassung" bezeichnet und anschließend eine Rechtfertigung „aus Gründen des Allgemeininteresses [...], die in Art. 56 Absatz 1 des Vertrages [jetzt Art. 46 Abs. 1 EG] genannt sind" abstrakt diskutiert. 322 Dass diese Vermengung der Begrifflichkeiten gegensätzliche Stimmen hinsichtlich des Bedeutungsgehalts der Entscheidungsgründe im Hinblick auf eine (einheitliche) Schrankendogmatik hervorrief, 323 verwundert nicht. Gerade aus diesem Grund sollte das Urteil Svensson allerdings auch nicht als Indiz für eine Kehrtwende in der Judikatur angeführt werden. Die Annahme, hierdurch erfolgte eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe auf sämtliche Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten, ist schon deshalb fraglich, weil eine Diskriminierung aus Gründen der Niederlassung nicht als offene Diskriminierung anzusehen ist. 324 Im Übrigen hat der EuGH in der Entscheidung Svensson ausdrücklich die positivierten Gründe des Art. 56 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 46 Abs. 1 EG) in Verbindung mit Art. 66 EGV (jetzt Art. 55 EG) als einschlägigen Rechtfertigungsmaßstab gekennzeichnet, auch wenn in der Sache möglicherweise weitergehende Aspekte angesprochen wurden. 325

f) Bosman Die Beurteilung einer offenen Diskriminierung oblag dem Gerichtshof in der Rechtssache Bosman,326 soweit hier die so genannten Ausländerklauseln der UEFA streitgegenständlich waren. In seiner Entscheidung vom 15.12.1995 zweifelte der EuGH nicht am diskriminierenden Charakter der Ausländerklauseln. 327 Anschließend setzte er sich aber mit den von den Verfahrensbeteiligten

320

EuGH, Rs. C-484/93 (Svensson), Slg. 1995,1-3955. So z.B. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 26. Dagegen Holoubek, in: Schwarze, Art. 49 EGV, Rn. 99. 322 EuGH, Rs. C-484/93 (Svensson), Slg. 1995,1-3955, Rn. 15 ff. 323 Vgl. nur Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 133. 324 Siehe dazu bereits oben 2. Kapitel C. I., S. 102 ff. 325 Zu Letzterem vgl. Roth, WRP 2000, 979 ff. (983) mit Hinweis auf die „Kohärenz der Steuerregelung" als Rechtfertigungsgrund. 326 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921. 327 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 117 u. 119. 321

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

397

vorgebrachten ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen auseinander. 328 Daher wird in der Literatur vereinzelt angenommen, die vormals den unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen vorbehaltenen Rechtfertigungsgründe seien nunmehr auch auf offen diskriminierende Regelungen anwendbar. 329 Das Bosman-Urteil trägt eine solche Annahme jedoch keinesfalls. Wenn dagegen in der Literatur angeführt wird, Art. 48 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 39 Abs. 3 EG) werde dort als Rechtfertigungsgrund nicht erwähnt, 330 so ist festzuhalten, dass diese Aussage mit den Urteilserwägungen nicht ohne weiteres vereinbar ist; in der Entscheidung Bosman geht der Gerichtshof - zumindest formal - von der vertraglichen Vorschrift als Rechtfertigungsmaßstab aus. 331 Ferner setzt sich der EuGH im Bosman-Urteil mit Rechtfertigungsgründen auseinander, wie sie zuvor in der Entscheidung Donà332 im Hinblick auf diskriminierende Regelungen im Bereich des Sports entwickelt wurden. 333 Diese nichtwirtschaftlichen Gründe, welche nur den Sport als solchen betreffen, können nicht kurzerhand gleichgesetzt werden mit den zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses.

g) Futura Participations Im Urteil vom 15.5.1997 in der Rechtssache Futura Participations hatte der EuGH das Vorliegen einer bloßen Beschränkung im Sinne einer Nichtdiskriminierung expressis verbis festgestellt. 334 Anschließend wurde konsequent die Rechtfertigungsprüfung anhand der „zwingenden Erfordernissen des öffentlichen Interesses" durchgeführt. 335 Gleichwohl blieb auch diese Entscheidung nicht ohne Kritik. So wurde unter anderem darauf verwiesen, die Charakterisierung der betreffenden Maßnahme als nichtdiskriminierend sei mit der bisheri-

328

Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 121 ff. So z.B. Novak , DB 1997, 2589 ff. (2589); Roth, WRP 2000, 979 ff. (983). 330 In diesem Sinne Roth, WRP 2000, 979 ff. (983). 331 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 121: „[Es] ist zu prüfen, ob diese Beeinträchtigung gemäß Art. 48 des Vertrages [jetzt Art. 39 EG] gerechtfertigt werden kann."; Hervorh. d. Verf. 332 EuGH, Rs. 13/76 (Donà/Mantero), Slg. 1976, 1333. 333 Vgl. EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995,1-4921, Rn. 122. 334 Vgl. EuGH, Rs. C-250/95 (Futura Participations), Slg. 1997,1-2473, Rn. 25. 335 EuGH, Rs. C-250/95 (Futura Participations), Slg. 1997,1-2473, Rn. 26. 329

398

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

gen Rechtsprechung nicht in Einklang zu bringen. 336 Die Verwirrung angesichts dieser Entscheidung wird komplett, wenn man berücksichtigt, dass der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen die betreffende Maßnahme - entgegen den späteren Ausführungen des EuGH - noch als diskriminierend einordnete, 337 seinerseits allerdings bei der Prüfung der Rechtfertigung nicht nur auf die in Art. 56 EGV (jetzt Art. 46 EG) normierten Erwägungen Bezug nahm, sondern auch die unbenannten Rechtfertigungsgründe heranzog, 338 welche bislang nur für nichtdiskriminierende Maßnahmen zur Verfügung standen.339

h) Kohll Die Entscheidung in der Rechtssache Kohll erging zeitgleich mit der bereits erwähnten Entscheidung Decker am 28.4.1998.340 Auch in sachlicher Hinsicht ließen beide Rechtssachen wesentliche Übereinstimmungen erkennen, 341 wobei jedoch das Urteil Kohll nicht die Warenverkehrsfreiheit, sondern personenbezogene Aspekte der Dienstleistungsfreiheit betraf. Da sich auch in den Entscheidungsgründen deutliche Parallelen fanden, wurde das Urteil in der Rechtssache Kohll analog zur Entscheidung Decker als Beleg dafür angeführt, dass der EuGH seine traditionelle Rechtsprechungslinie im Bereich der Schrankendogmatik nicht mehr verfolge. 342 Denn auch hier habe der Gerichtshof die Rechtfertigung einer (versteckt) diskriminierenden Maßnahme unter Heranziehung der zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses diskutiert. 343 Allerdings hat der EuGH auch in der Entscheidung Kohll die betreffende Maßnahme nicht als diskriminierend bezeichnet, sondern ihr lediglich eine

336

Vgl. Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (496) mit dem Hinweis auf EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996,1-2617, Rn. 18. a.A. Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 130. 337 Vgl. GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-250/95 (Futura Participations), Slg. 1997,1-2471, Rn. 40. 338 Vgl. GA Lenz, Schlussanträge in der Rs. C-250/95 (Futura Participations), Slg. 1997,1-2471, Rn. 42 ff. 339 Vgl. auch die Kritik bei Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (202). 340 EuGH, Rs. C-l58/96 (Kohll), Slg. 1998,1-1931. 341 Dazu allg. Kotier, VSSR 1998, 233 ff. Entsprechend wurden beide Rechtssachen auch von G A Tesauro zusammenfassend behandelt; vgl. G A Tesauro, Schlußanträge in den Verb. Rs. C-l20/95 u. C-l58/96 (Decker u. Kohll), Slg. 1998,1-1834 ff. 342 Vgl. dazu oben 1. c), Fußn. 262. 343 Ebd.

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

399

„beschränkende Wirkung" bescheinigt,344 wobei hierzu in den Urteilsgründen sogar auf eine frühere Entscheidung des Gerichtshofs verwiesen wurde, welche eine unterschiedslos anwendbare Regelung betraf. 345

i) Safir A m 28.4.1998 erging das Urteil in der Rechtssache Safir. 346 Ähnlich der bereits erwähnten Entscheidung Svensson wird es als Indiz dafür genannt, dass der Gerichtshof selbst offen diskriminierende Regelungen nicht mehr nur am Maßstab der vertraglich positivierten Rechtfertigungsgründe überprüft. 347 Dies ist jedoch nur ein weiteres Beispiel dafür, wie leicht man der Versuchung unterliegen kann, unter Zugrundelegung eines eigenen begrifflichen Maßstabs Aussagen des Gerichtshofs zu dessen Rechtfertigungsmaßstab zu konstruieren. Denn auch in der Entscheidung Safir fehlen eindeutige diesbezügliche Ausführungen des EuGH. So wird die zu beurteilende nationale Vorschrift hinsichtlich ihrer die Grundfreiheiten beeinträchtigenden Wirkung nicht näher charakterisiert. 348 Wiederum verweist der EuGH auf die zuvor schon angeführte Entscheidung Kommission/Frankreich; 349 dortiger Prüfungsgegenstand war jedoch gerade eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme. Schon gar nicht wird ein anzuwendender Rechtfertigungsmaßstab explizit angesprochen. Es erscheint demnach weiter fraglich, ob das Datum des 28.4.1998, unter dem bereits die beiden angesprochenen Urteile in den Rechtssachen Decker und Kohll ergingen, tatsächlich - und dann von der Literatur weitgehend unbemerkt· als ein Tag klarer dogmatischer Aussagen des Gerichtshofs in die Rechtshistorie eingehen wird.

344

EuGH, Rs. C-l 58/96 (Kohll), Slg. 1998,1-1931, Rn. 31 ff. Vgl. EuGH, Rs. C-l58/96 (Kohll), Slg. 1998, 1-1931, Rn. 33 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-381/93 (Kommission/Frankreich), Slg. 1994,1-5145, Rn. 17. 346 EuGH, Rs. C-l 18/96 (Safir), Slg. 1998,1-1897. 347 Vgl. Roth, WRP 2000, 979 ff. (983). 348 Pauschal stellt der Gerichtshof bei seiner Prüfung hier darauf ab, ob die betreffende Regelung den Gebrauch der Dienstleistungsfreiheit „beschränkt" oder die zwischenstaatliche Erbringung von Dienstleistungen „erschwert"; vgl. EuGH, Rs. C-l 18/96 (Safir), Slg. 1998,1-1897, Rn. 22 f. 349 Siehe dazu oben bei Fußn. 345. 345

400

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

j ) Clean Car Autoservice Nur wenig später, am 7.5.1998, erging die Entscheidung in der Rechtssache Clean Car Autoservice. 150 In diesem zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ergangenen Urteil setzte sich der Gerichtshof in seltener begrifflicher Deutlichkeit mit dem Vorliegen einer versteckten Diskriminierung auseinander, wobei er zugleich das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen diskutierte, welche nicht ausdrücklich im EG-Vertrag normiert sind. 351 Danach lassen sich hier durchaus Ansatzpunkte dafür finden, dass der EuGH zumindest auch bei versteckt diskriminierenden Maßnahmen eine Rechtfertigung außerhalb der geschriebenen Gründe des EG-Vertrages grundsätzlich zulässt.352 Bestätigt wird diese Tendenz mit Blick auf die zuvor ergangene Entscheidung Schumacher, 353 auf die der Gerichtshof im Urteil Clean Car Autoservice verweist. 354 Dort hatte der EuGH ebenfalls eine versteckte Diskriminierung namentlich festgestellt und dennoch den Aspekt einer kohärenten Anwendung des Steuerrechts als (ungeschriebener) Rechtfertigungsgrund angesprochen. 355 Die scheinbar klare Sicht auf eine dogmatische Erkenntnis des EuGH wird indes getrübt durch die Tatsache, dass der Gerichtshof bei Durchgreifen der Rechtfertigungsgründe häufig bereits das Vorliegen einer versteckten Diskriminierung verneint, 356 mithin also nicht hinreichend zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsebene differenziert. 357 Somit erscheint es durchaus denkbar, dass der Gerichtshof im Urteil Clean Car Autoservice die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses lediglich zur tatbestandlichen Feststellung

350

EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521. Vgl. EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521, Rn. 26 ff. 352 Zu dieser Deutung auch Gundel, EuR 1999, 781 ff. (783). 353 EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Slg. 1995,1-225. 354 Vgl. EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521, Rn. 29. 355 Vgl. EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Slg. 1995,1-225, Rn. 26 ff. u. 39 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch EuGH, Rs. C-l07/94 (Asscher), Slg. 1996, 1-3089, Rn. 50 ff. 356 Dazu Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (497). Vgl. auch Gundel, Jura 2001, 79 ff. (81) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996, 1-2617, Rn. 19 u. EuGH, Rs. C-272/92 (Spotti), Slg. 1993, 1-5185, Rn. 18. Letztere Entscheidung trägt diese Aussage allerdings nicht, da der Gerichtshof dort eine „verbotene mittelbare Diskriminierung" für den Fall annahm, dass diese nicht gerechtfertigt sei; Hervorh. d. Verf. 357 Anders noch EuGH, Rs. C-l5/96 (Schöning-Kougebetopoulou), Slg. 1998, 1-47, Rn. 21. 351

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

401

einer versteckten Diskriminierung erörtert. 358 Gleichwohl kann mit der gebotenen Vorsicht im Hinblick auf übereilte Interpretationsversuche zumindest eine entsprechende Tendenz der Rechtsprechung konstatiert werden, welche bereits in der Entscheidung Ramrath angedeutet wurde. 359

k) Imperial Chemical Industries In die gleiche Richtung weisen auch die Entscheidungsgründe im EuGHUrteil Imperial Chemical Industries vom 16.7.1998.360 Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung ausdrücklich festgestellt, dass die betreffende Regelung aus dem britischen Steuerrecht eine Ungleichbehandlung bewirke und somit tatbestandlich den Bestimmungen des EG-Vertrages über die Niederlassungsfreiheit unterfalle. 361 Anschließend untersuchte er die Möglichkeit einer Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung, wobei er sich mit den von der britischen Regierung vorgebrachten Rechtfertigungsgründen auseinander setzte: Die Regelung bezwecke zum einen die Verringerung der Gefahr der Steuerumgehung, zum anderen sollten dadurch Steuermindereinnahmen verhindert werden, welche nicht durch die korrespondierende Besteuerung von Gewinnen der außerhalb des Vereinigten Königreichs ansässigen Tochtergesellschaften ausgeglichen werden könnten. 362 Hinsichtlich der letztgenannten Erwägung führt der EuGH aus, dass „Steuermindereinnahmen nicht zu den in Artikel 56 des Vertrages [jetzt Art. 46 EG] aufgezählten Gründen gehören und nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anzusehen sind, der zur Rechtfertigung einer mit Artikel 52 des Vertrages [jetzt Art. 43 EG] grundsätzlich unvereinbaren Ungleichbehandlung angeführt werden kann". 363

358 Erst nach der Auseinandersetzung mit den zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses erfolgt die richterliche Feststellung, dass eine versteckte Diskriminierung vorliege, vgl. EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521, Rn. 38. Anschließend werden lediglich die geschriebenen Rechtfertigungsgründe des Art. 48 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 39 Abs. 3 EG) diskutiert; vgl. EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998,1-2521, Rn. 39 ff. 359 Dazu oben d), S. 395. 360 EuGH, Rs. C-264/96 (Imperial Chemical Industries), Slg. 1998,1-4695. 361 Vgl. EuGH, Rs. C-264/96 (Imperial Chemical Industries), Slg. 1998, 1-4695, Rn. 23 f. 362 Vgl. EuGH, Rs. C-264/96 (Imperial Chemical Industries), Slg. 1998, 1-4695, Rn. 25 ff. 363 EuGH, Rs. C-264/96 (Imperial Chemical Industries), Slg. 1998,1-4695, Rn. 28. 26 Mühl

402

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Damit scheint auch die Entscheidung Imperial Chemical Industries eine Rechtsprechungsentwicklung zu bestätigen, wonach zumindest versteckte Diskriminierungen zusätzlich einer Rechtfertigung über die ungeschriebenen zwingenden Gründe des Allgemeininteresses zugänglich sind. Weitergehende Deutungen, insbesondere zu einem einheitlichen Rechtfertigungsstandard für sämtliche Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten, lassen sich dem genannten Urteil jedoch nicht entnehmen.364 Denn im Gegensatz zu den deutlicheren Ausführungen in den Rechtssachen Ramrath und Clean Car Autoservice hat der Gerichtshof hier die festgestellte „Ungleichbehandlung" nicht näher gekennzeichnet, seinen begrifflichen Maßstab somit erneut nicht hinreichend offengelegt.

1) Terhoeve Interessant ist in dem zuletzt genannten Zusammenhang die Entscheidung vom 26.1.1999 in der Rechtssache Terhoeve? 65 Nachdem der Gerichtshof dort expressis verbis „ein grundsätzlich durch Art. 48 EGV [jetzt Art. 39 EG] verbotenes Hemmnis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer" feststellte, ließ er die Frage, ob eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliege, ausdrücklich mit der Begründung offen, dass sich dahingehende Überlegungen aufgrund der zuvor festgestellten allgemeinen Hemmniswirkung erübrigen würden. 366 Anschließend nahm der EuGH eine Rechtfertigungsprüfung vor, welche sich im Einzelnen mit den vorgebrachten Rechtfertigungsgründen auseinander setzte, ohne diese jedoch als solche des zwingenden Allgemeininteresses oder als Gründe im Sinne von Art. 48 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 39 Abs. 3 EG) näher zu qualifizieren. 367 Hierauf wurde kurzerhand geäußert, eine Differenzierung zwischen diskriminierungsfreien und diskriminierenden Maßnahmen erübrige sich nur dann, wenn beide Kategorien vom EuGH in schrankensystematischer Hinsicht gleichbehandelt würden. 368 Diese Ansicht übersieht indes die dogmatisch bedeutsame Trennung von tatbestandlicher Beeinträchtigung einerseits und mög-

364

Anders wohl Nowak!Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff. (629); Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (497). 365 EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999,1-345 ff. 366 Vgl. EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999,1-345 ff., Rn. 41. 367 Vgl. EuGH, Rs. C-l8/95 (Terhoeve), Slg. 1999,1-345 ff., Rn. 43 ff. 368 So Nowak!Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff. (630), die dementsprechend die Entscheidung Terhoeve als Beleg für ihre Interpretation der Entscheidungen Decker und Kohll ansehen; vgl. dazu oben h) u. 1. c), S. 398 u. 385.

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

403

licher Rechtfertigung andererseits. 369 In der Entscheidung Terhoeve hat der Gerichtshof die Notwendigkeit einer näheren Qualifikation der nationalen Maßnahme nur verneint, soweit es um die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ging, mithin die grundfreiheitliche Tatbestandsebene betroffen war. Die anschließende Rechtfertigungsprüfung wurde nach einer - auch in den Entscheidungsgründen deutlich zum Ausdruck gebrachten - Zäsur vorgenommen, so dass eine richterliche Aussage zur Schrankendogmatik dem Urteil kaum zu entnehmen sein dürfte. Dies gilt umso mehr, als der EuGH in der Entscheidung Terhoeve sämtliche vorgebrachten Rechtfertigungsgründe als nicht durchgreifend ablehnte, weshalb es in der Tat möglich war, auf eine exakte dogmatische Einordnung der Maßnahme sowie der rechtfertigenden Erwägungen zu verzichten. 370

m) Ciola Unsicherheit erzeugte die zu personenbezogenen Aspekten der Dienstleistungsfreiheit ergangene Entscheidung des EuGH vom 29.4.1999 in der Rechtssache Ciola. 371 Hier hatte der Gerichtshof wiederum in selten deutlicher Weise eine versteckte Diskriminierung konstatiert. 372 Anschließend führte er jedoch apodiktisch aus, eine Rechtfertigung der nationalen Regelung anhand der zwingenden Gründe des Gemeinwohls komme nicht in Betracht, da diskriminierende Regelungen nur dann zu rechtfertigen seien, wenn sie unter eine ausdrücklich abweichende Bestimmung des EG-Vertrages fallen. 373 Trotz - oder gerade wegen - der eindeutigen Formulierung der Entscheidungsgründe ruft das Urteil Ciola berechtigte Kritik hervor, 374 steht es doch im

369

Vgl. auch Gundel, Jura 2001, 79 ff. (81). Anders wäre dies zu beurteilen, wenn der EuGH einen Rechtfertigungsgrund im Ergebnis zugelassen hätte. In einem solchen Fall hätte nämlich nach der bisherigen Rechtsprechung geprüft werden müssen, ob dieser Rechtfertigungsgrund grundsätzlich berücksichtigungsfähig ist, da dies von der Qualifizierung sowohl der Maßnahme als auch des konkreten Rechtfertigungsgrundes abhängen kann. Dann, aber auch nur dann wäre der Schluss von Nowak!Schnitzler, EuZW 2000, 627 ff. (630) logisch zwingend. Dagegen ist die Nichtberücksichtigung eines Rechtfertigungsgrundes nicht von einer solchen dogmatischen Einordnung abhängig. 371 EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999,1-2517. 372 Vgl. EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999,1-2517, Rn. 13 f. 373 Vgl. EuGH, Rs. C-224/97 (Ciola), Slg. 1999, 1-2517, Rn. 16 unter Verweis auf EuGH, Rs. 352/85 (Bond van Adverteerders), Slg. 1988, 2085, Rn. 32. 374 Dazu nur Gundel, EuR 1999, 781 ff. (783 f.); ders, Jura 2001, 79 ff. (82) m.w.N. 370

26*

404

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

Widerspruch zu der oben festgestellten Tendenz, dass der EuGH im Begriffe ist, auch unterschiedslos anwendbare Regelungen, welche eine versteckte Diskriminierung beinhalten, dem Rechtfertigungsmaßstab der ungeschriebenen Erfordernisse des Allgemeininteresses zu unterwerfen. Hier scheint der EuGH wieder zu dem ursprünglich genannten Anfangspunkt zurückzukehren, wonach unterschiedlich anwendbare Maßnahmen diskriminierenden Charakter haben und diese lediglich durch die im EG-Vertrag normierten Gründe gerechtfertigt werden können. 375 Wenngleich mitunter der Ausnahmecharakter des Urteils Ciola betont wird, 3 7 6 so bleibt doch festzuhalten, dass hierdurch weitere Schwierigkeiten bei dem Versuch entstehen, einheitliche schrankendogmatische Linien in der Judikatur des Gerichtshofs zu erkennen und nutzbar zu machen.

n) Vestergaard Das Urteil des EuGH vom 28.10.1999 in der Rechtssache Vestergaard* 77 knüpft demgegenüber wieder an die späteren Entwicklungen an. So hat der Gerichtshof den - im Grunde begrüßenswerten - Ansatz der G'o/a-Entscheidung zu begrifflicher Klarheit wieder aufgegeben und sich im Rahmen der tatbestandlichen Prüfung der Dienstleistungsfreiheit auf den ungenaueren Terminus der „Ungleichbehandlung" zurückgezogen. 378 Anschließend wurde wiederum auf die Kohärenz des Steuersystems sowie die wirksame steuerliche Kontrolle als Rechtfertigungsgrund rekurriert und damit der Rechtfertigungsmaßstab der zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses angesprochen. 379 Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu der bereits erwähnten Entscheidung Imperial Chemical Industries. Entgegen den Ausführungen im Urteil Ciola scheint der Gerichtshof demnach wieder zu der dort festgestellten Tendenz zurückzukehren, zumindest bei versteckt diskriminierenden Maßnahmen neben den benannten Rechtfertigungsgründen des EG-Vertrages auch die ungeschriebenen Aspekte der zwingenden Erfordernisse grundsätzlich zuzulassen.380

375

Siehe oben bei Fußn. 297 f. So Gundel, EuR 1999, 781 ff. (781 u. 783) u.a. mit Verweis auf EuGH, Rs. C-302/97 (Konle), Slg. 1999,1-3099, Rn. 40. 377 EuGH, Rs. C-55/98 (Vestergaard), Slg. 1999,1-7641. 378 EuGH, Rs. C-55/98 (Vestergaard), Slg. 1999,1-7641, Rn. 22. 379 EuGH, Rs. C-55/98 (Vestergaard), Slg. 1999,1-7641, Rn. 23 ff. 380 Ebenso Roth, WRP 2000, 979 ff. (982). 376

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

405

o) Angonese Erneute Einordnungsschwierigkeiten bereitet allerdings das Urteil vom 6.6.2000 in der Rechtssache Angonese.381 In diesem Fall zur Arbeitnehmerfreizügigkeit entschied der EuGH, dass die zu beurteilende nationale Regelung eine „Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit" bewirke. 382 Diese unterfalle nicht lediglich dem geschriebenen Rechtfertigungsmaßstab des Art. 48 EGV (jetzt Art. 39 EG), sondern könne bereits dann gerechtfertigt werden, „wenn sie auf sachliche Erwägungen gestützt wäre, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen und in Bezug auf das berechtigterweise verfolgte Ziel verhältnismäßig sind". 383 Ungeachtet der Tatsache, dass der Sache nach eine offene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in casu nicht vorlag, 384 führte der Gerichtshof hier den neuen Terminus der „sachlichen Erwägungen" ein, anstatt sich auf die bislang bekannten Rechtfertigungsstrukturen der geschriebenen Gründe und der zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses zu beziehen. Da im Fall Angonese keine staatliche, sondern eine private Maßnahme Prüfungsgegenstand war, wurde hierin eine Weiterentwicklung des Rechtfertigungsmaßstabs der ungeschriebenen Gründe speziell für den Fall der Drittwirkung der Grundfreiheiten gesehen.385 Mit Blick auf frühere Entscheidungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, in welchen die Frage nach der Drittwirkung der Grundfreiheit nicht virulent war, dürfte dies zwar nicht ohne weiteres anzunehmen sein. 386 Dennoch wird hierdurch die - vom EuGH ohnehin uneinheitlich herangezogene - Begriffsvielfalt innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung erweitert, so dass eine Vergleichbarkeit der richterlich angewandten Rechtfertigungsmaßstäbe oder gar eine Rückführung derselben auf konvergente Strukturen nicht unerheblich erschwert wird.

381

EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139. EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 45. 383 EuGH, Rs. C-281/98 (Angonese), Slg. 2000,1-4139, Rn. 42. 384 Näher Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. (463). Vgl. auch Forsthoff, EWS 2000, 389 ff. (390) sowie Roth, WRP 2000, 979 ff. (981). 385 Vgl. Forsthoff EWS 2000, 389 ff. (395). 386 So wird in ständiger Rspr. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit von objektiven, von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Erwägungen gesprochen; vgl. EuGH, Rs. C-237/94 (O'Flynn), Slg. 1996,1-2617, Rn. 19; EuGH, Rs. C-l5/96 (Schöning-Kougebetopoulou), Slg. 1998, 1-47, Rn. 21; EuGH, Rs. C-350/96 (Clean Car Auto Service), Slg. 1998, I2521, Rn. 31. Es erscheint fraglich, ob die „sachlichen Erwägungen" und die „objektiven Erwägungen" wirklich unterschiedliche Rechtfertigungsmaßstäbe darstellen. 382

406

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

3. Stellungnahme Auch die Schrankendogmatik als Teil einer übergeordneten Dogmatik der Grundfreiheiten hat sich an den Leitlinien der Rechtsprechung zu orientieren. 387 Die zuvor angesprochenen Entscheidungen des EuGH zur Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der produkt- wie personenbezogenen Grundfreiheiten bereiten allerdings erhebliche Schwierigkeiten bei dem Versuch, dieser Zielvorgabe gerecht zu werden. Zumindest scheint es in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH bei der grundsätzlichen Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen der geschriebenen und ungeschriebenen Gründe zu bleiben. Jedenfalls kann aus den vorgenannten Urteilen nicht deduziert werden, der Gerichtshof wende bei der Beurteilung aller die Grundfreiheiten beeinträchtigenden Maßnahmen nunmehr einen einheitlichen Rechtfertigungsstandard an. Ein weiterer relativierender Aspekt kommt hinzu: In der Literatur wird bei der retrospektiven Analyse der Entscheidungen des EuGH oftmals eine richterliche Differenzierung hinsichtlich der Eingriffsqualität der zu beurteilenden Maßnahme beobachtet, also eine Unterscheidung anhand des Prüfungsgegenstandes unterstellt. Da in der Judikatur allerdings diesbezüglich keine hinreichenden Differenzierungsmerkmale erkennbar sind, kann als gesicherte Erkenntnis lediglich gelten, dass der Gerichtshof zwischen den beiden Rechtfertigungsstrukturen als Prüfungsmaßstab abstrakt differenziert. 388 Die für den Rechtsanwender letztlich entscheidende Frage, welche konkreten Kriterien zu dem jeweiligen Prüfungsmaßstab führen, bleibt hingegen unbeantwortet. Immerhin können der Rechtsprechung zu den personenbezogenen Grundfreiheiten diesbezüglich einige Anhaltspunkte entnommen werden, während die Judikatur zu den Produktfreiheiten hierzu keine Richtung vorgibt. So lässt sich aus der Zusammenschau der erwähnten Entscheidungen Bachmann, Ramrath, Schumacher, Clean Car Autoservice, Imperial Chemical Industries und Vestergaard zumindest eine Tendenz dahingehend erkennen, dass der EuGH unterschiedslos anwendbare Regelungen dem Rechtfertigungsmaßstab der ungeschriebenen zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses auch dann unterwirft, wenn sie eine versteckt diskriminierende Wirkung entfalten und nicht lediglich eine Beschränkung des grundfreiheitlich geschützten Verkehrs darstellen. Allerdings bedingen die Entscheidungen weder für sich genommen noch in ihrer Gesamtheit zwingende Schlussfolgerungen im Hinblick auf die

387

Siehe dazu oben 1. Kapitel Β. I I , S. 55 ff. Dies ist letztlich eine Folge des nicht offengelegten judikativen Diskriminierungsbegriffs; siehe dazu eingehend oben 2. Kapitel B. III, S. 81 ff. 388

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

407

Anwendung der unterschiedlichen Rechtfertigungsstrukturen. Dies hat seinen Grund insbesondere in der uneinheitlichen Terminologie des Gerichtshofs, so dass sich das Problem letztlich auf die Ebene des Diskriminierungsbegriffs verlagert. 389 Hier sollte der EuGH um eindeutige und hinreichend differenzierte Formulierungen bemüht sein, ohne jedoch in die „holzschnittartigen" 390 Erwägungen des Urteils Ciola zu verfallen. Insgesamt wird deutlich, dass die bisherige Rechtsprechung zur Lösung wesentlicher Fragestellungen im Bereich der grundfreiheitlichen Schrankendogmatik wenig beitragen kann. Gleichwohl besteht die Notwendigkeit der Klärung, um so dem Rechtsanwender einen sinnvollen Einsatz der bestehenden Rechtfertigungsstrukturen zu ermöglichen.

III. Eigener Lösungsansatz Soll das Problem der Anwendbarkeit der unterschiedlichen Rechtfertigungsstrukturen konstruktiv angegangen werden, so ist zunächst zu klären, ob eine Differenzierung dieser Maßstäbe überhaupt sinnvoll erscheint; gegebenenfalls ist näher darauf einzugehen, wie eine solche Unterscheidung anhand konkreter Kriterien durchgeführt werden kann.

1. Einheitslösung? Die in der europarechtlichen Judikatur festzustellenden Dissonanzen führen vermehrt dazu, dass im Schrifttum die Auffassung vertreten wird, die bisherige Differenzierung zwischen den grundfreiheitlichen Rechtfertigungsstrukturen sei inzwischen obsolet. 391 Stattdessen gelte für sämtliche Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten ein einheitlicher Rechtfertigungsmaßstab, welcher sich einer allgemeinen Angemessenheitsprüfung annähere. 392 Begründet wird diese Ansicht meist nur mit einem Hinweis auf die angeblich veränderte Rechtspre-

389

Siehe dazu die obigen Ausführungen im 2. Kapitel, S. 62 ff. Gundel, EuR 1999, 781 ff. (785). 391 Vgl. Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 26; Leible, in: Grabitz/Hilf, Art. 28, Rn. 20; Maduro, MJ 1998, 298 ff. (310); Novak, DB 1997, 2589 ff. (2593); Sack, WRP 1998, 103 ff. (110); ders., GRUR 1998, 871 ff. (876); Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (497 f.). Ähnlich Jarass, EuR 2000, 705 ff. (719), der jedoch im Bereich der SchrankenSchranken wiederum differenziert. 392 Zu Letzterem vgl. Gundel, Jura 2001, 79 ff. (80). 390

408

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

chung des EuGH; 393 sachliche Argumente für eine solche Umstrukturierung der Rechtfertigungsprüfung finden sich regelmäßig nicht. 394 Der wesentliche Vorteil jener Einheitslösung liegt darin, einen weiteren Beitrag zur Herausbildung konvergenter Strukturen innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik zu leisten. 395 Die Unterscheidung geschriebener und ungeschriebener Rechtfertigungsmöglichkeiten verursacht in der Entscheidungspraxis einen erhöhten Begründungsaufwand; aus pragmatischer Sicht erscheint die Aufgabe dieser Differenzierung daher wünschenswert. Vereinfachungen müssen im Rahmen dogmatischer Betrachtungen jedoch unterbleiben, entsprechende Differenzierungen somit beibehalten werden, wenn dies aus sachlich-logischen Gründen geboten ist. 396 Gegen die Einheitslösung sprechen gewichtige Argumente: Zunächst ist auf die bisherige Rechtsprechung zu verweisen, welche die differenzierte Anwendung der verschiedenen grundfreiheitlichen Rechtfertigungsstrukturen in die praktische Prüfung der Grundfreiheiten eingeführt hat. 397 Diese Judikatur hat der EuGH nach wie vor nicht aufgegeben; die von manchen Stimmen in der Literatur angeführten neueren Urteile des Gerichtshofs können die Einheitslösung nicht belegen.398 Darüber hinaus ist bei einer undifferenzierten Anwendung geschriebener und ungeschriebener Rechtfertigungsgründe auf sämtliche Formen beeinträchtigender Maßnahmen die effektive Geltung der Grundfreiheiten nicht unerheblich eingeschränkt. Erstreckt man den Anwendungsbereich der Caww-Kriterien auch auf offen diskriminierende Maßnahmen, so erweitert sich der mitgliedstaatliche Handlungsspielraum im Hinblick auf solche Diskriminierungen, welche ausweislich des Vertragstextes im Grundsatz gerade verboten sein sollen. Diese Überlegung verdeutlicht im Übrigen erneut, dass der EuGH seine bisherige differenzierende Rechtsprechung nicht aufgegeben haben dürfte; 399 es

393

Vgl. von den in Fußn. 391 Genannten nur Jarass, EuR 2000, 705 ff. (719); Hakenberg, in: Lenz, Art. 49/50, Rn. 26; Weiß, EuZW 1999, 493 ff. (497 f.). 394 So die Kritik bei Gundel, Jura 2001, 79 ff. (80). 395 Auf die allgemeinen Vorteile konvergenter Strukturen innerhalb einer Dogmatik wurde bereits hingewiesen; siehe dazu oben 1. Kapitel Α. I. 1, S. 32 ff. 396 Vgl. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (706). Siehe dazu auch die abstrakten Ausführungen des 1. Kapitels, insb. bei Fußn. 80. 397 Nachweise in Fußn. 239. 398 Siehe dazu eingehend die Ausführungen oben I I , S. 381 ff. 399 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Gundel, Jura 2001, 79 ff. (80).

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

409

kann kaum angenommen werden, der Gerichtshof vollziehe eine solche fur die grundfreiheitliche Entscheidungspraxis bedeutungsvolle Veränderung ohne entsprechenden Hinweis. 400 Auch wird die Vereinfachung der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung im Sinne der Einheitslösung mit einem Nachteil erkauft, welcher die genannten Vorteile kompensieren dürfte. Durch die Einführung einer allgemeine Angemessenheitskontrolle, welche sämtliche Belange des Gemeinwohls den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen zuordnet, 401 hängt die praktische Prüfung der Grundfreiheiten im Wesentlichen von Prognoseentscheidungen und subjektiven Einschätzungen ab. 402 Mit Blick auf die Zielrichtung juristischer Dogmatik ist ein solcher Unsicherheitsfaktor möglichst zu vermeiden. 403 Der aus dogmatischer Sicht wohl wichtigste Aspekt, welcher gegen die Vereinheitlichung der Rechtfertigungsprüfung spricht, berührt wesentliche Strukturfragen der Grundfreiheiten. So wird die Einheitslösung der abgestuften Eingriffsqualität beeinträchtigender Maßnahmen nicht gerecht. 404 Dies gilt auch dann, wenn man die negativen Auswirkungen eines einheitlichen Rechtfertigungsmaßstabs dadurch abmildert, dass eine entsprechende Differenzierung auf der Ebene der Schranken-Schranken vorgenommen wird. 405 Allein die grundsätzliche Trennung geschriebener und ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in Verbindung mit einer differenzierten Anwendung der Schranken-Schranke des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann das Stufenverhältnis zwischen offen diskriminierenden Maßnahmen, versteckten Diskriminierungen und bloßen Beschränkungen hinreichend genau erfassen. 406 Die Vereinheitlichung der Rechtfertigungsstrukturen stellt insgesamt ein zu grobes Prüfraster dar; die hiermit verbundenen Nachteile überwiegen die erkannten Vorteile. Im Ergebnis ist die Einheitslösung daher abzulehnen.

400

Auch in früheren Entscheidungen kennzeichnete der EuGH wesentliche Abweichungen von seiner bisherigen Rspr.; vgl. nur EuGH, Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 (Keck u. Mithouard), Slg. 1993,1-6097, Rn. 16. 401 Vgl. Eberhartinger, EWS 1997, 43 ff. (51); Novak, DB 1997, 2589 ff. (2592). Zu Recht krit. Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (217) m.w.N. 402 Vgl. hierzu Jarass, EuR 2000, 705 ff. (723). 403 Zur Förderung von Rechtssicherheit und -klarheit als der primären Aufgabe grundfreiheitlicher Dogmatik siehe oben 1. Kapitel Α. I. 1. a), S. 32. 404 Siehe hierzu die Ausführungen zum grundfreiheitlichen Stufenmodell oben 3. Kapitel C. IV. 3. b), S. 245 ff. 405 So z.B. Jarass, EuR 2000, 705 ff. (719). 406 Näher dazu sogleich unter 2.

410

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

2. Festhalten an der Differenzierung Hält man - wie vorliegend vertreten - an der Differenzierung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen fest, 407 so ist zu klären, wo die Grenze der jeweiligen Anwendungsbereiche verläuft. Mit Blick auf die verschiedenen Eingriffsqualitäten der die Grundfreiheiten beeinträchtigenden Maßnahmen sind hierbei zwei Lösungsansätze denkbar. Zum einen ließe sich vertreten, offen und versteckt diskriminierende Maßnahmen unterfielen allein den im EG-Vertrag positivierten Rechtfertigungsgründen, während diskriminierungsfreie Maßnahmen zusätzlich über die Cassis-Ksiteiien gerechtfertigt werden könnten. 408 Die andere Möglichkeit besteht darin, die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe auch auf versteckte Diskriminierungen auszudehnen und lediglich bei offenen Diskriminierungen die Rechtfertigungsmöglichkeit auf vertraglich normierte Aspekte zu beschränken. 409 Die in der Literatur zu dieser Problematik vertretenen Meinungen werden oftmals nur mit den angeblich ihre Ansicht stützenden gerichtlichen Entscheidungen belegt; 410 materielle Kriterien werden selten genannt.411 Immerhin offenbart die Judikatur des EuGH zu den Personenverkehrsfreiheiten ein schwaches Indiz dahingehend, den Anwendungsbereich der Ctfssw-Kriterien auf versteckte Diskriminierungen auszudehnen.412 Angesichts der im Übrigen bestehenden judikativen Dissonanzen ist die alleinige Berufung auf die Rechtsprechung in diesem Zusammenhang allerdings unzureichend. 413 Der Gerichtshof trägt bislang kaum zu gesicherten Erkenntnissen hinsichtlich der grundfrei-

407

Ebenso Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487); Gundel, Jura 2001, 79 ff. (82); Heermann, GRUR Int. 1999, 579 ff. (588 ff.); Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (510); Kotier, VSSR 1998, 233 ff. (251); Lux, in: Lenz, Art. 28, Rn. 30; Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 125; Schweitzer/Hummer, Rn. 1137 u. 1139; Streinz, FS Rudolf, 199 ff. (200) m.w.N. 408 Vgl. etwa Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 320. Für eine Gleichbehandlung von offenen und versteckten Diskriminierungen auf der Rechtfertigungsebene - bezogen auf Art. 12 EG - auch Rossi, EuR 2000, 197 ff. (213 f.). 409 In diesem Sinne z.B. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487); Gundel, Jura 2001, 79 ff. (82 ff.). 410 Vgl. Ehlers, Jura 2001,482 ff. (487); Lux, in: Lenz, Art. 28, Rn. 30; Hirsch, ZEuS 1999, 503 ff. (510); Kötter, VSSR 1998, 233 ff. (251); Roth, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I, Rn. 125; Schweitzer/Hummer, Rn. 1137 u. 1139. 411 Vgl. aber Gundel, Jura 2001, 79 ff. (82); Plötscher, Diskriminierungsbegriff, 308 f. 412 Eingehend dazu oben II. 2, S. 391 ff. 413 Verwiesen sei hier nur auf die Judikatur zu den Produktverkehrsfreiheiten; siehe oben II. 1,S.381 ff.

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

411

heitlichen Schrankendogmatik bei; 414 daher sind sachlich-logische Betrachtungen notwendig, welche im Rahmen der differenzierten Anwendung der Rechtfertigungsstrukturen eine sinnvolle Grenzziehung ermöglichen.

a) Lösung 1 : Offene und versteckte Diskriminierungen unterliegen allein den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des EG-Vertrages Zunächst soll der oben erwähnte Ansatz näher untersucht werden, wonach sowohl offene als auch versteckte Diskriminierungen nur den positivierten Rechtfertigungsgründen unterfallen; der Anwendungsbereich der ungeschriebenen Cü^w-Kriterien bliebe hier auf diskriminierungsfreie Maßnahmen beschränkt. Für diesen Lösungsansatz spricht die im Schrifttum häufiger anzutreffende Überlegung, die Gleichbehandlung beider Diskriminierungsformen sei notwendig, da ansonsten mitgliedstaatliche Umgehungstatbestände mit einer Erweiterung der Rechtfertigungsmöglichkeiten „belohnt" würden. 415 Der nationale Gesetzgeber könnte sich bei Anwendung der Ca^w-Kriterien auf versteckte Diskriminierungen zusätzliche Rechtfertigungsmöglichkeiten schaffen, indem er die betreffende Regelung lediglich formal umgestaltet. Eine solche Privilegierung des versteckten Protektionismus sei offensichtlich sachwidrig. 416 Gegen vorgenannte „Belohnungsthese" lässt sich jedoch anführen, dass die Manipulationsmöglichkeiten der nationalen Gesetzgebung in der Praxis begrenzt sein dürften. Offene Diskriminierungen sind nicht ohne weiteres unter Aufrechterhaltung der mitgliedstaatlich gewünschten Regelungswirkung in versteckte Diskriminierungen umzuwandeln. Eine als versteckte Diskriminierung ausgestaltete Regelung trifft zwar per definitionem typischerweise ausländische Vergleichsgruppen; 417 Inländer bzw. inländische Waren sind allerdings nicht zwingend von ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen.418 Im Übrigen kann über die - für offene und versteckte Diskriminierungen gleichermaßen gelten-

414

Siehe oben II. 3., S. 406 f. Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 120 f.; Mojzesowicz, Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001, 161 a.E. 416 So die Formulierung von Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 121. 417 Siehe oben 2. Kapitel C. I. 2. b) aa), S. 105. 418 Vgl. auch Gundel, Jura 2001, 79 ff. (83). 415

412

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

de - strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung etwaigen Umgehungstatbeständen entgegengewirkt werden. 419 Gerade die für sämtliche Diskriminierungsformen geltende gleiche Kontrolldichte im Bereich der Schranken-Schranken verdeutlicht den entscheidenden Nachteil des hier zu diskutierenden Lösungsansatzes: Danach besteht auf der Ebene der Rechtfertigung keinerlei Differenzierung mehr zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen. Dies wird der unterschiedlichen Eingriffsqualität von offenen und versteckten Diskriminierungen nicht gerecht. 420 Allein die erkannten differenzierten Anforderungen an die tatbestandliche Prüfung reichen nicht aus, um jene Unterschiede in der Eingriffsqualität hinreichend zu erfassen. 421 Vielmehr ist diesem Umstand auch im Rahmen der Rechtfertigung Rechnung zu tragen, wie die folgende Diskussion eines alternativen Lösungsansatzes verdeutlicht.

b) Lösung 2: Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Ca^'s-Kriterien auf versteckte Diskriminierungen Die zweite Möglichkeit der Grenzziehung auf der Rechtfertigungsebene liegt in der Trennung von offenen Diskriminierungen einerseits und versteckten Diskriminierungen sowie bloßen Beschränkungen andererseits. Der Vorteil dieser Lösung liegt darin, die oben genannte Gleichbehandlung von offenen und versteckten Diskriminierungen innerhalb der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung zu vermeiden. Sachgerechter ist es, beiden Diskriminierungsformen einen differenzierten Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen. Offene Diskriminierungen sind per se mit der Binnenmarktkonzeption nicht vereinbar; 422 sie besitzen von allen die Grundfreiheiten beeinträchtigenden Maßnahmen die höchste Eingriffsqualität. 423 Diesem Umstand wird dadurch Rechnung getragen, dass sie nur eingeschränkt, d.h. lediglich über die ge-

419 Während der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schranken-Schranke bei (offen u. versteckt) diskriminierenden Maßnahmen streng anzuwenden ist, gilt für bloße Beschränkungen eine weniger strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung; siehe dazu oben Β. I. 3. b), S. 376. 420 Ebenso Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487). 421 Zu den unterschiedlich hohen Anforderungen an die tatbestandliche Prüfung der Grundfreiheiten siehe oben 3. Kapitel C. IV. 3. b), S. 245 ff. sowie 5. Kapitel C, 324 ff. 422 Vgl. Ehlers, Jura 2001, 482 ff. (487). 423 Siehe oben 3. Kapitel C. IV. 3. b) aa), S. 245.

C. Differenzierung zwischen den Rechtfertigungsstrukturen

413

schriebenen Aspekte des EG-Vertrages gerechtfertigt werden können. 424 Andererseits richten sich versteckte Diskriminierungen nicht unmittelbar gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundgedanken des freien Wirtschaftsverkehrs. Versteckt diskriminierende Maßnahmen knüpfen zwar an bestimmte Unterscheidungsmerkmale an, welche einen besonderen Bezug zu den verbotenen Differenzierungskriterien der offenen Diskriminierung aufweisen; 425 zugleich besteht dort jedoch die Vermutung einer darüber hinaus angestrebten Zweckverfolgung. Werden allerdings mit differenzierenden Regelungen externe Ziele verfolgt, so bedingt dies eine erweiterte Rechtfertigungsprüfung. 426 Insofern ist im Rahmen der Rechtfertigung versteckter Diskriminierungen die Berücksichtigung legitimer öffentlicher Interessen geboten.427 Dem entspricht die Anwendung der ungeschriebenen CaAsw-Kriterien, welche als zwingende Gründe des Allgemeininteresses charakterisiert wurden. 428 Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dieser Lösungsansatz berücksichtige zwar die Unterschiede zwischen den beiden Diskriminierungsformen, differenziere aber nicht zwischen versteckten Diskriminierungen und bloßen Beschränkungen. Denn der ungleichen Eingriffsqualität von (versteckt) diskriminierenden und diskriminierungsfreien Maßnahmen wird nach der vorliegend vertretenen Auffassung bereits mit der unterschiedlichen Kontrolldichte der Schranken-Schranken Rechnung getragen. 429 Im Ergebnis ist daher der Anwendungsbereich der ungeschriebenen CassisKriterien auf versteckte Diskriminierungen auszudehnen.

3. Fazit Entgegen manchen Stimmen in der jüngeren europarechtlichen Literatur hat der Gerichtshof die von ihm begründete Differenzierung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen nicht aufgegeben. Auch besteht aus sachlich-logischen Erwägungen kein Bedürfnis, eine solche Ein-

424

Diese Überlegung ist auch mit den Prämissen des erstgenannten Differenzierungsansatzes vereinbar. Abgelehnt wird vorliegende Ansicht nur von den Vertretern der Einheitslösung; vgl. dazu die Nachweise oben in Fußn. 391. 425 Näher zu dieser Form der Diskriminierung oben 2. Kapitel C. I. 2., S. 103 ff. 426 Eingehend Huster, Rechte und Ziele, 1993, 164 ff. Vgl. auch - mit Blick auf Art. 6 EGV (jetzt Art. 12 EG) - Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, 93 ff., 98 f. 427 Ebenso Gundel, Jura 2001, 79 ff. (83). 428 Siehe oben Α. II. 1. a) dd), bei Fußn. 142. 429 Siehe dazu oben Β. I. 3. b), S. 376.

414

6. Kapitel: Die Rechtfertigung beeinträchtigender Maßnahmen

heitslösung zu vertreten. Vielmehr sind die beiden genannten Rechtfertigungsstrukturen grundsätzlich zu unterscheiden. Mit Blick auf deren jeweiligen Anwendungsbereich verläuft die Grenzlinie dabei zwischen offenen Diskriminierungen einerseits und versteckten Diskriminierungen bzw. bloßen Beschränkungen andererseits. A u f der untergeordneten Ebene der Schranken-Schranken ist dagegen eine Trennung zwischen diskriminierenden und diskriminierungsfreien Maßnahmen vorzunehmen. Insgesamt wird so ein abgestufter Prüfungsmaßstab geschaffen, welcher auch auf der Rechtfertigungsebene zwischen den drei erkannten Beeinträchtigungsqualitäten differenziert: Offene Diskriminierungen sind allein den positivierten Rechtfertigungsgründen des EG-Vertrages zugänglich; die SchrankenSchranke der Verhältnismäßigkeit wird streng angewandt. Versteckte Diskriminierungen können zusätzlich über die ungeschriebenen Ca^w-Kriterien gerechtfertigt werden; es bleibt jedoch bei einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung auf der Ebene der Schranken-Schranken. Bloße Beschränkungen sind am leichtesten zu rechtfertigen; hier steht ein weiter Kreis von - geschriebenen und ungeschriebenen - Rechtfertigungsmöglichkeiten zur Verfügung, welche einer weniger strengen Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit genügen müssen.

7. Kapitel

Zusammenfassung und Prüfungsschema A. Zusammenfassung in Thesen 1. Die Dogmatik der Grundfreiheiten hat einen Entscheidungsmaßstab bereitzustellen, welcher einerseits so einfach wie möglich, andererseits so komplex wie nötig sein muss, um durch Aufzeigen systemrationaler Strukturen Rechtssicherheit und -klarheit zu gewinnen. 2. Ausgangspunkt und Begrenzung dogmatischer Betrachtungen der Grundfreiheiten ist der Text des EG-Vertrages. Daneben kommt der Judikatur des Gerichtshofs besondere Bedeutung zu. 3. Der Diskriminierungsbegriff bildet ein zentrales Element der grundfreiheitlichen Dogmatik. Dabei ist ein materielles Diskriminierungskonzept wegen seiner Unschärfe abzulehnen. Stattdessen rückt ein formales Begriffsverständnis in den Vordergrund. Die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten sind als modifizierte Begründungsverbote aufzufassen. Verbotene Differenzierungsmerkmale sind allein die Staatsangehörigkeit sowie die Produktherkunft bzw. -destination. 4. Es können zwei verschiedene Formen der Diskriminierung unterschieden werden. Eine offene Diskriminierung liegt vor, wenn die betreffende Regelung ausdrücklich anhand der verpönten Merkmale zwischen zwei Vergleichsgruppen differenziert. Demgegenüber knüpfen versteckt diskriminierende Maßnahmen an andere Differenzierungskriterien an, erzielen aber typischerweise die gleiche Wirkung wie die Unterscheidung anhand der verbotenen Merkmale. 5. Besonderheiten gelten für Inländerdiskriminierungen. Werden Inländer in der Jurisdiktion ihres Heimatstaates aufgrund des eingeschränkten Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten schlechter behandelt als EG-Ausländer, so ist eine Lösung über das nationale Verfassungsrecht zu suchen. Das Gemeinschaftsrecht verbietet Inländerdiskriminierungen nicht. 6. Die Grundfreiheiten lassen sich systematisch in Produktverkehrsfreiheiten und Personenverkehrsfreiheiten einteilen. Die Warenverkehrsfreiheit stellt eine reine Produktverkehrsfreiheit dar. Demgegenüber sind die Arbeitnehmer-

416

7. Kapitel: Zusammenfassung und Prüfungsschema

freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit als reine Personenverkehrsfteiheiten zu charakterisieren. Die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs sowie die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs besitzen insofern einen Doppelcharakter; diese Grundfreiheiten können sowohl produktbezogene als auch personenbezogene Aspekte aufweisen. 7. Die grundfreiheitlichen Vorschriften erscheinen im teleologisch-systematischen Kontext des EG-Vertrages in ein normatives Prinzipiengefüge eingebettet, welches durch drei wesentliche Leitlinien bestimmt wird. Zu nennen sind hier die Binnenmarktkonzeption, die Kompetenzverteilungsordnung sowie das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip. 8. Der Binnenmarkt wird in seiner dogmatischen Konstruktion von drei tragenden Säulen bestimmt. Diese lassen sich als Marktfreiheit, Marktgleichheit sowie ein System unverfälschten Wettbewerbs kennzeichnen. Die beiden zuerst genannten Aspekte tangieren in besonderem Maße die Interpretation grundfreiheitlicher Vorschriften: Innerhalb des Marktzugangsprozesses wird mit der marktöffnenden Dimension der Grundfreiheiten im Sinne der Marktfreiheit ein absoluter Gewährleistungsgehalt angesprochen, welcher in seiner Reichweite begrenzt ist; bezogen auf die Marktgleichheit vermitteln die Grundfreiheiten dagegen einen relativen Maßstab für den Marktzugang. Darüber hinaus ist ein die Elemente der Marktfreiheit und Marktgleichheit übergreifendes, diese gleichsam einschränkendes Kriterium zu berücksichtigen. Es handelt sich hierbei um das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs, welches als spezifisch transnationales Element in eine Dogmatik der Grundfreiheiten einzufügen ist. 9. Die Kompetenz Verteilungsordnung offenbart eine föderale Struktur der Gemeinschaft. Über das in Art. 5 Abs. 1 EG normierte Prinzip der begrenzten Ermächtigung genießt die Neutralität gegenüber nationalen Teilmarktordnungen grundsätzlich Vorrang vor der Schaffung einheitlichen europäischen Sachrechts. Das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5 Abs. 2 EG verstärkt die Bedeutung eines spezifisch transnationalen Elements innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Art. 5 Abs. 3 EG stellt in Verbindung mit Art. 10 EG einen dogmatischen Anknüpfungspunkt für besondere Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bereit. Dies gilt zum einen für die Statuierung einer Prüf- und Anerkennungspflicht bezüglich im Ausland erworbener beruflicher Qualifikationen. Zum anderen lässt sich hierdurch eine mitglied-

Α. Zusammenfassung in Thesen

417

staatliche Garantenpflicht im Hinblick auf binnenmarktfeindliche Handlungen privater Rechtssubjekte konstruieren. Die Herausarbeitung konvergenter Strukturen im Sinne einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten trägt dazu bei, das vertikale Kompetenzgleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Gemeinschaft zu stabilisieren. 10. Das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip besitzt nach zahlreichen Aufwertungen im rechtshistorischen Prozess nunmehr einen besonders hohen Stellenwert. Innerhalb der grundfreiheitlichen Dogmatik sind Aspekte des Umweltschutzes neben der Binnenmarktkonzeption und der Kompetenzverteilungsordnung gleichwertig zu berücksichtigen. Besondere Bedeutung entwickelt das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip als Abwägungsleitlinie für die Rechtfertigungsprüfung der Grundfreiheiten. Die dogmatische Verortung umweltpolitischer Gesichtspunkte auf der Rechtfertigungsebene ermöglicht es, die Verzahnung von Binnenmarkt und Umweltschutz innerhalb der grundfreiheitlichen Prüfung ausreichend differenziert umzusetzen. 11. Sowohl im Text des EG-Vertrages als auch in der Judikatur des EuGH finden sich Anhaltspunkte für eine gleichheitsrechtliche und eine freiheitsrechtliche Dimension der Grundfreiheiten (Diskriminierung und Beschränkung). Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot schließen sich gegenseitig nicht aus. Die dogmatische Verklammerung gleichheitsrechtlicher und freiheitsrechtlicher Aspekte ergibt sich aus der gemeinschaftsrechtlichen Binnenmarktkonzeption gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. c EG und Art. 14 Abs. 2 EG. Über die Teilelemente des Binnenmarktes, Marktgleichheit und Marktfreiheit, wirken grundfreiheitliches Diskriminierung- und Beschränkungsverbot parallel in ihrer Funktion als Marktzugangsrechte. Einerseits wird so der Modus des Marktzugangs beeinflusst, andererseits die absolute Reichweite des Marktzugangs bestimmt. Als entscheidender Parameter der Grenzziehung zwischen gleichheitsrechtlicher und freiheitsrechtlicher Wirkdimension fungiert der grundfreiheitliche Diskriminierungsbegriff. Diskriminierende und beschränkende Maßnahmen unterscheiden sich in der Höhe ihrer Eingriffsqualität. Innerhalb eines grundfreiheitlichen Stufenmodells lassen sich insgesamt vier Beeinträchtigungsklassen abnehmender Eingriffsqualität unterscheiden: offene Diskriminierungen, versteckte Diskriminierun27 Mühl

418

7. Kapitel: Zusammenfassung und Prüfungsschema

gen, bloße Beschränkungen sowie sonstige Maßnahmen ohne binnenmarktbehindernde Wirkungen. 12. Die praktische Prüfung der Grundfreiheiten beginnt mit der Feststellung, ob die Grundfreiheiten auf den konkreten Fall überhaupt anwendbar sind. Insofern ist zwischen einem sachlichen, persönlichen und räumlichen Anwendungsbereich zu differenzieren. Auf der Stufe des sachlichen Anwendungsbereichs sind die einzelnen Grundfreiheiten voneinander abzugrenzen. Darüber hinaus ist an dieser Stelle der erforderliche transnationale Bezug als übergreifendes Prüfungselement zu verorten. Im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich unterscheiden sich Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten; während jene rein gegenständlich fassbar sind, ist diesen ein notwendiger Personenbezug immanent. Der räumliche Anwendungsbereich der Grundfreiheiten deckt sich mit dem allgemeinen territorialen Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts nach Art. 299 EG. 13. Im Anschluss an die abstrakte Erörterung des grundfreiheitlichen Anwendungsbereichs ist zu klären, inwieweit die zu beurteilende Maßnahme einzelne Grundfreiheiten beeinträchtigt. Zusammengefasst bilden die beiden genannten Aspekte die tatbestandliche Prüfung der Grundfreiheiten. Die Grundfreiheiten sind beeinträchtigt, wenn sich die zu beurteilende Maßnahme auf den Kreis der grundfreiheitlich Verpflichteten zurückführen lässt und zudem eine Diskriminierung oder Beschränkung enthält. 14. Verpflichtete der Grundfreiheiten sind die Mitgliedstaaten sowie die Gemeinschaft und ihre Organe. Private Rechtssubjekte sind nicht direkt an die grundfreiheitlichen Vorschriften gebunden; eine unmittelbare Drittwirkung ist bezüglich aller Grundfreiheiten abzulehnen. Sachgerechte Ergebnisse lassen sich stattdessen über die dogmatische Konstruktion einer mittelbaren Drittwirkung erzielen. Dabei gewinnt die Vorschrift des Art. 10 EG als positivierter Anknüpfungspunkt im Hinblick auf eine mitgliedstaatliche Garantenpflicht an Bedeutung. 15. Innerhalb der verschiedenen Beeinträchtigungsformen sind zunächst offene und versteckte Diskriminierungen festzustellen; im Anschluss daran wird das Vorliegen bloßer Beschränkungen diskutiert. Letztere werden durch die

Α. Zusammenfassung in Thesen

419

positive Formulierung des freiheitsrechtlichen Gehalts der Grundfreiheiten bestimmt: Der betreffende Wirtschaftsteilnehmer muss im Grundsatz seine materielle oder immaterielle - Leistung in der von ihm gewählten Art oder Beschaffenheit auf dem einzelnen nationalen Markt anbieten dürfen, so dass er mit konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmern auf diesem nationalen Markt in Wettbewerb treten kann. Wird der insoweit gewährleistete Marktzugang behindert, liegt eine grundfreiheitliche Beschränkung vor. Die /^^-Rechtsprechung des EuGH konkretisiert jenes Marktzugangskriterium. Sie lässt sich über die Warenverkehrsfreiheit hinaus auf andere Grundfreiheiten übertragen. Im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten kann dabei nicht zwischen Produkt- und Verkaufsmodalitäten differenziert werden. Maßgeblich ist insofern eine Unterscheidung von Regelungen, welche die persönliche Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers tangieren, und bloßen Ausübungs- bzw. Aufenthaltsmodalitäten. 16. Auf der Rechtfertigungsebene offenbart sich, ob eine beeinträchtigende Maßnahme im Ergebnis gegen die Grundfreiheiten verstößt. Entsprechend der Judikatur ist zwischen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen des EGVertrages und ungeschriebenen Cùsró-Kriterien zu differenzieren. Letztere finden nur auf versteckte Diskriminierungen und bloße Beschränkungen Anwendung. Dagegen gelten die positivierten Rechtfertigungsmöglichkeiten für sämtliche grundfreiheitlichen Beeinträchtigungsformen. Das gemeinschaftsrechtliche Umweltprinzip ist als geschriebener Rechtfertigungsgrund zu qualifizieren. Anzuknüpfen ist dabei an die Querschnittsklausel des Art. 6 EG

420

7. Kapitel: Zusammenfassung und Prüfungsschema

B. Schema der grundfreiheitlichen Prüfung I. Tatbestandsebene Ist der grundfreiheitliche

Anwendungsbereich

eröffnet?

Sachlich - Abgrenzung der einzelnen Grundfreiheiten untereinander (Subsidiarität gem. Art. 50 Abs. 1 EG) - Grenzüberschreitender Bezug als gemeinsames Merkmal - Bereichsausnahmen

Persönlich - Produktverkehrsfreiheiten: - Personen Verkehrsfreiheiten:

Keine Einschränkung Staatsangehörigkeit/Ansässigkeit

Räumlich - Territorialer Geltungsbereich gem. Art. 299 EG

Werden die Grundfreiheiten

beeinträchtigt?

Verpflichtete der Grundfreiheiten - Mitgliedstaaten - Gemeinschaft und ihre Organe - Drittwirkungsproblematik

Verschiedene Beeinträchtigungsformen - Offene Diskriminierung:

Differenzierung anhand der verbotenen Merkmale Produktherkunft/-destination (Produktverkehr), Staatsangehörigkeit (Personenverkehr)

• Versteckte Diskriminierung:

Anknüpfung an andere Kriterien; typischerweise gleiche Wirkung wie offene Diskriminierung

- Bloße Beschränkung:

Kann der Wirtschaftsteilnehmer seine Leistung in der von ihm gewählten Beschaffenheit auf dem nationalen Markt anbieten, so dass er mit konkurrierenden Wirtsc h aftstei In eh mern in Wettbewerb treten kann? Keck-¥ovmzY. Verkaufsmodalität? Ausübungs-/Aufenthaltsmodalität? Sonderfall: Marketing

Β. Schema der grundfreiheitlichen Prüfung II. Rechtfertigungsebene

Schranken-Schranken Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit - Unterschiedliche Kontrolldichte: Dienstleistung/Niederlassung vs. sonstiges wirtschaftliches Handeln; Diskriminierung vs. Beschränkung

Grundsätzliche

Rechtfertigungsmöglichkeiten

Geschriebene Rechtfertigungsstruktur - Grundfreiheitliche Rechtfertigungsvorschriften - Weitere positivierte Rechtfertigungsgründe: Art. 86 Abs. 2 EG Umweltprinzip

Ungeschriebene Rechtfertigungsstruktur (Cassis- Kriterien) - nur anwendbar auf versteckte Diskriminierungen und bloße Beschränkungen - insbesondere Kulturpolitik, Verbraucherschutz, steuerliche Kontrolle, Lauterkeit des Handelsverkehrs, Aufrechterhaltung der Medienvielfalt, Funktionsföhigkeit der Rechtspflege, Ansehen des nationalen Finanzsektors

421

Schlussbetrachtung Der europäische Integrationsprozess wird maßgeblich von den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrages geprägt. Die Anwendung der grundfreiheitlichen Vorschriften in der Praxis entscheidet letztlich darüber, wie weit die primärrechtlichen Vorgaben der Binnenmarktkonzeption in die nationalen Rechtsordnungen einwirken. Somit enthält die Prüfung der Grundfreiheiten eine besondere Brisanz, indem sie unmittelbar die Kompetenzverteilungsordnung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten berührt. Die Diskussion um die europarechtlich determinierte Zuständigkeitsverteilung ist angesichts der Offenheit des Integrationsprozesses nach wie vor nicht abgeschlossen.1 Dabei wird die Bedeutung der Grundfreiheiten in Zukunft noch weiter zunehmen. Denn die Völker Europas stehen vor dem Abschluss des größten Erweiterungsprozesses in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaften. Der fur das Jahr 2004 geplante Beitritt von zunächst zehn Staaten Mittelund Osteuropas zur Europäischen Union stellt an die Praktikabilität der gemeinschaftsrechtlichen Strukturen neue Herausforderungen. Mit Blick auf den europäischen Binnenmarkt gilt dies insbesondere für die Grundfreiheiten des EG-Vertrages. Die beitrittswilligen Staaten werden zwar durch entsprechende Regelungen in den Europaabkommen auf die Geltung der Grundfreiheiten vorbereitet. 2 Dort normieren die so genannten Wirtschaftsfreiheiten vergleichbare Gewährleistungen; 3 auch mit Blick auf die jeweiligen Verpflichtungsadressaten lassen sich insoweit Konvergenzen zu den grundfreiheitlichen Vorschriften

1 Vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, 203. 2

Zu den einzelnen Abkommen siehe bereits oben 4. Kapitel Β. II. 1., Fußn. 188.

3

In Anlehnung an die grundfreiheitliche Systematik können die Wirtschaftsfreiheiten wie folgt eingeteilt werden (vgl. hier beispielhaft das EA mit Polen): Als reine Produktverkehrsfreiheit lässt sich die Regelung des freien Warenverkehrs charakterisieren (z.B. Artt. 7 ff. EA mit Polen). Reine Personenverkehrsfreiheiten sind die Wirtschaftsfreiheiten betreffend die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Niederlassungsfreiheit (z.B. Artt. 37 ff. u. 44 ff. EA mit Polen). Demgegenüber besitzen die Regelungen des Dienstleistungs-, Kapital- u. Zahlungsverkehrs einen Doppelcharakter (z.B. Artt. 55 ff u. 59 ff. EA mit Polen); sie sind - j e nach Akzentuierung - entweder den Produktverkehrsfreiheiten oder den Personenverkehrsfreiheiten zuzuordnen.

Schlussbetrachtung

423

erkennen. 4 Gleichwohl bestehen erhebliche strukturelle Unterschiede zwischen diesen Wirtschaftsfreiheiten und den Grundfreiheiten des EG-Vertrages. So kann spezifisch für die Wirtschaftsfreiheiten ein teilweises Abweichen v o m Grundsatz der Reziprozität festgestellt werden. 5 V o r allem bleiben die W i r t schaftsfreiheiten i n ihrem Gewährleistungsgehalt auf ein Diskriminierungsverbot reduziert, 6 während die grundfreiheitlichen Vorschriften demgegenüber ein weitergehendes Beschränkungsverbot vermitteln. 7 Neben diesen übergreifenden Erwägungen verdeutlichen auch die einzelnen Wirtschaftsfreiheiten nicht unerhebliche Unterschiede zu den Grundfreiheiten. Z u nennen ist hier beispielhaft der Bereich der Dienstleistungsfreiheit; dort enthalten die wirtschaftsfreiheitlichen Vorschriften der Europaabkommen bloße Zielvorgaben, 8 ohne eine den Artt. 49 ff. E G korrespondierende Gewährleistung zu normieren. Insgesamt bleiben die Wirtschaftsfreiheiten daher deutlich hinter den grundfreiheitlichen Gewährleistungen zurück.

4 Auch hinsichtlich der Wirtschaftsfreiheiten in den Europaabkommen ist eine Drittwirkung abzulehnen; vgl. dazu Gutmann, SpuRt 1997, 38 ff. (40); Weiß, Personenverkehrsfreiheiten von Staatsangehörigen assoziierter Staaten, 1998, 112 f. Aus der Rspr. vgl. LG Frankfurt, SpuRt 1998, 77 (79).

Zur fehlenden unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten siehe oben 5. Kapitel Α. I I , S. 296 ff. 5 Die Wirtschaftsfreiheiten in den Europaabkommen enthalten teilweise nichtreziproke Regelungen zu Gunsten des Assoziationspartners. Während z.B. nach Art. 9 Abs. 4 des EA mit Polen die mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkungder Gemeinschaft uneingeschränkt aufgehoben werden, gilt dies gem. Art. 10 Abs. 4 des EA mit Polen für den Assoziationspartner nicht ausnahmslos. Vgl. auch Arnold, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, K.I, Rn. 144; Streinz, Rn. 63a.

Allg. zum völkerrechtlichen Prinzip der Reziprozität vgl. Verdross/Simma,

§§ 64 ff.

6

Auch die jüngeren Entscheidungen des Gerichtshofs zu den Europaabkommen zwingen nicht zu der Ansicht, die Vorschriften der Europaabkommen enthielten weitergehende Beschränkungsverbote; vgl. EuGH, Rs. C-63/99 (Gloszczuk), Slg. 2001, I6369; EuGH, Rs. C-235/99 (Kondova), Slg. 2001,1-6427; EuGH, Rs. C-257/99 (Barkoci u. Malik), Slg. 2001,1-6557; EuGH, Rs. C-268/99 (Jany), Slg. 2001,1-8615. Näher zu dieser Problematik z.B. Arnold, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, K.I, Rn. 150 u. 154; Kuschel, EuZW 1992, 571 ff. (572); Roy, in: Dauses (Hrsg.), Osterweiterung der EU, 1998, 281 ff. (292 ff.); Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 310 EGV, Rn. 38; Weiß, InfAuslR 2001, 1 ff. (1 f.). Zur Form der versteckten Diskriminierung im Bereich der Europaabkommen vgl. EuGH, Rs. C-162/00 (Pokrzeptowicz-Meyer), Slg. 2002,1-1049. 7

Siehe oben 3. Kapitel C. IV. 2., S. 241 ff.

8

Vgl. Streinz, Rn. 63a.

Schlussbetrachtung

424

Die in der vorliegenden Arbeit entwickelten Grundansätze einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten mögen dazu beitragen, die Besonderheiten der grundfreiheitlichen Prüfung relativ reibungslos auf zukünftige Problemfelder zu übertragen. Gerade die Bereitstellung konvergenter dogmatischer Strukturen dürfte insofern den erweiterten europäischen Integrationsprozess positiv beeinflussen. Letztlich wird damit der Bogen geschlagen zu jenen einleitenden Ausführungen dieser Arbeit, welche den rechtshistorischen Prozess europäischer Integration betreffen. 9 Denn Geschichte endet nicht mit einem bestimmten Datum; Geschichte entsteht mit jedem Tag neu.

9

Siehe oben Einleitung, S. 27.

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

(Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle

7/54 u. 9/54

Groupement des Industries Sidérurgiques

Slg. 1955, 55

Luxembourgeoises 8/55

Fédération Charbonnière de Belgique

Slg. 1955/56, 297

1/58

Stork

Slg. 1959,43

3/58 bis 18/58,

Erzbergbau

Slg. 1959, 373

27/58 bis 29/58

Hauts Fourneaux

Slg. 1960, 513

15/60

Simon

Slg. 1961,239

7/61

Kommission/Italien

Slg. 1961, 693

17 u. 20/61

Klöckner

Slg. 1962, 655

15/58 u. 26/58

24/62

Deutschland/Kommission

Slg. 1963, 141

26/62

van Gend & Loos

Slg. 1963, 1

13/63

Italien/Kommission

Slg. 1963, 357

6/64

Costa/ENEL

Slg. 1964, 1251

32/65

Italien/Kommission

Slg. 1966,457

14/67

Weichner

Slg. 1967,443

13/68 14/68

Salgoil

Slg. 1968,679

Walt Wilhelm

Slg. 1969, 1

29/69

Stauder

Slg. 1969,419

9/70

Leberpfennig

Slg. 1970, 825

426 (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

Bezeichnung

Fundstelle

11/70

Internationale Handelsgesellschaft

Slg. 1970, 1125

22/70

AETR

Slg. 1971,263

78/70

Tonträger

Slg. 1971,487

38/71 u. 39/71

Westzucker u. Dietz

Slg. 1972, 1

51/71 bis 54/71

Produktschap voor groenten en fruit

Slg. 1971, 1107

6/72

Continental Can N V Cobelex

Slg. 1972, 1055

55/72

Getreidehandel

Slg. 1973, 15

81/72

Kommission/Rat

Slg. 1973, 575

20/72

Slg. 1973,215

2/73

Riseria Luigi Geddo

Slg. 1973, 865

4/73

Nold

Slg. 1974,491

120/73

Lorenz

Slg. 1973, 1471

152/73

Sotgiu

Slg. 1974, 153

155/73

Sacchi

Slg. 1974, 409

192/73

Hag

Slg. 1974, 731

2/74

Reyners

Slg. 1974, 631

6/74

Moulijn

Slg. 1974, 1287

8/74

Dassonville

Slg. 1974, 837

9/74

Casagrande

Slg. 1974, 773

16/74

Centrafarm

Slg. 1974, 1138

31/74

Galli

Slg. 1975,47

33/74

van Binsbergen

Slg. 1974, 1299

36/74

Slg. 1974, 1405

41/74

Walrave und Koch von Duyn

24/75

Petroni

Slg. 1975, 1149

36/75

Rutiii

43/75 48/75

Defrenne I Royer

Slg. 1975, 1219 Slg. 1976,455 Slg. 1976, 497

65/75

Tasca

Slg. 1976, 291

88/75 bis 90/75

SADAM

Slg. 1976, 323

104/75

De Peijper

Slg. 1976,613

Slg. 1974, 1337

118/75

Watson u. Belman

Slg. 1976, 1185

119/75

Terrapin/Terranova

Slg. 1976, 1039

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle

Gutachten 1/76

Stillegungsfonds

Slg. 1977, 741

3/76,4/76 u. 6/76

Kramer

Slg. 1976, 1279

13/76

Donà/Mantero

Slg. 1976,1333

40/76

Kermaschek

Slg. 1976, 1669

41/76

Donckerwolcke

Slg. 1976, 1921

46/76

Bauhuis

Slg. 1977, 5 Slg. 1977, 197

53/76

Bouhelier

68/76

Kommission/Frankreich

Slg. 1977,515

71/76

Thieffry

Slg. 1977, 765

74/76

Ianelli u. Volpi

Slg. 1977, 557

85/76

Hoffmann-La Roche

Slg. 1979, 461

90/76

Van Ameyde

Slg. 1977, 1091

117/76 u. 17/77

Quellmehl

Slg. 1977, 1753

124/76 u. 20/77

Maisgritz

Slg. 1977, 1795 Slg. 1977, 1473

1/77

Bosch I

8/77

Sagulo

Slg. 1977, 1495

11/77

Patrick

Slg. 1977, 1199 Slg. 1977,2115

13/77

GB-INNO/ATAB

30/77

Bouchereau

Slg. 1977, 1999

61/77

Kommission/Irland

Slg. 1978,417 Slg. 1978, 927

80/77 u. 81/77

Italienischer Wein

82/77

van Tiggele

Slg. 1978, 25

103/77 u. 155/77

Isoglukose

Slg. 1978, 2037 Slg. 1978, 629

106/77

Simmenthal I I

125/77

Koninklijke Scholten-Honig

Slg. 1978, 1991

135/77

Bosch II

Slg. 1978, 855

1/78

Kenny

Slg. 1978, 1489

7/78

Thompson

Slg. 1978, 2274 Slg. 1978, 1935

13/78

Eggers

16/78

Choquet

Slg. 1978, 2293

83/78 110/78 u. 111/78

Pigs Marketing Board

Slg. 1978, 2347

van Wesemael

Slg. 1979, 35

115/78

Knoors

Slg. 1979, 399

120/78

Cassis de Dijon

Slg. 1979, 1766

136/78

Auer

Slg. 1979,437

148/78 152/78

Ratti Kommission/Frankreich

Slg. 1979, 1629 Slg. 1980, 2299

428 (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

Bezeichnung

Fundstelle Slg. 1979, 1129

175/78

Saunders

237/78

Toia

Slg. 1979, 2645

251/78

Denkavit

Slg. 1979,3369

15/79

Groenveld

Slg. 1979, 3409

44/79

Hauer

Slg. 1979, 3727

52/79

Debauve

Slg. 1980, 833

62/79

Coditel

Slg. 1980, 881

91/79

Detergentien

Slg. 1980, 1099

147/79

Hochstrass

Slg. 1980, 3005

149/79

Kommission/Belgien

Slg. 1980, 3381

155/79

AM & S

Slg. 1982, 1575

788/79

Gilli

Slg. 1980, 2071

807/79

Gravina

Slg. 1980, 2205 Slg. 1980, 3427

22/80

Boussac/Gerstenmeier

27/80

Fietje

Slg. 1980,3839

55/80 u. 57/80

GEMA

Slg. 1981, 147

58/80

Dansk Supermarked

Slg. 1981, 181

107/80

Slg. 1981, 1469

113/80

Adorno Kommission/Irland

130/80

Keldermann

Slg. 1981,527

155/80

Oebel

Slg. 1981, 1993

193/80

Kommission/Italien

Slg. 1982, 3019

203/80

Casati

Slg. 1981,2596

244/80

Foglia I I

Slg. 1981,3045

Slg. 1981, 1625

246/80

Broekmeulen

Slg. 1981,2311

270/80 272/80

Polydor

Slg. 1982,329

Biologische Producten

Slg. 1981,3277

279/80

Webb

Slg. 1981,3305

6/81

Beele

Slg. 1982, 707

8/81

Becker

Slg. 1982, 53 Slg. 1982, 749

14/81

Alpha Steel

15/81

Schul

Slg. 1982, 1409

21/81

Du Pont de Nemours Italiana

Slg. 1990,1-889

53/81

Levin

Slg. 1982, 1035

62/81 u. 63/81 75/81

Seco Blesgen

Slg. 1982, 223 Slg. 1982, 1211

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

95/81

Kommission/Italien

Slg. 1982,2187

141/81 bis 143/81

Holdijk

Slg. 1982, 1299

Fundstelle

230/81

Luxemburg/EP

Slg. 1983,255

245/81

Edeka

Slg. 1982, 2745

247/81

Kommission/Deutschland

Slg. 1984, 1111

249/81

Buy Irish

Slg. 1982,4005

261/81

Rau

Slg. 1982, 3961

283/81

CILFIT

Slg. 1982, 3415

286/81

Oosthoek

Slg. 1982, 4575

35/82 u. 36/82

Morson

Slg. 1982,3723

59/82

Weinvertriebs-GmbH

Slg. 1983, 1217

94/82

De Kikvorsch

Slg. 1983,947

152/82

Forcheri

Slg. 1983,2323

162/82

Cousin

Slg. 1983, 1101

172/82

Inter-Huiles

Slg. 1983, 555

174/82

Sandoz

Slg. 1983,2445

177/82 u. 178/82 205/82 bis 215/82

van de Haar Deutsche Milchkontor GmbH

Slg. 1984, 1797 Slg. 1983,2633

218/82

Kommission/Rat

Slg. 1983,4063

222/82

Apple and Pear Development Council

Slg. 1983,4083

237/82

Jongeneel Kaas

Slg. 1984,483

286/82 u. 26/83

Luisi und Carbone

Slg. 1984,377

292/82

Merck

Slg. 1983,3781

337/82

St. Nikolaus Brennerei

Slg. 1984, 1051 Slg. 1985, 1513

13/83

EP/Rat

15/83

Denkavit Nederland

Slg. 1984,2171

16/83

Prantl

Slg. 1984, 1299

37/83

Rewe

59/83

Biovilac

Slg. 1984, 1229 Slg. 1984,4057

63/83

Kirk

Slg. 1984, 2689

70/83

Kloppenburg

Slg. 1984, 1075

72/83

Campus Oil

Slg. 1984, 2727

107/83

Klopp

Slg. 1984,2971

117/83

Könecke

Slg. 1984, 3291

177/83

Kohl/Ringelhan

Slg. 1984, 3651

180/83

Moser Fearon u. Company Ltd.

Slg. 1984, 2539

182/83

Slg. 1984,3677

430

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

(Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle Slg. 985, 1201

207/83

Kommission/Vereinigtes Königreich

220/83

Kommission/Frankreich

Slg. 986,3663

229/83

Leclerc/Au blé vert

Slg. 985, 1

231/83

Cullet

Slg. 985, 305

237/83

Prodest

Slg. 984,3153

238/82

Duphar

Slg. 984, 523

240/83

ADBHU

Slg. 985,531

251/83

Haug-Adrion

Slg. 984, 4277

252/83

Kommission/Dänemark

Slg. 986,3713

270/83

Kommission/Frankreich

Slg. 986, 273

294/83

Les Verts

Slg. 986,1339

18/84

Kommission/Frankreich

Slg. 985,1339

19/84

Pharmon

Slg. 985,2281

41/84

Pinna

Slg. 986, 1

44/84

Hurd

Slg. 986, 29

60/84 u. 61/84

Cinéthèque

94/84

Deak

152/84

Marshall

Slg. 985, 2605 Slg. 985, 1873 Slg. 986, 723

157/84

Frascogna

Slg. 985, 1739

178/84

Reinheitsgebot für Bier

182/84

Miro

Slg. 987, 1227 Slg. 985,3731 Slg. 985, 1819

197/84

Steinhauser

205/84

Kommission/Deutschland

Slg. 986, 3755

234/84

Belgien/Kommission

Slg. 986, 2263

247/84

Motte

284/84

Spruyt

Slg. 985, 3887 Slg. 986,685 Slg. 985,593

293/83

Gravier

298/84

Iorio

300/84

Van Roosmalen

304/84

Muller

Slg. 986, 247 Slg. 986, 3076 Slg. 986,1511

307/84

Kommission/Frankreich

Slg. 986, 1725

20/85

Roviello

50/85

Schlot

54/85

Mirepoix

59/85

Reed

Slg. 988, 2805 Slg. 986, 1855 Slg. 986, 1067 Slg. 986,1283

66/85 79/85

Lawrie Blum Segers

Slg. 986,2121 Slg. 986,2375

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle Slg. 1986,3359

80/85 u. 159/85

Brotpreis

96/85

Kommission/Frankreich

Slg. 1986, 1475

121/85

Conegate

Slg. 1986, 1007

131/85

Gül

Slg. 1986, 1573

148/85

Forest

Slg. 1986, 3449

201/85 u. 202/85

Klensch

Slg. 1986, 3477

221/85

Kommission/Belgien

Slg. 1987,719

225/85

Kommission/Italien

Slg. 1987, 2625 Slg. 1987,3801

311/85

Vlaamse Reisbureaus

314/85

Foto Frost

Slg. 1987,4199

352/85

Bond van Adverteerders

Slg. 1988,2085

355/85

Cognet

Slg. 1986, 3231

407/85

3 Glocken GmbH

Slg. 1988,4233

424/85 u. 425/85

Frico

Slg. 1987, 2755

12/86

Demirel

Slg. 1987,3719

63/86

Slg. 1988, 29

65/86

Kommission/Italien Bayer

80/86

Kolpinghuis Nijmegen

Slg. 1987,3969

Slg. 1988, 5249

90/86

Pasta

Slg. 1988,4285

98/86

Mathot

Slg. 1987, 809

118/86

Geflügelschlachtabfälle

Slg. 1987,3883

222/86

Slg. 1987,4097

292/86

Heylens Gullung

Slg. 1988, 111

299/86

Drexl

Slg. 1988, 1213

302/86

Kommission/Dänemark

Slg. 1988,4607

313/86

Lenoir

Slg. 1988,5391

20/87

Gauchard

Slg. 1987,4879

46/87 u. 227/88

Hoechst

Slg. 1989, 2859

53/87

Renault

Slg. 1988,6039

62/87 u. 72/87

Exécutif régional wallon

Slg. 1988, 1573

81/87

Daily Mail Erpelding

Slg. 1988,2647

143/87

Stanton

Slg. 1988,3877

147/87

Zaoui

Slg. 1987, 5511

154/87 u. 155/87

Wolf

Slg. 1988,3897

186/87 196/87

Cowan Steymann

Slg. 1989, 195 Slg. 1988,6159

84/87

Slg. 1988, 5483

432

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

(Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle

204/87

Bekaert

215/87

Schumacher

Slg. 988, 2029 Slg. 989,617

265/87

Schräder

266/87 u. 267/87

Royal Pharmaceutical Society

274/87

Kommission/Deutschland

298/87

SMANOR

305/87

Kommission/Griechenland

C-349/87

Paraschi

379/87

Groener

382/87

Buet

389/87 u. 390/87

Echternach u. Moritz

C-2/88 Imm.

Zwartfeld

5/88

Wachauf

Slg. 989, 2237 Slg. 989, 1295 Slg. 989, 229 Slg. 988,4489 Slg. 989,1461 Slg. 991,1-4501 Slg. 989,3967 Slg. 989, 1235 Slg. 989, 723

9/88

Lopes da Veiga

Slg. 990,1-3367 Slg. 989, 2609 Slg. 989, 2989

14/88

Italien/Kommission

Slg. 989,3677

25/88

Wurmser

Slg. 988,1105

33/88

Allué I

Slg. 989,1591

C-54/88, C-91/88 u.

Nino

Slg. 990,1-3537

67/88

Kommission/Italien

C-69/88

Krantz

C-70/88

Tschernobyl

Slg. 990,1-4285 Slg. 990,1-583 Slg. 990,1-2041

C-14/89

103/88

Fratelli Costanzo

C-143/88 u.

Zuckerfabrik Süderdithmarschen

Slg. 989,1839 Slg. 991,1-415

C-92/89 145/88

Torfaen Borough Council

C-175/88

Biehl

186/88

Kommission/Deutschland

C-228/88

Bronzino

C-267/88 bis

Wuidart

Slg. 989, 3885 Slg. 990,1-1779 Slg. 989,3997 Slg. 990,1-531 Slg. 990,1-435

C-285/88 C-293/88

Winter-Lutzins

C-297/88 u.

Dzodzi

Slg. 990,1-1623 Slg. 990,1-3763

C-197/89 C-302/88

Hennen Olie

C-306/88

Rochdale Borough Council

C-339/89

Alsthom Atiantique

C-362/88

GB-INNO

Slg. Slg. Slg. Slg.

990, 4625 992,1-6457 991,1-107 990,1-667

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle

C-369/88

Delattre

Slg. 1991,1-1487

C-8/89

Zardi

Slg. 1990,1-2515

C-9/89

Spanien/Rat

Slg. 1990,1-1383

C-10/89

Hag II

Slg. 1990,1-3711

C-12/89

Gatto

Slg. 1990,1-557

C-23/89

Quietlynn

Slg. 1990,1-3059

C-60/89

Monteil

Slg. 1991,1-1547

C-61/89

Bouchoucha

Slg. 1990,1-3551

C-93/89

Slg. 1991,1-4569

C-106/89

Kommission/Irland Marleasing

C-128/89

Kommission/Italien

Slg. 1990,1-3239

C-180/89

Kommission/Italien

Slg. 1991,1-709

C-198/89

Kommission/Griechenland

Slg. 1991,1-727

C-205/89

Kommission/Griechenland

Slg. 1991,1-1361

C-213/89

Factortame

Slg. 1990,1-2433

C-221/89

Factortame II

Slg. 1991,1-3905

C-238/89

Pall/Dahlhausen

Slg. 1990,1-4827

C-246/89

Kommission/Vereinigtes Königreich

Slg. 1991,1-4585

C-260/89

ERT

Slg. 1991,1-2925

C-279/89 C-288/89

Kommission/Vereinigtes Königreich Collectieve Antennevoorziening Gouda

Slg. 1992,1-5785 Slg. 1991,1-4007

C-300/89

Titandioxid

Slg. 1991,1-2867

C-312/89

Conforama

Slg. 1991,1-997

Slg. 1990,1-4135

C-332/89

Marchandise

Slg. 1991,1-1027

C-340/89

Vlassopoulou

Slg. 1991,1-2357

C-3 50/89

Sheptonhurst

Slg. 1991,1-2387

C-353/89 C-363/89

Kommission/Niederlande Roux

Slg. 1991,1-273

C-l/90 u. C-176/90 C-2/90 C-6/90 u. C-9/90

Kommission/Belgien Francovich

C-10/90 C-3 9/90

Aragonesa

Masgio Denkavit II

Slg. 1991,1-4069

Slg. 1991,1-4151 Slg. 1992,1-4431 Slg. 1991,1-5357 Slg. 1991,1-1119 Slg. 1991,1-3069

C-47/90

Delhaize

Slg. 1992,1-3669

C-62/90

Kommission/Deutschland Säger Kühn

Slg. 1992,1-2575

C-76/90 C-177/90 28 Mühl

Slg. 1991,1-4221 Slg. 1992,1-35

434

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

(Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle Slg. 1991,1-5889

C-179/90

Merci Convenzionali Porto di Genova

C-204/90

Bachmann

Slg. 1992,1-249

C-304/90

Reading Borough Council

Slg. 1992,1-6493

C-330/90 u.

Lopez Brea u. Hidalgo Palacios

Slg. 1992,1-323

C-332/90

Steen I

Slg. 1992,1-341

C-369/90

Micheletti

Slg. 1992,1-4239

C-370/90

Surinder Singh

Slg. 1992,1-4265

C-13/91 u.

Debus

Slg. 1992,1-3617

C-331/90

C - l 13/91 C-27/91

Le Manoir

Slg. 1991,1-5531

C-60/91

Batista Morais

Slg. 1992,1-2085

C-78/91

Hughes

Slg. 1992,1-4839

C-98/91

Herbrink

Slg. 1994,1-223

C-l04/91

Aguirre Borell u.a.

Slg. 1992,1-3003

C - l 06/91

Ramrath

Slg. 1992,1-3351

C - l 11/91

Kommission/Luxemburg

Slg. 1993,1-817

C - l 12/91

Werner

Slg. 1993,1-429

C - l 26/91

Yves Rocher

Slg. 1993,1-2361

C - l 48/91

Veronica

Slg. 1993,1-487

C-l53/91

Petit

Slg. 1992,1-4973

C - l 55/91

Abfallrichtlinie

Slg. 1993,1-939

C - l 65/91

Van Munster

Slg. 1994,1-4661

C - l 68/91

Konstantinidis

Slg. 1993,1-1191

C - l 69/91

Stoke on Trent

Slg. 1993,1-6635

C-206/91 C-217/91

Poirezz

Slg. 1992,1-6685

Spanien/Kommission

Slg. 1993,1-3923

C-243/91

Taghavi

Slg. 1992,1-4401

C-259/91, C-331/91 u. C-332/91

Allué II

Slg. 1993,1-4309

C-267/91 u.

Keck u. Mithouard

Slg. 1993,1-6097

Ligur Carni

Slg. 1993,1-6621

C-268/91 C-277/91, C-318/91 u. C-319/91 C-310/91 C-320/91

Schmid

Slg. 1993,1-3011

Corbeau

Slg. 1993,1-2533

C-330/91

Commerzbank

Slg. 1993,1-4017

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

435

Bezeichnung

Fundstelle

C-2/92

Bostock

C - l 9/92

Kraus

Slg. 1994 1-955 Slg. 1993 1-1663 Slg. 1993 1-3777 Slg. 1993 1-4047

C-20/92

Hubbard

C-42/92

Thijssen

C-8 0/92

Kommission/Belgien

C-91/92

Faccini Dori/Recreb

Slg. 1994 1-1019 Slg. 1994 1-3325

C-92/92 u.

Phil Collins

Slg. 1993 1-5145

C - l 29/92

Owen

C-272/92

Spotti

Slg. 1994 1-117 Slg. 1993 1-5185

C-275/92

Schindler

C-292/92

Hünermund

C-326/92

C-315/92

Clinique

C-317/92

Kommission/Deutschland

Slg. 1994 1-1039 Slg. 1993 1-6787 Slg. 1994 1-317 Slg. 1994 1-2039 Slg. 1994 1-425

C-319/92

Haim

C-375/92

Kommission/Spanien

C-3 79/92

Peralta

C-391/92

Kommission/Griechenland

C-393/92 C-398/92

Almelo Mund & Fester

C-401/92 u.

't Heukske u. Boermans

Slg. 1995 1-1621 Slg. 1994 1-1477 Slg. 1994 1-467 Slg. 1994 1-2199

Scholz

Slg. 1994 1-505 Slg. 1994 1-2789 Slg. 1994 1-3537 Slg. 1994 1-4795 Slg. 1994 1-1829

Slg. 1994 1-923 Slg. 1994 1-3453

C-402/92 C-419/92 C-9/93

Ideal-Standard

C - l 7/93

Van der Veldt

C-23/93

TV10

C-41/93

Kommission/Frankreich

C-43/93

Vander Eist

C-45/93 C-46/93 u. C-48/93

Kommission/Spanien

C-60/93

Aldewereld

Slg. 1994 1-3803 Slg. 1994 1-911 Slg. 1996 1-1029 Slg. 1994 1-2991

C-69/93 u.

Punto Casa

Slg. 1994 1-2355

C - l 32/93

Steen II

C - l 87/93

Parlament/Rat

C-280/93

Deutschland/Rat

Slg. 1994 1-2715 Slg. 1994 1-2857 Slg. 1994 1-4973

C-279/93 C-293/93

Schumacker Houtwipper

Slg. 1995 1-225 Slg. 1994 1-4249

Brasserie du Pêcheur u. Factortame

C-258/93

28'

436 (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

Bezeichnung

Fundstelle

C-306/93

SMW Winzersekt

Slg. 1994,1-5555

C-308/93

Cabanis-Issarte

Slg. 1996,1-2109

C-320/93

Ortscheit

Slg. 1994,1-5243

C-323/93

Crespelle

Slg. 1994,1-5077

C-324/93

Evans

Slg. 1995,1-563

C-358/93 u.

Bordessa

Slg. 1995,1-361

C-416/93 C-381/93

Kommission/Frankreich

Slg. 1994,1-5145

C-3 84/93

Alpine Investments

Slg. 1995,1-1141

C-3 87/93

Banchero

Slg. 1995,1-4663

C-392/93

British Telecommunications

Slg. 1996,1-1631

C-415/93

Bosman

Slg. 1995,1-4921

C-418/93 bis

Semeraro

Slg. 1996,1-2975

C-434/93

Bozkurt

Slg. 1995,1-1475

C-465/93

Atlanta I

Slg. 1995,1-3761

C-470/93

Mars

Slg. 1995,1-1923

C-473/93

Kommisssion/Luxemburg

Slg. 1996,1-3207

C-484/93

Svensson

Slg. 1995,1-3955

Gutachten 1/94

GATS/TRIPS

Slg. 1994,1-5276

Gutachten 2/94

EMRK-Beitritt

Slg. 1996,1-1759

C-5/94

Lomas

Slg. 1996,1-2553

C-29/94 bis

Aubertin

Slg. 1995,1-301

C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-11/94, C-14/94, C-15/94, C-23/94, C-24/94 u. C-332/94

C-3 5/94 C-55/94

Gebhard

Slg. 1995,1-4165

56/94

SCAC

Slg. 1995,1-1769

C-71/94 bis C-73/94

Slg. 1996,1-3603 Eurim-Pharm

C-80/94 C-96/94

Wielockx

C-107/94

Centro Servizi Spediporto Asscher

Slg. 1995,1-2493 Slg. 1995,1-2883 Slg. 1996,1-3089

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle

C-128/94

Hönig

Slg. 1995,1-3389

C-151/94

Kommission/Luxemburg

Slg. 1995,1-3685

C-157/94

Kommission/Niederlande

Slg. 1997,1-5699

C-15 8/94

Kommission/Italien

Slg. 1997,1-5789

C-159/94

Kommission/Frankreich

Slg. 1997,1-5815

C-163/94, C-165/94

Sanz de Lera

Slg. 1995,1-4821

C-164/94

Aranitis

Slg. 1996,1-135

C-173/94

Kommission/Belgien

Slg. 1996,1-3265

C-178/94,

MP Travel Line

Slg. 1996,1-4848

u. C-250/94

C-179/94, C-188/94 bis C-190/94 C-192/94

El Corte Inglés

Slg. 1996,1-1281

C-214/94

Boukhalfa

Slg. 1996,1-2253

C-233/94

Einlagensicherungssysteme

Slg. 1997,1-2405

C-245/94 u.

Hoever u. Zachow

Slg. 1996,1-4895

C-237/94

O'Flynn

Slg. 1996,1-2617

C-246/94 bis

Cooperativa Agricola Zootecnica S. Anto-

Slg. 1996,1-4373

C-312/94

C-249/94

nio

C-278/94

Kommission/Belgien

Slg. 1996,1-4307

C-283/94, C-291/94

Denkavit Internationaal B.V.

Slg. 1996,1-5085

u. C-292/94 C-290/94

Kommission/Griechenland

Slg. 1996,1-3285

C-313/94

Graffione

Slg. 1996,6039

C-321/94 bis

Pistre u.a.

Slg. 1997,1-2343

C-334/94

Kommission/Frankreich

Slg. 1996,1-1307

C-412/94

Leclerc-Siplec

Slg. 1995,1-179

C-324/94

C-3/95

Broede

Slg. 1996,1-6511

C-18/95

Terhoeve

Slg. 1999,1-345

C-29/95

Pastoors

Slg. 1997,1-285

C-34/95, C-35/95 u.

De Agostini

Slg. 1997,1-3843

C-43/95

Data Delecta

C-68/95

T. Port GmbH & Co. KG/Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung

Slg. 1996,1-4661 Slg. 1996,1-6065

C-3 6/95

438 (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

Bezeichnung

Fundstelle

C-72/95

Kraaijeveld

Slg. 1996,1-5403

C - l 20/95

Decker

Slg. 1998,1-1831

C - l 68/95

Arcaro

Slg. 1996,4705

C - l 89/95

Franzén

Slg. 1997,1-5909 Slg. 1996,1-3179

C-240/95

Schmit

C-248/95 u. 249/95

SAM Schiffahrt u. Stapf

Slg. 1997,1-4475

C-250/95

Futura Participations

Slg. 1997,1-2473

C-265/95

Kommission/Frankreich

Slg. 1997,1-6959

C-284/95

Safety Hi-Tech

Slg. 1998,1-4301

C-323/95

Hayes

Slg. 1997,1-1711

C-341/95

Bettati

Slg. 1998,1-4355 Slg. 1997,1-1729

C-352/95

Phyteron International

C-354/95

National Farmers' Union

Slg. 1997,1-4559

C-368/95

Familiapress Klattner

Slg. 1997,1-3689

C-3 89/95

Slg. 1997,1-2719

C - l 5/96

Schöning-Kougebetopoulou

Slg. 1998,1-47

C-51/96 u.

Deliège

Slg. 2000,1-2549

C-191/97 C-54/96

Dorsch Consult

Slg. 1997,1-4961

C-57/96

Meints

Slg. 1997,1-6689

C-62/96

Kommission/Griechenland

Slg. 1997,1-6725

C-64/96 u. C-65/96

Uecker u. Jacquet

Slg. 1997,1-3171

C-90/96

Petrie Daihatsu

Slg. 1997,1-6527

C-97/96 C - l 14/96

Kieffer u. Thill

Slg. 1997,1-3629

C - l 18/96

Safir

Slg. 1998,1-1897

Slg. 1997,1-6843

C - l 22/96

Saldanha

Slg. 1997,1-5325

C-131/96

Mora Romero

Slg. 1997,1-3659

C - l 5 8/96

Kohll Lehtonen

Slg. 2000,1-2681

C - l 76/96

Slg. 1998,1-1931

C - l 85/96

Kommission/Griechenland

Slg. 1998,1-6601

C - l 87/96

Kommission/Griechenland Dusseldorp

Slg. 1998,1-1095

C-203/96 C-264/96 C-274/96 C-309/96 C-348/96 C-350/96

Slg. 1998,1-4075

Imperial Chemical Industries Bickel u. Franz

Slg. 1998,1-7637

Annibaldi

Slg. 1997,1-7493

Calfa Clean Car Auto Service

Slg. 1998,1-2521

Slg. 1998,1-4695

Slg. 1999,1-3955

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen (Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle

C-369/96 u.

Arblade u.a.

Slg. 1999,1-8453

C-3 89/96

Aher-Waggon

Slg. 1998,1-4473

C-35/97

Kommission/Frankreich

Slg. 1998,1-5325

C-36/97 u. C-37/97

Kellinghusen u. Ketelsen

Slg. 1998,1-6337

C-376/96

C-77/97

Österreichische Unilever

Slg. 1999,1-431

C-114/97

Kommission/Spanien

Slg. 1998,1-6717

C-124/97

Läärä

Slg. 1999,1-6067

C-147/97 u.

Deutsche Post

Slg. 2000,1-825

C-149/97

Motor Industry

Slg. 1998,1-7053

C-212/97

Centros

Slg. 1999,1-1459

C-222/97

Trümmer

Slg. 1997,1-1661

C-148/97

C-224/97

Ciola

Slg. 1999,1-2517

C-234/97

De Bobadilla

Slg. 1999,1-4773

C-241/97

Skandia

Slg. 1999,1-1879

C-254/97

Baxter

Slg. 1999,1-4809

C-255/97

Pfeiffer/Löwa

Slg. 1999,1-2835

C-294/97

Eurowings

Slg. 1999,1-7447

C-302/97

Konle

Slg. 1999,1-3099

C-412/97

ED

Slg. 1999,1-3845

C-424/97

Haim II

Slg. 2000,1-5123

C-44/98

BASF

Slg. 1999,1-6269

C-49/98, C-50/98,

Finalarte

Slg. 2001,1-7831

C-55/98

Vestergaard

Slg. 1999,1-7641

C-156/98

Deutschland/Kommission

Slg. 2000,1-6857

C-190/98

Graf

Slg. 2000,1-493 Slg. 1999,1-8935

C-52/98 bis C-54/98 u. C-68/98 bis C-71/98

C-239/98

Kommission/Frankreich

C-254/98

TK-Heimdienst Sass

Slg. 2000,1-151

C-281/98

Angonese

Slg. 2000,1-4139

C-367/98

Kommission/Portugal

Slg. 2002,1-4731

C-379/98

PreussenElektra

Slg. 2001,1-2099

C-405/98

Gourmet International Products

Slg. 2001,1-1795

440

Verzeichnis der zitierten EuGH-Entscheidungen

(Verb.) Rs. bzw. Gutachten

Bezeichnung

Fundstelle

C-423/98

Albore

Slg. 2000,1-5965

C-443/98

Unilever Italia

Slg. 2000,1-7535

C-448/98

Guimont

Slg. 2000,1-10663

C-464/98

Westdeutsche Landesbank

Slg. 2001,1-173

C-9/99

Echirolles Distribution

Slg. 2000,1-8207

C-63/99

Gloszczuk

Slg. 2001,1-6369

C - l 64/99

Portugaia

Slg. 2002,1-787

C-235/99

Kondova

Slg. 2001,1-6427

C-257/99

Barkoci u. Malik

Slg. 2001,1-6557

C-268/99

Jany

Slg. 2001,1-8615

C-451/99

Cura Anlagen/ASL

Slg. 2002,1-3193

C-459/99

MRAX

Slg. 2002,1-6591

C-483/99

Kommission/Frankreich

Slg. 2002,1-4781

C-31/00

Dreessen

Slg. 2002,1-663

C-53/00

Ferring

Slg. 2001,1-9067

C-60/00

Carpenter

Slg. 2002,1-6279 Slg. 2002,1-1049

C - l 62/00

Pokrzeptowicz-Meyer

C - l 72/00

Ferring Arzneimittel

Slg. 2002,1-6891

C-208/00

Überseering

Slg. 2002,1-9919

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Sachwortverzeichnis

Abgrenzung

Ansässigkeit 275 f., 278 ff.

- zwischen den Grundfreiheiten

153,

250 ff., 333

Anwendungsbereich der Grundfreiheiten 29, 80, 90, 107, 116, 125 f., 165 f f ,

- zwischen diskriminierenden und nicht-

210,214, 232, 234, 248 f f , 345

diskriminierenden Maßnahmen 39, 84,

- persönlicher 267 ff.

200

- räumlicher 289 ff.

- zwischen Rechtsprinzipien und Rechtsregeln 54

- sachlicher 249 f f , 328 Arbeitnehmerfreizügigkeit 36, 42, 202,

Abwägung 56, 175, 177, 188, 194, 196,

253 f f ,

265 f ,

276 f f ,

287,

299 f f , 338, 364 f , 393 f , 400,405

198, 240, 265, 345, 374f., 417

Assoziationsabkommen 274

Acquis communautaire 31, 127 Adressaten der Grundfreiheiten

204,

140 f.,

164, 294 ff., 310 ff., 343 Allgemeiner Gleichheitssatz 66 f., 72,

Ausfuhrfreiheit 264, 342 f f , 386 f. Auslegung 35, 49 f f , 64, 75, 148, 152, 156 f , 148, 204, 208, 350, 353, 368

76, 90 f., 101 Allgemeininteresse

187, 222, 365 ff.,

384 f., 390, 392 ff. Allué 222

Bayer 309 f. Beeinträchtigung 164, 203 f , 228, 245, 247, 292 f f , 361, 369, 374 f , 380 ff.

Alpine Investments 42, 216, 336 ff.

Begründungsverbot 93 f , 100 f , 415

Amsterdam 183 ff., 193, 356

Begünstigte der Grundfreiheiten 68, 283

Anbieten 135 f., 157, 243, 328, 330 f.,

Bereichsausnahmen 265 ff.

419 Anerkennung 99, 161, 242, 374,416 Anerkennungsfälle 163, 168, 222 ff., 374 Angemessenheit 373 f., 407, 409 Angonese 305,405 Anknüpfungsverbot 93 f.

Berücksichtigungsgebote

171,

174 f f ,

180 f. Beschränkung 29, 79, 84, 199 f , 203, 244 ff, 292 f , 328, 376,412 f. Beschränkungsverbot 203 f f , 241 f f , 345

36 f ,

62,

84,

Sachwortverzeichnis Bestimmungsland 133 f., 296 Beweislast 149, 167, 345, 376 Binnenmarkt

Destination 38, 96, 98 f f , 240, 245, 260, 415 Dienstleistungsfreiheit

-Binnenmarktkonzeption 52 ff., 109 f.,

42, 97,

115 f.,

120, 202 f f , 208, 252, 256 f , 262, 266, 271, 276 f f , 300, 303, 333, 336 f f ,

117, 122, 129 ff. - und Gemeinsamer Markt 123 ff. - und Grundfreiheiten 28, 114, 122 ff.,

364, 423 Differenzierung - Abgrenzung zur Diskriminierung 38,

197 f. Bond van Adverteerders

475

392 f.

Bosman 28,42, 226 f., 303 f., 365, 396 f.

65,67, 76,81,91 f f , 101,325 - Differenzierungsmerkmale 68, 70, 83, 95 f f , 104 f f , 240, 325,327

Case Law 44, 57 f , 302 Cassis de Dijon 85, 187 f., 209 f., 215 f., 346, 361 ff., 391 Cassw-Kriterien 188, 191 f., 196 f., 267, 354, 356 ff., 377 ff. Centros 287 Ciola 327,403 f.

- zwischen 39 f ,

Rechtfertigungsstrukturen

62, 85, 196 f ,

354, 356 f f ,

379 ff. Diskriminierung 29, 62 f , 199, 244 ff. - offene 102, 240, 245, 325,408 - versteckte 38 f , 103 f f , 246, 325 f f , 409

Civil Law 31, 56 f.

Diskriminierungsbegriff 62 ff.

Clean Car Auto Service, 400, 402,406

- asymmetrischer 99

Common Law 31, 56 f.

- des EuGH 38 f f , 81 f f , 206, 350 - formeller 77, 94, 101,241,329

Daily Mail 287

- materieller 77, 81, 86 f f , 101, 229, 241

Dansk Supermarked 306 ff.

- symmetrischer 99

Dassonville 208 f , 215 f., 323, 343

Diskriminierungskonzept 90 f , 94, 100

De Agostini 384 ff.

- finales 70 f.

De minimis-Regel 322 ff.

- kausales 70 f.

Decker 385,398 f.

Diskriminierungsverbot 36 f.

Defizite

- allgemeines 49, 63 f f , 75, 283, 303 f.

- Rechtsprechung 37 ff.

- der Grundfreiheiten 73 f f , 101, 137,

- Vertragstext 35 ff. Deliège 337, 342

199, 201 f f , 207 f f , 239 f f , 247 Disparität der Rechtsordnungen 334 f.

476

Sachwoi

Dogmatik

Europaabkommen 422 f.

- Aufgabe 32 f , 61, 198 - Begriff 32

Finales Diskriminierungskonzept 70 f.

- einheitliche 30 f f , 45, 62, 77, 153, 167,

Föderale Struktur der Gemeinschaft 148,

288

161, 165, 167, 231,316,416 Formale Kriterien 90, 94, 102, 233, 246,

- Grundprinzipien 43 ff.

337

- Nachteile 43

Freiheitsrecht 29, 62, 129, 159, 198 ff,

- praktische 46 ff. - Rechtfertigungsdogmatik

37,

84 f f ,

232 f f , 241 f f , 328 f f , 417 Fremdsprachenlektoren 325 f.

191, 195,209, 245, 346 ff. - und Case Law 44, 56 ff.

Funktion

- Vorteile 32 ff.

-Binnenmarkt

125, 133 f ,

136, 137,

139, 142

- Ziel 30 f f , 77 Dona 301 f f , 397

- Diskriminierungsverbot 67, 76 f.

Drittstaaten 69, 274 ff.

- Grundfreiheiten

130, 142, 163, 218,

228, 239, 245, 247, 280, 331

Drittwirkung 42 f , 164, 296 f f , 405 - horizontale 58

Funktionsänderung 125

- mittelbare 299, 311,314 ff.

Funktionsrahmen des EG-Vertrages 114,

- unmittelbare

168,

299,

307,

309,

137

311 ff. Gebhardt

223

Effektivität 299, 304,312

Geeignetheit 373

Effet utile 112, 301, 305, 311 f , 316

Gemeinsamer Markt 124 ff.

EGKSV 27, 132, 146 f , 253

Gemeinschaft 28, 66, 110, 115, 117, 123,

Einfuhrfreiheit 342

144 f f , 153 f f , 164 f f , 169 f f , 249 f.

Einheitslösung 407 ff.

Gemeinschaftsorgane 143, 155,319

Einschätzungsprärogative 374 f.

Gemeinschaftsrecht 28, 30

Entwicklungsprozess 30,47

- Auslegung 50, 251, 265, 305, 349

Erforderlichkeit 373 f.

- und nationales Recht 35, 59 f , 107,

Ermessen 316 EuGH 38 f f , 55 f f , 58 f f , 81 f f , 154, 299 f f , 361 ff. Euro-Marketing 153, 333 ff.

143 f , 149 f. Gerichtshof 58 ff. Gleichbehandlung 76, 80 f f , 99 Gleichbehandlungsgebote 78 f f , 297

Sachwortverzeichnis Gleichheitsrecht

88 f ,

159,

198 f f ,

209 f f , 229 f f , 239 f f , 244 f f , 329 Grenzüberschreitender Bezug 87, 98 f , 108, 135 f ,

139, 142, 158 f , 230 f ,

477

Implied powers 145 ff. Inländerbelastung 263 f. Inländerdiskriminierung

107 f f ,

158,

327 f.

250, 259 ff. Grundfreiheiten

Juristische Person 17, 282 f f , 286 ff.

- Dogmatik 30 f f , 57 f , 84 f f , 128, 148, Kapitalverkehrsfreiheit

157, 194, 244 f f , 367 - Konvergenz 45 f , 99, 280, 317, 360,

256 f ,

269, 340 Kausales Diskriminierungskonzept 70 f.

366

Keck-Vormd

- Systematik 115 f f , 261, 281 - und Grundrechte 236 f f , 248, 286, 371

214,

216,

218 f ,

228,

330 f f , 389 ^^-Rechtsprechung

Grundrechte

195,

214 f f ,

328 f f , 384, 386

- nationale 236 f f , 292, 296 - Gemeinschaftsgrundrechte

115 f f ,

238, 371,

377 ff.

- Übertragbarkeit 41 f , 324, 336 ff. Klopp 83, 225

Gründungstheorie 286

Kohärenz des Steuersystems 394,404

Gründungsverträge 27, 60

Kohll 398 f. Kompetenz 55, 110, 141, 143 f f , 178,

Handlungsprinzipien 171, 173, 180 f. Harmonisierung 109, 125, 127 f., 134, 139,364 Hemmnisse 87, 132, 144, 312 f f , 334, 362 Herkunft 38, 82 f , 87, 96 ff., 240, 245,

190 f , 197, 249 f , 316, 378 f. Kompetenzausübung 153 ff. Kompetenzverteilung 61, 145 ff. Kontrolldichte 149, 167, 250, 375 ff. Konvergenz 45 f , 99, 280, 317, 360, 366 Kooperation 60

260 Herkunftsland 52, 133 f , 161, 223, 225, 232 f , 264, 290, 341,374 Hermeneutischer Zirkel 53

Maastricht 118, 154, 179 f f , 272 Marketing 153,328,331 ff. Marketing-Mix 331 f. Marktbürger 268, 271

Immanente Schranken 40, 85, 195, 267, 361 f f , 381, 390 f. Imperial Chemical Industries 401 ff.

Marktfreiheit 129 ff. Marktgleichheit 137 ff. Marktwirtschaft 132, 313

478

Sachwoi

Marktzugang 130 f f , 142, 157, 161, 233, 328 f.

Prüf-

und

Anerkennungspflicht

99,

161 f , 223

Marktzugangsrechte 218 f , 227 f , 242, 245 f f , 339 ff.

Prüfung 248 ff. Prüfungsschema 420 f.

Maßnahme 30, 65, 224, 246, 320 ff. Mitgliedstaaten

Querschnittsklausel

- Adressaten der Grundfreiheiten 140,

- Umweltschutz

168 f.,

173 f f ,

181,

184 f , 193 f , 356, 358

164, 294 ff.

- Verbraucherschutz 356

- Herren der Verträge 146 Mobilitätsbeschränkung 224 ff.

Ramrath 339, 395,401 f , 406 Niederlassungsfreiheit

116, 202, 221,

255 f f , 261 f , 266, 271, 282, 287, 339,

Rechtfertigung 37, 71, 84, 195, 345 ff. Rechtfertigungsstruktur 39 f f , 62, 84 f , 379 ff.

364 f , 375 f.

- geschriebene 346 ff.

Nizza 117

- ungeschriebene 361 ff. Rechtsangleichung Oosthoek 211 f f , 228

125,

128,

134,

137 f f , 161, 164 f f , 175, 235 f. Rechtsanwendung 28, 31 f f , 56, 90

Personenmehrheit 282 ff.

Rechtsfolgenansatz 110

Personenverkehrsfreiheiten 119 f f , 201,

Rechtsfortbildung 58 f f , 379 f. Rechtsprechung 37 f f ,

204, 220 f f , 300 f f , 391 ff. Pfandflaschen

188 ff.

55 f f ,

206 f f , 272, 328 f f , 361 f f , 381 ff.

Praktische Dogmatik 43 f f , 48

Rechtssicherheit 32 f , 56, 359

Preisregelungen 244

Rechtsvergleichung 56 ff.

PreussenElektra

Regelung 321

192 f , 358, 389 f.

Prinzip 43, 53 f f , 121 ff.

Richterrecht 58 f , 66

Prinzip der begrenzten Ermächtigung

Rückkehrer 97, 99, 263 ff.

145 ff. Privatautonomie 313,316

Säuglingsnahrung 89

Produktherkunft 38, 96 f f , 240, 245, 260

Schlechterstellung 229, 334

Produktverkehrsfreiheiten

Schranken-Schranken 370 ff.

205 f f , 381 ff.

187 f f ,

119 f f ,

202,

Schutzniveau 134, 175, 180, 184

Sachwortverzeichnis Schutzverstärkung 177,178, 182,185 f.

479

Tun 163,315, 321 f.

Sekundärrecht 277 f., 319 f , 349, 378 f. Semeraro 42, 338 f.

Überseering 287, 341

Simplifizierung 46 f.

Umgekehrte Diskriminierung 107

Sitztheorie 286 f , 341

Umweltprinzip 54 f , 168 f f , 352, 354,

Sotgiu 102

360, 370

Spürbarkeitsgrenze 321 ff. Staatsangehörigkeit 68 f., 905 f , 276 ff. Staatshaftung 59 Staatszugehörigkeit 68, 285, 288 Strafrechtsdogmatik 163

- als

Rechtfertigungsgrund

191 f f ,

195 f f , 354 f f , 383, 386, 388, 390 -Berücksichtigungsgebote 171, 174 f f , 180 f.

Struktur

- Entwicklung 169 ff.

- der Grundfreiheiten 113 f f , 152 - des Diskriminierungsbegriffs 77 f. Stufenmodell 245 f f , 374 Subjektives Recht 28, 237, 268 ff. Subsidiaritätsprinzip 153 f f , 176, 182 System

Umweltschutz

unverfälschten

Wettbewerbs

139 ff. Systematik der Grundfreiheiten 113 ff. - Äußeres System 113 ff. - Innere Ordnung 119 ff. Systembegriff 112

Tatbestand 36, 55, 78 f , 110, 195, 218, 292,420 Teilmarktordnung 144, 167, 292, 335 Teleologische Interpretation 51 f , 75 f ,

- Handlungsprinzipien 171, 173, 180 f. - Querschnittsklausel 168 f , 173 f f , 181, 184 f , 193 f , 356, 358 - Rechtsprechung 187 ff. - Schutzniveau 175, 180, 184 Ungleichbehandlung

76 f ,

91 f f ,

98,

101, 103 f , 208, 239, 394,401 f , 404 Unionsbürger 272, 278 Unmittelbare Wirkung 58 Unterlassen 163, 268, 315, 318, 321 f. Unterscheidungsgebot 67, 92 Unterschiedslose

Anwendbarkeit

81 f ,

88, 209 f f , 224, 226, 246, 384, 389, 397, 399,404, 406 Unterschiedslose Wirkung 65

86, 93, 112 Tonträger 306 f.

van de Haar 307 ff.

Torfaen Borough Council 212

Verbotene Differenzierungskriterien

Transnationales Element 98 f , 110, 132, 135, 142, 158 f , 168, 231,238, 259 ff.

95 ff. Verbraucherschutz 350, 356 f , 362

89,

480

arverzeichnis

Vergleichsgruppe 65, 68, 80, 89, 91 f f ,

- Kompetenzordnung u. Grundfreiheiten 152, 164

102, 106, 240,325,411 Vergleichsrichtung 98 ff.

Werbung 153,331 ff.

Verhältnismäßigkeit

Wettbewerb

130 f f ,

137 f ,

244, 298,

308 ff.

- Dogmatischer Ursprung 372 - Elemente der Verhältnismäßigkeitsprü-

- System unverfälschten

Wettbewerbs

139 ff.

fung 372 ff. - Grundsatz 145, 153, 159 f f , 168, 175,

Willkürliche Diskriminierung 79, 306 Wirkrichtung 28, 91 f , 153, 242, 244,

197, 233, 272, 345, 359, 368, 371 ff.

360

- Kontrolldichte 375 ff. - Schranken-Schranke 371

Wirtschaftsfreiheiten 119,422 f.

Verpflichtete der Grundfreiheiten 293 f f ,

Wirtschaftsleistung - Empfänger

318 Vertragstext 35 f f , 49 f f , 113 f f , 200,

u. Erbringer

120, 262,

279 f.

270, 297 Vlaamse Reisbureaus 308 f. Vorabentscheidung 60

Zahlungsverkehrsfreiheit 36, 79, 95, 115, 118, 121, 203, 258 f , 275, 284, 348,

Wallonien 40, 191 f f , 359, 383

365 f.

Walrave und Koch 300 f. Warenverkehrsfreiheit 34, 36, 41, 95 f f , 117, 202 f , 208 f f , 252, 305 f f , 362 f. Wechselwirkung - Binnenmarkt u. Grundfreiheiten 122 f , 143

53,

Ziel vorgaben 48 f , 406 Zollunion 115, 117, 125 Zwingende Erfordernisse 362 f f , 384 ff. Zwischenstaatlichkeit 158, 234,268

372,